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Gathering
Fast dreißig Jahre waren vergangen, seit ich zum
letzten Mal an einem Gathering teilgenommen hatte; jener
Zusammenkunft in Leoch, bei dem der Clan MacKenzie seine Eide
abgelegt hatte. Jetzt war Colum MacKenzie tot, ebenso sein Bruder
Dougal - und alle Clans mit ihnen. Leoch war eine Ruine, und es gab
keine Zusammenkünfte der Clans mehr in Schottland.
Und doch waren hier die Plaids und die Dudelsäcke,
und die überlebenden Highlander selbst, von unvermindertem,
heftigem Stolz erfüllt, umgeben von einem neuen Gebirge, das sie
für die Ihren in Anspruch nahmen. MacNeills und Campbells,
Buchanans und Lindseys, MacLeods und MacDonalds; Familien, Sklaven
und Bedienstete, Zwangsarbeiter und Gutsherren.
Ich ließ meinen Blick über das rege Gewimmel der
Dutzende von Lagerstätten schweifen, um Ausschau nach Jamie zu
halten, und erblickte statt dessen eine vertraute Hünengestalt, die
mit schlackernden Gliedern durch die Menschengrüppchen schritt. Ich
stand auf und winkte, während ich ihn rief.
»Myers! Mr. Myers!«
John Quincy Myers erblickte mich und kam strahlend
den Abhang herauf zu unserer Lagerstelle.
»Mrs. Claire!« rief er aus, indem er seinen
verlotterten Hut zog und sich vornehm wie immer über meine Hand
beugte. »Ich bin ganz entzückt, Euch zu sehen.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, versicherte ich
ihm lächelnd. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch hier zu
sehen.«
»Oh, ich plane normalerweise jedes Gathering
ein«, sagte er. Er richtete sich auf und strahlte auf mich herab.
»Wenn ich rechtzeitig aus dem Gebirge komme. Eine gute Gelegenheit,
meine Felle zu verkaufen; den Kleinkram, den ich loswerden muß.
Apropos…« Er begann langsam und systematisch, seine große
Wildledertasche zu durchforsten.
»Seid Ihr sehr weit nach Norden gekommen, Mr.
Myers?«
»Oh, ja, in der Tat, in der Tat, Mrs. Claire. Den
halben Mohawkfluß hinauf bis zu der Stelle, die man die Obere
Festung nennt.«
»Den Mohawk?« Mein Herz begann, schneller zu
schlagen.
»Mm.« Er zog etwas aus seiner Tasche, blinzelte es
an, steckte es wieder hinein und kramte weiter. »Stellt Euch meine
Überraschung vor, Mrs. Claire, ein bekanntes Gesicht zu sehen, als
ich in einem Mohawkdorf im Süden haltmachte.
»Ian! Ihr habt Ian gesehen? Geht es ihm gut?« Ich
war so aufgeregt, daß ich ihn am Arm packte.
»Oh, aye«, versicherte er mir. »Sieht gut aus, der
Junge - obwohl ich sagen muß, es hat mir einen Ruck versetzt, ihn
wie einen Wilden aufgemacht zu sehen, und sein Gesicht war so
sonnenverbrannt, daß ich ihn für einen gehalten hätte, wenn er mich
nicht bei meinem Namen gerufen hätte.«
Schließlich fand er, was er suchte, und reichte mir
ein kleines Päckchen, das in dünnes Leder gewickelt und mit einem
Wildlederstreifen zugebunden war - eine Spechtfeder steckte im
Knoten.
»Das hat er mir anvertraut, Ma’am, um es Euch und
Eurem Mann zu bringen.« Er lächelte freundlich. »Ich nehme an, Ihr
wollt es sofort lesen; wir sehen uns dann später, Mrs. Claire.« Er
verbeugte sich ernst und formell, dann entfernte er sich und
begrüßte im Vorübergehen weitere Bekannte.
Ich wollte mit dem Lesen auf Jamie warten;
glücklicherweise erschien er nur ein paar Minuten später. Der Brief
war auf etwas geschrieben, das die herausgerissene, innere
Umschlagseite eines Buches zu sein schien, seine Tinte hatte die
blaßbraune Farbe der Eichengalle, war aber gut lesbar. Ian
salutat avunculus Jacobus, begann die Notiz, und in Jamies
Gesicht brach ein Grinsen aus.
