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Der Schädel unter der Haut
Ich hatte Jamie gesagt, daß es mir nichts ausmache, fernab der Zivilisation zu leben; überall, wo Menschen lebten, würde es auch Arbeit für eine Heilerin geben. Duncan hatte sein Versprechen gehalten und war im Frühjahr 1768 mit acht der früheren Gefangenen aus Ardsmuir und ihren Familien zurückgekehrt, die sich auf Fraser’s Ridge, wie man den Ort jetzt allgemein nannte, niederlassen wollten. Bei fast dreißig Seelen waren meine leicht eingerosteten Künste sofort gefragt; es galt, Wunden zuzunähen und Fieber zu behandeln, Abszesse zu öffnen und Zahnfleischentzündungen zu säubern. Zwei der Frauen waren schwanger, und es war mir eine Freude, sie von zwei gesunden Kindern zu entbinden, einem Jungen und einem Mädchen, die beide zu Beginn des Frühjahrs geboren wurden.
Mein Ruf - wenn das das richtige Wort ist - als Heilerin verbreitete sich schnell auch über unsere winzige Siedlung hinaus, und ich wurde immer weiter weg gerufen, um Leute zu behandeln, die in einem Umkreis von dreißig Meilen auf einsamen Höfen in wildem Bergland lebten. Außerdem unternahm ich manchmal mit Ian Stippvisiten nach Anna Ooka, um Nayawenne zu besuchen, und jedesmal kehrte ich mit Körben und Krügen voll nützlicher Kräuter zurück.
Anfangs hatte Jamie darauf bestanden, daß er oder Ian mich zu den weiter entfernten Orten begleiteten, doch es stellte sich bald heraus, daß keiner von ihnen entbehrlich war; es war Zeit für die erste Aussaat, der Boden mußte vorbereitet und mit der Egge bearbeitet werden, und Mais und Gerste mußten gesät werden, ganz zu schweigen von den regelmäßigen Aufgaben, die auf einem kleinen Hof anfielen. Zusätzlich zu den Pferden und Maultieren hatten wir eine kleine Hühnerschar erworben, einen lasterhaft aussehenden schwarzen Eber, der den gesellschaftlichen Bedürfnissen unseres Schweins gerecht werden sollte, und - als größten Luxus - eine Milchziege, und sie alle mußten gefüttert, getränkt und ganz allgemein daran gehindert werden, sich gegenseitig umzubringen oder von Bären oder Panthern gefressen zu werden.
Also ging ich immer öfter allein los, wenn ein Fremder unvermittelt in der Eingangstür erschien und nach einer Heilerin oder Hebamme fragte. Daniel Rawlings’ Krankenbuch erhielt neue Einträge, und unsere Vorratskammer wurde um Schinken, Hirschkeulen, Getreidesäcke oder Berge von Äpfeln bereichert, mit denen mich meine Patienten für meine Zuwendung bezahlten. Ich verlangte nie eine Bezahlung, doch irgend etwas wurde mir immer angeboten - und arm, wie wir waren, war uns alles willkommen.
Meine Patienten im Hinterland kamen von überallher, und viele sprachen weder Englisch noch Französisch: da gab es deutsche Lutheraner, Quäker, Schotten, Iren und die Mitglieder einer großen Siedlung der Herrnhuter Brüdergemeinde in Salem, die eine merkwürdige Sprache sprachen, die ich für Tschechisch hielt. Normalerweise kam ich jedoch zurecht; in den meisten Fällen konnte jemand für mich dolmetschen, und schlimmstenfalls konnte ich mich auf die Sprache von Händen und Körper verlassen - »Wo tut es weh?« kann man in jeder Sprache leicht verstehen.
 
August 1768
Ich war durchgefroren. Obwohl ich mir größte Mühe gab, fest in meinen Umhang gewickelt zu bleiben, riß der Wind ihn mir vom Leib und blähte ihn auf wie ein Segel. Er flatterte dem Jungen, der neben mir herging, um den Kopf und riß mich mit jedem Windstoß im Sattel zur Seite. Der Regen drang zwischen den wehenden Falten wie gefrorene Nadeln ein, und ich war bis auf Kleid und Unterröcke durchnäßt, noch ehe wir den Bach namens Mueller’s Creek erreichten.
Der Bach selbst brodelte an uns vorbei, und entwurzelte Schößlinge, Felsen und versunkene Äste stiegen dann und wann an seine Oberfläche.
Tommy Mueller warf einen Blick auf die Flut und hatte dabei die Schultern fast bis zur Krempe des Schlapphutes hochgezogen, den er sich über beide Ohren gestülpt hatte. Jede Linie seines Körpers drückte Zweifel aus, daher bückte ich mich, um ihm ins Ohr zu rufen.
»Bleib hier!« brüllte ich und versuchte, das Heulen des Windes zu übertönen.
Er schüttelte den Kopf und rief mir etwas zu, doch ich konnte ihn nicht hören. Ich schüttelte meinerseits heftig den Kopf und zeigte mit der Hand auf das Ufer; der schlammige Boden bröckelte schon ab - ich konnte förmlich zusehen, wie die schwarze Erde klumpenweise fortgewaschen wurde.
»Geh zurück!« rief ich.
Er machte ebenfalls eine nachdrückliche Handbewegung - zurück zum Bauernhaus - und griff mir in die Zügel. Er hielt es offensichtlich für zu gefährlich; er wollte, daß ich mit zum Haus zurückkehrte, um dort das Ende des Sturms abzuwarten.
Er hatte definitiv nicht unrecht. Andererseits konnte ich zusehen, wie der Fluß breiter wurde und die hungrige Flut Brocken und Klumpen aus dem weichen Ufer fraß. Wenn wir noch länger warteten, würde niemand mehr hinüberkönnen - und es würde noch tagelang nicht sicher sein; ein solches Hochwasser konnte bis zu einer Woche dauern, solange noch Regenwasser aus den höheren Berglagen herunterlief und die Flut nährte.
Die Vorstellung, in einem Vierzimmerhaus mit allen zehn Muellers eingepfercht zu sein, reichte aus, um mich zum Leichtsinn zu treiben. Ich entriß Tommy die Zügel und wandte mich um. Mein Pferd schüttelte sich den Regen vom Kopf und bewegte sich vorsichtig auf dem glitschigen Schlamm.
Wir gelangten an die obere Uferböschung, wo uns eine dichte Laubschicht besseren Halt gab. Ich drehte das Pferd um, wies Tommy an, aus dem Weg zu gehen, und beugte mich vor wie eine Hindernisreiterin. Meine Ellbogen gruben sich in den Sack voll Gerste, der vor mir über den Sattel gebunden war - die Bezahlung für meine Dienste.
Diese Verlagerung meines Gewichtes reichte aus; das Pferd war genausowenig darauf versessen wie ich, hier noch länger zu bleiben. Ich spürte den plötzlichen Ruck, als sich seine Hinterhand senkte und anspannte, und dann rasten wir die Böschung hinunter wie ein durchgedrehter Rodelschlitten. Ein Stoß und ein schwindelerregender Moment des freien Falls, dann fand ich mich bis über die Oberschenkel in eiskaltem Wasser wieder.
Meine Hände waren so kalt, daß sie mit den Zügeln hätten verschweißt sein können, doch ich konnte dem Pferd keinerlei Führungshilfen geben. Ich ließ die Arme sinken und überließ dem Pferd die Zügel. Ich spürte, wie sich beim Schwimmen seine kräftigen Muskeln rhythmisch unter mir bewegten und sich das Wasser mit immer stärkerem Druck an uns vorbeidrängte. Es zerrte an meinen Röcken und drohte, mich vom Pferd in die Strömung zu reißen.
Dann ein Ruck, Hufe scharrten auf dem Grund des Baches, und wir waren draußen, wassertriefend wie ein Sieb. Ich drehte mich im Sattel um und sah Tommy Mueller mit offenem Mund am anderen Ufer stehen. Ich konnte die Zügel nicht loslassen, um zu winken, doch ich verneigte mich formell vor ihm, trieb dann das Pferd mit den Absätzen an und wandte mich heimwärts.
Die Kapuze meines Umhangs war mir bei dem Sprung vom Kopf gerutscht, doch es machte keinen großen Unterschied; ich konnte kaum noch nasser werden. Ich strich mir mit dem Handgelenk eine feuchte Haarsträhne aus den Augen und trieb das Pferd auf den Pfad, der ins Bergland führte, erleichtert, daß es nach Hause ging, und wenn es noch so regnete.
Ich hatte drei Tage im Blockhaus der Muellers verbracht und die achtzehnjährige Petronella bei ihrer ersten Geburt betreut. Es würde auch ihre letzte sein, sagte zumindest Petronella. Als ihr siebzehnjähriger Ehemann am Mittag des zweiten Tages einen zaghaften Blick ins Zimmer geworfen hatte, war er mit einem Schwall deutscher Schimpfworte empfangen worden, der ihn mit schamroten Ohren in das Männerrefugium in der Scheune hatte zurückstolpern lassen.
Ein paar Stunden später hatte ich Freddy - der viel jünger aussah als siebzehn - schüchtern am Bett seiner Frau knien sehen, und sein Gesicht war weißer gewesen als ihr Nachthemd, als er zögernd einen saubergeschrubbten Finger ausstreckte, um die Decke zur Seite zu schieben, die seine Tochter umhüllte.
Er hatte stumm auf das runde Köpfchen gestarrt, das mit einem schwarzen Flaum überzogen war, und hatte dann seine Frau angesehen, als müßte man ihm auf die Sprünge helfen.
»Ist sie nicht wunderschön?« hatte Petronella leise gesagt.
Er hatte genickt, langsam, dann den Kopf in ihren Schoß gelegt und angefangen zu weinen. Die Frauen hatten freundlich gelächelt und sich dann wieder an die Zubereitung des Abendessens begeben.
Und es war ein gutes Abendessen gewesen; das Essen war einer der Vorteile eines Hausbesuchs bei den Muellers. Auch jetzt war mein Magen angenehm mit Knödeln und gebratener Blutwurst gefüllt, und der Geschmack der Spiegeleier, den ich noch im Mund hatte, lenkte mich zumindest ein wenig von der allgemeinen Unannehmlichkeit meiner gegenwärtigen Lage ab.
Ich hoffte, daß Jamie und Ian es fertiggebracht hatten, während meiner Abwesenheit anständig zu essen. Da der Sommer zu Ende ging, die Erntezeit aber noch nicht gekommen war, herrschte auf den Regalen in der Vorratskammer nicht einmal ansatzweise der für den Herbst erhoffte Überfluß, doch auf dem Bord befanden sich ein paar Käselaibe, auf dem Boden stand ein großes Steingutgefäß mit gesalzenem Fisch, und dazu gab es säckeweise Mehl, Mais, Reis, Bohnen, Gerste und Hafermehl.
Jamie konnte eigentlich kochen - zumindest insofern, als er Wildbret vorbereiten und über dem Feuer grillen konnte -,und ich hatte mein Bestes getan, um Ian in die Geheimnisse der Porridgezubereitung einzuweihen, doch da sie nun einmal Männer waren, nahm ich an, daß sie sich nicht die Mühe gemacht und sich statt dessen lieber von rohen Zwiebeln und Trockenfleisch ernährt hatten.
Ich konnte nicht sagen, ob sie am Ende eines Tages voller Männerarbeiten wie Bäumefällen, Pflügen und dem Heimschleppen toter Hirsche ehrlich zu erschöpft waren, um sich Gedanken über die Zusammenstellung einer ordentlichen Mahlzeit zu machen, oder ob sie es mit Absicht machten, damit ich mir unentbehrlich vorkam.
Jetzt, wo ich mich im Schutz des Bergrückens befand, wehte der Wind schwächer, doch der Regen prasselte immer noch auf mich nieder, und der Boden war trügerisch, da sich der Schlamm auf dem Weg in Flüssigkeit verwandelt hatte, auf deren Oberfläche eine Laubschicht verräterisch wie Treibsand dahintrieb. Ich spürte das Unbehagen des Pferdes, dessen Hufe mit jedem Schritt ausglitten.
»Guter Junge«, sagte ich beschwichtigend. »Geh schön weiter, so ist’s gut.« Das Pferd richtete leicht die Ohren auf, hielt aber den Kopf gesenkt und ging vorsichtig weiter.
»Schlammfuß?« sagte ich. »Wie wär’s damit?«
Das Pferd hatte zur Zeit keinen Namen - oder vielmehr, es hatte einen, doch ich kannte ihn nicht. Der Mann, von dem Jamie es gekauft hatte, hatte es mit einem deutschen Namen gerufen, von dem Jamie sagte, er sei für das Pferd einer Dame nicht geeignet. Als ich ihn gebeten hatte, den Namen zu übersetzen, hatte er nur die Lippen zusammengepreßt und ein schottisches Gesicht gemacht, woraus ich schloß, daß er ziemlich schlimm sein mußte. Ich hatte die alte Frau Mueller fragen wollen, was er bedeutete, hatte es aber in der Eile des Aufbruchs vergessen.
Jamies Theorie war sowieso, daß das Pferd seinen wahren - oder zumindest seinen aussprechbaren - Namen im Lauf der Zeit preisgeben würde, und so behielten wir das Tier im Auge und hofften, etwas über seinen Charakter herauszufinden. Nach einem Proberitt hatte Ian »Häschen« vorgeschlagen, doch Jamie hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, nein, das sei es nicht.
»Wackelzeh?« schlug ich vor. »Leichtfuß? Verdammt!«
Das Pferd war völlig zum Stehen gekommen, und zwar aus gutem Grund. Ein kleines Wildwasser gurgelte fröhlich den Hügel herunter und sprang ganz ungehemmt von Fels zu Fels. Es war wunderschön, das Wasser rauschte kristallklar über die dunklen Felsen und das grüne Laub. Unglücklicherweise lief es auch über die Reste des Pfades, die der Macht der Ereignisse nicht gewachsen und talwärts den Abhang heruntergerutscht waren.
Ich saß still da und triefte vor mich hin. Ich konnte den Erdrutsch nicht umgehen. Rechts von mir stieg der Hügel beinahe senkrecht in die Höhe, und Büsche und Schößlinge sprossen aus den Spalten der Felswand, und links fiel er so steil in die Tiefe, daß es Selbstmord gewesen wäre, dort hinunterzusteigen. Unter Flüchen wich ich mit dem namenlosen Pferd zurück und kehrte um.
Wäre das Hochwasser nicht gewesen, wäre ich zu den Muellers zurückgekehrt und hätte Jamie und Ian noch ein bißchen länger für sich selbst sorgen lassen. Doch so hatte ich keine Wahl - ich konnte mir entweder einen anderen Weg nach Hause suchen oder hierbleiben und ertrinken.
Erschöpft verfolgten wir unsere Spur zurück. Keine vierhundert Meter von dem Erdrutsch entfernt fand ich eine Stelle, wo der Abhang in einen kleinen Sattel überging, eine Mulde zwischen zwei »Hörnern« aus Granit. Solche Formationen gab es hier häufig; eine besonders große auf einem Berg in der Nähe, die ihm den Namen Teufelsspitze eingebracht hatte. Wenn ich den Sattel überqueren, auf die andere Seite des Hügels gelangen und dann an diesem entlang weiterreiten konnte, würde ich irgendwann wieder auf den Pfad stoßen, wenn er den Kamm in Richtung Süden kreuzte.
