Zwölf

Beim Frühstück am nächsten Tag sagte ich zu Thomas: »Dr. Grigorin hat mir gefallen.«

»Sie ist in Ordnung«, sagte er und nahm sich eine Banane aus der Obstschale. »Was für Tabletten hat sie dir denn gegeben?«

Ich zuckte die Achseln. »Weiß der Himmel, wie diese verdammten Pillen alle heißen.«

Er schälte die Banane bis zur Mitte. »Hat sie’s dir gesagt?«

»Was gesagt?«

»Was ich tue. Ich habe ihr gesagt, dass du’s wissen darfst.«

»Sie hat’s mir erzählt.«

»Ich dachte, es ist Zeit, dass du erfährst, woran ich arbeite.«

»Warum hast du’s mir nicht einfach selbst gesagt.«

Er biss in die Banane. »Ich dachte mir, wenn’s von ihr kommt, dann glaubst du es auch. Weil sie doch Ärztin ist.«

»Glaubst du, dass Dr. Grigorin es glaubt?«, fragte ich ihn. »Was du da machst? Dass du Landkarten und Stadtpläne auswendig lernst, damit du Geheimagenten auf der Flucht helfen kannst? Und dass es eines Tages überhaupt keine Karten mehr geben wird, und du die gesamte Information da oben gespeichert hast?« Ich tippte mir mit dem Zeigefinger an eine Stelle über der Schläfe.

Er legte die Banane weg und seine Hände flach auf den Tisch. »Wenn sie’s nicht glauben würde, warum hat sie dann so viele Fragen dazu gestellt? Wenn sie’s nicht glauben würde, hätte sie gar keine Notiz davon genommen.« Ein Ausdruck von Enttäuschung huschte ihm übers Gesicht. »Du glaubst mir also kein Wort. Und ich dachte, Dr. Grigorin könnte dich überzeugen.«

»Denk doch mal nach, Thomas. Du bist einfach nur jemand, der in einem Haus vor den Toren von Promise Falls im Staat New York lebt. Du hast nie in einer Vollzugsbehörde gearbeitet, und genauso wenig in einer Regierungsbehörde. Du hast kein Diplom in, in … in was auch immer Experten für Landkarten Diplome haben, und –«

»Kartographen.«

»Was?«

»Experten, die Landkarten erstellen und damit arbeiten, heißen Kartographen. Aber man kann kein Diplom in Kartographie machen. Man würde wahrscheinlich ein Geographiediplom machen und das, was man während dieses Studiums gelernt hat, anwenden, wenn man irgendwo als Kartograph anfängt.«

Damit hatte er mich aus dem Konzept gebracht, aber ich fand meinen Faden schnell wieder. »Na gut, du hast aber auch kein Diplom in Geographie, und als Kartograph hast du auch nie gearbeitet.«

»Das ist richtig«, sagte Thomas und nickte.

»Du glaubst also, dass du, ein Mensch ohne Qualifikationen und ohne Beziehungen zu den Mächtigen dieses Landes, die Aufmerksamkeit des amerikanischen Geheimdiensts erregt hast, dieser Multi-Milliarden-Organisation mit Agenten rund um den Globus, und dass sie dich zu ihrem Kartenspezialisten machen wollen?«

Thomas nickte. »Echt unglaublich, was?«

»Kann man so sagen.«

»Aber ich habe ein gutes Gedächtnis. Deshalb haben sie mich ausgewählt.«

Ich lehnte mich zurück und sagte: »Du bist der Auserwählte.«

»Jetzt machst du dich schon wieder lustig über mich«, sagte er.

»Nein, ich – ja gut, es hört sich so an. Worauf ich hinauswill, Thomas, ist, dir begreiflich zu machen, wie absurd das Ganze ist. Dr. Grigorin hat mir erzählt, dass du sogar mit dem früheren Präsidenten Clinton in Kontakt stehst.«

Gestern Abend, als ich vor seiner angelehnten Tür stand, hatte ich ihn dabei beobachtet, wie er sich mit jemandem unterhielt, den es nicht gab. Das Telefon lag in der Schale, und Thomas hatte weder die Hände an der Tastatur noch sah er auf einen der Bildschirme. Ich hatte gehört, wie er sagte: »Fast hätte ich Bill zu Ihnen gesagt.«

»Das stimmt«, bestätigte Thomas. »Aber man darf immer noch Herr Präsident zu ihm sagen. Ehemalige Präsidenten werden auch später so angesprochen.«

»Ich weiß.«

»Ich will jetzt nicht mehr darüber reden«, sagte Thomas. »Diese Tabletten, die Dr. Grigorin dir gegeben hat, die helfen nicht. Ich dachte, die machen dich toleranter und verständnisvoller. Aber du bist genau wie Dad.«

Er ließ seine angebissene Banane auf dem Tisch liegen, stand auf, ging nach oben in sein Zimmer und schlug die Tür zu.


