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Der Schädel unter der Haut
Ich hatte Jamie gesagt, daß es mir nichts
ausmache, fernab der Zivilisation zu leben; überall, wo Menschen
lebten, würde es auch Arbeit für eine Heilerin geben. Duncan hatte
sein Versprechen gehalten und war im Frühjahr 1768 mit acht der
früheren Gefangenen aus Ardsmuir und ihren Familien zurückgekehrt,
die sich auf Fraser’s Ridge, wie man den Ort jetzt allgemein
nannte, niederlassen wollten. Bei fast dreißig Seelen waren meine
leicht eingerosteten Künste sofort gefragt; es galt, Wunden
zuzunähen und Fieber zu behandeln, Abszesse zu öffnen und
Zahnfleischentzündungen zu säubern. Zwei der Frauen waren
schwanger, und es war mir eine Freude, sie von zwei gesunden
Kindern zu entbinden, einem Jungen und einem Mädchen, die beide zu
Beginn des Frühjahrs geboren wurden.
Mein Ruf - wenn das das richtige Wort ist - als
Heilerin verbreitete sich schnell auch über unsere winzige Siedlung
hinaus, und ich wurde immer weiter weg gerufen, um Leute zu
behandeln, die in einem Umkreis von dreißig Meilen auf einsamen
Höfen in wildem Bergland lebten. Außerdem unternahm ich manchmal
mit Ian Stippvisiten nach Anna Ooka, um Nayawenne zu besuchen, und
jedesmal kehrte ich mit Körben und Krügen voll nützlicher Kräuter
zurück.
Anfangs hatte Jamie darauf bestanden, daß er oder
Ian mich zu den weiter entfernten Orten begleiteten, doch es
stellte sich bald heraus, daß keiner von ihnen entbehrlich war; es
war Zeit für die erste Aussaat, der Boden mußte vorbereitet und mit
der Egge bearbeitet werden, und Mais und Gerste mußten gesät
werden, ganz zu schweigen von den regelmäßigen Aufgaben, die auf
einem kleinen Hof anfielen. Zusätzlich zu den Pferden und
Maultieren hatten wir eine kleine Hühnerschar erworben, einen
lasterhaft aussehenden schwarzen Eber, der den gesellschaftlichen
Bedürfnissen unseres Schweins gerecht werden sollte, und - als
größten Luxus - eine Milchziege, und sie alle mußten gefüttert,
getränkt und ganz allgemein daran gehindert werden, sich
gegenseitig umzubringen oder von Bären oder Panthern gefressen zu
werden.
Also ging ich immer öfter allein los, wenn ein
Fremder unvermittelt in der Eingangstür erschien und nach einer
Heilerin oder Hebamme fragte. Daniel Rawlings’ Krankenbuch erhielt
neue Einträge, und unsere Vorratskammer wurde um Schinken,
Hirschkeulen, Getreidesäcke oder Berge von Äpfeln bereichert, mit
denen mich meine Patienten für meine Zuwendung bezahlten. Ich
verlangte nie eine Bezahlung, doch irgend etwas wurde mir immer
angeboten - und arm, wie wir waren, war uns alles willkommen.
Meine Patienten im Hinterland kamen von überallher,
und viele sprachen weder Englisch noch Französisch: da gab es
deutsche Lutheraner, Quäker, Schotten, Iren und die Mitglieder
einer großen Siedlung der Herrnhuter Brüdergemeinde in Salem, die
eine merkwürdige Sprache sprachen, die ich für Tschechisch
hielt. Normalerweise kam ich jedoch zurecht; in den meisten Fällen
konnte jemand für mich dolmetschen, und schlimmstenfalls konnte ich
mich auf die Sprache von Händen und Körper verlassen - »Wo tut es
weh?« kann man in jeder Sprache leicht verstehen.
August 1768
Ich war durchgefroren. Obwohl ich mir größte Mühe
gab, fest in meinen Umhang gewickelt zu bleiben, riß der Wind ihn
mir vom Leib und blähte ihn auf wie ein Segel. Er flatterte dem
Jungen, der neben mir herging, um den Kopf und riß mich mit jedem
Windstoß im Sattel zur Seite. Der Regen drang zwischen den wehenden
Falten wie gefrorene Nadeln ein, und ich war bis auf Kleid und
Unterröcke durchnäßt, noch ehe wir den Bach namens Mueller’s Creek
erreichten.
Der Bach selbst brodelte an uns vorbei, und
entwurzelte Schößlinge, Felsen und versunkene Äste stiegen dann und
wann an seine Oberfläche.
Tommy Mueller warf einen Blick auf die Flut und
hatte dabei die Schultern fast bis zur Krempe des Schlapphutes
hochgezogen, den er sich über beide Ohren gestülpt hatte. Jede
Linie seines Körpers drückte Zweifel aus, daher bückte ich mich, um
ihm ins Ohr zu rufen.
»Bleib hier!« brüllte ich und versuchte, das Heulen
des Windes zu übertönen.
Er schüttelte den Kopf und rief mir etwas zu, doch
ich konnte ihn nicht hören. Ich schüttelte meinerseits heftig den
Kopf und zeigte mit der Hand auf das Ufer; der schlammige Boden
bröckelte schon ab - ich konnte förmlich zusehen, wie die schwarze
Erde klumpenweise fortgewaschen wurde.
»Geh zurück!« rief ich.
Er machte ebenfalls eine nachdrückliche
Handbewegung - zurück zum Bauernhaus - und griff mir in die Zügel.
Er hielt es offensichtlich für zu gefährlich; er wollte, daß ich
mit zum Haus zurückkehrte, um dort das Ende des Sturms
abzuwarten.
Er hatte definitiv nicht unrecht. Andererseits
konnte ich zusehen, wie der Fluß breiter wurde und die hungrige
Flut Brocken und Klumpen aus dem weichen Ufer fraß. Wenn wir noch
länger warteten, würde niemand mehr hinüberkönnen - und es würde
noch tagelang nicht sicher sein; ein solches Hochwasser konnte bis
zu einer Woche dauern, solange noch Regenwasser aus den höheren
Berglagen herunterlief und die Flut nährte.
Die Vorstellung, in einem Vierzimmerhaus mit allen
zehn Muellers eingepfercht zu sein, reichte aus, um mich zum
Leichtsinn zu treiben. Ich entriß Tommy die Zügel und wandte mich
um. Mein Pferd schüttelte sich den Regen vom Kopf und bewegte sich
vorsichtig auf dem glitschigen Schlamm.
Wir gelangten an die obere Uferböschung, wo uns
eine dichte Laubschicht besseren Halt gab. Ich drehte das Pferd um,
wies Tommy an, aus dem Weg zu gehen, und beugte mich vor wie eine
Hindernisreiterin. Meine Ellbogen gruben sich in den Sack voll
Gerste, der vor mir über den Sattel gebunden war - die Bezahlung
für meine Dienste.
Diese Verlagerung meines Gewichtes reichte aus; das
Pferd war genausowenig darauf versessen wie ich, hier noch länger
zu bleiben. Ich spürte den plötzlichen Ruck, als sich seine
Hinterhand senkte und anspannte, und dann rasten wir die Böschung
hinunter wie ein durchgedrehter Rodelschlitten. Ein Stoß und ein
schwindelerregender Moment des freien Falls, dann fand ich mich bis
über die Oberschenkel in eiskaltem Wasser wieder.
Meine Hände waren so kalt, daß sie mit den Zügeln
hätten verschweißt sein können, doch ich konnte dem Pferd keinerlei
Führungshilfen geben. Ich ließ die Arme sinken und überließ dem
Pferd die Zügel. Ich spürte, wie sich beim Schwimmen seine
kräftigen Muskeln rhythmisch unter mir bewegten und sich das Wasser
mit immer stärkerem Druck an uns vorbeidrängte. Es zerrte an meinen
Röcken und drohte, mich vom Pferd in die Strömung zu reißen.
Dann ein Ruck, Hufe scharrten auf dem Grund des
Baches, und wir waren draußen, wassertriefend wie ein Sieb. Ich
drehte mich im Sattel um und sah Tommy Mueller mit offenem Mund am
anderen Ufer stehen. Ich konnte die Zügel nicht loslassen, um zu
winken, doch ich verneigte mich formell vor ihm, trieb dann das
Pferd mit den Absätzen an und wandte mich heimwärts.
Die Kapuze meines Umhangs war mir bei dem Sprung
vom Kopf gerutscht, doch es machte keinen großen Unterschied; ich
konnte kaum noch nasser werden. Ich strich mir mit dem Handgelenk
eine feuchte Haarsträhne aus den Augen und trieb das Pferd auf den
Pfad, der ins Bergland führte, erleichtert, daß es nach Hause ging,
und wenn es noch so regnete.
Ich hatte drei Tage im Blockhaus der Muellers
verbracht und die achtzehnjährige Petronella bei ihrer ersten
Geburt betreut. Es würde auch ihre letzte sein, sagte zumindest
Petronella. Als ihr siebzehnjähriger Ehemann am Mittag des zweiten
Tages einen zaghaften Blick ins Zimmer geworfen hatte, war er mit
einem Schwall deutscher Schimpfworte empfangen worden, der ihn mit
schamroten Ohren in das Männerrefugium in der Scheune hatte
zurückstolpern lassen.
Ein paar Stunden später hatte ich Freddy - der viel
jünger aussah als siebzehn - schüchtern am Bett seiner Frau knien
sehen, und sein Gesicht war weißer gewesen als ihr Nachthemd, als
er zögernd einen saubergeschrubbten Finger ausstreckte, um die
Decke zur Seite zu schieben, die seine Tochter umhüllte.
Er hatte stumm auf das runde Köpfchen gestarrt, das
mit einem schwarzen Flaum überzogen war, und hatte dann seine Frau
angesehen, als müßte man ihm auf die Sprünge helfen.
»Ist sie nicht wunderschön?« hatte Petronella leise
gesagt.
Er hatte genickt, langsam, dann den Kopf in ihren
Schoß gelegt und angefangen zu weinen. Die Frauen hatten freundlich
gelächelt und sich dann wieder an die Zubereitung des Abendessens
begeben.
Und es war ein gutes Abendessen gewesen; das Essen
war einer der Vorteile eines Hausbesuchs bei den Muellers. Auch
jetzt war mein Magen angenehm mit Knödeln und gebratener Blutwurst
gefüllt, und der Geschmack der Spiegeleier, den ich noch im Mund
hatte, lenkte mich zumindest ein wenig von der allgemeinen
Unannehmlichkeit meiner gegenwärtigen Lage ab.
Ich hoffte, daß Jamie und Ian es fertiggebracht
hatten, während meiner Abwesenheit anständig zu essen. Da der
Sommer zu Ende ging, die Erntezeit aber noch nicht gekommen war,
herrschte auf den Regalen in der Vorratskammer nicht einmal
ansatzweise der für den Herbst erhoffte Überfluß, doch auf dem Bord
befanden sich ein paar Käselaibe, auf dem Boden stand ein großes
Steingutgefäß mit gesalzenem Fisch, und dazu gab es säckeweise
Mehl, Mais, Reis, Bohnen, Gerste und Hafermehl.