Von dem Sattel aus hatte ich einen kurzen, klaren Blick auf das Vorgebirge und das blaue Tal dahinter. Doch die Berggipfel auf der anderen Seite waren hinter schwarzen Regenwolken verborgen, die gelegentlich vom Flackern versteckter Blitze erleuchtet wurden.
Jetzt, wo der Höhepunkt des Sturms anscheinend vorüber war, hatte der Wind nachgelassen. Es regnete noch stärker, und ich blieb so lange stehen, wie nötig war, um meine kalten Finger von den Zügeln loszueisen und mir die Kapuze meines Umhangs aufzusetzen.
Auf dieser Seite des Hügels kamen wir gut voran, denn der Boden war felsig, aber nicht allzu steil. Wir bahnten uns unseren Weg durch kleine Haine mit rotbeerigen Bergebereschen und größere Ansammlungen von Eichen. Ich merkte mir den Standort eines riesigen Brombeerdickichts, auf das ich später zurückkommen wollte, blieb aber nicht stehen. Ich konnte mich so schon glücklich schätzen, wenn ich noch im Hellen nach Hause kam.
Um mich von den kalten Rinnsalen abzulenken, die mir den Hals herabliefen, führte ich in Gedanken eine Inventur der Vorratskammer durch. Was konnte ich zum Abendessen machen, wenn ich erst einmal angekommen war?
Etwas Schnelles, dachte ich zitternd, und etwas Heißes. Eintopf würde zu lange dauern; Suppe ebenfalls. Wenn es Eichhörnchen oder Kaninchen gab, könnten wir es durch einen Teig aus Eiern und Maismehl ziehen und fritieren. Wenn nicht, dann vielleicht Erbsenpürree mit etwas Speck für den Geschmack und ein paar Rühreier mit jungen Zwiebeln.
Ich duckte mich und zuckte zusammen. Trotz der Kapuze und meines dichten Haares trommelten mir die Regentropfen auf den Kopf wie Hagelkörner.
Dann erkannte ich, daß es Hagelkörper waren. Winzige, weiße Kugeln prallten vom Rücken des Pferdes ab und prasselten auf das Eichenlaub. Sekunden später waren die Körner so groß wie Murmeln, und der Hagel war so stark geworden, daß es wie Maschinengewehrfeuer knatterte, wenn er auf den feuchten Laubteppich traf.
Das Pferd warf den Kopf herum und schüttelte heftig die Mähne, um den stechenden Körnern auszuweichen. Hastig zog ich die Zügel an und lenkte es unter die Krone einer riesigen Kastanie, die uns ansatzweise Unterschlupf bot. Dort war es zwar laut, doch der Hagel prallte am dichten Laub ab, so daß wir geschützt waren.
»Gut«, sagte ich. Mit einigen Schwierigkeiten löste ich eine Hand von den Zügeln und tätschelte das Pferd beschwichtigend. »Ganz ruhig. Uns passiert schon nichts, solange hier nicht der Blitz einschlägt.«
Offensichtlich hatte diese Bemerkung jemanden auf eine Idee gebracht; lautlos durchzuckte ein greller Blitz den schwarzen Himmel hinter einem Berg namens Roan. Einige Augenblicke später dröhnte ein heftiger Donnerschlag durch das Tal, der auch das Prasseln des Hagels im Laub über unseren Köpfen übertönte.
In der Ferne sah ich über den Bergen Wetterleuchten. Dann flammten noch mehr Blitze über den Himmel, und das darauffolgende Donnergrollen wurde jedesmal lauter. Der Hagelschauer ging vorbei, und der Regen begann wieder niederzurauschen, stärker als zuvor. Unter mir verschwand das Tal in Wolken und Nebel, doch im Licht der Blitze traten die schroffen Bergkämme hervor wie Knochen auf einem Röntgenschirm.
»Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierund -« BUMM! Das Pferd riß den Kopf zurück und stampfte nervös.
»Ich weiß genau, wie dir zumute ist«, sagte ich zu ihm und blickte in das Tal hinab. »Ruhig, ganz ruhig.« Der nächste Blitz zuckte über den Himmel. Er erleuchtete den dunklen Grat so, daß ich das Abbild der aufgestellten Pferdeohren auch in der folgenden Dunkelheit deutlich vor Augen hatte.
»Einundzwanzig, zweiund -« Ich hätte schwören können, daß der Boden bebte. Das Pferd tat einen schrillen Schrei und stieg in die Höhe, während ich an den Zügeln riß. Seine Hufe wirbelten das Laub auf. Die Luft roch nach Ozon.
Blitz.
»Ein-« sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Verdammt, steh! Einund-«
Blitz.
»Ein-«
Blitz.
»Steh. STEH!«
Ich merkte nichts von meinem Sturz und auch nicht von der Landung. In einer Sekunde zerrte ich noch wild an den Zügeln, unter mir ein tausend Pfund schweres Pferd, das panisch in alle Richtungen ausschlug. In der nächsten lag ich auf dem Rücken, über mir den schwarzen Himmel, der sich drehte, und versuchte, mein Zwerchfell zum Funktionieren zu bewegen.
Meine Muskeln bebten noch von der Erschütterung, und ich versuchte verzweifelt, Körper und Geist wieder in Einklang zu bringen. Dann holte ich mühsam japsend Atem und stellte fest, daß ich zitterte, denn auf den Schock folgten jetzt die ersten Schmerzen.
Ich lag still, schloß die Augen, konzentrierte mich auf meine Atmung und führte eine Inventur durch. Der Regen hämmerte immer noch auf mein Gesicht herab, sammelte sich in meinen Augenhöhlen und lief mir in die Ohren. Mein Gesicht und meine Hände waren taub. Meine Arme ließen sich bewegen. Ich bekam jetzt etwas besser Luft.
Meine Beine. Das linke tat weh, doch es war nicht bedrohlich; ich hatte mir nur das Knie gestoßen. Ich rollte schwerfällig auf die Seite, behindert von meinen nassen, massigen Kleidern. Und doch war es die klobige Kleidung gewesen, die mich vor schwereren Verletzungen bewahrt hatte.
Über mir erklang ein unsicheres Wiehern, das selbst im Dröhnen des Donners hörbar war. Ich blickte benommen nach oben und sah den Kopf des Pferdes gute zehn Meter über mir aus einem Himbeergestrüpp ragen. Unter dem Dickicht ging es steil und felsig nach unten; eine lange Rutschspur am unteren Ende zeigte, wo ich aufgekommen und weitergerollt war, bevor ich in meiner gegenwärtigen Position gelandet war.
Wir hatten quasi am Rand dieses kleinen Abgrundes gestanden, ohne daß ich es gesehen hatte, denn er war durch die dichten Büsche verdeckt. Die Panik hatte das Pferd bis an die Kante getrieben, doch offensichtlich hatte es die Gefahr gespürt und sich gefangen, bevor es abstürzte - jedoch nicht, ohne mich in den luftleeren Raum davonpurzeln zu lassen.
»Du verdammtes Mistvieh!« sagte ich. Und fragte mich, ob der unbekannte deutsche Name vielleicht etwas Ähnliches bedeutete. »Ich hätte mir den Hals brechen können!« Ich wischte mir, immer noch mit zitternder Hand, den Schmutz aus dem Gesicht und sah mich nach einer Möglichkeit um, wieder nach oben zu kommen.
Es gab keine. Hinter mir setzte sich der Felsenkamm fort und verschmolz mit einem der Granithörner. Vor mir endete er abrupt und stürzte geradewegs in ein kleines Tal. Der Abhang, auf dem ich stand, senkte sich ebenfalls in dieses Tal. Durch Sumach- und Gelbholzbaumgruppen ging es etwa noch zwanzig Meter hinab bis zu den Ufern eines Flüßchens.
Ich stand ganz still und versuchte nachzudenken. Niemand wußte, wo ich war. Davon abgesehen wußte ich auch nicht genau, wo ich war. Schlimmer noch, fürs erste würde auch niemand nach mir suchen. Jamie würde glauben, daß ich wegen des Regens immer noch bei den Muellers war. Die Muellers würden natürlich keinerlei Grund zu der Annahme haben, daß ich nicht sicher nach Hause gekommen war; und selbst wenn sie Zweifel hatten, konnten sie mir wegen des Hochwassers nicht folgen. Und bis irgend jemand den fortgespülten Pfad fand, würden alle Zeichen, daß ich dort vorbeigekommen war, längst vom Regen fortgewaschen sein.
Ich war unverletzt, das war immerhin etwas. Ich war außerdem zu Fuß, allein, ohne Proviant, einigermaßen orientierungslos und durch und durch naß. Daß ich nicht verdursten würde, war so ungefähr das einzige, was feststand.
Blitze zuckten immer noch wie sich duellierende Mistgabeln über den Himmel, obgleich der Donner zu einem dumpfen Grollen in der Ferne abgeschwollen war. Ich hatte jetzt keine sonderliche Angst mehr, vom Blitz getroffen zu werden - nicht, solange so viele geeignetere Kandidaten in Form der gigantischen Bäume herumstanden -, doch es schien trotzdem eine gute Idee zu sein, mir einen Unterstand zu suchen.
Es regnete immer noch; das Wasser tropfte mir mit monotoner Regelmäßigkeit von der Nasenspitze. Auf meinem angeschlagenen Bein humpelnd, suchte ich mir unter zahlreichen Flüchen einen Weg über den rutschigen Abhang hinunter zum Flußufer.
Auch dieser Bach war durch den Regen angeschwollen; ich sah versunkene Büsche aus dem Wasser ragen, deren Blätter schlaff in der rauschenden Strömung hingen. Es gab kein richtiges Ufer. Ich kämpfte mich zwischen den stacheligen Klauen von Stechpalmen und Wacholder hindurch zu der Felswand im Süden; vielleicht gab es dort eine Höhle oder Felsspalte, in der ich irgendwie Unterschlupf finden konnte.
Ich fand nichts als herumliegende Felsbrocken, die schwarz vor Nässe und schwierig zu umgehen waren. Ein Stück weiter sah ich allerdings etwas anderes, was mir möglicherweise Zuflucht bieten konnte.
Ein riesiger Lebensbaum war quer über den Bach gestürzt; seine Wurzeln waren unterspült worden, als das Wasser den Boden wegfraß, in dem er wuchs. Er war in die Richtung gefallen, die von mir weg zeigte, und auf dem Kliff aufgeschlagen, so daß die dichte Krone sich im Wasser und über den Felsen ausbreitete und der Stamm sich im spitzen Winkel über den Fluß neigte. Auf meiner Seite konnte ich den riesigen Teller der freigelegten Wurzeln sehen, die ein Bollwerk von Erdklumpen und kleinen Sträuchern mit sich gerissen hatten. Die darunterliegende Grube war zwar kein kompletter Unterschlupf, doch es sah aus, als wäre es dort besser als im Freien zu stehen oder im Gebüsch zu hocken.
Ich hatte mir keine Sekunde lang darüber Gedanken gemacht, ob der Unterschlupf vielleicht auch Bären, Wildkatzen oder anderes unfreundliches Getier angezogen haben könnte. Glücklicherweise war das nicht der Fall.
Der Zwischenraum maß vielleicht anderthalb Meter im Quadrat; er war muffig, dunkel und klamm. Die Decke wurde von den gewaltigen, knorrigen Wurzeln des Baumes gebildet, an denen noch sandiger Boden klebte. Es sah aus wie die Decke eines Dachsbaus. Trotzdem war es eine solide Decke; der aufgewühlte Erdboden war feucht, aber nicht schlammig, und zum ersten Mal seit Stunden trommelte mir kein Regen auf den Schädel.
Erschöpft kroch ich in die hintere Ecke, stellte meine nassen Schuhe neben mich und schlief fest ein. Die Kälte meiner nassen Kleider war schuld daran, daß ich lebhaft und wirr träumte von Blut und Geburten, von Bäumen, Felsen und Regen, und ich erwachte häufig zu jenem Halbbewußtsein, das die äußerste Ermüdung mit sich bringt, und schlief Sekunden später wieder ein.
Ich träumte, daß ich ein Kind bekam. Ich hatte keine Schmerzen, doch ich sah den Kopf austreten, als stünde ich zwischen meinen eigenen Oberschenkeln, Hebamme und Gebärende zugleich. Ich nahm das nackte Kind in die Arme, immer noch mit dem Blut verschmiert, das von uns beiden stammte, und reichte es seinem Vater. Ich reichte es Frank, doch es war Jamie, der dem Baby die Glückshaube vom Kopf nahm und sagte: »Sie ist wunderschön.«
Dann erwachte ich und schlief wieder ein und bahnte mir einen Weg zwischen Felsbrocken und Wasserfällen hindurch, suchte verzweifelt etwas, das ich verloren hatte. Erwachte und schlief ein und wurde im Wald von etwas Furchtbarem, Unbekanntem verfolgt. Erwachte und schlief ein, ein Messer in meiner Hand, rot vom Blut - doch wessen Blut, das wußte ich nicht.
Ich erwachte ganz, weil es nach Feuer roch, und fuhr senkrecht hoch. Der Regen hatte aufgehört; es war die Stille, die mich geweckt hatte, so glaubte ich. Doch der starke Rauchgeruch wich nicht aus meiner Nase - er gehörte nicht zu meinem Traum.
Ich streckte den Kopf aus meiner Erdhöhle wie eine Schnecke, die vorsichtig aus ihrem Haus kriecht. Der Himmel war in einem blassen Lilagrau gefärbt und über den Bergen mit orangen Streifen durchzogen. Der Wald um mich herum war still, und überall tropfte es. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und die Dunkelheit sammelte sich schon in den tieferen Lagen.
Ich kroch ganz nach draußen und sah mich um. Hinter mir rauschte der angeschwollene Bach vorbei; sein Gurgeln war das einzige Geräusch. Vor mir stieg der Boden zu einem flachen Kamm hin an, auf dessen Grat eine hohe Balsampappel stand, die Quelle des Rauches. Der Baum war vom Blitz getroffen worden; eine Hälfte trug immer noch grünes Laub und zeichnete sich buschig vor dem blassen Himmel ab. Die andere Hälfte war entlang des gesamten massiven Stammes geschwärzt und verkohlt. Weiße Rauchwölkchen stiegen von ihm auf wie Geister auf der Flucht vor den Fesseln ihres Meisters, und rote Flammen, die unter der geschwärzten Hülle glommen, zeigten sich flüchtig.
Ich sah mich nach meinen Schuhen um, konnte sie in der Dunkelheit aber nicht finden. Ich störte mich nicht daran, sondern wanderte, vor Anstrengung keuchend, den Kamm hinauf zu dem getroffenen Baum. All meine Muskeln waren steif vom Schlaf und von der Kälte - ich fühlte mich selbst wie ein Baum, der umständlich zum Leben erwacht und auf knorrigen, schwerfälligen Wurzeln hügelaufwärts stapft.