Wir brauchten Lebensmittel. Ich konnte nicht ewig Jumbosandwiches und Pizza holen. Als ich im Supermarkt Nachschub für die Tiefkühltruhe holte, traf ich Len Prentice und seine Frau Marie. Len und mein Vater waren Freunde geblieben, auch nachdem mein Vater die Druckerei verlassen hatte. Ich kannte Len eigentlich nur käsebleich, doch bei der Beerdigung hatte er ausgesehen, als hätte er kürzlich etwas Sonne abbekommen, auch wenn er jetzt schon wieder ein wenig Farbe verloren hatte. Marie war jedoch blass und erschöpft. Sie hatte gesundheitliche Probleme, seit ich sie kannte. Ich wusste zwar nicht mehr, was genau es war, meinte aber, mich zu erinnern, es sei dieses chronische Erschöpfungssyndrom. Dauernde Müdigkeit. Ich kannte die beiden – zugegebenermaßen nicht besonders gut – seit fast drei Jahrzehnten. Sie hatten einen Sohn, Matthew. Er war ungefähr in meinem Alter, und als Jugendliche hatten wir oft gemeinsam abgehangen. Er war jetzt Steuerberater in Syracuse, verheiratet und hatte drei Kinder.

»Hallo, Ray«, sagte Len, der den Wagen schob. Marie zuckelte hinter ihm her. »Wie geht’s euch denn, dir und Thomas?«

Bevor ich antworten konnte, sagte Marie. »Ray. Wie schön, dich zu sehen.«

»Hi«, sagte ich zu beiden. »Uns geht’s ganz gut. Wir kommen zurecht. Ich hol nur ein bisschen Verpflegung.«

»Es war eine schöne Ansprache«, sagte Marie ernst. Dad hatte sie immer »Marienkäfer« genannt, allerdings nur in ihrer Abwesenheit. Sie war stets fröhlich, trotz ihrer Gesundheitsprobleme. Der Pfarrer hätte die Hose runter- und sein bestes Stück kreisen lassen können, Marie hätte noch immer als Erstes die schönen Blumen gepriesen.

»Ja«, sagte ich. »Danke noch mal fürs Kommen.« Ich sah Len an und lächelte. »Ich wollte Sie neulich schon fragen, ob Sie unter der Höhensonne eingeschlafen sind.«

Marie tätschelte mir neckisch den Arm. »Ach, du. Len ist vor zwei Wochen aus dem Urlaub zurückgekommen.«

»Wo waren Sie denn?«, fragte ich. »In Florida?«

Len schüttelte den Kopf, als wäre das nicht der Rede wert. »Thailand.«

»Erzähl ihm, wie schön es war«, forderte Marie ihn auf.

»O ja, es war sehr schön. Absolut umwerfend. Das Wasser, dieses Türkisblau, das man nirgendwo sonst findet. Warst du schon mal dort, Ray?«

»Nein, nie. Aber ich habe gehört, dass es phantastisch sein soll. Sie sind nicht mitgeflogen, Marie?«

Sie seufzte. »Ich habe einfach keine Energie zum Reisen. Nicht so weit weg jedenfalls. Ein paar Sachen zusammenzupacken, um für eine Woche in ein Feriendorf zu fahren, wo man in ein paar Stunden hinkommt, das macht mir nichts aus, aber das viele Laufen auf Flughäfen, das Anstehen an der Zollabfertigung, das ewige Schuhe Aus- und wieder Anziehen. Das ist mir zu viel. Aber nur, weil es für mich zu strapaziös ist, in der Weltgeschichte herumzureisen, heißt das ja nicht, dass Len nichts mit anderen unternehmen kann, denen das mehr Spaß macht.«

»Ray«, sagte Len, »ich würde gern zu euch rauskommen, bevor du nach Burlington zurückfährst.«

»Keine Ahnung, wann das sein wird«, sagte ich. »Zuerst muss ich klären, wie’s mit Thomas weitergeht. Ich muss eine Entscheidung treffen, was ich mit dem Haus mache. Thomas kann da nicht allein wohnen bleiben.«

»Du meine Güte, nein«, sagte Marie. »Der Junge braucht jemand, der sich um ihn kümmert.«

Ich spürte, wie ich in Harnisch geriet, ließ mir aber nichts anmerken. Sie hatte ja recht, Thomas brauchte eine Betreuung. Aber er war ein Mann, kein Junge. Er hatte es nicht verdient, wie ein Kind behandelt zu werden. Und plötzlich meldete sich mein schlechtes Gewissen. War ich vielleicht zu streng mit ihm gewesen, als ich seine Mission anzweifelte?