Jamie konnte eigentlich kochen - zumindest
insofern, als er Wildbret vorbereiten und über dem Feuer grillen
konnte -,und ich hatte
mein Bestes getan, um Ian in die Geheimnisse der
Porridgezubereitung einzuweihen, doch da sie nun einmal Männer
waren, nahm ich an, daß sie sich nicht die Mühe gemacht und sich
statt dessen lieber von rohen Zwiebeln und Trockenfleisch ernährt
hatten.
Ich konnte nicht sagen, ob sie am Ende eines Tages
voller Männerarbeiten wie Bäumefällen, Pflügen und dem
Heimschleppen toter Hirsche ehrlich zu erschöpft waren, um sich
Gedanken über die Zusammenstellung einer ordentlichen Mahlzeit zu
machen, oder ob sie es mit Absicht machten, damit ich mir
unentbehrlich vorkam.
Jetzt, wo ich mich im Schutz des Bergrückens
befand, wehte der Wind schwächer, doch der Regen prasselte immer
noch auf mich nieder, und der Boden war trügerisch, da sich der
Schlamm auf dem Weg in Flüssigkeit verwandelt hatte, auf deren
Oberfläche eine Laubschicht verräterisch wie Treibsand dahintrieb.
Ich spürte das Unbehagen des Pferdes, dessen Hufe mit jedem Schritt
ausglitten.
»Guter Junge«, sagte ich beschwichtigend. »Geh
schön weiter, so ist’s gut.« Das Pferd richtete leicht die Ohren
auf, hielt aber den Kopf gesenkt und ging vorsichtig weiter.
»Schlammfuß?« sagte ich. »Wie wär’s damit?«
Das Pferd hatte zur Zeit keinen Namen - oder
vielmehr, es hatte einen, doch ich kannte ihn nicht. Der Mann, von
dem Jamie es gekauft hatte, hatte es mit einem deutschen Namen
gerufen, von dem Jamie sagte, er sei für das Pferd einer Dame nicht
geeignet. Als ich ihn gebeten hatte, den Namen zu übersetzen, hatte
er nur die Lippen zusammengepreßt und ein schottisches Gesicht
gemacht, woraus ich schloß, daß er ziemlich schlimm sein mußte. Ich
hatte die alte Frau Mueller fragen wollen, was er bedeutete, hatte
es aber in der Eile des Aufbruchs vergessen.
Jamies Theorie war sowieso, daß das Pferd seinen
wahren - oder zumindest seinen aussprechbaren - Namen im Lauf der
Zeit preisgeben würde, und so behielten wir das Tier im Auge und
hofften, etwas über seinen Charakter herauszufinden. Nach einem
Proberitt hatte Ian »Häschen« vorgeschlagen, doch Jamie hatte nur
den Kopf geschüttelt und gesagt, nein, das sei es nicht.
»Wackelzeh?« schlug ich vor. »Leichtfuß?
Verdammt!«
Das Pferd war völlig zum Stehen gekommen, und zwar
aus gutem Grund. Ein kleines Wildwasser gurgelte fröhlich den Hügel
herunter und sprang ganz ungehemmt von Fels zu Fels. Es war
wunderschön, das Wasser rauschte kristallklar über die dunklen
Felsen und das grüne Laub. Unglücklicherweise lief es auch über die
Reste des Pfades,
die der Macht der Ereignisse nicht gewachsen und talwärts den
Abhang heruntergerutscht waren.
Ich saß still da und triefte vor mich hin. Ich
konnte den Erdrutsch nicht umgehen. Rechts von mir stieg der Hügel
beinahe senkrecht in die Höhe, und Büsche und Schößlinge sprossen
aus den Spalten der Felswand, und links fiel er so steil in die
Tiefe, daß es Selbstmord gewesen wäre, dort hinunterzusteigen.
Unter Flüchen wich ich mit dem namenlosen Pferd zurück und kehrte
um.
Wäre das Hochwasser nicht gewesen, wäre ich zu den
Muellers zurückgekehrt und hätte Jamie und Ian noch ein bißchen
länger für sich selbst sorgen lassen. Doch so hatte ich keine Wahl
- ich konnte mir entweder einen anderen Weg nach Hause suchen oder
hierbleiben und ertrinken.
Erschöpft verfolgten wir unsere Spur zurück. Keine
vierhundert Meter von dem Erdrutsch entfernt fand ich eine Stelle,
wo der Abhang in einen kleinen Sattel überging, eine Mulde zwischen
zwei »Hörnern« aus Granit. Solche Formationen gab es hier häufig;
eine besonders große auf einem Berg in der Nähe, die ihm den Namen
Teufelsspitze eingebracht hatte. Wenn ich den Sattel überqueren,
auf die andere Seite des Hügels gelangen und dann an diesem entlang
weiterreiten konnte, würde ich irgendwann wieder auf den Pfad
stoßen, wenn er den Kamm in Richtung Süden kreuzte.
Von dem Sattel aus hatte ich einen kurzen, klaren
Blick auf das Vorgebirge und das blaue Tal dahinter. Doch die
Berggipfel auf der anderen Seite waren hinter schwarzen Regenwolken
verborgen, die gelegentlich vom Flackern versteckter Blitze
erleuchtet wurden.
Jetzt, wo der Höhepunkt des Sturms anscheinend
vorüber war, hatte der Wind nachgelassen. Es regnete noch stärker,
und ich blieb so lange stehen, wie nötig war, um meine kalten
Finger von den Zügeln loszueisen und mir die Kapuze meines Umhangs
aufzusetzen.
Auf dieser Seite des Hügels kamen wir gut voran,
denn der Boden war felsig, aber nicht allzu steil. Wir bahnten uns
unseren Weg durch kleine Haine mit rotbeerigen Bergebereschen und
größere Ansammlungen von Eichen. Ich merkte mir den Standort eines
riesigen Brombeerdickichts, auf das ich später zurückkommen wollte,
blieb aber nicht stehen. Ich konnte mich so schon glücklich
schätzen, wenn ich noch im Hellen nach Hause kam.
Um mich von den kalten Rinnsalen abzulenken, die
mir den Hals herabliefen, führte ich in Gedanken eine Inventur der
Vorratskammer durch. Was konnte ich zum Abendessen machen, wenn ich
erst einmal angekommen war?
Etwas Schnelles, dachte ich zitternd, und etwas
Heißes. Eintopf würde zu lange dauern; Suppe ebenfalls. Wenn es
Eichhörnchen oder Kaninchen gab, könnten wir es durch einen Teig
aus Eiern und Maismehl ziehen und fritieren. Wenn nicht, dann
vielleicht Erbsenpürree mit etwas Speck für den Geschmack und ein
paar Rühreier mit jungen Zwiebeln.
Ich duckte mich und zuckte zusammen. Trotz der
Kapuze und meines dichten Haares trommelten mir die Regentropfen
auf den Kopf wie Hagelkörner.
Dann erkannte ich, daß es Hagelkörper waren.
Winzige, weiße Kugeln prallten vom Rücken des Pferdes ab und
prasselten auf das Eichenlaub. Sekunden später waren die Körner so
groß wie Murmeln, und der Hagel war so stark geworden, daß es wie
Maschinengewehrfeuer knatterte, wenn er auf den feuchten
Laubteppich traf.
Das Pferd warf den Kopf herum und schüttelte heftig
die Mähne, um den stechenden Körnern auszuweichen. Hastig zog ich
die Zügel an und lenkte es unter die Krone einer riesigen Kastanie,
die uns ansatzweise Unterschlupf bot. Dort war es zwar laut, doch
der Hagel prallte am dichten Laub ab, so daß wir geschützt
waren.
»Gut«, sagte ich. Mit einigen Schwierigkeiten löste
ich eine Hand von den Zügeln und tätschelte das Pferd
beschwichtigend. »Ganz ruhig. Uns passiert schon nichts, solange
hier nicht der Blitz einschlägt.«
Offensichtlich hatte diese Bemerkung jemanden auf
eine Idee gebracht; lautlos durchzuckte ein greller Blitz den
schwarzen Himmel hinter einem Berg namens Roan. Einige Augenblicke
später dröhnte ein heftiger Donnerschlag durch das Tal, der auch
das Prasseln des Hagels im Laub über unseren Köpfen
übertönte.
In der Ferne sah ich über den Bergen
Wetterleuchten. Dann flammten noch mehr Blitze über den Himmel, und
das darauffolgende Donnergrollen wurde jedesmal lauter. Der
Hagelschauer ging vorbei, und der Regen begann wieder
niederzurauschen, stärker als zuvor. Unter mir verschwand das Tal
in Wolken und Nebel, doch im Licht der Blitze traten die schroffen
Bergkämme hervor wie Knochen auf einem Röntgenschirm.
»Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig,
vierund -« BUMM! Das Pferd riß den Kopf zurück und stampfte
nervös.
»Ich weiß genau, wie dir zumute ist«, sagte ich zu
ihm und blickte in das Tal hinab. »Ruhig, ganz ruhig.« Der nächste
Blitz zuckte über den Himmel. Er erleuchtete den dunklen Grat so,
daß ich das Abbild
der aufgestellten Pferdeohren auch in der folgenden Dunkelheit
deutlich vor Augen hatte.
»Einundzwanzig, zweiund -« Ich hätte schwören
können, daß der Boden bebte. Das Pferd tat einen schrillen Schrei
und stieg in die Höhe, während ich an den Zügeln riß. Seine Hufe
wirbelten das Laub auf. Die Luft roch nach Ozon.
Blitz.
»Ein-« sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Verdammt, steh! Einund-«
Blitz.
»Ein-«
Blitz.
»Steh. STEH!«
Ich merkte nichts von meinem Sturz und auch nicht
von der Landung. In einer Sekunde zerrte ich noch wild an den
Zügeln, unter mir ein tausend Pfund schweres Pferd, das panisch in
alle Richtungen ausschlug. In der nächsten lag ich auf dem Rücken,
über mir den schwarzen Himmel, der sich drehte, und versuchte, mein
Zwerchfell zum Funktionieren zu bewegen.
Meine Muskeln bebten noch von der Erschütterung,
und ich versuchte verzweifelt, Körper und Geist wieder in Einklang
zu bringen. Dann holte ich mühsam japsend Atem und stellte fest,
daß ich zitterte, denn auf den Schock folgten jetzt die ersten
Schmerzen.
Ich lag still, schloß die Augen, konzentrierte mich
auf meine Atmung und führte eine Inventur durch. Der Regen hämmerte
immer noch auf mein Gesicht herab, sammelte sich in meinen
Augenhöhlen und lief mir in die Ohren. Mein Gesicht und meine Hände
waren taub. Meine Arme ließen sich bewegen. Ich bekam jetzt etwas
besser Luft.
