70
Gathering
Fast dreißig Jahre waren vergangen, seit ich zum letzten Mal an einem Gathering teilgenommen hatte; jener Zusammenkunft in Leoch, bei dem der Clan MacKenzie seine Eide abgelegt hatte. Jetzt war Colum MacKenzie tot, ebenso sein Bruder Dougal - und alle Clans mit ihnen. Leoch war eine Ruine, und es gab keine Zusammenkünfte der Clans mehr in Schottland.
Und doch waren hier die Plaids und die Dudelsäcke, und die überlebenden Highlander selbst, von unvermindertem, heftigem Stolz erfüllt, umgeben von einem neuen Gebirge, das sie für die Ihren in Anspruch nahmen. MacNeills und Campbells, Buchanans und Lindseys, MacLeods und MacDonalds; Familien, Sklaven und Bedienstete, Zwangsarbeiter und Gutsherren.
Ich ließ meinen Blick über das rege Gewimmel der Dutzende von Lagerstätten schweifen, um Ausschau nach Jamie zu halten, und erblickte statt dessen eine vertraute Hünengestalt, die mit schlackernden Gliedern durch die Menschengrüppchen schritt. Ich stand auf und winkte, während ich ihn rief.
»Myers! Mr. Myers!«
John Quincy Myers erblickte mich und kam strahlend den Abhang herauf zu unserer Lagerstelle.
»Mrs. Claire!« rief er aus, indem er seinen verlotterten Hut zog und sich vornehm wie immer über meine Hand beugte. »Ich bin ganz entzückt, Euch zu sehen.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, versicherte ich ihm lächelnd. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch hier zu sehen.«
»Oh, ich plane normalerweise jedes Gathering ein«, sagte er. Er richtete sich auf und strahlte auf mich herab. »Wenn ich rechtzeitig aus dem Gebirge komme. Eine gute Gelegenheit, meine Felle zu verkaufen; den Kleinkram, den ich loswerden muß. Apropos…« Er begann langsam und systematisch, seine große Wildledertasche zu durchforsten.
»Seid Ihr sehr weit nach Norden gekommen, Mr. Myers?«
»Oh, ja, in der Tat, in der Tat, Mrs. Claire. Den halben Mohawkfluß hinauf bis zu der Stelle, die man die Obere Festung nennt.«
»Den Mohawk?« Mein Herz begann, schneller zu schlagen.
»Mm.« Er zog etwas aus seiner Tasche, blinzelte es an, steckte es wieder hinein und kramte weiter. »Stellt Euch meine Überraschung vor, Mrs. Claire, ein bekanntes Gesicht zu sehen, als ich in einem Mohawkdorf im Süden haltmachte.
»Ian! Ihr habt Ian gesehen? Geht es ihm gut?« Ich war so aufgeregt, daß ich ihn am Arm packte.
»Oh, aye«, versicherte er mir. »Sieht gut aus, der Junge - obwohl ich sagen muß, es hat mir einen Ruck versetzt, ihn wie einen Wilden aufgemacht zu sehen, und sein Gesicht war so sonnenverbrannt, daß ich ihn für einen gehalten hätte, wenn er mich nicht bei meinem Namen gerufen hätte.«
Schließlich fand er, was er suchte, und reichte mir ein kleines Päckchen, das in dünnes Leder gewickelt und mit einem Wildlederstreifen zugebunden war - eine Spechtfeder steckte im Knoten.
»Das hat er mir anvertraut, Ma’am, um es Euch und Eurem Mann zu bringen.« Er lächelte freundlich. »Ich nehme an, Ihr wollt es sofort lesen; wir sehen uns dann später, Mrs. Claire.« Er verbeugte sich ernst und formell, dann entfernte er sich und begrüßte im Vorübergehen weitere Bekannte.
Ich wollte mit dem Lesen auf Jamie warten; glücklicherweise erschien er nur ein paar Minuten später. Der Brief war auf etwas geschrieben, das die herausgerissene, innere Umschlagseite eines Buches zu sein schien, seine Tinte hatte die blaßbraune Farbe der Eichengalle, war aber gut lesbar. Ian salutat avunculus Jacobus, begann die Notiz, und in Jamies Gesicht brach ein Grinsen aus.