»Das stimmt«, sagte ich. »Aber ich will mal sehen, ob ich ihn nicht ein bisschen selbständiger machen kann.«

Das ging mir schon eine Weile durch den Kopf. Dass Thomas an Dinge glaubte, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmten, bedeutete ja nicht, dass er in dieser Wirklichkeit nicht dennoch seinen Beitrag leisten konnte. Ich wollte, dass er sich sein Essen selbst machte und im Haushalt half. Wenn ich ihm konkrete Aufgaben übertrug, verbrachte er vielleicht nicht mehr ganz so viel Zeit in seinem Zimmer. Und nahm, wenn er schon die Vorgänge draußen in der Welt ignorierte, so doch wenigstens einige häusliche Pflichten wahr.

»Jetzt wollen wir dich aber nicht länger aufhalten«, sagte Len. »War schön, dich zu sehen.«

»Ich habe noch immer vor, für euch Jungs zu kochen und es euch vorbeizubringen«, sagte Marie. »Oder wollt ihr lieber mal zum Abendessen zu uns kommen?«

»Das ist sehr lieb«, sagte ich. »Ich werde mit Thomas darüber reden.« Eher unwahrscheinlich, dachte ich. Obwohl – Abendessen bei Menschen, die er kannte –, einen Versuch wäre es wert. Einen winzigen Schritt aus dem Haus. Eine Fahrt zur Psychiaterin hatten wir ja auch schon ohne größere Zwischenfälle geschafft, wenn man Thomas’ Auseinandersetzungen mit Maria außer Acht ließ.

»Lernt Thomas noch immer Landkarten auswendig für den Tag, wenn das große Computervirus zuschlägt?«, fragte Len mit dem Anflug eines Lächelns um die Mundwinkel.

Darauf war ich nicht gefasst gewesen. »Sie wissen davon?«

»Dein Dad hat’s mir erzählt. Mit irgendjemandem musste er ja darüber reden.«

Ich nickte langsam. Marie sagte: »Len, fang jetzt nicht damit an. Das geht dich nichts an.«

»Damals ging’s mich was an«, fauchte er, und Maries Augen wurden schmal. »Adam hat’s mir erzählt.« Zu mir sagte er: »Deinem Dad wurde langsam alles zu viel, weißt du?«

Jedenfalls hörte ich das von allen Seiten.


Ich klopfte an Thomas’ Tür, öffnete sie einen Spaltbreit, und steckte den Kopf ins Zimmer. »Bin wieder da.«

Thomas klickte sich mit seiner Maus durch die Welt und sagte, ohne sich zu mir umzudrehen: »Gut.«

»Und du machst Abendessen.«

Jetzt drehte er sich um. »Was?«

»Ich dachte, ich lasse dich heute das Abendessen machen.«

»Ich mache nie Abendessen.«

»Ein Grund mehr, damit anzufangen. Ich habe Tiefkühlsachen. Das ist keine Hexerei.«

»Warum machst du nicht das Abendessen? Dad hat immer Abendessen gemacht.«

»Ich hab auch einen Beruf«, sagte ich. »Du hast deinen, und ich hab meinen. Ich muss Leute anrufen und vielleicht muss ich mir ein paar von meinen Sachen holen, aus Burlington –«

»Vermont.«

»Genau, aus Burlington, Vermont. Damit ich hier arbeiten kann, während wir überlegen, wie’s weitergehen soll.«

»Wie’s weitergehen soll«, wiederholte Thomas leise.

»Genau. Ich werde dir alles zeigen. Wie man den Backofen einstellt und alles. Aber du musst so um fünf runterkommen.«

Einen Augenblick weidete ich mich an Thomas’ entsetzter Miene. Dann schloss ich die Tür.

Beinahe wie aufs Stichwort läutete mein Handy. Es war mein Agent, Jeremy Chandler, der seit zehn Jahren Auftragsanfragen für mich bearbeitete.