Meine Beine. Das linke tat weh, doch es war nicht
bedrohlich; ich hatte mir nur das Knie gestoßen. Ich rollte
schwerfällig auf die Seite, behindert von meinen nassen, massigen
Kleidern. Und doch war es die klobige Kleidung gewesen, die mich
vor schwereren Verletzungen bewahrt hatte.
Über mir erklang ein unsicheres Wiehern, das selbst
im Dröhnen des Donners hörbar war. Ich blickte benommen nach oben
und sah den Kopf des Pferdes gute zehn Meter über mir aus einem
Himbeergestrüpp ragen. Unter dem Dickicht ging es steil und felsig
nach unten; eine lange Rutschspur am unteren Ende zeigte, wo ich
aufgekommen und weitergerollt war, bevor ich in meiner
gegenwärtigen Position gelandet war.
Wir hatten quasi am Rand dieses kleinen Abgrundes
gestanden,
ohne daß ich es gesehen hatte, denn er war durch die dichten
Büsche verdeckt. Die Panik hatte das Pferd bis an die Kante
getrieben, doch offensichtlich hatte es die Gefahr gespürt und sich
gefangen, bevor es abstürzte - jedoch nicht, ohne mich in den
luftleeren Raum davonpurzeln zu lassen.
»Du verdammtes Mistvieh!« sagte ich. Und fragte
mich, ob der unbekannte deutsche Name vielleicht etwas Ähnliches
bedeutete. »Ich hätte mir den Hals brechen können!« Ich wischte
mir, immer noch mit zitternder Hand, den Schmutz aus dem Gesicht
und sah mich nach einer Möglichkeit um, wieder nach oben zu
kommen.
Es gab keine. Hinter mir setzte sich der Felsenkamm
fort und verschmolz mit einem der Granithörner. Vor mir endete er
abrupt und stürzte geradewegs in ein kleines Tal. Der Abhang, auf
dem ich stand, senkte sich ebenfalls in dieses Tal. Durch Sumach-
und Gelbholzbaumgruppen ging es etwa noch zwanzig Meter hinab bis
zu den Ufern eines Flüßchens.
Ich stand ganz still und versuchte nachzudenken.
Niemand wußte, wo ich war. Davon abgesehen wußte ich auch nicht
genau, wo ich war. Schlimmer noch, fürs erste würde auch niemand
nach mir suchen. Jamie würde glauben, daß ich wegen des Regens
immer noch bei den Muellers war. Die Muellers würden natürlich
keinerlei Grund zu der Annahme haben, daß ich nicht sicher nach
Hause gekommen war; und selbst wenn sie Zweifel hatten, konnten sie
mir wegen des Hochwassers nicht folgen. Und bis irgend jemand den
fortgespülten Pfad fand, würden alle Zeichen, daß ich dort
vorbeigekommen war, längst vom Regen fortgewaschen sein.
Ich war unverletzt, das war immerhin etwas. Ich war
außerdem zu Fuß, allein, ohne Proviant, einigermaßen
orientierungslos und durch und durch naß. Daß ich nicht verdursten
würde, war so ungefähr das einzige, was feststand.
Blitze zuckten immer noch wie sich duellierende
Mistgabeln über den Himmel, obgleich der Donner zu einem dumpfen
Grollen in der Ferne abgeschwollen war. Ich hatte jetzt keine
sonderliche Angst mehr, vom Blitz getroffen zu werden - nicht,
solange so viele geeignetere Kandidaten in Form der gigantischen
Bäume herumstanden -, doch es schien trotzdem eine gute Idee zu
sein, mir einen Unterstand zu suchen.
Es regnete immer noch; das Wasser tropfte mir mit
monotoner Regelmäßigkeit von der Nasenspitze. Auf meinem
angeschlagenen Bein humpelnd, suchte ich mir unter zahlreichen
Flüchen einen Weg über den rutschigen Abhang hinunter zum
Flußufer.
Auch dieser Bach war durch den Regen angeschwollen;
ich sah versunkene Büsche aus dem Wasser ragen, deren Blätter
schlaff in der rauschenden Strömung hingen. Es gab kein richtiges
Ufer. Ich kämpfte mich zwischen den stacheligen Klauen von
Stechpalmen und Wacholder hindurch zu der Felswand im Süden;
vielleicht gab es dort eine Höhle oder Felsspalte, in der ich
irgendwie Unterschlupf finden konnte.
Ich fand nichts als herumliegende Felsbrocken, die
schwarz vor Nässe und schwierig zu umgehen waren. Ein Stück weiter
sah ich allerdings etwas anderes, was mir möglicherweise Zuflucht
bieten konnte.
Ein riesiger Lebensbaum war quer über den Bach
gestürzt; seine Wurzeln waren unterspült worden, als das Wasser den
Boden wegfraß, in dem er wuchs. Er war in die Richtung gefallen,
die von mir weg zeigte, und auf dem Kliff aufgeschlagen, so daß die
dichte Krone sich im Wasser und über den Felsen ausbreitete und der
Stamm sich im spitzen Winkel über den Fluß neigte. Auf meiner Seite
konnte ich den riesigen Teller der freigelegten Wurzeln sehen, die
ein Bollwerk von Erdklumpen und kleinen Sträuchern mit sich
gerissen hatten. Die darunterliegende Grube war zwar kein
kompletter Unterschlupf, doch es sah aus, als wäre es dort besser
als im Freien zu stehen oder im Gebüsch zu hocken.
Ich hatte mir keine Sekunde lang darüber Gedanken
gemacht, ob der Unterschlupf vielleicht auch Bären, Wildkatzen oder
anderes unfreundliches Getier angezogen haben könnte.
Glücklicherweise war das nicht der Fall.
Der Zwischenraum maß vielleicht anderthalb Meter im
Quadrat; er war muffig, dunkel und klamm. Die Decke wurde von den
gewaltigen, knorrigen Wurzeln des Baumes gebildet, an denen noch
sandiger Boden klebte. Es sah aus wie die Decke eines Dachsbaus.
Trotzdem war es eine solide Decke; der aufgewühlte Erdboden war
feucht, aber nicht schlammig, und zum ersten Mal seit Stunden
trommelte mir kein Regen auf den Schädel.
Erschöpft kroch ich in die hintere Ecke, stellte
meine nassen Schuhe neben mich und schlief fest ein. Die Kälte
meiner nassen Kleider war schuld daran, daß ich lebhaft und wirr
träumte von Blut und Geburten, von Bäumen, Felsen und Regen, und
ich erwachte häufig zu jenem Halbbewußtsein, das die äußerste
Ermüdung mit sich bringt, und schlief Sekunden später wieder
ein.
Ich träumte, daß ich ein Kind bekam. Ich hatte
keine Schmerzen, doch ich sah den Kopf austreten, als stünde ich
zwischen meinen eigenen
Oberschenkeln, Hebamme und Gebärende zugleich. Ich nahm das nackte
Kind in die Arme, immer noch mit dem Blut verschmiert, das von uns
beiden stammte, und reichte es seinem Vater. Ich reichte es Frank,
doch es war Jamie, der dem Baby die Glückshaube vom Kopf nahm und
sagte: »Sie ist wunderschön.«
Dann erwachte ich und schlief wieder ein und bahnte
mir einen Weg zwischen Felsbrocken und Wasserfällen hindurch,
suchte verzweifelt etwas, das ich verloren hatte. Erwachte und
schlief ein und wurde im Wald von etwas Furchtbarem, Unbekanntem
verfolgt. Erwachte und schlief ein, ein Messer in meiner Hand, rot
vom Blut - doch wessen Blut, das wußte ich nicht.
Ich erwachte ganz, weil es nach Feuer roch, und
fuhr senkrecht hoch. Der Regen hatte aufgehört; es war die Stille,
die mich geweckt hatte, so glaubte ich. Doch der starke Rauchgeruch
wich nicht aus meiner Nase - er gehörte nicht zu meinem
Traum.
Ich streckte den Kopf aus meiner Erdhöhle wie eine
Schnecke, die vorsichtig aus ihrem Haus kriecht. Der Himmel war in
einem blassen Lilagrau gefärbt und über den Bergen mit orangen
Streifen durchzogen. Der Wald um mich herum war still, und überall
tropfte es. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und die Dunkelheit
sammelte sich schon in den tieferen Lagen.
Ich kroch ganz nach draußen und sah mich um. Hinter
mir rauschte der angeschwollene Bach vorbei; sein Gurgeln war das
einzige Geräusch. Vor mir stieg der Boden zu einem flachen Kamm hin
an, auf dessen Grat eine hohe Balsampappel stand, die Quelle des
Rauches. Der Baum war vom Blitz getroffen worden; eine Hälfte trug
immer noch grünes Laub und zeichnete sich buschig vor dem blassen
Himmel ab. Die andere Hälfte war entlang des gesamten massiven
Stammes geschwärzt und verkohlt. Weiße Rauchwölkchen stiegen von
ihm auf wie Geister auf der Flucht vor den Fesseln ihres Meisters,
und rote Flammen, die unter der geschwärzten Hülle glommen, zeigten
sich flüchtig.
Ich sah mich nach meinen Schuhen um, konnte sie in
der Dunkelheit aber nicht finden. Ich störte mich nicht daran,
sondern wanderte, vor Anstrengung keuchend, den Kamm hinauf zu dem
getroffenen Baum. All meine Muskeln waren steif vom Schlaf und von
der Kälte - ich fühlte mich selbst wie ein Baum, der umständlich
zum Leben erwacht und auf knorrigen, schwerfälligen Wurzeln
hügelaufwärts stapft.
Neben dem Baum war es warm. Traumhaft, wunderbar
warm. Es roch nach Asche und verbranntem Ruß, doch es war warm. Ich
ging
so nah heran, wie ich mich traute, breitete meinen Umhang weit aus
und stand still und dampfend da.
Eine Zeitlang versuchte ich nicht einmal
nachzudenken, stand einfach nur da, spürte, wie mein ausgekühlter
Körper auftaute und sich langsam wieder menschenähnlich anfühlte.
Doch als mein Blut wieder zu fließen begann, fingen auch meine
Verletzungen an zu schmerzen. Außerdem verspürte ich quälenden
Hunger: Das Frühstück war schon lange her.
Es sah fast so aus, als würde es bis zum Abendessen
noch viel länger dauern, dachte ich grimmig. Die Dunkelheit kroch
aus dem Talboden herauf, und ich wußte immer noch nicht, wo ich
war. Ich warf einen Blick auf den gegenüberliegenden Hügelkamm;
kein Zeichen von dem verflixten Pferd.
»Verräter«, brummte ich. »Ist wahrscheinlich
losgezogen, um sich einem Rudel Elche anzuschließen oder so
ähnlich.«
Ich rieb meine Hände; meine Kleider waren halbwegs
trocken, doch die Temperatur sank ständig. Es würde eine kalte
Nacht werden. War es besser, die Nacht hier unter freiem Himmel
neben dem verbrannten Baum zu verbringen, oder sollte ich zu meiner
Erdhöhle zurückkehren, solange ich noch genug Licht hatte?