Ave. Da meine Lateinkenntnisse hiermit
erschöpft sind, muß ich mich jetzt auf simples Englisch verlegen,
an das ich mich weitaus besser erinnern kann. Mir geht es gut,
Onkel Jamie, und ich bin glücklich - ich bitte Dich, das zu
glauben. Ich habe geheiratet, nach den Bräuchen der Mohawk, und
lebe im Haus meiner Frau. Du erinnerst Dich sicher an Emily, die so
geschickt schnitzen kann. Rollo hat eine Menge Welpen gezeugt; das
Dorf ist mit kleinen Wolfsrepliken übersät. Ich kann nicht damit
rechnen, mich jemals so reichlich fortzupflanzen - jedoch hoffe
ich, daß Du meiner Mutter von meinem Wunsch schreiben wirst, daß
sie noch nicht so viele Enkelkinder hat, daß sie es übersieht, wenn
noch eins dazukommt. Die Geburt ist im
Frühling; ich werde Euch davon berichten, so schnell ich kann. In
der Zwischenzeit sei so lieb und erinnere alle in Lallybroch, River
Run und Fraser’s Ridge an mich. Ich denke mit großer Zuneigung an
alle und werde es immer tun, solange ich lebe. Liebe Grüße an Tante
Claire, Cousine Brianna und vor allem an Dich. Dein Dich liebender
Neffe; Ian Murray. Vale, avunculus.
Jamie blinzelte ein paarmal, faltete die
zerrissene Seite vorsichtig zusammen und steckte sie in seinen
Sporran.
»Das heißt avuncule, du kleiner Trottel«,
sagte er leise. »Für die Grußform nimmt man den Vokativ.«
Als ich an diesem Abend meinen Blick über das
Pünktchenmuster aus Lagerfeuern wandern ließ, hätte ich gesagt, daß
sich alle schottischen Familien zwischen Philadelphia und
Charleston hier eingefunden hatten - und doch trafen in der
nächsten Dämmerung noch mehr von ihnen ein, und der Strom riß nicht
ab.
Es war am zweiten Tag, und Lizzie, Brianna und ich
verglichen gerade unser Baby mit dem Nachwuchs von zwei von
Farquard Campbells Töchtern, als sich Jamie seinen Weg durch eine
Menge von Frauen und Kindern bahnte, ein breites Lächeln im
Gesicht.
»Mrs. Lizzie«, sagte er. »Ich hab”ne kleine
Überraschung für dich. Fergus!«
Fergus, der genauso strahlte, trat hinter einem
Wagen hervor und schob einen schmalen Mann mit vom Wind zerzaustem,
dünnem blondem Haar vor sich her.
»Pa!« kreischte Lizzie und warf sich in seine Arme.
Jamie steckte sich einen Finger ins Ohr, wackelte damit und machte
ein erstauntes Gesicht.
»Ich glaube nicht, daß ich schon jemals gehört
habe, wie sie solchen Krach macht«, sagte er. Er grinste mich an
und gab mir zwei Stücke Papier; ursprünglich Teile ein und
desselben Dokumentes, waren sie sorgsam entzweigerissen worden, so
daß die gezahnte Kante des einen zur gekerbten Kante des anderen
paßte.
»Das ist Mr. Wemyss’ Zwangsarbeitervertrag«, sagte
er. »Steck ihn erst einmal ein, Sassenach; wir verbrennen ihn heute
abend im Freudenfeuer.«
Dann verschwand er wieder in der Menge, von einer
Handbewegung und einem Mac-Dubh-Ruf ans andere Ende der Lichtung
bestellt.
Am dritten Tag des Clantreffens hatte ich so viele
Neuigkeiten, Gerüchte und allgemeines Geschwätz gehört, daß meine
Ohren von gälischen Worten widerhallten. Wer nicht redete, der
sang; Roger war in seinem Element, er wanderte über das Gelände und
sperrte die Ohren auf. Außerdem war er heiser vom Singen; er war
fast die ganze letzte Nacht aufgewesen, hatte auf einer geborgten
Gitarre gespielt und einer verzauberten Zuhörerschaft vorgesungen,
während Brianna zu seinen Füßen zusammengerollt saß und ein
selbstzufriedenes Gesicht machte.
»Ist er gut?« hatte Jamie mir zugemurmelt und dabei
seinen voraussichtlichen Schwiegersohn skeptisch
angeblinzelt.
»Besser als gut«, versicherte ich ihm.