Neben dem Baum war es warm. Traumhaft, wunderbar warm. Es roch nach Asche und verbranntem Ruß, doch es war warm. Ich ging so nah heran, wie ich mich traute, breitete meinen Umhang weit aus und stand still und dampfend da.
Eine Zeitlang versuchte ich nicht einmal nachzudenken, stand einfach nur da, spürte, wie mein ausgekühlter Körper auftaute und sich langsam wieder menschenähnlich anfühlte. Doch als mein Blut wieder zu fließen begann, fingen auch meine Verletzungen an zu schmerzen. Außerdem verspürte ich quälenden Hunger: Das Frühstück war schon lange her.
Es sah fast so aus, als würde es bis zum Abendessen noch viel länger dauern, dachte ich grimmig. Die Dunkelheit kroch aus dem Talboden herauf, und ich wußte immer noch nicht, wo ich war. Ich warf einen Blick auf den gegenüberliegenden Hügelkamm; kein Zeichen von dem verflixten Pferd.
»Verräter«, brummte ich. »Ist wahrscheinlich losgezogen, um sich einem Rudel Elche anzuschließen oder so ähnlich.«
Ich rieb meine Hände; meine Kleider waren halbwegs trocken, doch die Temperatur sank ständig. Es würde eine kalte Nacht werden. War es besser, die Nacht hier unter freiem Himmel neben dem verbrannten Baum zu verbringen, oder sollte ich zu meiner Erdhöhle zurückkehren, solange ich noch genug Licht hatte?
Ein Knacken hinter mir im Gebüsch nahm mir die Entscheidung ab. Der Baum war inzwischen abgekühlt; obwohl sich das verkohlte Holz noch heiß anfühlte, war das Feuer ausgebrannt. Es würde keine Abschreckung gegen herumstreifende Nachtjäger bedeuten. Ohne Feuer oder Waffen blieb mir nur die Verteidigung des Gejagten: in der Dunkelheit versteckt liegen wie eine Maus oder ein Kaninchen. Nun, ich mußte sowieso zurück, um meine Schuhe zu holen.
Widerstrebend ließ ich die letzten Reste von Wärme hinter mir und kehrte zu dem umgestürzten Baum zurück. Als ich hineinkroch, sah ich den Fleck, der sich hell von dem dunkleren Boden in der Ecke abhob. Ich legte meine Hand darauf und fühlte nicht meine weichen Ledermokassins, sondern etwas Hartes, Glattes.
Noch bevor mein Gehirn das Wort heraussuchen konnte, hatte mein Instinkt erfaßt, was für ein Gegenstand das war, und ich zog die Hand zurück. Einen Moment lang saß ich mit klopfendem Herzen da. Dann übermannte die Neugier meine atavistische Furcht, und ich begann, den sandigen Lehm wegzuschaufeln, der ihn umgab.
Es war tatsächlich ein Totenschädel, komplett mit Unterkiefer, obwohl die Kinnlade nur noch durch getrocknete Ligamentreste in Position gehalten wurde. Ein Fragment eines gebrochenen Halswirbels klapperte im Foramen magnum.
»›Wie lange liegt wohl einer in der Erde, eh er verfault?‹« murmelte ich, während ich den Schädel in meinen Händen hin und her drehte. Der Knochen war kalt und feucht und leicht angerauht von der Feuchtigkeit, der er ausgesetzt gewesen war. Das Licht war zu schwach, um Details zu sehen, doch ich konnte die großen Wölbungen über den Augenbrauen fühlen und den glatten Schmelz der Schneidezähne. Wahrscheinlich ein Mann, und zwar kein alter; die meisten Zähne waren noch vorhanden und nicht übermäßig abgenutzt - zumindest soweit ich das mit meinem tastenden Daumen feststellen konnte.
Wie lange? Acht bis neun Jahr, sagte der Totengräber zu Hamlet. Ich hatte keine Ahnung, ob Shakespeare irgend etwas von Gerichtsmedizin verstand, doch seine Einschätzung kam mir nicht unwahrscheinlich vor. Also über neun Jahre.
Wie war er hierhergekommen? Gewaltsam, antwortete mein Instinkt, obwohl auch mein Gehirn sich dem kurz darauf anschloß. Ein Kundschafter konnte zwar an einer Krankheit sterben, an Hunger oder Erschöpfung - diesen Gedankengang verdrängte ich entschieden, wobei ich mich bemühte, meinen knurrenden Magen und meine feuchten Kleider zu ignorieren -,doch würde er dann nicht unter einem Baum verscharrt enden.
Die Cherokee und Tuscarora beerdigten ihre Toten, das stimmte, doch nicht so, allein in einem Tal. Und auch nicht in Einzelteilen. Es war der gebrochene Wirbel gewesen, der mir sogleich verraten hatte, was sich zugetragen hatte: Seine Ränder waren zusammengepreßt und der Knochen glatt durchtrennt, nicht zersplittert.
»Da konnte dich wohl jemand überhaupt nicht ausstehen, was?« sagte ich. »Hat sich nicht mit dem Skalp begnügt, sondern gleich den ganzen Kopf genommen.«
Was die Frage aufwarf - war der Rest von ihm ebenfalls hier? Ich rieb mir beim Nachdenken mit der Hand über das Gesicht. Schließlich hatte ich nichts Besseres vor; vor Tagesanbruch würde ich nirgendwo hingehen, und die Wahrscheinlichkeit, daß ich schlafen würde, war mit der Entdeckung meines neuen Kameraden ziemlich geschrumpft. Ich legte den Schädel vorsichtig auf die Seite und begann zu graben.
Es war jetzt völlig dunkel, doch im Freien ist selbst die dunkelste Nacht selten ohne Licht. Der Himmel war immer noch mit Wolken verhangen, die eine beträchliche Menge Licht abstrahlten, selbst bis in meine flache Grube.
Der sandige Boden war weich und ließ sich leicht umgraben, doch nachdem ich ein paar Minuten gekratzt hatte, waren meine Fingerknöchel und -spitzen wundgescheuert. Ich kroch nach draußen und suchte mir einen Stock zum Graben. Ich stocherte noch ein bißchen herum und stieß auf etwas Hartes; kein Knochen, dachte ich, und auch kein Metall. Ein Stein, entschied ich und befühlte das schwarze Oval. Nur ein Flußkiesel? Ich glaubte es nicht; die Oberfläche war sehr glatt, doch es war etwas hineingeritzt; irgendeine Glyphe, obwohl mein Tastsinn nicht ausgereift genug war, um mich erkennen zu lassen, was es war.
Weiteres Graben förderte nichts mehr zutage. Entweder war der Rest von Yorick nicht hier, oder er war so tief begraben, daß ich keine Chance hatte, ihn zu entdecken. Ich steckte mir den Stein in die Tasche, hockte mich auf meine Fersen und rieb mir die sandigen Hände am Rock ab. Zumindest war mir von der Bewegung wieder warm geworden.
Ich setzte mich wieder hin, hob den Schädel auf und hielt ihn auf dem Schoß. Gruselig, wie er war, bedeutete er doch so etwas wie Gesellschaft, eine Ablenkung von meiner eigenen Misere. Ich war mir wohl bewußt, daß alles, was ich während der letzten Stunde getan hatte, der Ablenkung gedient hatte; es sollte die Panik abwehren, die ich unter der Oberfläche meines Bewußtseins spüren konnte und die nur darauf wartete durchzubrechen wie das spitze Ende eines versunkenen Astes. Es würde eine lange Nacht werden.
»Gut«, sagte ich zu dem Schädel. »Irgendwas Gutes gelesen in letzter Zeit? Nein, ich schätze, du kommst nicht mehr viel herum. Lyrik vielleicht?« Ich räusperte mich und begann mit Keats, wärmte mich auf mit »Aus Abscheu über den vulgären Aberglauben« und fuhr fort mit der »Ode an eine griechische Urne«.
»›…und immer liebst du, immer bleibt sie schön‹«, deklamierte ich. »Es geht noch weiter, aber ich habe vergessen, wie. Ist aber nicht übel, oder? Ein bißchen Shelley vielleicht? Die ›Ode an den Westwind‹ ist gut, ich glaube, sie würde dir gefallen.«
Mir stellte sich die Frage, warum ich das glaubte; ich hatte keinen besonderen Anlaß, Yorick für einen Indianer zu halten statt für einen Europäer, doch mir wurde klar, daß ich das tat - vielleicht lag es an dem Stein, den ich bei ihm gefunden hatte. Achselzuckend fuhr ich fort, ganz im Vertrauen, daß die große englische Dichtung die Bären und Panther genauso effektiv fernhalten würde wie ein Lagerfeuer.
»Mach mich zu deiner Lyra wie den Wald;
Mag auch mein Laub wie seine Blätter fallen,
Dann werden deine Harmonien bald
Durch unser beider dunkle Saiten hallen,
Süß, doch voll Trauer, Geist aus meinem Geist,
Sei du mein Selbst, treib, die wie tot verschallen
 
Wie Blätter, die du selbst vom Baume reißt,
Meine Gedanken wirbelnd übers Land,
Neu sie zu wecken. Wie mein Vers es weist
 
Streu aus die Asche aus des Herdes Brand
Mein Wort gleich Funken aus des Feuers Kern,
Posaune sei durch meiner Lippen Band,
Der Erde künde, Wind, der Hoffnung Stern…«
Die letzte Strophe erstarb mir auf den Lippen. Auf dem Hügel schien ein Licht. Ein kleiner Funke, der zu einer Flamme anwuchs. Zuerst dachte ich, es sei der vom Blitz getroffene Baum, ein Stück schwelende Glut, das wieder angefacht worden war - doch dann bewegte es sich. Es glitt langsam den Hügel herab auf mich zu und schwebte dabei knapp über den Büschen.
Ich sprang auf, und erst da fiel mir wieder ein, daß ich keine Schuhe anhatte. Ich tastete verzweifelt auf dem Boden herum und durchkämmte die kleine Höhle wieder und wieder. Doch es war vergeblich. Meine Schuhe waren fort.
Ich hob den Schädel auf und stand barfuß da, das Gesicht dem Licht zugewandt.
 
Ich beobachtete, wie das Licht näher kam und den Hügel herunterdriftete wie eine Pusteblume. Ein einziger Gedanke ging mir durch den gelähmten Verstand, - Shelleys »Ich trotz dir, Unhold! mit ruhigem festen Sinn«. Irgendwo in den dunkleren Winkeln meines Bewußtseins traf ich die Feststellung, daß Shelley viel bessere Nerven gehabt hatte als ich. Ich umklammerte den Schädel noch fester. Er war keine besonders wirksame Waffe - aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß sich das, was da auf mich zukam, von Messern oder Pistolen ebenfalls nicht vertreiben lassen würde.
Nicht nur, daß es mir aufgrund der Feuchtigkeit extrem unwahrscheinlich erschien, daß jemand mit einer brennenden Fackel durch den Wald spazierte. Das Licht schien nicht wie eine Kiefernfackel oder eine Öllampe. Es flackerte nicht, sondern brannte in einem sanften, beständigen Glühen.
Es schwebte etwas mehr als einen Meter über dem Boden, etwa dort, wo jemand eine Fackel halten würde, die er vor sich her trug. Es näherte sich langsam mit der Geschwindigkeit eines Wanderers. Ich sah, wie es sich im Rhythmus eines regelmäßigen Schrittes leicht auf und ab bewegte.
Ich kauerte in meiner Grube, halb verborgen hinter dem Erdwall und den freiliegenden Wurzeln. Es war eiskalt, doch mir lief der Schweiß am Körper herunter, und ich konnte die Ausdünstung meiner eigenen Angst riechen. Meine tauben Zehen krallten sich in den Boden, bereit wegzulaufen.
Ich hatte schon einmal Elmsfeuer gesehen, auf See. Das war zwar unheimlich gewesen, doch das flüssige blaue Flackern hatte keine Ähnlichkeit mit dem blassen Licht, daß sich mir jetzt näherte. Es schlug weder Funken, noch besaß es eine Farbe; es glühte nur gespenstisch. Sumpfgas, sagten die Leute in Cross Creek, wenn jemand die Berglichter erwähnte.
Ha, sagte ich zu mir, allerdings lautlos. Sumpfgas, ganz bestimmt!
Das Licht durchquerte ein kleines Erlendickicht und trat dann vor mir auf die Lichtung. Es war kein Sumpfgas.
Er war hochgewachsen, und er war nackt. Außer seinem Lendenschurz trug er nur Farbe. An Armen, Beinen und Köper zogen sich lange rote Streifen entlang, und sein Gesicht war vom Kinn bis zur Stirn völlig schwarz. Sein Haar war eingefettet und zu einem Kamm frisiert, aus dem zwei Truthahnfedern steif herausragten.
Ich war unsichtbar, völlig verborgen in der Dunkelheit meiner Zuflucht, während seine Fackel ihn mit weichem Licht umgab, das auf seiner unbehaarten Brust und seinen Schultern glänzte und seine Augen in Schatten tauchte. Doch er wußte, daß ich da war.
Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Mein Atem klang mir furchtbar laut in den Ohren. Er stand einfach nur da, vielleicht vier Meter von mir entfernt, und blickte in die Dunkelheit, geradewegs in meine Richtung, als wäre es hellichter Tag. Und das Licht seiner Fackel brannte beständig und lautlos, bleich wie eine Grabkerze, ohne daß ihr Holz verzehrt wurde.
Ich weiß nicht, wie lange ich so wartete, ehe mir auffiel, daß ich keine Angst mehr hatte. Es war immer noch kalt, doch mein Herzschlag hatte sich auf seine normale Geschwindigkeit verlangsamt, und meine nackten Zehen hatten sich entspannt.
»Was willst du?« fragte ich, und erst da fiel mir auf, daß schon seit einiger Zeit zwischen uns eine Art Kommunikation stattfand. Was auch immer das hier war, es kannte keine Worte. Wir wechselten keine zusammenhängenden Sätze - und doch tauschten wir etwas aus.
Ein leichter Wind hatte die Wolkendecke aufgerissen, und zwischen den dahinrasenden Zirruswolken waren dunkle Streifen sternenklaren Himmels zu sehen. Im Wald war es still, doch es war die übliche Stille eines durchnäßten, nächtlichen Waldes; erfüllt vom Ächzen und Seufzen der hohen Bäume, die sich im Wind wiegten, dem Rascheln der Sträucher, durch die der rastlose, scharfe Wind fuhr, und im Hintergrund vom ständigen Rauschen unsichtbaren Wassers, als wäre es ein Echo der Unruhe hoch oben in der Luft.
Ich atmete tief ein und fühlte mich plötzlich sehr lebendig. Die Luft war schwer und süß vom Dunst der grünen Pflanzen, von herben Kräutern und erdigem Laub, von den Düften des Sturms überlagert und durchzogen - nasser Fels, feuchte Erde, aufsteigender Nebel und ein scharfer Ozonhauch, so unvermittelt wie der Blitz, der den Baum getroffen hatte.
Erde und Luft, dachte ich plötzlich, und dazu Feuer und Wasser. Und hier stand ich mit allen Elementen - in ihrer Mitte und in ihrer Gewalt.