Ein Knacken hinter mir im Gebüsch nahm mir die
Entscheidung ab. Der Baum war inzwischen abgekühlt; obwohl sich das
verkohlte Holz noch heiß anfühlte, war das Feuer ausgebrannt. Es
würde keine Abschreckung gegen herumstreifende Nachtjäger bedeuten.
Ohne Feuer oder Waffen blieb mir nur die Verteidigung des Gejagten:
in der Dunkelheit versteckt liegen wie eine Maus oder ein
Kaninchen. Nun, ich mußte sowieso zurück, um meine Schuhe zu
holen.
Widerstrebend ließ ich die letzten Reste von Wärme
hinter mir und kehrte zu dem umgestürzten Baum zurück. Als ich
hineinkroch, sah ich den Fleck, der sich hell von dem dunkleren
Boden in der Ecke abhob. Ich legte meine Hand darauf und fühlte
nicht meine weichen Ledermokassins, sondern etwas Hartes,
Glattes.
Noch bevor mein Gehirn das Wort heraussuchen
konnte, hatte mein Instinkt erfaßt, was für ein Gegenstand das war,
und ich zog die Hand zurück. Einen Moment lang saß ich mit
klopfendem Herzen da. Dann übermannte die Neugier meine
atavistische Furcht, und ich begann, den sandigen Lehm
wegzuschaufeln, der ihn umgab.
Es war tatsächlich ein Totenschädel, komplett mit
Unterkiefer, obwohl die Kinnlade nur noch durch getrocknete
Ligamentreste in Position gehalten wurde. Ein Fragment eines
gebrochenen Halswirbels klapperte im Foramen magnum.
»›Wie lange liegt wohl einer in der Erde, eh er
verfault?‹« murmelte ich, während ich den Schädel in meinen Händen
hin und her drehte. Der Knochen war kalt und feucht und leicht
angerauht von der Feuchtigkeit, der er ausgesetzt gewesen war. Das
Licht war zu schwach, um Details zu sehen, doch ich konnte die
großen Wölbungen über den Augenbrauen fühlen und den glatten
Schmelz der Schneidezähne. Wahrscheinlich ein Mann, und zwar kein
alter; die meisten Zähne waren noch vorhanden und nicht übermäßig
abgenutzt - zumindest soweit ich das mit meinem tastenden Daumen
feststellen konnte.
Wie lange? Acht bis neun Jahr, sagte der
Totengräber zu Hamlet. Ich hatte keine Ahnung, ob Shakespeare
irgend etwas von Gerichtsmedizin verstand, doch seine Einschätzung
kam mir nicht unwahrscheinlich vor. Also über neun Jahre.
Wie war er hierhergekommen? Gewaltsam, antwortete
mein Instinkt, obwohl auch mein Gehirn sich dem kurz darauf
anschloß. Ein Kundschafter konnte zwar an einer Krankheit sterben,
an Hunger oder Erschöpfung - diesen Gedankengang verdrängte ich
entschieden, wobei ich mich bemühte, meinen knurrenden Magen und
meine feuchten Kleider zu ignorieren -,doch würde er dann nicht
unter einem Baum verscharrt enden.
Die Cherokee und Tuscarora beerdigten ihre Toten,
das stimmte, doch nicht so, allein in einem Tal. Und auch nicht in
Einzelteilen. Es war der gebrochene Wirbel gewesen, der mir
sogleich verraten hatte, was sich zugetragen hatte: Seine Ränder
waren zusammengepreßt und der Knochen glatt durchtrennt, nicht
zersplittert.
»Da konnte dich wohl jemand überhaupt nicht
ausstehen, was?« sagte ich. »Hat sich nicht mit dem Skalp begnügt,
sondern gleich den ganzen Kopf genommen.«
Was die Frage aufwarf - war der Rest von ihm
ebenfalls hier? Ich rieb mir beim Nachdenken mit der Hand über das
Gesicht. Schließlich hatte ich nichts Besseres vor; vor
Tagesanbruch würde ich nirgendwo hingehen, und die
Wahrscheinlichkeit, daß ich schlafen würde, war mit der Entdeckung
meines neuen Kameraden ziemlich geschrumpft. Ich legte den Schädel
vorsichtig auf die Seite und begann zu graben.
Es war jetzt völlig dunkel, doch im Freien ist
selbst die dunkelste Nacht selten ohne Licht. Der Himmel war immer
noch mit Wolken verhangen, die eine beträchliche Menge Licht
abstrahlten, selbst bis in meine flache Grube.
Der sandige Boden war weich und ließ sich leicht
umgraben, doch nachdem ich ein paar Minuten gekratzt hatte, waren
meine Fingerknöchel
und -spitzen wundgescheuert. Ich kroch nach draußen und suchte mir
einen Stock zum Graben. Ich stocherte noch ein bißchen herum und
stieß auf etwas Hartes; kein Knochen, dachte ich, und auch kein
Metall. Ein Stein, entschied ich und befühlte das schwarze Oval.
Nur ein Flußkiesel? Ich glaubte es nicht; die Oberfläche war sehr
glatt, doch es war etwas hineingeritzt; irgendeine Glyphe, obwohl
mein Tastsinn nicht ausgereift genug war, um mich erkennen zu
lassen, was es war.
Weiteres Graben förderte nichts mehr zutage.
Entweder war der Rest von Yorick nicht hier, oder er war so tief
begraben, daß ich keine Chance hatte, ihn zu entdecken. Ich steckte
mir den Stein in die Tasche, hockte mich auf meine Fersen und rieb
mir die sandigen Hände am Rock ab. Zumindest war mir von der
Bewegung wieder warm geworden.
Ich setzte mich wieder hin, hob den Schädel auf und
hielt ihn auf dem Schoß. Gruselig, wie er war, bedeutete er doch so
etwas wie Gesellschaft, eine Ablenkung von meiner eigenen Misere.
Ich war mir wohl bewußt, daß alles, was ich während der letzten
Stunde getan hatte, der Ablenkung gedient hatte; es sollte die
Panik abwehren, die ich unter der Oberfläche meines Bewußtseins
spüren konnte und die nur darauf wartete durchzubrechen wie das
spitze Ende eines versunkenen Astes. Es würde eine lange Nacht
werden.
»Gut«, sagte ich zu dem Schädel. »Irgendwas Gutes
gelesen in letzter Zeit? Nein, ich schätze, du kommst nicht mehr
viel herum. Lyrik vielleicht?« Ich räusperte mich und begann mit
Keats, wärmte mich auf mit »Aus Abscheu über den vulgären
Aberglauben« und fuhr fort mit der »Ode an eine griechische
Urne«.
»›…und immer liebst du, immer bleibt sie schön‹«,
deklamierte ich. »Es geht noch weiter, aber ich habe vergessen,
wie. Ist aber nicht übel, oder? Ein bißchen Shelley vielleicht? Die
›Ode an den Westwind‹ ist gut, ich glaube, sie würde dir
gefallen.«
Mir stellte sich die Frage, warum ich das glaubte;
ich hatte keinen besonderen Anlaß, Yorick für einen Indianer zu
halten statt für einen Europäer, doch mir wurde klar, daß ich das
tat - vielleicht lag es an dem Stein, den ich bei ihm gefunden
hatte. Achselzuckend fuhr ich fort, ganz im Vertrauen, daß die
große englische Dichtung die Bären und Panther genauso effektiv
fernhalten würde wie ein Lagerfeuer.
»Mach mich zu deiner Lyra wie den Wald;
Mag auch mein Laub wie seine Blätter fallen,
Dann werden deine Harmonien bald
Durch unser beider dunkle Saiten hallen,
Süß, doch voll Trauer, Geist aus meinem Geist,
Sei du mein Selbst, treib, die wie tot verschallen
Mag auch mein Laub wie seine Blätter fallen,
Dann werden deine Harmonien bald
Durch unser beider dunkle Saiten hallen,
Süß, doch voll Trauer, Geist aus meinem Geist,
Sei du mein Selbst, treib, die wie tot verschallen
Wie Blätter, die du selbst vom Baume
reißt,
Meine Gedanken wirbelnd übers Land,
Neu sie zu wecken. Wie mein Vers es weist
Meine Gedanken wirbelnd übers Land,
Neu sie zu wecken. Wie mein Vers es weist
Streu aus die Asche aus des Herdes
Brand
Mein Wort gleich Funken aus des Feuers Kern,
Posaune sei durch meiner Lippen Band,
Der Erde künde, Wind, der Hoffnung Stern…«
Mein Wort gleich Funken aus des Feuers Kern,
Posaune sei durch meiner Lippen Band,
Der Erde künde, Wind, der Hoffnung Stern…«
Die letzte Strophe erstarb mir auf den Lippen. Auf
dem Hügel schien ein Licht. Ein kleiner Funke, der zu einer Flamme
anwuchs. Zuerst dachte ich, es sei der vom Blitz getroffene Baum,
ein Stück schwelende Glut, das wieder angefacht worden war - doch
dann bewegte es sich. Es glitt langsam den Hügel herab auf mich zu
und schwebte dabei knapp über den Büschen.
Ich sprang auf, und erst da fiel mir wieder ein,
daß ich keine Schuhe anhatte. Ich tastete verzweifelt auf dem Boden
herum und durchkämmte die kleine Höhle wieder und wieder. Doch es
war vergeblich. Meine Schuhe waren fort.
Ich hob den Schädel auf und stand barfuß da, das
Gesicht dem Licht zugewandt.
Ich beobachtete, wie das Licht näher kam und den
Hügel herunterdriftete wie eine Pusteblume. Ein einziger Gedanke
ging mir durch den gelähmten Verstand, - Shelleys »Ich trotz dir,
Unhold! mit ruhigem festen Sinn«. Irgendwo in den dunkleren Winkeln
meines Bewußtseins traf ich die Feststellung, daß Shelley viel
bessere Nerven gehabt hatte als ich. Ich umklammerte den Schädel
noch fester. Er war keine besonders wirksame Waffe - aber irgendwie
hatte ich das Gefühl, daß sich das, was da auf mich zukam, von
Messern oder Pistolen ebenfalls nicht vertreiben lassen
würde.
Nicht nur, daß es mir aufgrund der Feuchtigkeit
extrem unwahrscheinlich erschien, daß jemand mit einer brennenden
Fackel durch den Wald spazierte. Das Licht schien nicht wie eine
Kiefernfackel oder eine Öllampe. Es flackerte nicht, sondern
brannte in einem sanften, beständigen Glühen.
Es schwebte etwas mehr als einen Meter über dem
Boden, etwa
dort, wo jemand eine Fackel halten würde, die er vor sich her
trug. Es näherte sich langsam mit der Geschwindigkeit eines
Wanderers. Ich sah, wie es sich im Rhythmus eines regelmäßigen
Schrittes leicht auf und ab bewegte.
Ich kauerte in meiner Grube, halb verborgen hinter
dem Erdwall und den freiliegenden Wurzeln. Es war eiskalt, doch mir
lief der Schweiß am Körper herunter, und ich konnte die Ausdünstung
meiner eigenen Angst riechen. Meine tauben Zehen krallten sich in
den Boden, bereit wegzulaufen.