 
Ave. Da meine Lateinkenntnisse hiermit erschöpft sind, muß ich mich jetzt auf simples Englisch verlegen, an das ich mich weitaus besser erinnern kann. Mir geht es gut, Onkel Jamie, und ich bin glücklich - ich bitte Dich, das zu glauben. Ich habe geheiratet, nach den Bräuchen der Mohawk, und lebe im Haus meiner Frau. Du erinnerst Dich sicher an Emily, die so geschickt schnitzen kann. Rollo hat eine Menge Welpen gezeugt; das Dorf ist mit kleinen Wolfsrepliken übersät. Ich kann nicht damit rechnen, mich jemals so reichlich fortzupflanzen - jedoch hoffe ich, daß Du meiner Mutter von meinem Wunsch schreiben wirst, daß sie noch nicht so viele Enkelkinder hat, daß sie es übersieht, wenn noch eins dazukommt. Die Geburt ist im Frühling; ich werde Euch davon berichten, so schnell ich kann. In der Zwischenzeit sei so lieb und erinnere alle in Lallybroch, River Run und Fraser’s Ridge an mich. Ich denke mit großer Zuneigung an alle und werde es immer tun, solange ich lebe. Liebe Grüße an Tante Claire, Cousine Brianna und vor allem an Dich. Dein Dich liebender Neffe; Ian Murray. Vale, avunculus.
 
Jamie blinzelte ein paarmal, faltete die zerrissene Seite vorsichtig zusammen und steckte sie in seinen Sporran.
»Das heißt avuncule, du kleiner Trottel«, sagte er leise. »Für die Grußform nimmt man den Vokativ.«
 
Als ich an diesem Abend meinen Blick über das Pünktchenmuster aus Lagerfeuern wandern ließ, hätte ich gesagt, daß sich alle schottischen Familien zwischen Philadelphia und Charleston hier eingefunden hatten - und doch trafen in der nächsten Dämmerung noch mehr von ihnen ein, und der Strom riß nicht ab.
Es war am zweiten Tag, und Lizzie, Brianna und ich verglichen gerade unser Baby mit dem Nachwuchs von zwei von Farquard Campbells Töchtern, als sich Jamie seinen Weg durch eine Menge von Frauen und Kindern bahnte, ein breites Lächeln im Gesicht.
»Mrs. Lizzie«, sagte er. »Ich hab”ne kleine Überraschung für dich. Fergus!«
Fergus, der genauso strahlte, trat hinter einem Wagen hervor und schob einen schmalen Mann mit vom Wind zerzaustem, dünnem blondem Haar vor sich her.
»Pa!« kreischte Lizzie und warf sich in seine Arme. Jamie steckte sich einen Finger ins Ohr, wackelte damit und machte ein erstauntes Gesicht.
»Ich glaube nicht, daß ich schon jemals gehört habe, wie sie solchen Krach macht«, sagte er. Er grinste mich an und gab mir zwei Stücke Papier; ursprünglich Teile ein und desselben Dokumentes, waren sie sorgsam entzweigerissen worden, so daß die gezahnte Kante des einen zur gekerbten Kante des anderen paßte.
»Das ist Mr. Wemyss’ Zwangsarbeitervertrag«, sagte er. »Steck ihn erst einmal ein, Sassenach; wir verbrennen ihn heute abend im Freudenfeuer.«
Dann verschwand er wieder in der Menge, von einer Handbewegung und einem Mac-Dubh-Ruf ans andere Ende der Lichtung bestellt.
 
Am dritten Tag des Clantreffens hatte ich so viele Neuigkeiten, Gerüchte und allgemeines Geschwätz gehört, daß meine Ohren von gälischen Worten widerhallten. Wer nicht redete, der sang; Roger war in seinem Element, er wanderte über das Gelände und sperrte die Ohren auf. Außerdem war er heiser vom Singen; er war fast die ganze letzte Nacht aufgewesen, hatte auf einer geborgten Gitarre gespielt und einer verzauberten Zuhörerschaft vorgesungen, während Brianna zu seinen Füßen zusammengerollt saß und ein selbstzufriedenes Gesicht machte.
»Ist er gut?« hatte Jamie mir zugemurmelt und dabei seinen voraussichtlichen Schwiegersohn skeptisch angeblinzelt.