Er zog eine Augenbraue hoch und zuckte mit den
Achseln, dann bückte er sich, um mir das Baby abzunehmen.
»Aye, schön, das muß ich dir wohl glauben. Ich
glaube, Klein Ruaidh und ich suchen uns ein Würfelspiel.«
»Du nimmst ein Baby zum Glücksspiel mit?«
»Natürlich«, sagte er und grinste mich an. »Er kann
nicht früh genug damit anfangen, ein ehrliches Handwerk zu lernen,
falls er einmal nicht für sein Essen singen kann wie sein
Pa.«
»Wenn du Rübenpüree machst«, sagte ich, »dann
achte darauf, daß du das Grün zusammen mit den Rüben kochst. Dann
heb das Kochwasser auf und gib es den Kindern; trink auch etwas
davon - es ist gut für deine Milch.«
Maisri Buchanan drückte ihr kleinstes Kind an ihre
Brust, während sie sich meine Ratschläge einprägte. Ich konnte die
meisten der neuen Immigranten nicht dazu bewegen, selbst Grünzeug
zu essen oder es ihren Familien zu verabreichen, aber dann und wann
fand ich die Gelegenheit, ihnen unauffällig ein wenig Vitamin C
unter ihre übliche Ernährung zu schmuggeln - welche zum Großteil
aus Hafermehl und Wild bestand.
Ich hatte Jamie als Demonstrationsobjekt benutzt
und ihn öffentlich einen Teller mit Tomatenscheiben verzehren
lassen, weil ich hoffte, daß sein Anblick den Neuankömmlingen
einige ihrer Ängste nehmen würde. Doch es war nicht von Erfolg
gekrönt gewesen; die meisten von ihnen betrachteten ihn voll
abergläubischer Ehrfurcht, und man gab mir zu verstehen, daß er
selbstverständlich den Verzehr von Dingen überleben konnte, die
einen Normalsterblichen auf der Stelle umbringen würden.
Ich entließ Maisri und begrüßte die nächste
Besucherin meiner improvisierten
Klinik, eine Frau, deren zwei kleine Mädchen mit einem ekzematösen
Ausschlag bedeckt waren, den ich zuerst für ein weiteres Zeichen
von Mangelernährung hielt, der aber glücklicherweise nur von der
Berührung mit Giftsumachpflanzen stammte.
Mir wurde bewußt, daß sich in der Menge etwas
regte. Ich unterbrach meine Behandlung und drehte mich um, um zu
sehen, wer da angekommen war. Am Rand der Lichtung glitzerte das
Sonnenlicht auf Metall, und Jamies Hand war nicht die einzige, die
an die Pistole oder zum Messergriff fuhr.
Sie traten im Gleichschritt in die Sonne, obwohl
ihre Trommeln gedämpft waren und nur das leise Tap-tap! der
Trommelstöcke auf den Rändern sie anleitete. Ihre Musketen waren
zum Himmel gerichtet, und ihre Schwerter zuckten wie
Skorpionschwänze, als sie paarweise aus dem Wald traten; ihre Röcke
leuchteten scharlachrot auf und ihre grünen Kilts schwangen ihnen
um die Knie.
Vier, sechs, acht, zehn… Ich zählte sie schweigend,
genau wie alle anderen auch. Vierzig Männer traten hervor; die
Augen unter ihren Bärenfellmützen geradeaus gerichtet, blickten sie
weder nach rechts noch links, und man hörte nur das Geschiebe ihrer
Füße und das Klopfen ihrer Trommeln.
Ich sah, wie sich MacNeill aus Barra am anderen
Ende der Lichtung von seinem Sitz erhob und sich aufrichtete; die
Menschen um ihn herum gerieten unauffällig in Bewegung, und mit ein
paar Schritten hatten sich seine Männer um ihn gesammelt. Ich
brauchte mich nicht umzusehen, um zu spüren, wie das gleiche
überall um mich herum geschah; ich spürte mehr, als daß ich es sah,
wie sich um den ganzen Fuß des Berges herum die Männer auf ähnliche
Weise zusammenrotteten und jede Gruppe mit einem Auge die
Eindringlinge fixierte, während sie mit dem anderen auf Anweisungen
von ihrem Anführer warteten.
Ich hielt nach Brianna Ausschau und war
erschrocken, wenn auch nicht überrascht, sie direkt hinter mir zu
finden, das Baby im Arm, während sie mir gebannt über die Schulter
blickte.