Ich hatte schon einmal Elmsfeuer gesehen, auf See.
Das war zwar unheimlich gewesen, doch das flüssige blaue Flackern
hatte keine Ähnlichkeit mit dem blassen Licht, daß sich mir jetzt
näherte. Es schlug weder Funken, noch besaß es eine Farbe; es
glühte nur gespenstisch. Sumpfgas, sagten die Leute in Cross Creek,
wenn jemand die Berglichter erwähnte.
Ha, sagte ich zu mir, allerdings lautlos. Sumpfgas,
ganz bestimmt!
Das Licht durchquerte ein kleines Erlendickicht und
trat dann vor mir auf die Lichtung. Es war kein Sumpfgas.
Er war hochgewachsen, und er war nackt. Außer
seinem Lendenschurz trug er nur Farbe. An Armen, Beinen und Köper
zogen sich lange rote Streifen entlang, und sein Gesicht war vom
Kinn bis zur Stirn völlig schwarz. Sein Haar war eingefettet und zu
einem Kamm frisiert, aus dem zwei Truthahnfedern steif
herausragten.
Ich war unsichtbar, völlig verborgen in der
Dunkelheit meiner Zuflucht, während seine Fackel ihn mit weichem
Licht umgab, das auf seiner unbehaarten Brust und seinen Schultern
glänzte und seine Augen in Schatten tauchte. Doch er wußte, daß ich
da war.
Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Mein Atem klang
mir furchtbar laut in den Ohren. Er stand einfach nur da,
vielleicht vier Meter von mir entfernt, und blickte in die
Dunkelheit, geradewegs in meine Richtung, als wäre es hellichter
Tag. Und das Licht seiner Fackel brannte beständig und lautlos,
bleich wie eine Grabkerze, ohne daß ihr Holz verzehrt wurde.
Ich weiß nicht, wie lange ich so wartete, ehe mir
auffiel, daß ich keine Angst mehr hatte. Es war immer noch kalt,
doch mein Herzschlag hatte sich auf seine normale Geschwindigkeit
verlangsamt, und meine nackten Zehen hatten sich entspannt.
»Was willst du?« fragte ich, und erst da fiel mir
auf, daß schon seit einiger Zeit zwischen uns eine Art
Kommunikation stattfand. Was auch immer das hier war, es kannte
keine Worte. Wir wechselten keine zusammenhängenden Sätze - und
doch tauschten wir etwas aus.
Ein leichter Wind hatte die Wolkendecke
aufgerissen, und zwischen den dahinrasenden Zirruswolken waren
dunkle Streifen sternenklaren Himmels zu sehen. Im Wald war es
still, doch es war die übliche Stille eines durchnäßten,
nächtlichen Waldes; erfüllt vom Ächzen und Seufzen der hohen Bäume,
die sich im Wind wiegten, dem Rascheln der Sträucher, durch die der
rastlose, scharfe Wind fuhr, und im Hintergrund vom ständigen
Rauschen unsichtbaren Wassers, als wäre es ein Echo der Unruhe hoch
oben in der Luft.
Ich atmete tief ein und fühlte mich plötzlich sehr
lebendig. Die Luft war schwer und süß vom Dunst der grünen
Pflanzen, von herben Kräutern und erdigem Laub, von den Düften des
Sturms überlagert und durchzogen - nasser Fels, feuchte Erde,
aufsteigender Nebel und ein scharfer Ozonhauch, so unvermittelt wie
der Blitz, der den Baum getroffen hatte.
Erde und Luft, dachte ich plötzlich, und dazu Feuer
und Wasser. Und hier stand ich mit allen Elementen - in ihrer Mitte
und in ihrer Gewalt.
»Was willst du?« fragte ich noch einmal und fühlte
mich hilflos. »Ich kann nichts für dich tun. Ich weiß, daß du da
bist; ich kann dich sehen. Aber das ist alles.«
Nichts bewegte sich, es fielen keine Worte. Doch
der Gedanke formte sich glasklar in meinem Verstand, mit einer
Stimme, die nicht die meine war.
Das reicht völlig, lautete er.
Ohne jede Hast drehte er sich um und entfernte
sich. Als er zwei Dutzend Schritte gegangen war, verlosch das Licht
seiner Fackel, verschwand wie das letzte Glühen, wenn das Zwielicht
zur Nacht wird.
»Oh«, sagte ich völlig verständnislos. »Meine
Güte.« Meine Beine zitterten, und ich setzte mich hin und wiegte
den Totenschädel - den ich fast vergessen hatte - in meinem
Schoß.
So saß ich lange da, sah mich um und lauschte, doch
es geschah nichts weiter. Die Berge umgaben mich dunkel und
undurchdringlich. Vielleicht konnte ich am Morgen zum Pfad
zurückfinden, doch ein Versuch im Dunkeln konnte nur in einer
Katastrophe enden.
Ich hatte keine Angst mehr; sie war von mir
gewichen während meiner Begegnung mit - was auch immer es war. Ich
fror immer noch und war sehr, sehr hungrig. Ich legte den Schädel
auf den Boden, rollte mich neben ihm zusammen und zog meinen
feuchten Umhang um mich. Es dauerte lange, bis ich einschlief. Ich
lag in meiner feuchten Grube und beobachtete die Sterne durch
Lücken in der Wolkendecke.
Ich versuchte, mir einen Reim auf die vergangene
halbe Stunde zu machen, doch eigentlich gab es nichts zu verstehen;
eigentlich war überhaupt nichts geschehen. Und doch war er
dagewesen. Ich spürte immer noch seine vage, beruhigende
Anwesenheit, und schließlich schlief ich ein, die Wange auf ein
Kissen aus feuchten Blättern gebettet.
Kälte und Hunger brachten mir unangenehme Träume;
eine Folge unzusammenhängender Bilder. Vom Blitz getroffene Bäume,
die wie Fackeln brannten. Entwurzelte Bäume, die furchterregend auf
ihren Wurzeln herumtorkelten.
Ich träumte, wie ich mit durchgeschnittener Kehle
im Regen lag, während mir das warme Blut über die Brust strömte,
seltsam angenehm auf meinem ausgekühlten Körper. Meine Finger taub
und bewegungsunfähig. Regen, der wie Hagel auf meiner Haut
aufschlug, jeder kalte Tropfen ein Hammerschlag, und dann fühlte
sich der Regen plötzlich warm und weich auf meinem Gesicht an.
Lebendig begraben, und es regnete schwarze Erde in meine offenen
Augen.
Ich erwachte mit Herzklopfen. Lag still. Es war
jetzt tiefe Nacht; der Himmel wölbte sich klar und endlos über mir,
während ich in meiner dunklen Mulde lag. Nach einer Weile schlief
ich wieder ein, von Träumen verfolgt.
Wölfe, die in der Ferne heulten. Panische Flucht
durch einen weißen Espenwald im Schnee, rote Harztropfen, die wie
blutige Juwelen auf papierweißen Baumstämmen schimmerten. Ein Mann,
der zwischen den blutenden Bäumen stand, den Kopf kahlgerupft bis
auf einen borstigen Kamm aus schwarzem, eingefettetem Haar. Er
hatte tiefliegende Augen und ein zersplittertes Lächeln, und das
Blut auf seiner Brust war heller als das Harz.
Wölfe, viel näher. Heulend und bellend, Blutgeruch
heiß in meiner Nase, mit dem Rudel laufen, vor dem Rudel weglaufen.
Laufen, hasenfüßig, weißzahnig, den Geist des Blutes als Geschmack
in meinem Mund, als Kitzeln in meiner Nase. Hunger. Jagen und
fangen, Tod und Blut. Herzklopfende, blutrauschende, schiere Panik
der Gejagten.
Ich spürte meinen Armknochen brechen mit dem
Geräusch eines trockenen, knickenden Astes, und schmeckte Mark,
warm und salzig und schlüpfrig auf meiner Zunge.
Etwas strich mir über das Gesicht, und ich öffnete
die Augen. Große, gelbe Augen starrten mir aus dem dunklem Pelz
eines Wolfes mit weißen Fängen entgegen. Ich schrie und schlug auf
ihn ein, und die Bestie fuhr mit einem aufgeschreckten Wuff!
zurück.
Ich quälte mich auf meine Knie hoch und hockte
schlotternd da. Der Tag brach gerade an. Das Dämmerlicht war noch
jung und sanft und zeigte mir klar und deutlich die riesigen
schwarzen Umrisse… Rollos.
»Oh, Gott im Himmel, was zum Teufel machst
du hier, du verflixtes… Mordsvieh!« Wahrscheinlich hätte ich mich
irgendwann selbst wieder in den Griff bekommen, doch Jamie kam mir
zuvor.
Seine großen Hände zogen mich aus meinem Versteck,
hielten mich fest und klopften mich ängstlich auf der Suche nach
Verletzungen ab. Ich spürte die Wolle seines Plaids weich in meinem
Gesicht, sie roch nach Nässe und Seife und seinem Männergeruch, und
ich atmete sie ein wie Sauerstoff.
»Geht’s dir gut? Um Himmels willen, Sassenach, geht
es dir gut?«
»Nein«, sagte ich. »Doch«, sagte ich und fing an zu
weinen.
Es dauerte nicht lange; es war nur der Schock der
Erleichterung. Ich versuchte, ihm das zu sagen, doch Jamie hörte
mir nicht zu. Schmutzig, wie ich war, hob er mich auf und ging los,
um mich zu dem Flüßchen zu tragen.
»Still jetzt«, sagte er und drückte mich fest an
sich. »Still, mo chridhe. Jetzt ist alles gut, du bist in
Sicherheit.«
Ich war immer noch vewirrt von der Kälte und meinen
Träumen. Nachdem ich so lange nur mit meiner Stimme allein gewesen
war, hörte sich die seine seltsam und unwirklich an, und sie war
schwer zu verstehen. Doch die Wärme seiner festen Umarmung war
real.
»Warte«, sagte ich und zupfte schwach an seinem
Hemd. »Warte. Ich habe etwas vergessen. Ich muß -«
»Himmel, Onkel Jamie, sieh dir das an!«
Jamie wandte sich um, ohne mich loszulassen. Ian
stand im Eingang meines Refugiums, eingerahmt von herunterhängenden
Wurzeln, und hielt den Totenschädel hoch.
Ich spürte, wie sich Jamies Muskeln bei dem Anblick
anspannten.
»Herr im Himmel, Sassenach, was ist denn
das?«
»Wer, meinst du«, sagte ich. »Ich weiß es nicht.
Ist aber ein netter Kerl. Laß Rollo nicht in seine Nähe, er würde
es nicht mögen.« Rollo beschnüffelte den Schädel mit intensiver
Konzentration, und seine feuchten, schwarzen Nüstern blähten sich
vor Interesse.
Jamie blickte auf mein Gesicht herab und runzelte
leicht die Stirn.