»Was willst du?« fragte ich noch einmal und fühlte mich hilflos. »Ich kann nichts für dich tun. Ich weiß, daß du da bist; ich kann dich sehen. Aber das ist alles.«
Nichts bewegte sich, es fielen keine Worte. Doch der Gedanke formte sich glasklar in meinem Verstand, mit einer Stimme, die nicht die meine war.
Das reicht völlig, lautete er.
Ohne jede Hast drehte er sich um und entfernte sich. Als er zwei Dutzend Schritte gegangen war, verlosch das Licht seiner Fackel, verschwand wie das letzte Glühen, wenn das Zwielicht zur Nacht wird.
»Oh«, sagte ich völlig verständnislos. »Meine Güte.« Meine Beine zitterten, und ich setzte mich hin und wiegte den Totenschädel - den ich fast vergessen hatte - in meinem Schoß.
So saß ich lange da, sah mich um und lauschte, doch es geschah nichts weiter. Die Berge umgaben mich dunkel und undurchdringlich. Vielleicht konnte ich am Morgen zum Pfad zurückfinden, doch ein Versuch im Dunkeln konnte nur in einer Katastrophe enden.
Ich hatte keine Angst mehr; sie war von mir gewichen während meiner Begegnung mit - was auch immer es war. Ich fror immer noch und war sehr, sehr hungrig. Ich legte den Schädel auf den Boden, rollte mich neben ihm zusammen und zog meinen feuchten Umhang um mich. Es dauerte lange, bis ich einschlief. Ich lag in meiner feuchten Grube und beobachtete die Sterne durch Lücken in der Wolkendecke.
Ich versuchte, mir einen Reim auf die vergangene halbe Stunde zu machen, doch eigentlich gab es nichts zu verstehen; eigentlich war überhaupt nichts geschehen. Und doch war er dagewesen. Ich spürte immer noch seine vage, beruhigende Anwesenheit, und schließlich schlief ich ein, die Wange auf ein Kissen aus feuchten Blättern gebettet.
Kälte und Hunger brachten mir unangenehme Träume; eine Folge unzusammenhängender Bilder. Vom Blitz getroffene Bäume, die wie Fackeln brannten. Entwurzelte Bäume, die furchterregend auf ihren Wurzeln herumtorkelten.
Ich träumte, wie ich mit durchgeschnittener Kehle im Regen lag, während mir das warme Blut über die Brust strömte, seltsam angenehm auf meinem ausgekühlten Körper. Meine Finger taub und bewegungsunfähig. Regen, der wie Hagel auf meiner Haut aufschlug, jeder kalte Tropfen ein Hammerschlag, und dann fühlte sich der Regen plötzlich warm und weich auf meinem Gesicht an. Lebendig begraben, und es regnete schwarze Erde in meine offenen Augen.
Ich erwachte mit Herzklopfen. Lag still. Es war jetzt tiefe Nacht; der Himmel wölbte sich klar und endlos über mir, während ich in meiner dunklen Mulde lag. Nach einer Weile schlief ich wieder ein, von Träumen verfolgt.
Wölfe, die in der Ferne heulten. Panische Flucht durch einen weißen Espenwald im Schnee, rote Harztropfen, die wie blutige Juwelen auf papierweißen Baumstämmen schimmerten. Ein Mann, der zwischen den blutenden Bäumen stand, den Kopf kahlgerupft bis auf einen borstigen Kamm aus schwarzem, eingefettetem Haar. Er hatte tiefliegende Augen und ein zersplittertes Lächeln, und das Blut auf seiner Brust war heller als das Harz.
Wölfe, viel näher. Heulend und bellend, Blutgeruch heiß in meiner Nase, mit dem Rudel laufen, vor dem Rudel weglaufen. Laufen, hasenfüßig, weißzahnig, den Geist des Blutes als Geschmack in meinem Mund, als Kitzeln in meiner Nase. Hunger. Jagen und fangen, Tod und Blut. Herzklopfende, blutrauschende, schiere Panik der Gejagten.
Ich spürte meinen Armknochen brechen mit dem Geräusch eines trockenen, knickenden Astes, und schmeckte Mark, warm und salzig und schlüpfrig auf meiner Zunge.
Etwas strich mir über das Gesicht, und ich öffnete die Augen. Große, gelbe Augen starrten mir aus dem dunklem Pelz eines Wolfes mit weißen Fängen entgegen. Ich schrie und schlug auf ihn ein, und die Bestie fuhr mit einem aufgeschreckten Wuff! zurück.
Ich quälte mich auf meine Knie hoch und hockte schlotternd da. Der Tag brach gerade an. Das Dämmerlicht war noch jung und sanft und zeigte mir klar und deutlich die riesigen schwarzen Umrisse… Rollos.
»Oh, Gott im Himmel, was zum Teufel machst du hier, du verflixtes… Mordsvieh!« Wahrscheinlich hätte ich mich irgendwann selbst wieder in den Griff bekommen, doch Jamie kam mir zuvor.
Seine großen Hände zogen mich aus meinem Versteck, hielten mich fest und klopften mich ängstlich auf der Suche nach Verletzungen ab. Ich spürte die Wolle seines Plaids weich in meinem Gesicht, sie roch nach Nässe und Seife und seinem Männergeruch, und ich atmete sie ein wie Sauerstoff.
»Geht’s dir gut? Um Himmels willen, Sassenach, geht es dir gut?«
»Nein«, sagte ich. »Doch«, sagte ich und fing an zu weinen.
Es dauerte nicht lange; es war nur der Schock der Erleichterung. Ich versuchte, ihm das zu sagen, doch Jamie hörte mir nicht zu. Schmutzig, wie ich war, hob er mich auf und ging los, um mich zu dem Flüßchen zu tragen.
»Still jetzt«, sagte er und drückte mich fest an sich. »Still, mo chridhe. Jetzt ist alles gut, du bist in Sicherheit.«
Ich war immer noch vewirrt von der Kälte und meinen Träumen. Nachdem ich so lange nur mit meiner Stimme allein gewesen war, hörte sich die seine seltsam und unwirklich an, und sie war schwer zu verstehen. Doch die Wärme seiner festen Umarmung war real.
»Warte«, sagte ich und zupfte schwach an seinem Hemd. »Warte. Ich habe etwas vergessen. Ich muß -«
»Himmel, Onkel Jamie, sieh dir das an!«
Jamie wandte sich um, ohne mich loszulassen. Ian stand im Eingang meines Refugiums, eingerahmt von herunterhängenden Wurzeln, und hielt den Totenschädel hoch.
Ich spürte, wie sich Jamies Muskeln bei dem Anblick anspannten.
»Herr im Himmel, Sassenach, was ist denn das?«
»Wer, meinst du«, sagte ich. »Ich weiß es nicht. Ist aber ein netter Kerl. Laß Rollo nicht in seine Nähe, er würde es nicht mögen.« Rollo beschnüffelte den Schädel mit intensiver Konzentration, und seine feuchten, schwarzen Nüstern blähten sich vor Interesse.
Jamie blickte auf mein Gesicht herab und runzelte leicht die Stirn.
»Bist du sicher, daß mit dir alles stimmt, Sassenach?«
»Nein«, sagte ich, obwohl meine geistigen Fähigkeiten langsam zurückkehrten und ich ganz aufwachte. »Mir ist kalt, und ich verhungere gleich. Du hast nicht zufällig etwas zum Frühstücken mitgebracht? « fragte ich sehnsüchtig. »Ich könnte einen ganzen Teller Rührei vernichten.«
»Nein«, sagte er und stellte mich auf den Boden, während er in seinem Sporran kramte. »Ich hatte keine Zeit, mir über etwas Eßbares Gedanken zu machen, aber ich habe ein bißchen Brandy dabei. Hier, Sassenach, der wird dir guttun. Und dann«, sagte er und zog eine Augenbraue hoch, »kannst du mir erzählen, wie zum Teufel du hier mitten in der Wüste gelandet bist, aye?«
Ich ließ mich auf einen Felsen sinken und schlürfte dankbar meinen Brandy. Die Feldflasche zitterte in meinen Händen, doch das Zittern ließ nach, als die dunkle, bernsteinfarbene Flüssigkeit sich ihren Weg direkt durch die Wände meines leeren Magens in meinen Blutkreislauf bahnte.
Jamie stellte sich hinter mich und legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Seit wann bist du schon hier, Sassenach?« fragte er mit sanfter Stimme.
»Schon die ganze Nacht«, sagte ich und zitterte wieder. »Ungefähr seit gestern mittag, als das verdammte Pferd - ich glaube, es heißt Judas - mich von diesem Felsen da oben gestürzt hat.«
Ich deutete auf den Felsvorsprung. Mitten in der Wüste war eine gute Beschreibung für die Stelle, fand ich. Es hätte jede andere der tausend anonymen Talmulden in dieser Hügellandschaft sein können. Mir kam ein Gedanke - einer, der mir schon viel eher hätte einfallen sollen, wäre ich nicht so durchgefroren und erschöpft gewesen.
»Wie zum Teufel habt ihr mich gefunden?« fragte ich. »Sag jetzt bloß nicht, das verflixte Pferd hat euch zu mir geführt?«
»Deinem Pferd sind wir nicht begegnet«, sagte Ian. »Nein, Rollo hat uns zu dir geführt.« Er strahlte den Hund stolz an, und dieser brachte es fertig, ein derart unverbindliches, würdevolles Gesicht aufzusetzen, als wären solche Suchaktionen für ihn das Normalste von der Welt.
»Aber wenn ihr mein Pferd nicht gesehen habt«, begann ich verwirrt, »wie konntet ihr dann überhaupt wissen, daß ich von den Muellers aufgebrochen war? Und wie konnte Rollo -« Ich brach ab, als ich die Blicke sah, die die Männer einander zuwarfen.
Ian zuckte leicht mit den Achseln, nickte und ließ Jamie den Vortritt. Jamie kauerte sich neben mir auf den Boden, hob den Saum meines Kleides hoch und nahm meine nackten Füße in seine großen, warmen Hände.
»Deine Füße sind eiskalt, Sassenach«, sagte er leise. »Wo hast du deine Schuhe gelassen?«
»Dahinten«, sagte ich und deutete kopfnickend auf den entwurzelten Baum. »Sie müssen immer noch da sein. Ich habe sie ausgezogen, als ich einen Bach durchqueren wollte, und habe sie dann hingestellt und konnte sie im Dunkeln nicht mehr finden.«
»Da sind sie nicht, Tante Claire«, sagte Ian. Er klang so merkwürdig, daß ich überrascht zu ihm hochsah. Er hielt immer noch den Totenschädel in der Hand und drehte ihn vorsichtig hin und her.
»Nein, das ist wahr.« Jamie hatte den Kopf gesenkt, um meine Füße zu reiben, und ich sah, wie das Morgenlicht sich kupfern in seinem Haar spiegelte, das ihm lose über die Schultern gefallen war, so zerzaust, als wäre er gerade erst aufgestanden.
»Ich war im Bett und habe geschlafen«, sagte er und griff meinen Gedanken auf. »Als das Vieh da plötzlich verrückt gespielt hat.« Er wies mit dem Kinn in Rollos Richtung, ohne aufzublicken. »Hat gebellt und geheult und sich gegen die Tür geschleudert, als stünde der Teufel draußen.«
»Ich habe ihn angebrüllt und versucht, ihn am Genick zu packen und mit Schütteln zum Schweigen zu bringen«, fügte Ian hinzu, »aber er hat einfach nicht aufgehört, egal, was ich machte.«
»Aye, er hat so getobt, daß ihm der Speichel aus dem Maul troff, und ich war mir sicher, daß er wirklich verrückt geworden war. Ich hatte Angst, daß er auf uns losgehen würde, also habe ich Ian gesagt, er solle die Tür aufriegeln, damit er hinauskonnte.« Jamie sank auf die Fersen zurück, betrachtete stirnrunzelnd meinen Fuß und nahm ein welkes Blatt von meinem Fußrücken.
»Ja, und war nun der Teufel draußen?« fragte ich im Scherz.
Jamie schüttelte den Kopf.
»Wir haben die Lichtung vom Pferch bis zur Quelle abgesucht und haben nichts gefunden - außer denen hier.« Er griff in seinen Sporran und zog meine Schuhe heraus. Mit völlig ausdruckslosem Gesicht blickte er zu mir auf.
»Die haben nebeneinander auf der Schwelle gestanden.«
Jedes einzelne Haar an meinem Körper stellte sich auf. Ich hob die Feldflasche und trank den Brandy aus.
»Rollo ist losgerast und hat dabei gebellt wie ein Jagdhund«, sagte Ian, der begierig weitererzählte. »Aber dann kam er einen Moment später zurück und hat angefangen, an deinen Schuhen zu schnüffeln und zu winseln und zu jaulen.«
»Mir war selber auch ganz danach zumute, aye?« Jamies Mundwinkel zog sich ein wenig in die Höhe, doch ich sah die Furcht immer noch dunkel in seinen Augen.
Ich schluckte, doch mein Mund war trotz des Brandys zu trocken zum Sprechen.
Jamie zog mir erst den einen Schuh an und dann den anderen. Sie waren feucht, doch sein Körper hatte sie leicht angewärmt.
»Ich habe geglaubt, du wärst vielleicht tot, Cinderella«, sagte er leise und hielt den Kopf gesenkt, um sein Gesicht zu verbergen.
Ian merkte es nicht, so hatte ihn der Eifer des Erzählens gepackt.
»Mein schlauer Hund hier wollte losrasen, als hätte er ein Kaninchen gewittert, also haben wir uns unsere Plaids geschnappt und sind ihm hinterhergerannt, nachdem wir uns nur kurz eine Fackel vom Herd genommen und das Feuer eingedämmt haben. Er hat ein ganz schönes Tempo draufgehabt, nicht wahr, mein Junge?« Er rieb Rollo mit liebevollem Stolz die Ohren. »Und dann haben wir dich hier gefunden!«
Der Brandy ließ meine Ohren summen, und mein Verstand schien wie in eine warme, süße Decke gewickelt, doch sagte mir meine Vernunft noch gerade eben wenn Rollo einer Spur zu mir zurück gefolgt war… mußte jemand die ganze Strecke in meinen Schuhen gegangen sein.
Inzwischen hatte ich die Reste meiner Stimme wiedergefunden und war nur noch ein wenig heiser beim Sprechen.
»Habt ihr - unterwegs - irgend etwas gesehen?« fragte ich.
»Nein, Tante Claire«, sagte Ian, plötzlich nüchtern. »Du denn?«
Jamie hob den Kopf, und ich konnte sehen, wie eingefallen sein Gesicht vor Sorge und Erschöpfung war, wie stark seine breiten Wangenknochen unter der Haut hervortraten. Ich war nicht die einzige, die eine lange, harte Nacht gehabt hatte.