»Besser als gut«, versicherte ich ihm.
Er zog eine Augenbraue hoch und zuckte mit den Achseln, dann bückte er sich, um mir das Baby abzunehmen.
»Aye, schön, das muß ich dir wohl glauben. Ich glaube, Klein Ruaidh und ich suchen uns ein Würfelspiel.«
»Du nimmst ein Baby zum Glücksspiel mit?«
»Natürlich«, sagte er und grinste mich an. »Er kann nicht früh genug damit anfangen, ein ehrliches Handwerk zu lernen, falls er einmal nicht für sein Essen singen kann wie sein Pa.«
 
»Wenn du Rübenpüree machst«, sagte ich, »dann achte darauf, daß du das Grün zusammen mit den Rüben kochst. Dann heb das Kochwasser auf und gib es den Kindern; trink auch etwas davon - es ist gut für deine Milch.«
Maisri Buchanan drückte ihr kleinstes Kind an ihre Brust, während sie sich meine Ratschläge einprägte. Ich konnte die meisten der neuen Immigranten nicht dazu bewegen, selbst Grünzeug zu essen oder es ihren Familien zu verabreichen, aber dann und wann fand ich die Gelegenheit, ihnen unauffällig ein wenig Vitamin C unter ihre übliche Ernährung zu schmuggeln - welche zum Großteil aus Hafermehl und Wild bestand.
Ich hatte Jamie als Demonstrationsobjekt benutzt und ihn öffentlich einen Teller mit Tomatenscheiben verzehren lassen, weil ich hoffte, daß sein Anblick den Neuankömmlingen einige ihrer Ängste nehmen würde. Doch es war nicht von Erfolg gekrönt gewesen; die meisten von ihnen betrachteten ihn voll abergläubischer Ehrfurcht, und man gab mir zu verstehen, daß er selbstverständlich den Verzehr von Dingen überleben konnte, die einen Normalsterblichen auf der Stelle umbringen würden.
Ich entließ Maisri und begrüßte die nächste Besucherin meiner improvisierten Klinik, eine Frau, deren zwei kleine Mädchen mit einem ekzematösen Ausschlag bedeckt waren, den ich zuerst für ein weiteres Zeichen von Mangelernährung hielt, der aber glücklicherweise nur von der Berührung mit Giftsumachpflanzen stammte.
Mir wurde bewußt, daß sich in der Menge etwas regte. Ich unterbrach meine Behandlung und drehte mich um, um zu sehen, wer da angekommen war. Am Rand der Lichtung glitzerte das Sonnenlicht auf Metall, und Jamies Hand war nicht die einzige, die an die Pistole oder zum Messergriff fuhr.
Sie traten im Gleichschritt in die Sonne, obwohl ihre Trommeln gedämpft waren und nur das leise Tap-tap! der Trommelstöcke auf den Rändern sie anleitete. Ihre Musketen waren zum Himmel gerichtet, und ihre Schwerter zuckten wie Skorpionschwänze, als sie paarweise aus dem Wald traten; ihre Röcke leuchteten scharlachrot auf und ihre grünen Kilts schwangen ihnen um die Knie.
Vier, sechs, acht, zehn… Ich zählte sie schweigend, genau wie alle anderen auch. Vierzig Männer traten hervor; die Augen unter ihren Bärenfellmützen geradeaus gerichtet, blickten sie weder nach rechts noch links, und man hörte nur das Geschiebe ihrer Füße und das Klopfen ihrer Trommeln.
Ich sah, wie sich MacNeill aus Barra am anderen Ende der Lichtung von seinem Sitz erhob und sich aufrichtete; die Menschen um ihn herum gerieten unauffällig in Bewegung, und mit ein paar Schritten hatten sich seine Männer um ihn gesammelt. Ich brauchte mich nicht umzusehen, um zu spüren, wie das gleiche überall um mich herum geschah; ich spürte mehr, als daß ich es sah, wie sich um den ganzen Fuß des Berges herum die Männer auf ähnliche Weise zusammenrotteten und jede Gruppe mit einem Auge die Eindringlinge fixierte, während sie mit dem anderen auf Anweisungen von ihrem Anführer warteten.
Ich hielt nach Brianna Ausschau und war erschrocken, wenn auch nicht überrascht, sie direkt hinter mir zu finden, das Baby im Arm, während sie mir gebannt über die Schulter blickte.