»Bist du sicher, daß mit dir alles stimmt,
Sassenach?«
»Nein«, sagte ich, obwohl meine geistigen
Fähigkeiten langsam zurückkehrten und ich ganz aufwachte. »Mir ist
kalt, und ich verhungere gleich. Du hast nicht zufällig etwas zum
Frühstücken mitgebracht?
« fragte ich sehnsüchtig. »Ich könnte einen ganzen Teller Rührei
vernichten.«
»Nein«, sagte er und stellte mich auf den Boden,
während er in seinem Sporran kramte. »Ich hatte keine Zeit, mir
über etwas Eßbares Gedanken zu machen, aber ich habe ein bißchen
Brandy dabei. Hier, Sassenach, der wird dir guttun. Und dann«,
sagte er und zog eine Augenbraue hoch, »kannst du mir erzählen, wie
zum Teufel du hier mitten in der Wüste gelandet bist, aye?«
Ich ließ mich auf einen Felsen sinken und schlürfte
dankbar meinen Brandy. Die Feldflasche zitterte in meinen Händen,
doch das Zittern ließ nach, als die dunkle, bernsteinfarbene
Flüssigkeit sich ihren Weg direkt durch die Wände meines leeren
Magens in meinen Blutkreislauf bahnte.
Jamie stellte sich hinter mich und legte mir eine
Hand auf die Schulter.
»Seit wann bist du schon hier, Sassenach?« fragte
er mit sanfter Stimme.
»Schon die ganze Nacht«, sagte ich und zitterte
wieder. »Ungefähr seit gestern mittag, als das verdammte Pferd -
ich glaube, es heißt Judas - mich von diesem Felsen da oben
gestürzt hat.«
Ich deutete auf den Felsvorsprung. Mitten in der
Wüste war eine gute Beschreibung für die Stelle, fand ich. Es hätte
jede andere der tausend anonymen Talmulden in dieser
Hügellandschaft sein können. Mir kam ein Gedanke - einer, der mir
schon viel eher hätte einfallen sollen, wäre ich nicht so
durchgefroren und erschöpft gewesen.
»Wie zum Teufel habt ihr mich gefunden?« fragte
ich. »Sag jetzt bloß nicht, das verflixte Pferd hat euch zu mir
geführt?«
»Deinem Pferd sind wir nicht begegnet«, sagte Ian.
»Nein, Rollo hat uns zu dir geführt.« Er strahlte den Hund stolz
an, und dieser brachte es fertig, ein derart unverbindliches,
würdevolles Gesicht aufzusetzen, als wären solche Suchaktionen für
ihn das Normalste von der Welt.
»Aber wenn ihr mein Pferd nicht gesehen habt«,
begann ich verwirrt, »wie konntet ihr dann überhaupt wissen, daß
ich von den Muellers aufgebrochen war? Und wie konnte Rollo -« Ich
brach ab, als ich die Blicke sah, die die Männer einander
zuwarfen.
Ian zuckte leicht mit den Achseln, nickte und ließ
Jamie den Vortritt. Jamie kauerte sich neben mir auf den Boden, hob
den Saum meines Kleides hoch und nahm meine nackten Füße in seine
großen, warmen Hände.
»Deine Füße sind eiskalt, Sassenach«, sagte er
leise. »Wo hast du deine Schuhe gelassen?«
»Dahinten«, sagte ich und deutete kopfnickend auf
den entwurzelten Baum. »Sie müssen immer noch da sein. Ich habe sie
ausgezogen, als ich einen Bach durchqueren wollte, und habe sie
dann hingestellt und konnte sie im Dunkeln nicht mehr
finden.«
»Da sind sie nicht, Tante Claire«, sagte Ian. Er
klang so merkwürdig, daß ich überrascht zu ihm hochsah. Er hielt
immer noch den Totenschädel in der Hand und drehte ihn vorsichtig
hin und her.
»Nein, das ist wahr.« Jamie hatte den Kopf gesenkt,
um meine Füße zu reiben, und ich sah, wie das Morgenlicht sich
kupfern in seinem Haar spiegelte, das ihm lose über die Schultern
gefallen war, so zerzaust, als wäre er gerade erst
aufgestanden.
»Ich war im Bett und habe geschlafen«, sagte er und
griff meinen Gedanken auf. »Als das Vieh da plötzlich verrückt
gespielt hat.« Er wies mit dem Kinn in Rollos Richtung, ohne
aufzublicken. »Hat gebellt und geheult und sich gegen die Tür
geschleudert, als stünde der Teufel draußen.«
»Ich habe ihn angebrüllt und versucht, ihn am
Genick zu packen und mit Schütteln zum Schweigen zu bringen«, fügte
Ian hinzu, »aber er hat einfach nicht aufgehört, egal, was ich
machte.«
»Aye, er hat so getobt, daß ihm der Speichel aus
dem Maul troff, und ich war mir sicher, daß er wirklich verrückt
geworden war. Ich hatte Angst, daß er auf uns losgehen würde, also
habe ich Ian gesagt, er solle die Tür aufriegeln, damit er
hinauskonnte.« Jamie sank auf die Fersen zurück, betrachtete
stirnrunzelnd meinen Fuß und nahm ein welkes Blatt von meinem
Fußrücken.
»Ja, und war nun der Teufel draußen?« fragte
ich im Scherz.
Jamie schüttelte den Kopf.
»Wir haben die Lichtung vom Pferch bis zur Quelle
abgesucht und haben nichts gefunden - außer denen hier.« Er griff
in seinen Sporran und zog meine Schuhe heraus. Mit völlig
ausdruckslosem Gesicht blickte er zu mir auf.
»Die haben nebeneinander auf der Schwelle
gestanden.«
Jedes einzelne Haar an meinem Körper stellte sich
auf. Ich hob die Feldflasche und trank den Brandy aus.
»Rollo ist losgerast und hat dabei gebellt wie ein
Jagdhund«, sagte Ian, der begierig weitererzählte. »Aber dann kam
er einen Moment später zurück und hat angefangen, an deinen Schuhen
zu schnüffeln und zu winseln und zu jaulen.«
»Mir war selber auch ganz danach zumute, aye?«
Jamies Mundwinkel zog sich ein wenig in die Höhe, doch ich sah die
Furcht immer noch dunkel in seinen Augen.
Ich schluckte, doch mein Mund war trotz des Brandys
zu trocken zum Sprechen.
Jamie zog mir erst den einen Schuh an und dann den
anderen. Sie waren feucht, doch sein Körper hatte sie leicht
angewärmt.
»Ich habe geglaubt, du wärst vielleicht tot,
Cinderella«, sagte er leise und hielt den Kopf gesenkt, um sein
Gesicht zu verbergen.
Ian merkte es nicht, so hatte ihn der Eifer des
Erzählens gepackt.
»Mein schlauer Hund hier wollte losrasen, als hätte
er ein Kaninchen gewittert, also haben wir uns unsere Plaids
geschnappt und sind ihm hinterhergerannt, nachdem wir uns nur kurz
eine Fackel vom Herd genommen und das Feuer eingedämmt haben. Er
hat ein ganz schönes Tempo draufgehabt, nicht wahr, mein Junge?« Er
rieb Rollo mit liebevollem Stolz die Ohren. »Und dann haben wir
dich hier gefunden!«
Der Brandy ließ meine Ohren summen, und mein
Verstand schien wie in eine warme, süße Decke gewickelt, doch sagte
mir meine Vernunft noch gerade eben wenn Rollo einer Spur zu mir
zurück gefolgt war… mußte jemand die ganze Strecke in meinen
Schuhen gegangen sein.
Inzwischen hatte ich die Reste meiner Stimme
wiedergefunden und war nur noch ein wenig heiser beim
Sprechen.
»Habt ihr - unterwegs - irgend etwas gesehen?«
fragte ich.
»Nein, Tante Claire«, sagte Ian, plötzlich
nüchtern. »Du denn?«
Jamie hob den Kopf, und ich konnte sehen, wie
eingefallen sein Gesicht vor Sorge und Erschöpfung war, wie stark
seine breiten Wangenknochen unter der Haut hervortraten. Ich war
nicht die einzige, die eine lange, harte Nacht gehabt hatte.
»Ja« sagte ich, »aber das erzähle ich euch später.
Ich glaube, ich habe mich gerade in einen Kürbis verwandelt. Laßt
uns nach Hause gehen.«
Jamie hatte Pferde mitgebracht, doch es gab keine
Möglichkeit, sie in die Talmulde herunterzuholen; wir waren
gezwungen, dem Lauf des überfluteten Baches zu folgen, durch die
Untiefen zu waten und dann mühsam einen Felshang hinaufzuklettern,
bis wir zu dem Felsen gelangten, wo die Pferde angebunden waren.
Nach allem, was ich durchgemacht hatte, stand ich auf zittrigen
Beinen und war daher keine große Hilfe bei diesem Unterfangen, doch
Jamie und Ian kamen ohne großes Aufsehen damit zurecht, schoben
mich über Hindernisse und reichten mich hin und her wie ein großes,
sperriges Paket.
»Man soll jemandem, der an Unterkühlung leidet,
wirklich keinen
Alkohol geben«, sagte ich lahm, als Jamie mir während einer Rast
erneut die Feldflasche an die Lippen hielt.
»Ist mir egal, woran du leidest, mit dem Brandy im
Bauch merkst du weniger davon«, sagte er. Infolge des Regens war es
immer noch kalt, doch sein Gesicht war vom Klettern gerötet.
»Außerdem«, fügte er hinzu, während er sich die Stirn mit einer
Falte seines Plaids abwischte, »kriegen wir dich leichter hoch,
wenn du in Ohnmacht fällst. Himmel, es ist, als würde man ein
neugeborenes Kalb aus einem Sumpf ziehen.«
»Entschuldigung«, sagte ich. Ich legte mich flach
auf den Boden und schloß die Augen in der Hoffnung, mich nicht zu
übergeben. Der Himmel drehte sich in die eine Richtung und mein
Magen in die andere.
»Weg da, Rollo!« sagte Ian.
Ich öffnete ein Auge, um nachzuschauen, was los
war, und sah, wie Ian Rollo mit Gewalt von dem Totenschädel
wegschob - ich hatte darauf bestanden, ihn mitzunehmen.
Bei Tageslicht betrachtet, war er kein sehr
einnehmender Gegenstand. Fleckig und verfärbt von der Erde, in der
er begraben gewesen war, ähnelte er aus der Ferne einem glatten
Stein, der von Wind und Wetter ausgehöhlt und angenagt war. Einige
seiner Zähne waren angestoßen oder abgebrochen, obwohl der Schädel
sonst keinerlei Beschädigung aufwies.
»Was genau hast du eigentlich mit diesem
Traumprinzen vor?« fragte Jamie, der meine Errungenschaft ziemlich
kritisch beäugte. Seine Röte war verblaßt, und er atmete wieder
regelmäßig. Er sah zu mir herunter, streckte die Hand aus und
strich mir lächelnd das Haar aus den Augen.
»Geht’s jetzt, Sassenach?«
»Besser«, beruhigte ich ihn und setzte mich hin.