»Ja« sagte ich, »aber das erzähle ich euch später. Ich glaube, ich habe mich gerade in einen Kürbis verwandelt. Laßt uns nach Hause gehen.«
 
Jamie hatte Pferde mitgebracht, doch es gab keine Möglichkeit, sie in die Talmulde herunterzuholen; wir waren gezwungen, dem Lauf des überfluteten Baches zu folgen, durch die Untiefen zu waten und dann mühsam einen Felshang hinaufzuklettern, bis wir zu dem Felsen gelangten, wo die Pferde angebunden waren. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, stand ich auf zittrigen Beinen und war daher keine große Hilfe bei diesem Unterfangen, doch Jamie und Ian kamen ohne großes Aufsehen damit zurecht, schoben mich über Hindernisse und reichten mich hin und her wie ein großes, sperriges Paket.
»Man soll jemandem, der an Unterkühlung leidet, wirklich keinen Alkohol geben«, sagte ich lahm, als Jamie mir während einer Rast erneut die Feldflasche an die Lippen hielt.
»Ist mir egal, woran du leidest, mit dem Brandy im Bauch merkst du weniger davon«, sagte er. Infolge des Regens war es immer noch kalt, doch sein Gesicht war vom Klettern gerötet. »Außerdem«, fügte er hinzu, während er sich die Stirn mit einer Falte seines Plaids abwischte, »kriegen wir dich leichter hoch, wenn du in Ohnmacht fällst. Himmel, es ist, als würde man ein neugeborenes Kalb aus einem Sumpf ziehen.«
»Entschuldigung«, sagte ich. Ich legte mich flach auf den Boden und schloß die Augen in der Hoffnung, mich nicht zu übergeben. Der Himmel drehte sich in die eine Richtung und mein Magen in die andere.
»Weg da, Rollo!« sagte Ian.
Ich öffnete ein Auge, um nachzuschauen, was los war, und sah, wie Ian Rollo mit Gewalt von dem Totenschädel wegschob - ich hatte darauf bestanden, ihn mitzunehmen.
Bei Tageslicht betrachtet, war er kein sehr einnehmender Gegenstand. Fleckig und verfärbt von der Erde, in der er begraben gewesen war, ähnelte er aus der Ferne einem glatten Stein, der von Wind und Wetter ausgehöhlt und angenagt war. Einige seiner Zähne waren angestoßen oder abgebrochen, obwohl der Schädel sonst keinerlei Beschädigung aufwies.
»Was genau hast du eigentlich mit diesem Traumprinzen vor?« fragte Jamie, der meine Errungenschaft ziemlich kritisch beäugte. Seine Röte war verblaßt, und er atmete wieder regelmäßig. Er sah zu mir herunter, streckte die Hand aus und strich mir lächelnd das Haar aus den Augen.
»Geht’s jetzt, Sassenach?«
»Besser«, beruhigte ich ihn und setzte mich hin. Die Landschaft hatte immer noch nicht völlig aufhört, sich um mich zu drehen, doch der Brandy, der durch meine Venen schwappte, verlieh der Bewegung etwas ausgesprochen Angenehmes, wie wenn Bäume beruhigend an einem Zugfenster vorbeirauschen.
»Wir sollten ihn doch wohl mindestens mit heimnehmen und für ein christliches Begräbnis sorgen?« Ian beäugte den Totenschädel skeptisch.
»Ich glaube nicht, daß er das zu schätzen wüßte; ich glaube nicht, daß er ein Christ war.« Ich unterdrückte die lebhafte Erinnerung an den Mann, den ich in der Talsenke gesehen hatte. Es stimmte zwar, daß einige Indianer von Missionaren bekehrt worden waren, doch dieser nackte Herr mit seinem schwarz bemalten Gesicht und seinem federgeschmückten Haar hatte auf mich den Eindruck gemacht, daß es heidnischer kaum ging.
Ich kramte mit tauben, steifen Fingern in meiner Rocktasche herum.
»Das hier war mit ihm zusammen begraben.«
Ich zog den flachen Stein hervor, den ich ausgegraben hatte. Er war schmutzigbraun, ein unregelmäßiges Oval, halb so groß wie meine Handfläche. Er war auf einer Seite abgeflacht, auf der anderen gerundet und so glatt, als stammte er aus einem Flußbett. Ich drehte ihn in meiner Hand um und hielt den Atem an.
In die abgeflachte Oberfläche war tatsächlich etwas eingeritzt, wie ich mir gedacht hatte. Es war eine Glyphe in Form einer Spirale, die sich in sich selbst zurückwand. Doch es war nicht die Gravur, die Jamie und Ian in meine Hand blicken ließ, so daß sich ihre Köpfe fast berührten.
Überall dort, wo die glatte Oberfläche weggemeißelt worden war, glühte der Stein darunter mit einem züngelnden Feuer, als kämpften kleine Flammen aus Grün und Orange und Rot um das Licht.
»Mein Gott, was ist das?« fragte Ian beeindruckt.
»Es ist ein Opal - und zwar ein verdammt großer«, sagte Jamie. Er stieß den Stein mit seinem langen, stumpfen Zeigefinger an, als wollte er sich versichern, daß er tatsächlich existierte. Es gab ihn wirklich.
Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch das Haar und sah mich dann an.
»Man sagt, Opale bringen Unglück, Sassenach.« Ich dachte, er mache einen Witz, doch er sah beklommen aus. Er war zwar ein weitgereister, gebildeter Mann, doch er war als Highlander zur Welt gekommen, und ich wußte, daß er einen zutiefst abergläubischen Wesenszug hatte, auch wenn er diesen nicht oft zeigte.
Ha, dachte ich bei mir. Du hast die Nacht mit einem Gespenst verbracht und hältst ihn für abergläubisch?
»Unsinn«, sagte ich mit weitaus mehr Überzeugung, als ich fühlte. »Es ist nur ein Stein.«
»Oh, es ist nicht so, daß sie wirklich Unglück bringen, Onkel Jamie«, warf Ian ein. »Meine Mutter hat einen kleinen Opalring - obwohl er nicht im entferntesten so ist wie dieser hier!« Ian berührte den Stein respektvoll. »Und sie hat gesagt, ein Opal nimmt etwas von der Persönlichkeit seines Besitzers an - wenn man also einen Opal hätte, der vorher einem guten Menschen gehört hat, wäre alles in Ordnung und er würde einem Glück bringen. Aber wenn nicht -« Er zuckte die Achseln.
»Aye, gut«, sagte Jamie trocken. Er wies mit dem Kinn auf den Totenschädel. »Wenn er dem da gehört hat, scheint er ihm nicht allzuviel Glück gebracht zu haben.«
»Zumindest wissen wir, daß man ihn nicht des Steines wegen umgebracht hat«, wandte ich ein.
»Vielleicht wollten sie ihn nicht haben, weil sie wußten, daß er Unglück bringt«, meinte Ian. Er sah den Stein stirnrunzelnd an, eine Sorgenfalte zwischen den Augen. »Vielleicht sollten wir ihn zurückbringen, Tante Claire.«
Ich rieb mir die Nase und sah Jamie an.
»Er ist wahrscheinlich ziemlich wertvoll«, sagte ich.
»Ah.« Die beiden Männern standen einen Augenblick lang nachdenklich da, hin- und hergerissen zwischen Aberglauben und Pragmatismus.
»Aye, nun gut«, sagte Jamie schließlich, »ich schätze, es kann nicht schaden, wenn wir ihn eine Weile behalten.« Seine Mundwinkel zogen sich zu einem Lächeln hoch. »Ich will ihn tragen, Sassenach; wenn ich auf dem Heimweg vom Blitz getroffen werde, kannst du ihn zurückbringen.«
Ich stand umständlich auf und hielt mich dabei an Jamies Arm fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich blinzelte schwankend vor mich hin, doch ich blieb stehen. Jamie nahm mir den Stein aus der Hand und ließ ihn in seinen Sporran gleiten.
»Ich werde ihn Nayawenne zeigen«, sagte ich. »Vielleicht weiß sie zumindest, was die Gravur bedeutet.«
»Eine gute Idee, Sassenach«, pflichtete Jamie mir bei. »Und wenn unser Traumprinz hier ein Verwandter von ihr ist, hat sie meinen Segen, ihn zu behalten.« Er wies mit einem Kopfnicken auf eine kleine Ahorngruppe in hundert Metern Entfernung, deren Blätter einen ersten Hauch von Gelb aufwiesen.
»Die Pferde sind da drüben angebunden. Kannst du laufen, Sassenach?«
Ich blickte abschätzend auf meine Füße. Sie schienen viel weiter weg zu sein, als ich es gewohnt war.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich. »Ich glaube, ich bin wirklich ziemlich betrunken.«
»Och, nein, Tante Claire«, versicherte Ian mir liebenswürdig. »Mein Pa sagt, man ist nicht betrunken, solange man noch auf den Füßen steht.«
Jamie lachte und warf sich das Ende seines Plaids über die Schulter.
»Mein Pa hat immer gesagt, man ist nicht betrunken, solange man noch mit beiden Händen seinen Arsch finden kann.« Er betrachtete mein Hinterteil mit hochgezogener Augenbraue, überlegte es sich klugerweise aber anders, bevor er aussprach, was auch immer er sonst noch im Sinn gehabt hatte.
Ian verschluckte sich an seinem Kichern und erholte sich hustend.
»Aye, gut. Es ist nicht mehr weit, Tante Claire. Bist du dir sicher, daß du nicht laufen kannst?«
»Also, ich hebe sie nicht mehr hoch, das sage ich dir«, sagte Jamie, ohne meine Antwort abzuwarten. »Ich will mir nicht das Kreuz verrenken.« Er nahm Ian den Schädel ab, hielt ihn zwischen den Fingerspitzen und legte ihn mir vorsichtig in den Schoß. »Warte hier mit deinem Freund, Sassenach«, sagte er. »Ian und ich gehen die Pferde holen.«
 
Als wir Fraser’s Ridge erreichten, war es früher Nachmittag. Ich hatte fast zwei Tage lang gefroren, naß und ohne Nahrung verbracht und fühlte mich deutlich benommen; ein Gefühl, das noch verstärkt wurde durch weitere Brandyinfusionen und durch meine Bemühungen, Ian und Jamie die Ereignisse der vergangenen Nacht zu erklären. Bei Tageslicht kam mir die ganze Nacht unwirklich vor.
Andererseits kommt einem fast alles unwirklich vor, wenn man es durch einen Nebelschleier aus Erschöpfung, Hunger und leichter Trunkenheit betrachtet. Demzufolge hielt ich es zunächst für eine Halluzination, als wir auf die Lichtung einbogen und ich den Rauch aus dem Schornstein kommen sah - bis mir der Geruch brennenden Hickoryholzes in die Nase stieg.
»Ich dachte, ihr habt gesagt, ihr hättet das Feuer eingedämmt«, sagte ich zu Jamie. »Ein Glück, daß ihr das Haus nicht in Brand gesteckt habt.« Solche Unfälle geschahen häufig; ich hatte schon mehr als einmal von Blockhäusern gehört, die aufgrund eines unbeaufsichtigten Herdfeuers abgebrannt waren.
»Das habe ich auch«, sagte er knapp und schwang sich aus dem Sattel. »Es ist jemand hier. Kennst du das Pferd, Ian?«
Ian richtete sich in den Steigbügeln auf, um einen Blick in den Pferch zu werfen.
»Oh, es ist Tante Claires hinterlistiger Gaul!« sagte er überrascht. »Und daneben steht ein großer Apfelschimmel.«
Er hatte recht; der neugetaufte Judas stand ungesattelt Kopf an Schwanz mit einem stämmigen grauen Wallach im Pferch, und sie vertrieben einträchtig Fliegen.
»Weißt du, wem er gehört?« fragte ich. Ich war noch nicht abgestiegen, alle paar Minuten überkamen mich leichte Schwindelanfälle und zwangen mich, mich an den Sattel zu klammern. Der Boden unter dem Pferd schien sich sanft zu heben und zu senken wie Segel auf dem Ozean.
»Nein, aber es muß ein Freund sein«, sagte Jamie. »Er hat für mich die Tiere versorgt und die Ziege gemolken.« Er nickte von der heugefüllten Futterkrippe der Pferde zur Tür, wo ein Milcheimer auf der Bank stand, ordentlich mit einem Stück Stoff zugedeckt, damit keine Fliegen hineinfielen.
»Komm, Sassenach.« Er streckte die Hand aus und faßte mich um die Taille. »Wir stecken dich ins Bett und kochen dir eine Kanne Tee.«
Man hatte uns kommen hören; die Tür der Blockhütte öffnete sich, und Duncan Innes schaute heraus.
»Ah, da bist du ja, Mac Dubh«, sagte er. »Was ist denn passiert? Deine Ziege hat ein gottserbärmliches Theater gemacht, und ihr Euter war kurz vorm Platzen, als ich heute morgen hier angekommen bin.« Dann sah er mich, und sein langes, trauriges Geischt wurde vor Überraschung ausdruckslos.
»Mrs. Claire!« sagte er, indem er meine schmutzige und angeschlagene Erscheinung überflog. »Dann habt Ihr also einen Unfall gehabt? Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich unterwegs das Pferd allein auf dem Berg gefunden habe mit Eurer Kiste auf dem Sattel. Ich habe mich umgesehen und nach Euch gerufen, konnte aber keine Spur von Euch finden, also habe ich das Pferd zum Haus mitgenommen.«
»Ja, ich hatte einen Unfall«, sagte ich, während ich versuchte, allein zu stehen, womit ich keinen großen Erfolg hatte. »Es ist aber nichts passiert.« Ich war mir dessen nicht ganz sicher. Mein Kopf fühlte sich dreimal so groß an wie sonst.
»Sofort ins Bett«, sagte Jamie bestimmt und faßte mich an den Armen, bevor ich umfallen konnte.
»Erst ein Bad«, sagte ich.
Er blickte zum Bach.
»Da erfrierst du, oder du ertrinkst. Oder beides. Um Himmels willen, Sassenach, iß etwas und geh ins Bett; du kannst dich morgen waschen.«
»Jetzt. Heißes Wasser. Kessel.« Ich hatte nicht die Kraft zu einer längeren Diskussion, doch ich war fest entschlossen. Ich würde nicht schmutzig ins Bett gehen, und ich würde auch nicht hinterher verdreckte Laken waschen.
Jamie sah mich verzweifelt an, dann verdrehte er die Augen und gab auf.
»Dann also den Kessel mit heißem Wasser«, sagte er. »Ian, hol Holz und sieh dann mit Duncan nach den Schweinen. Ich schrubbe deine Tante ab.«
»Ich kann mich selber abschrubben!«
»Den Teufel kannst du.«
Er hatte recht; meine Finger waren so steif, daß sie die Haken meines Oberteils nicht aufbekamen. Er zog mich aus, als wäre ich ein kleines Kind, warf den zerrissenen Rock und die verdreckten Unterröcke einfach in die Ecke und zog mir das Hemd und das Mieder aus, das ich so lange getragen hatte, daß die Stoffalten tiefe rote Rillen in meiner Haut hinterlassen hatten. Ich stöhnte in einer wollüstigen Mischung aus Schmerz und Wohlergehen und massierte die roten Stellen, während das Blut in meinen eingeengten Oberkörper zurückströmte.