»Wer ist das?« fragte sie leise, und ich konnte hören, wie das Echo der Frage die Menge durchlief wie Wellen im Wasser.
»Ein Highlandregiment«, sagte ich.
»Das sehe ich«, sagte sie scharf. »Freund oder Feind?«
Das war ganz offensichtlich die Frage - waren sie als Schotten hier oder als Soldaten? Doch ich kannte die Antwort nicht, und dem Geschiebe und Gemurmel der Menge nach auch sonst niemand. Natürlich kamen Zwischenfälle vor, bei denen Truppen herbeieilten, um randalierende Gruppen zu zerstreuen. Aber doch wohl nicht eine friedliche Zusammenkunft wie diese hier, die keinem politischen Zweck diente?
Doch es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der die bloße Gegenwart einer größeren Zahl von Schotten an ein und derselben Stelle einer politischen Erklärung gleichkam, und die meisten der Anwesenden erinnerten sich an diese Zeit. Das Gemurmel wurde lauter; mit dem unterdrückten Zischen der Vehemenz gesprochenes Gälisch umwehte seufzend den Berg wie der Wind vor einem Sturm.
Vierzig Soldaten zogen mit Gewehren und Schwertern die Straße entlang. Zweihundert Schotten befanden sich hier, die meisten bewaffnet, viele mit Sklaven und Bediensteten. Aber auch mit Frauen und Kindern.
Ich erinnerte mich an die Tage nach Culloden, und ohne mich umzublicken, sagte ich zu Brianna: »Falls etwas geschieht - irgend etwas - dann steig mit dem Baby in die Felsen hinauf.«
Roger tauchte plötzlich vor mir auf, und seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Soldaten gerichtet. Er sah Jamie nicht an, setzte sich aber schweigend in Bewegung, so daß sie Schulter an Schulter dastanden, ein Bollwerk vor uns. Überall auf der Lichtung geschah das gleiche; die Frauen rührten sich nicht vom Fleck, doch ihre Männer stellten sich vor sie. Wer jetzt auf die Lichtung kam, hätte glauben können, daß die Frauen sich in Luft aufgelöst hatten und an ihrer Stelle eine unnachgiebige Phalanx von Schotten zurückgelassen hatten, die ins Tal hinabstarrten.
Dann ritten zwei Männer aus dem Schatten der Bäume hervor; ein berittener Offizier, begleitet von seinem Adjutanten mit wehendem Regimentsbanner. Sie gaben ihren Pferden die Sporen und ritten an der Soldatenkolonne vorbei in den Rand der Menge hinein. Ich sah, wie sich der Adjutant von seinem Pferd hinunterbeugte, um eine Frage zu stellen, sah, wie sich der Kopf des Offiziers uns zuwandte, um die Antwort zu bestätigen.
Der Offizier bellte einen Befehl, und die Soldaten nahmen Ruhestellung ein, die Musketen in den Staub gepflanzt, die karierten Beine gespreizt. Der Offizier drehte sein Pferd in die Menge und bahnte sich langsam seinen Weg durch die dichtgedrängten Menschen, die zögernd vor ihm zurückwichen.
Er kam auf uns zu; ich sah, wie sein Blick Jamie schon von fern fixierte, der nicht zu übersehen war dank seiner Körpergröße und seines Haars, das wie scharlachrotes Ahornlaub leuchtete.
Der Mann kam vor uns zum Halten und zog seinen Federhut. Er glitt vom Pferd, trat zwei Schritte auf Jamie zu und verbeugte sich korrekt und steif. Er war ein kleiner Mann, aber kräftig, vielleicht dreißig, mit dunklen Augen, die so leuchtend wie seine Halsbeuge glitzerten. Aus der Nähe sah ich jetzt, was mir vorher nicht aufgefallen war, das kleinere Metallstück, das an der Schulter seines roten Rockes steckte; eine zerbeulte Brosche aus poliertem Gold.
»Mein Name ist Archie Hayes«, sagte er in breitem Schottisch. Seine Augen waren fest auf Jamies Gesicht gerichtet, dunkel und voller Hoffnung. »Man sagt, Ihr habt meinen Vater gekannt.«
Der Ruf Der Trommel
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