»Wer ist das?« fragte sie leise, und ich konnte
hören, wie das Echo der Frage die Menge durchlief wie Wellen im
Wasser.
»Ein Highlandregiment«, sagte ich.
»Das sehe ich«, sagte sie scharf. »Freund oder
Feind?«
Das war ganz offensichtlich die Frage - waren sie
als Schotten hier oder als Soldaten? Doch ich kannte die Antwort
nicht, und dem Geschiebe und Gemurmel der Menge nach auch sonst
niemand. Natürlich kamen Zwischenfälle vor, bei denen Truppen
herbeieilten, um
randalierende Gruppen zu zerstreuen. Aber doch wohl nicht eine
friedliche Zusammenkunft wie diese hier, die keinem politischen
Zweck diente?
Doch es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der die
bloße Gegenwart einer größeren Zahl von Schotten an ein und
derselben Stelle einer politischen Erklärung gleichkam, und die
meisten der Anwesenden erinnerten sich an diese Zeit. Das Gemurmel
wurde lauter; mit dem unterdrückten Zischen der Vehemenz
gesprochenes Gälisch umwehte seufzend den Berg wie der Wind vor
einem Sturm.
Vierzig Soldaten zogen mit Gewehren und Schwertern
die Straße entlang. Zweihundert Schotten befanden sich hier, die
meisten bewaffnet, viele mit Sklaven und Bediensteten. Aber auch
mit Frauen und Kindern.
Ich erinnerte mich an die Tage nach Culloden, und
ohne mich umzublicken, sagte ich zu Brianna: »Falls etwas geschieht
- irgend etwas - dann steig mit dem Baby in die Felsen
hinauf.«
Roger tauchte plötzlich vor mir auf, und seine
ganze Aufmerksamkeit war auf die Soldaten gerichtet. Er sah Jamie
nicht an, setzte sich aber schweigend in Bewegung, so daß sie
Schulter an Schulter dastanden, ein Bollwerk vor uns. Überall auf
der Lichtung geschah das gleiche; die Frauen rührten sich nicht vom
Fleck, doch ihre Männer stellten sich vor sie. Wer jetzt auf die
Lichtung kam, hätte glauben können, daß die Frauen sich in Luft
aufgelöst hatten und an ihrer Stelle eine unnachgiebige Phalanx von
Schotten zurückgelassen hatten, die ins Tal hinabstarrten.
Dann ritten zwei Männer aus dem Schatten der Bäume
hervor; ein berittener Offizier, begleitet von seinem Adjutanten
mit wehendem Regimentsbanner. Sie gaben ihren Pferden die Sporen
und ritten an der Soldatenkolonne vorbei in den Rand der Menge
hinein. Ich sah, wie sich der Adjutant von seinem Pferd
hinunterbeugte, um eine Frage zu stellen, sah, wie sich der Kopf
des Offiziers uns zuwandte, um die Antwort zu bestätigen.
Der Offizier bellte einen Befehl, und die Soldaten
nahmen Ruhestellung ein, die Musketen in den Staub gepflanzt, die
karierten Beine gespreizt. Der Offizier drehte sein Pferd in die
Menge und bahnte sich langsam seinen Weg durch die dichtgedrängten
Menschen, die zögernd vor ihm zurückwichen.
Er kam auf uns zu; ich sah, wie sein Blick Jamie
schon von fern fixierte, der nicht zu übersehen war dank seiner
Körpergröße und seines Haars, das wie scharlachrotes Ahornlaub
leuchtete.
Der Mann kam vor uns zum Halten und zog seinen
Federhut. Er
glitt vom Pferd, trat zwei Schritte auf Jamie zu und verbeugte
sich korrekt und steif. Er war ein kleiner Mann, aber kräftig,
vielleicht dreißig, mit dunklen Augen, die so leuchtend wie seine
Halsbeuge glitzerten. Aus der Nähe sah ich jetzt, was mir vorher
nicht aufgefallen war, das kleinere Metallstück, das an der
Schulter seines roten Rockes steckte; eine zerbeulte Brosche aus
poliertem Gold.
»Mein Name ist Archie Hayes«, sagte er in breitem
Schottisch. Seine Augen waren fest auf Jamies Gesicht gerichtet,
dunkel und voller Hoffnung. »Man sagt, Ihr habt meinen Vater
gekannt.«