»Hinsetzen«, sagte er und schob einen Hocker unter mich, als ich mich fallen ließ. Er wickelte mir eine Bettdecke um die Schultern, stellte einen Teller mit anderthalb vertrockneten Haferkeksen vor mich hin und ging dann zum Schrank, um ihn nach Seife, Waschlappen und Leinenhandtüchern zu durchwühlen.
»Bitte such die grüne Flasche«, sagte ich, während ich an dem trockenen Keks knabberte. »Ich muß mir die Haare waschen.«
»Mmpf.« Es klapperte noch mehr, und schließlich tauchte er mit vollen Händen wieder auf. Er brachte mir unter anderem ein Handtuch und die Flasche mit dem Shampoo, das ich - da ich mir die Haare nicht mit Seife waschen wollte - aus Seifenkraut, Lupinenöl, Walnußblättern und Calendulablüten hergestellt hatte. Er stellte es zusammen mit meiner größten Rührschüssel auf den Tisch und füllte sie vorsichtig mit heißem Wasser aus dem Kessel.
Nachdem Jamie es ein wenig hatte abkühlen lassen, tauchte er ein Tuch ins Wasser und kniete sich hin, um mir die Füße zu waschen.
Das warme Tuch an meinen wunden, halberfrorenen Füßen zu spüren, kam der Ekstase so nah, wie ich es mir diesseits des Himmels nur erhoffen konnte. Müde und halb betrunken, wie ich war, fühlte ich mich, als löste ich mich von den Füßen aufwärts auf, während er mich sanft, aber gründlich abwusch.
»Wie ist das denn passiert, Sassenach?« Aus einem Zustand zurückgeholt, der dem Schlaf so nah war wie dem Wachen, blickte ich benommen auf mein linkes Knie herunter. Es war geschwollen, und die Innenseite hatte die tiefe blaulila Farbe von Enzianblüten angenommen.
»Oh… als ich vom Pferd gefallen bin.«
»Das war sehr unvorsichtig«, sagte er scharf. »Habe ich dir nicht wieder und wieder gesagt, du sollst vorsichtig sein, besonders mit einem neuen Pferd? Man kann ihnen nicht trauen, bis man eine Zeitlang mit ihnen zu tun gehabt hat. Und du bist nicht stark genug, um mit einem Pferd zurechtzukommen, das stur oder ängstlich ist.«
»Es hatte nichts mit Vertrauen zu tun«, sagte ich. Ich bewunderte verschwommen seine breiten Schultern, die sich fließend unter dem Leinenhemd anspannten, als er mir das verletzte Knie mit dem Schwamm abtupfte. »Ein Blitz hat es erschreckt, und ich bin von einem zehn Meter hohen Felsvorsprung gefallen.«
»Du hättest dir den Hals brechen können!«
»Einen Moment lang dachte ich, das hätte ich.« Ich schloß die Augen und schwankte leicht.
»Du hättest besser aufpassen sollen, Sassenach, du hättest überhaupt nicht auf diese Seite des Bergkammes gehen sollen, ganz zu schweigen von -«
»Ich konnte nichts dafür«, sagte ich und öffnete die Augen. »Der Pfad war fortgespült; ich mußte ihn umgehen.«
Er sah mich aufgebracht an, die schrägstehenden Augen zu blauen Schlitzen zusammengekniffen.
»Du hättest bei diesem Wolkenbruch gar nicht erst von den Muellers aufbrechen sollen! Hättest du dir nicht denken können, wie der Boden sein würde?«
Ich richtete mich mühsam auf und hielt mir die Bettdecke vor die Brüste. Etwas überrascht stellte ich fest, daß er mehr als nur leicht verärgert war.
»Also… nein«, sagte ich und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. »Wie hätte ich das wissen sollen? Außerdem -«
Er unterbrach mich, indem er den Waschlappen in die Schüssel klatschte, daß das Wasser über den ganzen Tisch schwappte.
»Sei still!« sagte er. »Ich habe nicht vor, mich mit dir zu streiten.«
Ich starrte zu ihm hoch.
»Was zum Teufel hast du denn dann vor? Und wie kommst du dazu, mich so anzuschreien? Ich habe doch kein Verbrechen begangen!«
Er holte kräftig durch die Nase Luft. Dann stand er auf, nahm den Lappen aus der Schüssel und wrang ihn sorgfältig aus. Er atmete aus, kniete sich vor mich hin und wischte mir mit sicherer Hand das Gesicht sauber.
»Nein. Das hast du nicht«, pflichtete er mir bei. Ein Winkel seines breiten Mundes verzog sich ironisch. »Aber du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt, Sassenach, und ich würde dir am liebsten eine fürchterliche Strafpredigt halten, ob du es nun verdienst oder nicht.«
»Oh«, sagte ich. Ich wollte zuerst lachen, verspürte dann aber Gewissensbisse, als ich sah, wie angespannt sein Gesicht war. Sein Hemdsärmel war dreckverschmiert, und an seinen Strümpfen klebten Kletten und Fuchsschwanzgräser, Überbleibsel einer Nacht, die er auf der Suche nach mir in den dunklen Bergen verbracht hatte, ohne zu wissen, wo ich war; ob ich noch lebte oder tot war. Ich hatte ihm wirklich einen Mordsschreck eingejagt, ob ich wollte oder nicht.
Ich suchte nach einer Möglichkeit, mich zu entschuldigen, doch meine Zunge war genauso schwerfällig wie mein Verstand. Schließlich streckte ich die Hand aus und pflückte ihm ein pelziges, gelbes Weidenkätzchen aus dem Haar.
»Warum schimpft du nicht auf Gälisch?« sagte ich. »Es erleichtert dich genauso, und ich verstehe dann nur die Hälfte von dem, was du sagst.«
Er gab einen schottischen Laut der Verachtung von sich, legte mir die Hand fest in den Nacken und tauchte meinen Kopf in die Schüssel. Doch als ich triefend wieder auftauchte, ließ er mir ein Handtuch auf den Kopf fallen und legte los. Er rieb mir mit seinen großen, festen Händen das Haar trocken, und sprach im förmlichen, drohenden Tonfall eines Priesters, der von der Kanzel aus die Sünde verdammt.
»Einfältiges Frauenzimmer«, sagte er auf Gälisch. »Du hast weniger Hirn als eine Fliege!« Unter den folgenden Bemerkungen fing ich die Worte für »dumm« und »ungeschickt« auf, doch ich hörte ihm bald nicht mehr zu. Statt dessen schloß ich die Augen und verlor mich in dem traumhaften Genuß, mir das Haar trockenreiben und anschließend kämmen zu lassen.
Seine Berührungen waren sicher und sanft; wahrscheinlich hatte er das beim Umgang mit Pferdeschweifen gelernt. Ich hatte gesehen, wie er beim Putzen mit den Pferden fast so sprach, wie er jetzt mit mir sprach, die gälischen Worte eine beruhigende Begleitung zum Rascheln von Striegel oder Bürste. Ich hatte allerdings das Gefühl, daß er mit den Pferden zuvorkommender umging.
Seine Hände berührten meinen Hals, meinen nackten Rücken und meine Schultern, flüchtige Berührungen, die meine gerade erst aufgetauten Glieder zum Leben erweckten. Ich zitterte, ließ die Bettdecke aber dennoch in meinen Schoß fallen. Die Flammen im Herdfeuer schlugen immer noch hoch; sie umtanzten den Kessel, und im Raum war es ganz warm geworden.
Er beschrieb jetzt in freundlichem Gesprächston verschiedene Dinge, die er mir gerne angetan hätte, angefangen damit, mich mit einem Stock grün und blau zu schlagen, und so weiter. Gälisch ist eine wortreiche Sprache, und Jamie war alles andere als phantasielos, was Gewalt oder Sex anging. Ob er es beabsichtigte oder nicht, ich hielt es gar nicht für so schlecht, daß ich nicht alles verstand, was er sagte.
Ich spürte die Hitze des Feuers auf meinen Brüsten und Jamies Wärme in meinem Rücken. Der lose Stoff seines Hemdes streifte meine Haut, als er sich vorbeugte, um nach einer Flasche auf dem Regal zu greifen, und ich erschauerte erneut. Er bemerkte es und unterbrach seine Tirade für einen Moment.
»Kalt?«
»Nein.«
»Gut.« Scharfer Kampfergeruch stach mir in die Nase, und bevor ich mich bewegen konnte, hatte eine große Hand meine Schulter ergriffen, um mich festzuhalten, während die andere mir die Brust fest mit einem glitschigen Öl einrieb.
»Halt! Das kitzelt! Halt, sage ich!«
Er störte sich nicht daran. Ich wand mich wie verrückt und versuchte, ihm zu entkommen, doch er war viel kräftiger als ich.
»Halt still«, sagte er, und seine Finger, vor denen es kein Entkommen gab, rieben mich fest zwischen meinen kitzeligen Rippen, unter meinem Schlüsselbein, um und unter meinen empfindlichen Brüsten ein, fetteten mich so gründlich ein wie ein Spanferkel, das man für den Spieß vorbereitet.
»Du Schuft!« sagte ich kichernd und atemlos vor Anstrengung, als er mich losließ. Ich roch nach Pfefferminze und Kampfer, und meine Haut strahlte vom Kinn bis zum Bauch Hitze aus.
Er grinste mich an, befriedigt und ohne eine Spur von Reue.
»Das machst du mit mir auch, wenn ich krank bin«, warf er ein und rieb sich die Hände am Handtuch ab. »Wie du mir, so ich dir, aye?«
»Ich bin aber nicht krank. Ich habe noch nicht einmal einen Schnupfen!«
»Das kommt schon noch, nachdem du die ganze Nacht draußen warst und in nassen Kleidern geschlafen hast.« Er schnalzte mißbilligend mit der Zunge wie eine schottische Hausfrau.
»Das hast du natürlich noch nie getan, nicht wahr? Wie oft hast du dich schon vom Schlafen im Freien erkältet?« wollte ich wissen. »Lieber Himmel, du hast sieben Jahre in einer Höhle gelebt!«
»Und habe drei davon mit Niesen verbracht. Außerdem bin ich ein Mann«, fügte er vollkommen unlogisch hinzu. »Willst du nicht lieber dein Nachthemd anziehen, Sassenach? Du hast keinen Faden am Leib.«
»Das habe ich schon bemerkt. Von nassen Kleidern und Kälte wird man nicht krank«, informierte ich ihn und suchte unter dem Tisch nach der heruntergefallenen Decke.
Er zog beide Augenbrauen hoch.
»Ach nein?«
»Nein.« Ich kroch rückwärts unter dem Tisch hervor und hielt dabei die Decke fest. »Ich habe dir schon einmal gesagt, daß es Erreger sind, von denen man krank wird. Wenn ich keinem Erreger ausgesetzt war, werde ich auch nicht krank.«
»Ah, Errrreger«, sagte er. Es klang, als rollte er eine Murmel im Mund herum. »Himmel, hast du einen schönen, fetten Hintern! Warum werden die Leute dann im Winter eher krank als im Frühling? Die Erreger vermehren sich wohl in der Kälte?«
»Nicht ganz.« In absurder Befangenheit breitete ich die Decke aus und wollte sie mir wieder um die Schultern legen. Doch ehe ich mich darin einwickeln konnte, hatte er mich am Arm gepackt und mich an sich gezogen.
»Komm her«, sagte er überflüssigerweise. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte er mir kräftig auf den nackten Hintern geklatscht, mich umgedreht und mich heftig geküßt.
Er ließ los, und ich wäre fast hingefallen. Ich warf die Arme um ihn, und er faßte mich um die Taille und stützte mich.
»Ist mir egal, ob es Erreger sind oder die Nachtluft oder weiß der Teufel was«, sagte er und blickte mich streng von oben herab an. »Es kommt nicht in Frage, daß du krank wirst, und damit Schluß. Und jetzt schlüpfst du sofort in dein Nachthemd, und dann ab ins Bett mit dir!«
Er fühlte sich furchtbar gut an in meinen Armen. Das glatte Leinen seiner Hemdbrust lag kühl an meinen glühenden, eingeriebenen Brüsten, und obwohl sich die Wolle seines Kilts an meinen nackten Beinen und meinem Bauch weitaus kratziger anfühlte, war sie doch ebenfalls alles andere als unangenehm. Ich rieb mich langsam an ihm wie eine Katze an einem Pfosten.
»Ab ins Bett«, sagte er noch einmal und klang schon etwas weniger streng.
»Mmmm«, sagte ich und machte es hinreichend klar, daß ich nicht vorhatte, mich allein dorthin zu begeben.
»Nein«, sagte er und wand sich sacht. Ich nahm an, daß er sich befreien wollte, doch da ich nicht losließ, verschärfte die Bewegung nur die Lage zwischen uns.
»Mm-hmm«, sagte ich und hielt ihn fest. Ich war zwar betrunken, doch es war mir dennoch nicht entgangen, daß Duncan zweifellos die Nacht auf dem Teppich vor dem Herd verbringen würde und Ian im Rollbett. Und ich fühlte mich zwar im Augenblick einigermaßen ungehemmt, doch so weit ging dieses Gefühl dann doch nicht.
»Mein Vater hat gesagt, ich soll nie eine Frau übervorteilen, die zuviel getrunken hat«, sagte er. Er hatte aufgehört, sich zu winden, fing jetzt aber wieder damit an, langsamer, als könnte er es nicht verhindern.
»Ich habe nicht zuviel getrunken«, versicherte ich ihm. »Außerdem -« Ich wand mich meinerseits langsam und geschmeidig. »Ich habe gedacht, man ist nicht betrunken, wenn man sich noch mit beiden Händen an den Hintern fassen kann.«
Er sah mich abschätzend an.
»Ich sage es ungern, Sassenach, aber es ist nicht dein Hintern, den du da in den Händen hast - es ist meiner.«
»Das geht schon in Ordnung«, versicherte ich ihm. »Wir sind verheiratet. Was mein ist, soll auch dein sein. Wir sind eins, das hat der Priester gesagt.«
»Vielleicht war es doch ein Fehler, dich mit diesem Fett einzureiben«, murmelte er halb zu sich selbst. »Bei mir wirkt es nie so.«
»Na ja, du bist ja auch ein Mann.«
Er unternahm einen letzten tapferen Versuch.
»Solltest du nicht noch einen Bissen essen, Schatz? Du mußt doch Hunger haben.«
»Mm-hm«, sagte ich. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Hemd und biß ihn sanft.
»Bärenhunger.«
 
Vom Grafen von Montrose erzählt man sich, daß ihn eines Tages eine junge Frau halbtot vor Kälte und Hunger nach der Schlacht auf dem Feld fand. Die junge Frau zog ihren Schuh aus, rührte darin Gerste mit kaltem Wasser an, fütterte den am Boden liegenden Grafen mit dem so entstandenen Brei und rettete ihm damit das Leben.
Der Becher, der mir jetzt unter die Nase geschoben wurde, schien eine Portion ebendieser lebensspendenden Substanz zu enthalten, mit dem geringfügigen Unterschied, das diese hier warm war.
»Was ist das?« fragte ich, während ich die blassen Körner betrachtete, die in einer wässrigen Flüssigkeit trieben. Es sah aus wie ein Becher voller ertrunkener Maden.