Die Landschaft hatte immer noch nicht völlig aufhört, sich um mich
zu drehen, doch der Brandy, der durch meine Venen schwappte,
verlieh der Bewegung etwas ausgesprochen Angenehmes, wie wenn Bäume
beruhigend an einem Zugfenster vorbeirauschen.
»Wir sollten ihn doch wohl mindestens mit
heimnehmen und für ein christliches Begräbnis sorgen?« Ian beäugte
den Totenschädel skeptisch.
»Ich glaube nicht, daß er das zu schätzen wüßte;
ich glaube nicht, daß er ein Christ war.« Ich unterdrückte die
lebhafte Erinnerung an den Mann, den ich in der Talsenke gesehen
hatte. Es stimmte zwar, daß einige Indianer von Missionaren bekehrt
worden waren, doch
dieser nackte Herr mit seinem schwarz bemalten Gesicht und seinem
federgeschmückten Haar hatte auf mich den Eindruck gemacht, daß es
heidnischer kaum ging.
Ich kramte mit tauben, steifen Fingern in meiner
Rocktasche herum.
»Das hier war mit ihm zusammen begraben.«
Ich zog den flachen Stein hervor, den ich
ausgegraben hatte. Er war schmutzigbraun, ein unregelmäßiges Oval,
halb so groß wie meine Handfläche. Er war auf einer Seite
abgeflacht, auf der anderen gerundet und so glatt, als stammte er
aus einem Flußbett. Ich drehte ihn in meiner Hand um und hielt den
Atem an.
In die abgeflachte Oberfläche war tatsächlich etwas
eingeritzt, wie ich mir gedacht hatte. Es war eine Glyphe in Form
einer Spirale, die sich in sich selbst zurückwand. Doch es war
nicht die Gravur, die Jamie und Ian in meine Hand blicken ließ, so
daß sich ihre Köpfe fast berührten.
Überall dort, wo die glatte Oberfläche weggemeißelt
worden war, glühte der Stein darunter mit einem züngelnden Feuer,
als kämpften kleine Flammen aus Grün und Orange und Rot um das
Licht.
»Mein Gott, was ist das?« fragte Ian
beeindruckt.
»Es ist ein Opal - und zwar ein verdammt großer«,
sagte Jamie. Er stieß den Stein mit seinem langen, stumpfen
Zeigefinger an, als wollte er sich versichern, daß er tatsächlich
existierte. Es gab ihn wirklich.
Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch das
Haar und sah mich dann an.
»Man sagt, Opale bringen Unglück, Sassenach.« Ich
dachte, er mache einen Witz, doch er sah beklommen aus. Er war zwar
ein weitgereister, gebildeter Mann, doch er war als Highlander zur
Welt gekommen, und ich wußte, daß er einen zutiefst abergläubischen
Wesenszug hatte, auch wenn er diesen nicht oft zeigte.
Ha, dachte ich bei mir. Du hast die Nacht mit einem
Gespenst verbracht und hältst ihn für abergläubisch?
»Unsinn«, sagte ich mit weitaus mehr Überzeugung,
als ich fühlte. »Es ist nur ein Stein.«
»Oh, es ist nicht so, daß sie wirklich Unglück
bringen, Onkel Jamie«, warf Ian ein. »Meine Mutter hat einen
kleinen Opalring - obwohl er nicht im entferntesten so ist wie
dieser hier!« Ian berührte den Stein respektvoll. »Und sie hat
gesagt, ein Opal nimmt etwas von der Persönlichkeit seines
Besitzers an - wenn man also einen Opal hätte, der vorher einem
guten Menschen gehört hat, wäre alles in Ordnung und er würde einem
Glück bringen. Aber wenn nicht -« Er zuckte die Achseln.
»Aye, gut«, sagte Jamie trocken. Er wies mit dem
Kinn auf den Totenschädel. »Wenn er dem da gehört hat, scheint er
ihm nicht allzuviel Glück gebracht zu haben.«
»Zumindest wissen wir, daß man ihn nicht des
Steines wegen umgebracht hat«, wandte ich ein.
»Vielleicht wollten sie ihn nicht haben, weil sie
wußten, daß er Unglück bringt«, meinte Ian. Er sah den Stein
stirnrunzelnd an, eine Sorgenfalte zwischen den Augen. »Vielleicht
sollten wir ihn zurückbringen, Tante Claire.«
Ich rieb mir die Nase und sah Jamie an.
»Er ist wahrscheinlich ziemlich wertvoll«, sagte
ich.
»Ah.« Die beiden Männern standen einen Augenblick
lang nachdenklich da, hin- und hergerissen zwischen Aberglauben und
Pragmatismus.
»Aye, nun gut«, sagte Jamie schließlich, »ich
schätze, es kann nicht schaden, wenn wir ihn eine Weile behalten.«
Seine Mundwinkel zogen sich zu einem Lächeln hoch. »Ich will ihn
tragen, Sassenach; wenn ich auf dem Heimweg vom Blitz getroffen
werde, kannst du ihn zurückbringen.«
Ich stand umständlich auf und hielt mich dabei an
Jamies Arm fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich
blinzelte schwankend vor mich hin, doch ich blieb stehen. Jamie
nahm mir den Stein aus der Hand und ließ ihn in seinen Sporran
gleiten.
»Ich werde ihn Nayawenne zeigen«, sagte ich.
»Vielleicht weiß sie zumindest, was die Gravur bedeutet.«
»Eine gute Idee, Sassenach«, pflichtete Jamie mir
bei. »Und wenn unser Traumprinz hier ein Verwandter von ihr ist,
hat sie meinen Segen, ihn zu behalten.« Er wies mit einem
Kopfnicken auf eine kleine Ahorngruppe in hundert Metern
Entfernung, deren Blätter einen ersten Hauch von Gelb
aufwiesen.
»Die Pferde sind da drüben angebunden. Kannst du
laufen, Sassenach?«
Ich blickte abschätzend auf meine Füße. Sie
schienen viel weiter weg zu sein, als ich es gewohnt war.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich. »Ich glaube,
ich bin wirklich ziemlich betrunken.«
»Och, nein, Tante Claire«, versicherte Ian mir
liebenswürdig. »Mein Pa sagt, man ist nicht betrunken, solange man
noch auf den Füßen steht.«
Jamie lachte und warf sich das Ende seines Plaids
über die Schulter.
»Mein Pa hat immer gesagt, man ist nicht
betrunken, solange man noch mit beiden Händen seinen Arsch finden
kann.« Er betrachtete mein Hinterteil mit hochgezogener Augenbraue,
überlegte es sich klugerweise aber anders, bevor er aussprach, was
auch immer er sonst noch im Sinn gehabt hatte.
Ian verschluckte sich an seinem Kichern und erholte
sich hustend.
»Aye, gut. Es ist nicht mehr weit, Tante Claire.
Bist du dir sicher, daß du nicht laufen kannst?«
»Also, ich hebe sie nicht mehr hoch, das sage ich
dir«, sagte Jamie, ohne meine Antwort abzuwarten. »Ich will mir
nicht das Kreuz verrenken.« Er nahm Ian den Schädel ab, hielt ihn
zwischen den Fingerspitzen und legte ihn mir vorsichtig in den
Schoß. »Warte hier mit deinem Freund, Sassenach«, sagte er. »Ian
und ich gehen die Pferde holen.«
Als wir Fraser’s Ridge erreichten, war es früher
Nachmittag. Ich hatte fast zwei Tage lang gefroren, naß und ohne
Nahrung verbracht und fühlte mich deutlich benommen; ein Gefühl,
das noch verstärkt wurde durch weitere Brandyinfusionen und durch
meine Bemühungen, Ian und Jamie die Ereignisse der vergangenen
Nacht zu erklären. Bei Tageslicht kam mir die ganze Nacht
unwirklich vor.
Andererseits kommt einem fast alles unwirklich vor,
wenn man es durch einen Nebelschleier aus Erschöpfung, Hunger und
leichter Trunkenheit betrachtet. Demzufolge hielt ich es zunächst
für eine Halluzination, als wir auf die Lichtung einbogen und ich
den Rauch aus dem Schornstein kommen sah - bis mir der Geruch
brennenden Hickoryholzes in die Nase stieg.
»Ich dachte, ihr habt gesagt, ihr hättet das Feuer
eingedämmt«, sagte ich zu Jamie. »Ein Glück, daß ihr das Haus nicht
in Brand gesteckt habt.« Solche Unfälle geschahen häufig; ich hatte
schon mehr als einmal von Blockhäusern gehört, die aufgrund eines
unbeaufsichtigten Herdfeuers abgebrannt waren.
»Das habe ich auch«, sagte er knapp und schwang
sich aus dem Sattel. »Es ist jemand hier. Kennst du das Pferd,
Ian?«
Ian richtete sich in den Steigbügeln auf, um einen
Blick in den Pferch zu werfen.
»Oh, es ist Tante Claires hinterlistiger Gaul!«
sagte er überrascht. »Und daneben steht ein großer
Apfelschimmel.«
Er hatte recht; der neugetaufte Judas stand
ungesattelt Kopf an Schwanz mit einem stämmigen grauen Wallach im
Pferch, und sie vertrieben einträchtig Fliegen.
»Weißt du, wem er gehört?« fragte ich. Ich war noch
nicht abgestiegen, alle paar Minuten überkamen mich leichte
Schwindelanfälle und zwangen mich, mich an den Sattel zu klammern.
Der Boden unter dem Pferd schien sich sanft zu heben und zu senken
wie Segel auf dem Ozean.
»Nein, aber es muß ein Freund sein«, sagte Jamie.
»Er hat für mich die Tiere versorgt und die Ziege gemolken.« Er
nickte von der heugefüllten Futterkrippe der Pferde zur Tür, wo ein
Milcheimer auf der Bank stand, ordentlich mit einem Stück Stoff
zugedeckt, damit keine Fliegen hineinfielen.
»Komm, Sassenach.« Er streckte die Hand aus und
faßte mich um die Taille. »Wir stecken dich ins Bett und kochen dir
eine Kanne Tee.«
Man hatte uns kommen hören; die Tür der Blockhütte
öffnete sich, und Duncan Innes schaute heraus.
»Ah, da bist du ja, Mac Dubh«, sagte er. »Was ist
denn passiert? Deine Ziege hat ein gottserbärmliches Theater
gemacht, und ihr Euter war kurz vorm Platzen, als ich heute morgen
hier angekommen bin.« Dann sah er mich, und sein langes, trauriges
Geischt wurde vor Überraschung ausdruckslos.
»Mrs. Claire!« sagte er, indem er meine schmutzige
und angeschlagene Erscheinung überflog. »Dann habt Ihr also einen
Unfall gehabt? Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich unterwegs das
Pferd allein auf dem Berg gefunden habe mit Eurer Kiste auf dem
Sattel. Ich habe mich umgesehen und nach Euch gerufen, konnte aber
keine Spur von Euch finden, also habe ich das Pferd zum Haus
mitgenommen.«
»Ja, ich hatte einen Unfall«, sagte ich, während
ich versuchte, allein zu stehen, womit ich keinen großen Erfolg
hatte. »Es ist aber nichts passiert.« Ich war mir dessen nicht ganz
sicher. Mein Kopf fühlte sich dreimal so groß an wie sonst.