»Ich hätte drei Aufträge für dich, aber keine Deckenmalereien für die Sixtinische Kapelle, und vierzig Jahre hast du auch nicht dafür. Zwei Zeitschriften und eine Webseite, Ray, mit Abgabeterminen. Und zwar brandeiligen. Wenn du sie nicht annehmen kannst, dann sag’s mir gleich, damit ich sie an andere Künstler vergeben kann, die zwar nicht annähernd so talentiert sind wie du, aber sie anscheinend deutlich nötiger haben.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich im Haus meines Vaters bin.«

»Ach, Scheiße, das hab ich ganz vergessen. Er ist gestorben, oder?«

»Genau das hat er getan.«

»Die Beerdigung und den ganzen Mist, hast du das schon hinter dir?«

»Ja.«

»Wann genau wirst du dann wieder in deinem Studio sein?«

»Ich hab hier noch einiges zu erledigen, Jeremy. Kann sogar sein, dass ich mir hier ein provisorisches Studio einrichten muss.«

»Gute Idee. Sonst muss ich Tarlington mit diesen Illustrationen beauftragen.«

»O Gott«, sagte ich. »Der Kerl malt doch mit den Füßen. Sein Obama sieht aus wie Bill Cosby. Bei ihm sehen alle Schwarzen aus wie Bill Cosby.«

»Hör mal, wenn du die Aufträge nicht annehmen kannst, dann krittel hier auch nicht rum. Hab ich dir schon gesagt, dass Vachons Leute sich gemeldet haben?«

»Um Himmels willen.« Carlo Vachon, das berüchtigte Oberhaupt eines Verbrecherclans aus Brooklyn, hatte jede Menge Anklagen am Hals, die Palette reichte von Mord bis zu nicht bezahlten Knöllchen. Für ein New Yorker Magazin hatte ich eine Karikatur von ihm angefertigt, in der ich seine äußeren Merkmale, insbesondere seinen Leibesumfang stark überzeichnet hatte. Ich hatte ihn dargestellt, wie er eine Pistole auf die Freiheitsstatue richtete, die ihrerseits die Hände in die Höhe hob.

Mir brach der Schweiß aus. »Hat er einen Killer auf mich angesetzt?«

»Nein, keine Rede davon. Anscheinend hat ihm die Illustration so gefallen, dass er das Original kaufen will. Diese Gangstertypen stehen einfach gern im Rampenlicht, auch wenn’s ihnen nicht gerade schmeichelt.«

»Hast du das Original?«

»Hab ich.«

»Schick’s ihm. Gratis«, sagte ich.

»Wird gemacht. Aber eigentlich habe ich gar nicht deswegen angerufen.«

»Sondern?«

»Da wird gerade eine neue Online-Zeitung aufgezogen, und es stecken ein paar sehr mächtige Leute dahinter. Die wollen der Huffington Post Konkurrenz machen, aber nicht genau das Gleiche bringen. Ich hab sie gefragt, was sie von einem animierten politischen Cartoon halten, so ähnlich wie die auf der Seite vom New Yorker. Zehn Sekunden lang, aber die Animation selbst ist nur minimal, der Eindruck von Bewegung entsteht durch den Kameraschwenk und –«

»Ich versteh schon, wie das funktionieren soll«, sagte ich. »Hast du meinen Namen erwähnt?«

»Das musste ich gar nicht. Sie sind auf mich zugekommen. Die Frau, die das Ganze aufzieht, heißt Kathleen Ford. Wie die finanziell ausgestattet ist, das kannst du dir nicht vorstellen. Ein Haufen Geld von den Medien. Sie will sich so bald wie möglich mit dir zusammensetzen.«

»Ja gut, aber im Moment –«

Es klopfte an der Haustür. Ein entschlossenes, keinen Widerspruch duldendes Pochen. Ich hatte keinen Wagen kommen hören, aber Jeremy neigte dazu, in einer Lautstärke zu sprechen, als wolle er einen Jumbo-Jet übertönen, auch wenn weit und breit keiner im Anflug war.

»Da ist jemand an der Tür«, sagte ich.

»Ray, das ist eine Riesensache. Du musst dich mit dieser Frau treffen. Da steckt ein Haufen Kohle drin.«

»Ich ruf dich zurück.«

Ich legte das Handy auf den Küchentisch und ging an die Tür.

Sie standen zu zweit auf der Veranda. Eine schwarze Limousine hatte meinen Audi zugeparkt. Vermutlich wollten sie so mögliche Fluchtversuche meinerseits vereiteln. Es waren ein Mann und eine Frau, beide in den Vierzigern, beide grau gekleidet. Beide hatten Hosenanzüge an, nur dass der Mann zu seinem noch eine schmale, seriöse Krawatte trug.

»Mr. Kilbride?«, fragte die Frau.

»Ja?«

»Ich bin Agent Parker, und das ist Agent Driscoll.«

»Häh?«

»FBI«, sagte sie streng.