»Gerstensuppe«, sagte Ian und blickte so stolz auf den Becher, als wäre er sein erstgeborenes Kind. »Ich habe sie selbst gemacht, aus dem Sack, den du von den Muellers mitgebracht hast.«
»Danke«, sagte ich und nahm vorsichtig einen Schluck. Ich glaubte nicht, daß er sie in seinem Schuh angerührt hatte, trotz des Schweißaromas. »Sehr gut«, sagte ich. »Wie lieb von dir, Ian.«
Er wurde rot vor Dankbarkeit.
»Och, das ist doch nicht der Rede wert«, sagte er. »Es ist noch genug da. Oder soll ich dir ein bißchen Käse holen? Ich könnte die grünen Stellen für dich herausschneiden.«
»Nein, nein - das reicht mir«, sagte ich hastig. »Ah… warum nimmst du nicht dein Gewehr und siehst zu, ob du draußen ein Eichhörnchen oder ein Kaninchen erwischst? Ich bin sicher, daß es mir so gut geht, daß ich zum Abendessen etwas kochen kann.«
Er strahlte, und das Lächeln verwandelte sein langes, knochiges Gesicht.
»Ich bin froh, das zu hören, Tante Claire«, sagte er. »Du solltest einmal sehen, was Onkel Jamie und ich gegessen haben, als du fort warst!«
Er ließ mich auf meinem Kissen zurück, und ich fragte mich, was ich mit dem Becher Suppe anfangen sollte. Ich wollte sie nicht trinken, doch ich fühlte mich wie warme Butter - weich und sahnig, fast flüssig -,und die Vorstellung aufzustehen schien mir mit unglaublichem Energieaufwand verbunden zu sein.
Jamie hatte auf weiteren Widerstand verzichtet und mich ins Bett gebracht, wo er seine Aufgabe, mich aufzutauen, in aller Gründlichkeit und Eile zu Ende geführt hatte. Es war wohl besser, daß er nicht mit Ian auf die Jagd gegangen war. Er roch genauso nach Kampfer wie ich; jedes Tier würde ihn meilenweit riechen.
Er hatte mich zärtlich zugedeckt und mich dem Schlaf überlassen, während er Duncan jetzt offiziell begrüßte und ihm die Gastfreundschaft des Hauses anbot. Ich konnte draußen das Gemurmel ihrer tiefen Stimmen hören; sie saßen auf der Bank neben der Tür und genossen die späte Nachmittagssonne - lange, bleiche Strahlen fielen schräg durch das Fenster und hüllte innen Holz und Zinn in ein warmes Licht.
Auch der Schädel wurde von der Sonne berührt. Er lag auf meinem Schreibtisch am anderen Ende des Zimmers und bildete mit einem Tonkrug voller Blumen und meinem Krankenbuch ein häusliches Stilleben.
Es war der Anblick des Krankenbuches, das mich aus meinem Dämmerzustand holte. Die Geburt, die ich bei den Muellers begleitet hatte, kam mir jetzt vage und unwirklich vor; ich hielt es für besser, die Details festzuhalten, solange ich mich überhaupt noch daran erinnern konnte.
Von den Regungen meines beruflichen Pflichtgefühls aufgerüttelt, räkelte ich mich, stöhnte und setzte mich auf. Ich fühlte mich immer noch etwas benommen, und meine Ohren summten von den Nachwirkungen des Brandys. Außerdem war ich fast am gesamten Körpers etwas wund - an manchen Stellen mehr als an anderen -,doch im großen und ganzen war ich einigermaßen funktionsfähig. Allerdings bekam ich allmählich Hunger.
Ich hoffte, daß Ian mit Fleisch zurückkommen würde, das ich kochen konnte; ich war nicht so dumm, mir meinen zusammengeschrumpften Magen mit Käse und eingelegtem Fisch vollzustopfen, doch eine schöne, kräftigende Eichhörnchensuppe, gewürzt mit Frühlingszwiebeln und getrockneten Pilzen, wäre genau das, was der Arzt verordnen würde.
Was die Suppe anging - ich glitt zögernd aus dem Bett und stolperte zum Herd, wo ich die kalte Gerstensuppe in den Topf zurückschüttete. Ian hatte genug für ein ganzes Regiment gekocht - vorausgesetzt allerdings, daß das Regiment sich aus Schotten zusammensetzte. Da sie in einem Land lebten, in dem kaum Eßbares wuchs, waren sie in der Lage, klebrige Getreidemassen zu sich zu nehmen, ohne daß diese mit dem geringsten erlösenden Hauch von Gewürz oder Geschmack in Berührung gekommen waren. Ich selbst entstammte einer schwächeren Rasse und fühlte mich dem nicht ganz gewachsen.
Der geöffnete Gerstensack stand neben dem Herd, und der Jutesack war immer noch sichtlich feucht. Ich würde das Korn zum Trocknen ausbreiten müssen, sonst würde es verderben. Unter leichtem Protest meines verletzten Knies holte ich ein großes, flaches Korbtablett aus geflochtenem Schilf und kniete mich hin, um das feuchte Getreide in einer dünnen Lage darauf auszubreiten.
»Hat er denn ein weiches Maul, Duncan?« Jamies Stimme kam deutlich durch das Fenster; der Ledervorhang war aufgerollt, um frische Luft hereinzulassen, und ich fing einen schwachen Tabakhauch von Duncans Pfeife auf. »Er ist ein großer, kräftiger Kerl, aber er hat einen freundlichen Blick.«
»Oh, er ist ein Prachtpferd«, sagte Duncan mit einem unüberhörbar stolzen Unterton in der Stimme. »Und hat ein schönes, weiches Maul, aye. Miss Jo hat ihn von ihrem Stallaufseher auf dem Markt in Wilmington aussuchen lassen; hat ihm gesagt, daß er ein Pferd finden muß, das man gut mit einer Hand reiten kann.«
»Mmpf. Aye, ja, er ist ein hübsches Tier.« Die Holzbank ächzte, als einer der Männer sein Gewicht verlagerte. Ich verstand den Hintersinn von Jamies Kompliment und fragte mich, ob Duncan es auch tat.
Zum Teil war es schlichte Herablassung; Jamie war auf dem Pferderücken aufgewachsen, und als geborener Reiter wies er die bloße Vorstellung, überhaupt die Hände zu gebrauchen, weit von sich; ich hatte schon gesehen, wie er ein Pferd nur dadurch lenkte, daß er den Druck seiner Knie und Oberschenkel verlagerte, oder wie er sein Pferd auf einem überfüllten Schlachtfeld in Galopp setzte, die Zügel auf dem Pferdehals zusammengeknotet, so daß er die Hände für Schwert und Pistole frei hatte.
Doch Duncan war weder ein Reiter noch ein Soldat; er hatte in der Nähe von Ardrossan als Fischer gelebt, bevor ihn der Aufstand wie so viele andere von seinen Netzen und seinem Boot fortgeholt hatte, um ihn nach Culloden und ins Verderben zu schicken.
Jamie wäre nicht so taktlos, Duncan auf einen Mangel an Erfahrung hinzuweisen, der diesem selbst schon mehr als bewußt war; doch er würde ihn auf etwas anderes hinweisen wollen. Hatte Duncan es gemerkt?
»Du bist es, dem sie helfen will, Mac Dubh, und das weißt du auch.« Duncans Tonfall war voller Ironie; er hatte Jamie sehr wohl verstanden.
»Ich habe auch nie das Gegenteil behauptet, Duncan.« Jamies Stimme war ruhig.
»Mmpf.«
Ich lächelte trotz des Anflugs von Schärfe zwischen ihnen. Duncan beherrschte die für die Highlands typische Kunst der wortlosen Beredsamkeit genausogut wie Jamie. Dieses spezielle Geräusch beinhaltete sowohl einen leichten Anflug von Beleidigung über Jamies Andeutung, daß es sich für Duncan nicht gehörte, von Jocasta ein Pferd als Geschenk anzunehmen, als auch die Bereitschaft, die ebenfalls nur angedeutete Entschuldigung anzunehmen.
»Also, hast du es dir überlegt?« Die Bank ächzte, als Duncan abrupt das Thema wechselte. »Willst du Sinclair oder Geordie Chisholm?«
Er fuhr fort, ohne Jamie Zeit zum Antworten zu lassen, allerdings in einem Tonfall, der deutlich erkennen ließ, daß er all dies schon einmal gesagt hatte. Ich fragte mich, ob er versuchte, Jamie zu überzeugen, oder sich selbst - oder nur beiden bei ihrer Entscheidung helfen wollte, indem er die Fakten wiederholte.
»Es stimmt, Sinclair ist ein Küfer, aber Geordie ist ein guter Mann; ein sparsamer Arbeiter, und außerdem hat er zwei kleine Söhne. Sinclair ist nicht verheiratet, also würde er nicht viel brauchen, um hier anfangen zu können, aber -«
»Er würde eine Drehbank brauchen und Werkzeuge, und Eisen und abgelagertes Holz«, fiel Jamie ihm ins Wort. »Er könnte in seiner Werkstatt schlafen, aye, aber dazu müßte er erst einmal eine Werkstatt haben. Und es wird ziemlich teuer, glaube ich, alles zu kaufen, was man für eine Küferwerkstatt braucht. Geordie bräuchte etwas Essen für seine Familie, aber das haben wir hier; darüber hinaus bräuchte er für den Anfang nur ein paar Werkzeuge - er hat doch eine Axt, oder?«
»Aye, die hat er sicher noch aus seiner Zeit als Zwangsarbeiter, aber jetzt ist Pflanzzeit, Mac Dubh. Mit dem Boden -«
»Das weiß ich wohl«, sagte Jamie ein wenig gereizt. »Ich war es schließlich, der vor einem Monat fünf Morgen Mais gesät hat. Und sie vorher gerodet hat.« Während Duncan es sich auf River Run hatte gutgehen lassen, in Wirtshäusern seine Schwätzchen gehalten und sein neues Pferd zugeritten hatte. Ich hörte es und Duncan ebenfalls; es folgte ein vielsagendes Schweigen.
Ein Ächzen der Bank, und Duncan sprach ruhig weiter.
»Deine Tante Jo schickt dir ein Geschenk.«
»Oh, tut sie das?« Die Schärfe in seiner Stimme war jetzt noch deutlicher. Ich hoffte, Duncan war klug genug, darauf zu achten.
»Eine Flasche Whisky.« In Duncans Stimme lag ein Lächeln, das Jamie mit einem zurückhaltenden Lachen beantwortete.
»Oh, wirklich?« wiederholte er in völlig anderem Ton. »Das ist sehr liebenswürdig.«
»Das will sie auch sein.« Beträchtliches Ächzen und Geschlurfe, als Duncan aufstand. »Komm mit und hol sie, Mac Dubh. Ein kleiner Schluck kann deiner Laune nicht schaden.«
»Nein, das stimmt.« Jamie klang reumütig. »Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen, und ich bin so reizbar wie ein Keiler auf Brautschau. Du mußt mir mein Benehmen verzeihen, Duncan.«
»Och, keine Ursache.« Es erklang ein leises Geräusch, wie wenn eine Hand auf eine Schulter klopft, und ich hörte sie zusammen über den Hof davongehen. Ich trat ans Fenster und sah ihnen nach. Jamies Haar glänzte wie dunkle Bronze in der untergehenden Sonne, als er der Knopf schräglegte, um sich anzuhören, was Duncan ihm erzählte. Der kleinere Mann gestikulierte zur Erläuterung, wobei ihn die Bewegungen seines Armes so aus dem Tritt brachten, daß er sich beim Gehen ruckartig bewegte wie eine große Marionette.
Was wäre wohl aus ihm geworden, fragte ich mich, hätte Jamie ihn nicht gefunden - und einen Platz für ihn? In Schottland war kein Platz für einen einarmigen Fischer. Mit Sicherheit wäre ihm dort nichts anderes übriggeblieben, als zu betteln. Oder zu verhungern, oder das Lebensnotwendige zu stehlen und am Galgen zu enden wie Gavin Hayes.
Doch dies war die Neue Welt, und wenn das Leben hier auch nicht ohne Risiko war, so bedeutete es doch immerhin eine Chance. Kein Wunder, daß sich Jamie darüber den Kopf zerbrach, wer die beste Chance bekommen sollte, Sinclair, der Küfer, oder Chisholm, der Bauer.
Es wäre viel wert, einen Küfer zur Hand zu haben; es würde den Männern auf dem Berg den langen Weg nach Cross Creek oder Averasboro ersparen, um dort die Fässer zu holen, die sie für ihr Pech und Terpentin brauchten, für Pökelfleisch und Cidre. Doch es wäre teuer, eine Küferwerkstatt einzurichten, selbst wenn man nur das Nötigste anschaffte. Und dann mußte man auch an die Frau des unbekannten Chisholm und seine kleinen Kinder denken - wie lebten sie jetzt, und was würde ohne Hilfe aus ihnen werden?
Duncan hatte bis jetzt dreißig der Männer aus Ardsmuir ausfindig gemacht; Gavin Hayes war der erste, und für ihn hatten wir alles getan, was in unserer Macht lag. Wir hatten dafür gesorgt, daß er die Reise in den Himmel sicher antrat. Zwei weitere waren gestorben, der eine an einer Fieberkrankheit, der andere war ertrunken. Drei hatten ihre Zwangsarbeit hinter sich gebracht und - ausgerüstet mit der Axt und den Kleidungsstücken, die der Entlassungslohn eines Zwangsarbeiters waren - selbst Fuß fassen können, indem sie Land im Landesinneren erschlossen und dort kleine Niederlassungen gegründet hatten.
Von den übrigen Männern hatten wir bis jetzt zwanzig unter Jamies Regie und mit seiner finanziellen Unterstützung auf gutem Land am Fluß angesiedelt. Ein weiterer war schwachsinnig, arbeitete aber als Knecht für einen anderen und verdiente so seinen Lebensunterhalt. Damit waren all unsere Rücklagen aufgebraucht. Das Unternehmen hatte unser kleines Barvermögen, Schuldscheine auf den Gegenwert der Zeit noch nicht existenter Ernten und einen haarsträubenden Ausflug nach Cross Creek erfordert.
Dort hatte Jamie all seine Bekannten aufgesucht, von jedem eine kleine Geldsumme geliehen und war mit diesem Geld dann in die Hafenkneipen gegangen, wo er es in drei schlaflosen Nächten geschafft hatte, beim Spiel seinen Einsatz zu vervierfachen - und dabei nur knapp einem Messerattentat entkommen war, wie ich erst später erfuhr.
Ich war sprachlos gewesen beim Anblick des langen, gezackten Risses in der Brust seines Rockes.
»Was -?« hatte ich schließlich gekrächzt.
Er hatte kurz mit den Achseln gezuckt und plötzlich sehr müde ausgesehen.
»Es spielt keine Rolle«, hatte er gesagt. »Es ist vorbei.«
Dann hatte er sich rasiert, sich gewaschen, war ein weiteres Mal zu allen Plantagenbesitzern gegangen und hatte jedem der Männer sein Geld mit einem kleinen Leihzins zurückgezahlt, so daß uns genug blieb für Maissaat, ein zusätzliches Maultier zum Pflügen, eine Ziege und ein paar Schweine.
Ich stellte ihm keine weiteren Fragen, flickte ihm nur den Rock und sah zu, daß er heil ins Bett fand, als er nach der Rückzahlung des geliehenen Geldes heimkam. Doch ich saß lange Zeit neben ihm und sah zu, wie sich die Falten der Erschöpfung in seinem Gesicht im Schlaf ein wenig glätteten.
Nur ein wenig. Ich hatte seine Hand hochgehoben, schlaff und schwer im Schlummer, und hatte die tiefen Linien seiner glatten, schwieligen Handfläche wieder und wieder nachgezeichnet. Wie viele Leben lagen jetzt in diesen Furchen?
Mein eigenes. Das seiner Siedler. Fergus’ und Marsalis, die gerade aus Jamaica zurückgekehrt waren und jetzt für Germain aufkommen mußten, einen pausbäckigen, blonden Charmeur, der seinen hingerissenen Vater fest in seiner dicken kleinen Hand hatte.
Bei diesem Gedanken blickte ich unwillkürlich aus dem Fenster. Ian und Jamie hatten ihnen geholfen, ein kleines Blockhaus nur eine Meile von unserem entfernt zu bauen, und manchmal kam Marsali uns abends besuchen und brachte das Baby mit. Es wäre schön, sie jetzt zu sehen, dachte ich sehnsüchtig. So sehr ich Brianna manchmal vermißte, der kleine Germain war mein Ersatz für das Enkelkind, das ich niemals im Arm halten würde.
Ich seufzte und vertrieb den Gedanken mit einem Achselzucken.
Jamie und Duncan waren mit dem Whisky zurückgekehrt; ich konnte hören, wie sie sich bei der Pferdekoppel unterhielten.
Ihre Stimmen waren locker, und alle Spannung zwischen ihnen war verflogen - für den Augenblick.
Ich breitete die dünne Lage Gerste fertig aus und stellte sie zum Trocknen an eine Ecke der Feuerstelle. Dann ging ich zum Schreibtisch, schraubte das Tintenfaß auf und öffnete das Krankenbuch. Es dauerte nicht lange, die Details der Geburt des jüngsten Muellersprößlings festzuhalten; die Wehen hatte lange gedauert, waren ansonsten aber ganz normal gewesen. Die Geburt selbst war komplikationslos verlaufen; das einzig Ungewöhnliche war die Glückshaube des Kindes gewesen…
Ich hielt im Schreiben inne und schüttelte den Kopf. Immer noch abgelenkt von meinen Gedanken an Jamie, hatte ich meine Aufmerksamkeit abschweifen lassen. Petronellas Kind war nicht mit einer Glückshaube geboren worden. Ich erinnerte mich deutlich daran, wie sein Scheitel sichtbar wurde, die Vulva ein glänzender roter Ring, der sich eng um einen kleinen, schwarzbehaarten Fleck schloß. Ich hatte ihn berührt, den winzigen Puls gespürt, der dort schlug, genau unter der Haut. Ich erinnerte mich lebhaft daran, wie sich die feuchten Daunenhaare unter meinen Fingern anfühlten: wie die feuchte Haut eines frisch geschlüpften Kükens.
Es war der Traum, dachte ich. Ich hatte in der Erdgrube geträumt und die Ereignisse der beiden Geburten vermischt - dieser und Briannas. Es war Brianna, die mit einer Glückshaube geboren worden war.
Ein glückliches Vorzeichen, so eine Glückshaube - sagten die Schotten -,sie gewährte im späteren Leben Schutz vor dem Ertrinken. Und manche Kinder, die mit einer Glückshaube geboren wurden, waren mit der Gabe des zweiten Gesichts gesegnet - obwohl ich mir nach meinen Begegnungen mit solcherart begabten Menschen die Freiheit herausnahm zu bezweifeln, daß diese Fähigkeit ein reiner Segen war.
Ob es ein Glück war oder nicht, Brianna hatte jedenfalls niemals Anzeichen jenes seltsamen keltischen »Wissens« gezeigt, und das war mir nur recht. Ich wußte genug über meine eigene persönliche Form des zweiten Gesichtes - das sichere Wissen, daß sich Dinge ereignen würden - um niemandem die damit verbundenen Komplikationen zu wünschen.
Ich blickte auf die Seite vor mir. Ohne es richtig zu merken, hatte ich die groben Umrisse eines Mädchenkopfes gezeichnet. Eine gerundete breite Linie wirbelnden Haars, die bloße Andeutung einer langen, geraden Nase. Darüberhinaus war sie gesichtslos.
Ich war keine Künstlerin. Ich hatte gelernt, klare, klinische Zeichnungen anzufertigen, akkurate Bilder von Gliedmaßen und Körpern, doch mir fehlte Briannas Gabe, die Linien zum Leben zu erwecken. So, wie er da stand, war der Entwurf nicht mehr als eine Gedächtnisstütze; ich konnte ihn ansehen und mir ihr Gesicht in Gedanken ausmalen. Mehr zu versuchen - ihr Gesicht auf dem Papier heraufzubeschwören - würde bedeuten, das zu ruinieren, zu riskieren, daß ich das Bild verlor, das ich von ihr im Herzen trug.
Und würde ich sie leibhaftig herbeschwören, wenn ich es könnte? Nein. Das würde ich nicht tun; ich stellte sie mir tausendmal lieber in der Sicherheit und Bequemlichkeit ihrer eigenen Zeit vor, als sie mir herbeizuwünschen in diese rauhe, gefährliche Zeit. Doch das bedeutete nicht, daß sie mir nicht fehlte.
Zum ersten Mal empfand ich etwas Mitgefühl mit Jocasta Cameron und ihrer Sehnsucht nach einem Erben; jemandem, der zurückblieb und ihren Platz einnahm, der davon zeugte, daß ihr Leben nicht umsonst gewesen war.
Draußen vor dem Fenster stieg das Zwielicht aus Feld und Wald und Wasser. Man behauptet, daß die Nacht sich senkt, aber eigentlich stimmt das nicht. Die Dunkelheit stieg auf, füllte erst die Talmulden, überschattete dann die Berghänge und kroch unmerklich an Baumstämmen und Pfosten hoch, während die Nacht den Boden verschlang und dann aufstieg, um sich mit dem tieferen Dunkel des sternenübersäten Himmels zu vereinen.
Ich saß da, starrte aus dem Fenster und sah zu, wie sich das Licht auf den Pferden in der Koppel veränderte: statt zu verblassen, wandelte es sich, so daß alles - die gebogenen Hälse, die runden Hinterteile, selbst einzelne Grashalme - sich nackt und klar abzeichnete und die Wirklichkeit für einen kurzen Augenblick befreit war von den täglichen Illusionen von Sonne und Schatten.
Ohne sie zu sehen, fuhr ich die Linien der Zeichnung mit dem Finger nach, wieder und wieder, während die Dunkelheit aufstieg und die Wirklichkeiten meines Herzens klar vor mir im Dämmerlicht standen. Nein, ich wünschte mir Brianna nicht hierher. Doch das bedeutete nicht, daß sie mir nicht fehlte.
 
Irgendwann beendete ich meine Notizen und saß dann einen Augenblick lang still da. Ich hätte mich an das Abendessen machen sollen, das wußte ich, doch nach meinem Abenteuer nagte immer noch die Erschöpfung an mir und raubte mir die Willenskraft, mich zu bewegen. All meine Muskeln schmerzten, und der Bluterguß an meinem Knie pochte. Alles, was ich wirklich wollte, war, ins Bett zurückzukriechen.
Statt dessen ergriff ich den Totenschädel, den ich neben meinem Krankenbuch auf den Tisch gelegt hatte. Ich glitt sanft mit dem Finger über das runde Cranium. Es war ein durch und durch makaberer Tischschmuck, das mußte ich zugeben, doch ich hing dennoch an ihm. Ich hatte Knochen immer schon schön gefunden, egal, ob von Mensch oder Tier: nackte, elegante Überreste des Lebens, das auf seine Grundlagen reduziert wurde.
Plötzlich erinnerte ich mich an etwas, woran ich seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte; eine kleine, dunkle Kammer in Paris, die hinter dem Laden eines Apothekers verborgen war. Die Wände mit wabenartigen Regalen überzogen, in jedem Fach ein polierter Schädel. Viele verschiedene Tierarten, von Spitzmäusen bis hin zu Wölfen, Mäusen und Bären.
Und während meine Hand auf dem Kopf meines unbekannten Freundes lag, hörte ich Maître Raymonds Stimme so deutlich in meiner Erinnerung, als stünde er neben mir.
»Zuneigung?« hatte er gesagt, als ich die hohe Wölbung eines Elchschädels berührte. »Es ist ungewöhnlich, so etwas für einen Knochen zu empfinden, Madonna.«
Doch er hatte gewußt, was ich meinte. Ich wußte, daß es so war, denn als ich ihn fragte, wozu er all diese Schädel hatte, hatte er gelächelt und gesagt: »Sie leisten mir bei meiner Arbeit Gesellschaft.«
Und ich wußte auch, was er meinte, denn der Herr, dessen Schädel ich hier hatte, hatte mir ebenfalls Gesellschaft geleistet, und zwar an einem sehr dunklen und einsamen Ort. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob er vielleicht etwas mit der Erscheinung zu tun hatte, die ich auf dem Berg gesehen hatte, dem Indianer mit dem schwarz bemalten Gesicht.
Der Geist - wenn es ein Geist gewesen war - hatte nicht gelächelt oder gesprochen. Ich hatte seine Zähne nicht gesehen, den einzigen Anhaltspunkt für einen Vergleich mit dem Schädel in meiner Hand - denn ich ertappte mich dabei, wie ich mit dem Daumen über den gezackten Rand seines gesprungenen Schneidezahns fuhr. Ich hob den Schädel ins Licht und untersuchte ihn im weichen Licht des Sonnenuntergangs aus der Nähe.
Auf der einen Seite waren seine Zähne zertrümmert, waren gesprungen und zersplittert, als sei sein Mund mit aller Gewalt getroffen worden, vielleicht von einem Stein oder einem Knüppel - einem Gewehrschaft? Auf der anderen Seite waren sie unversehrt, sogar in sehr gutem Zustand. Ich war keine Expertin, glaubte aber, daß es der Schädel eines erwachsenen Mannes Ende Dreißig oder Anfang Vierzig war. Ein Mann in diesem Alter hätte recht abgenutzte Zähne haben sollen, wenn man in Betracht zog, daß sich die Indianer von Maismehl ernährten, das aufgrund ihrer Art, den Mais zwischen flachen Steinen zu zermalmen eine beträchtliche Menge gemahlenen Steins enthielt.
Doch die Schneide- und Eckzähne auf der guten Seite waren kaum abgenutzt. Ich drehte den Schädel um, um den Zustand der Backenzähne zu begutachten, und hielt jäh inne.
Mir war plötzlich kalt, trotz der Wärme des Feuers in meinem Rücken. So kalt, wie mir gewesen war, als ich mich in der Dunkelheit verirrt hatte, ohne Feuer, allein auf dem Berg mit dem Kopf eines toten Mannes. Denn die Abendsonne ließ jetzt an meinen Händen das silberne Band meines Eherings aufleuchten - und ebenso die Silberfüllungen im Mund meines verstorbenen Freundes.
Einen Moment lang saß ich da und starrte vor mich hin, dann drehte ich den Schädel um und legte ihn so sanft auf den Tisch, als wäre er aus Glas.
»Mein Gott«, sagte ich, und alle Müdigkeit war vergessen. »Mein Gott«, sagte ich zu seinen leeren Augen und seinem schiefen Grinsen. »Wer bist du gewesen?«
 
»Was meinst du, wer er gewesen sein könnte?« Jamie berührte den Schädel vorsichtig. Uns blieben nur wenige Momente; Duncan war zum Abort gegangen, und Ian fütterte die Schweine. Doch ich konnte es nicht ertragen zu warten - ich hatte es sofort jemandem sagen müssen.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Außer natürlich, daß er jemand… wie ich gewesen sein muß.« Ich erschauerte heftig. Jamie sah mich an und runzelte die Stirn.
»Du hast dich doch nicht erkältet, oder, Sassenach?«
»Nein.« Ich lächelte schwach zu ihm hoch. »Mich überläuft es nur kalt.«
Er holte mein Schultertuch vom Haken an der Tür und warf es in einem Schwung um mich. Dann legte er die Hände auf meine Schultern, warm und beruhigend.
»Es bedeutet noch etwas, nicht wahr?« fragte er leise. »Es bedeutet, es gibt noch eine… Stelle. Vielleicht in der Nähe.«
Noch ein Steinkreis - oder etwas Ähnliches. Ich hatte auch schon daran gedacht, und der Gedanke ließ mich erneut erschauern. Jamie sah den Schädel nachdenklich an, zog sich dann das Taschentuch aus dem Ärmel und drapierte es sanft über die leeren Augen.
»Ich begrabe ihn nach dem Abendessen«, sagte er.
»Oh, das Abendessen.« Ich schob mir die Haare hinter das Ohr und versuchte, meine zerstreuten Gedanken auf das Abendessen zu konzentrieren. »Ja, mal sehen, ob ich ein paar Eier finden kann. Das geht schnell.«
»Mach dir keine Mühe, Sassenach.« Jamie blickte in den Topf auf dem Herdfeuer. »Wir können das hier essen.«
Diesmal erschauerte ich nur, weil ich wählerisch war.
»Igitt«, sagte ich. Jamie grinste mich an.
»Du hast doch nichts gegen eine gute Gerstensuppe, oder?«
»Falls es so etwas überhaupt gibt«, antwortete ich und blickte angewidert in den Topf. »Das hier riecht eher wie Braumaische.« Die Suppe war mit feuchten Körnern gekocht worden, und zwar nicht lange genug, dann hatte man sie stehenlassen; und nun strömte die kalte, schaumige Suppe bereits den Hefegeruch der Fermentierung aus.
»Apropos«, sagte ich und stieß den feuchten Gerstensack mit den Zehen an, »das hier muß zum Trocknen ausgebreitet werden, bevor es verschimmelt, falls das nicht schon passiert ist.«
Jamie starrte auf die ekelerregende Suppe, die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen.
»Aye?« sagte er dann geistesabwesend. »Oh, aye. Ich mache das.« Er drehte den Sack oben zu und hob ihn auf seine Schulter. Auf dem Weg nach draußen blieb er stehen und warf einen Blick auf den zugedeckten Schädel.
»Du hast gesagt, du glaubst nicht, daß er Christ war,« sagte er und sah mich neugierig an. »Warum denn, Sassenach?«
Ich zögerte, doch die Zeit reichte nicht, um ihm von meinem Traum zu erzählen - wenn es ein Traum gewesen war. Ich konnte hören, wie Duncan und Ian plaudernd auf das Haus zukamen.
»Ohne besonderen Grund«, sagte ich achselzuckend.
»Aye, gut«, sagte er. »Dann behaupten wir es einfach.«
Der Ruf Der Trommel
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