»Sofort ins Bett«, sagte Jamie bestimmt und faßte
mich an den Armen, bevor ich umfallen konnte.
»Erst ein Bad«, sagte ich.
Er blickte zum Bach.
»Da erfrierst du, oder du ertrinkst. Oder beides.
Um Himmels willen, Sassenach, iß etwas und geh ins Bett; du kannst
dich morgen waschen.«
»Jetzt. Heißes Wasser. Kessel.« Ich hatte nicht die
Kraft zu einer längeren Diskussion, doch ich war fest entschlossen.
Ich würde nicht schmutzig ins Bett gehen, und ich würde auch nicht
hinterher verdreckte Laken waschen.
Jamie sah mich verzweifelt an, dann verdrehte er
die Augen und gab auf.
»Dann also den Kessel mit heißem Wasser«, sagte er.
»Ian, hol Holz und sieh dann mit Duncan nach den Schweinen. Ich
schrubbe deine Tante ab.«
»Ich kann mich selber abschrubben!«
»Den Teufel kannst du.«
Er hatte recht; meine Finger waren so steif, daß
sie die Haken meines Oberteils nicht aufbekamen. Er zog mich aus,
als wäre ich ein kleines Kind, warf den zerrissenen Rock und die
verdreckten Unterröcke einfach in die Ecke und zog mir das Hemd und
das Mieder aus, das ich so lange getragen hatte, daß die Stoffalten
tiefe rote Rillen in meiner Haut hinterlassen hatten. Ich stöhnte
in einer wollüstigen Mischung aus Schmerz und Wohlergehen und
massierte die roten Stellen, während das Blut in meinen eingeengten
Oberkörper zurückströmte.
»Hinsetzen«, sagte er und schob einen Hocker unter
mich, als ich mich fallen ließ. Er wickelte mir eine Bettdecke um
die Schultern, stellte einen Teller mit anderthalb vertrockneten
Haferkeksen vor mich hin und ging dann zum Schrank, um ihn nach
Seife, Waschlappen und Leinenhandtüchern zu durchwühlen.
»Bitte such die grüne Flasche«, sagte ich, während
ich an dem trockenen Keks knabberte. »Ich muß mir die Haare
waschen.«
»Mmpf.« Es klapperte noch mehr, und schließlich
tauchte er mit vollen Händen wieder auf. Er brachte mir unter
anderem ein Handtuch und die Flasche mit dem Shampoo, das ich - da
ich mir die Haare nicht mit Seife waschen wollte - aus Seifenkraut,
Lupinenöl, Walnußblättern und Calendulablüten hergestellt hatte. Er
stellte es zusammen mit meiner größten Rührschüssel auf den Tisch
und füllte sie vorsichtig mit heißem Wasser aus dem Kessel.
Nachdem Jamie es ein wenig hatte abkühlen lassen,
tauchte er ein Tuch ins Wasser und kniete sich hin, um mir die Füße
zu waschen.
Das warme Tuch an meinen wunden, halberfrorenen
Füßen zu spüren, kam der Ekstase so nah, wie ich es mir diesseits
des Himmels nur erhoffen konnte. Müde und halb betrunken, wie ich
war, fühlte ich mich, als löste ich mich von den Füßen aufwärts
auf, während er mich sanft, aber gründlich abwusch.
»Wie ist das denn passiert, Sassenach?« Aus einem
Zustand zurückgeholt, der dem Schlaf so nah war wie dem Wachen,
blickte ich benommen auf mein linkes Knie herunter. Es war
geschwollen, und die Innenseite hatte die tiefe blaulila Farbe von
Enzianblüten angenommen.
»Oh… als ich vom Pferd gefallen bin.«
»Das war sehr unvorsichtig«, sagte er scharf. »Habe
ich dir nicht wieder und wieder gesagt, du sollst vorsichtig sein,
besonders mit einem neuen Pferd? Man kann ihnen nicht trauen, bis
man eine Zeitlang mit ihnen zu tun gehabt hat. Und du bist nicht
stark genug, um mit einem Pferd zurechtzukommen, das stur oder
ängstlich ist.«
»Es hatte nichts mit Vertrauen zu tun«, sagte ich.
Ich bewunderte verschwommen seine breiten Schultern, die sich
fließend unter dem Leinenhemd anspannten, als er mir das verletzte
Knie mit dem Schwamm abtupfte. »Ein Blitz hat es erschreckt, und
ich bin von einem zehn Meter hohen Felsvorsprung gefallen.«
»Du hättest dir den Hals brechen können!«
»Einen Moment lang dachte ich, das hätte ich.« Ich
schloß die Augen und schwankte leicht.
»Du hättest besser aufpassen sollen, Sassenach, du
hättest überhaupt nicht auf diese Seite des Bergkammes gehen
sollen, ganz zu schweigen von -«
»Ich konnte nichts dafür«, sagte ich und öffnete
die Augen. »Der Pfad war fortgespült; ich mußte ihn umgehen.«
Er sah mich aufgebracht an, die schrägstehenden
Augen zu blauen Schlitzen zusammengekniffen.
»Du hättest bei diesem Wolkenbruch gar nicht erst
von den Muellers aufbrechen sollen! Hättest du dir nicht denken
können, wie der Boden sein würde?«
Ich richtete mich mühsam auf und hielt mir die
Bettdecke vor die Brüste. Etwas überrascht stellte ich fest, daß er
mehr als nur leicht verärgert war.
»Also… nein«, sagte ich und versuchte, meine
Gedanken zu ordnen. »Wie hätte ich das wissen sollen? Außerdem
-«
Er unterbrach mich, indem er den Waschlappen in die
Schüssel klatschte, daß das Wasser über den ganzen Tisch
schwappte.
»Sei still!« sagte er. »Ich habe nicht vor, mich
mit dir zu streiten.«
Ich starrte zu ihm hoch.
»Was zum Teufel hast du denn dann vor? Und wie
kommst du dazu, mich so anzuschreien? Ich habe doch kein Verbrechen
begangen!«
Er holte kräftig durch die Nase Luft. Dann stand er
auf, nahm den Lappen aus der Schüssel und wrang ihn sorgfältig aus.
Er atmete aus, kniete sich vor mich hin und wischte mir mit
sicherer Hand das Gesicht sauber.
»Nein. Das hast du nicht«, pflichtete er mir bei.
Ein Winkel seines
breiten Mundes verzog sich ironisch. »Aber du hast mir einen
Mordsschrecken eingejagt, Sassenach, und ich würde dir am liebsten
eine fürchterliche Strafpredigt halten, ob du es nun verdienst oder
nicht.«
»Oh«, sagte ich. Ich wollte zuerst lachen,
verspürte dann aber Gewissensbisse, als ich sah, wie angespannt
sein Gesicht war. Sein Hemdsärmel war dreckverschmiert, und an
seinen Strümpfen klebten Kletten und Fuchsschwanzgräser,
Überbleibsel einer Nacht, die er auf der Suche nach mir in den
dunklen Bergen verbracht hatte, ohne zu wissen, wo ich war; ob ich
noch lebte oder tot war. Ich hatte ihm wirklich einen Mordsschreck
eingejagt, ob ich wollte oder nicht.
Ich suchte nach einer Möglichkeit, mich zu
entschuldigen, doch meine Zunge war genauso schwerfällig wie mein
Verstand. Schließlich streckte ich die Hand aus und pflückte ihm
ein pelziges, gelbes Weidenkätzchen aus dem Haar.
»Warum schimpft du nicht auf Gälisch?« sagte ich.
»Es erleichtert dich genauso, und ich verstehe dann nur die Hälfte
von dem, was du sagst.«
Er gab einen schottischen Laut der Verachtung von
sich, legte mir die Hand fest in den Nacken und tauchte meinen Kopf
in die Schüssel. Doch als ich triefend wieder auftauchte, ließ er
mir ein Handtuch auf den Kopf fallen und legte los. Er rieb mir mit
seinen großen, festen Händen das Haar trocken, und sprach im
förmlichen, drohenden Tonfall eines Priesters, der von der Kanzel
aus die Sünde verdammt.
»Einfältiges Frauenzimmer«, sagte er auf Gälisch.
»Du hast weniger Hirn als eine Fliege!« Unter den folgenden
Bemerkungen fing ich die Worte für »dumm« und »ungeschickt« auf,
doch ich hörte ihm bald nicht mehr zu. Statt dessen schloß ich die
Augen und verlor mich in dem traumhaften Genuß, mir das Haar
trockenreiben und anschließend kämmen zu lassen.
Seine Berührungen waren sicher und sanft;
wahrscheinlich hatte er das beim Umgang mit Pferdeschweifen
gelernt. Ich hatte gesehen, wie er beim Putzen mit den Pferden fast
so sprach, wie er jetzt mit mir sprach, die gälischen Worte eine
beruhigende Begleitung zum Rascheln von Striegel oder Bürste. Ich
hatte allerdings das Gefühl, daß er mit den Pferden zuvorkommender
umging.
Seine Hände berührten meinen Hals, meinen nackten
Rücken und meine Schultern, flüchtige Berührungen, die meine gerade
erst aufgetauten Glieder zum Leben erweckten. Ich zitterte, ließ
die Bettdecke aber dennoch in meinen Schoß fallen. Die Flammen im
Herdfeuer schlugen immer noch hoch; sie umtanzten den Kessel, und
im Raum war es ganz warm geworden.
Er beschrieb jetzt in freundlichem Gesprächston
verschiedene Dinge, die er mir gerne angetan hätte, angefangen
damit, mich mit einem Stock grün und blau zu schlagen, und so
weiter. Gälisch ist eine wortreiche Sprache, und Jamie war alles
andere als phantasielos, was Gewalt oder Sex anging. Ob er es
beabsichtigte oder nicht, ich hielt es gar nicht für so schlecht,
daß ich nicht alles verstand, was er sagte.
Ich spürte die Hitze des Feuers auf meinen Brüsten
und Jamies Wärme in meinem Rücken. Der lose Stoff seines Hemdes
streifte meine Haut, als er sich vorbeugte, um nach einer Flasche
auf dem Regal zu greifen, und ich erschauerte erneut. Er bemerkte
es und unterbrach seine Tirade für einen Moment.
»Kalt?«
»Nein.«
»Gut.« Scharfer Kampfergeruch stach mir in die
Nase, und bevor ich mich bewegen konnte, hatte eine große Hand
meine Schulter ergriffen, um mich festzuhalten, während die andere
mir die Brust fest mit einem glitschigen Öl einrieb.
»Halt! Das kitzelt! Halt, sage ich!«
Er störte sich nicht daran. Ich wand mich wie
verrückt und versuchte, ihm zu entkommen, doch er war viel
kräftiger als ich.
»Halt still«, sagte er, und seine Finger, vor denen
es kein Entkommen gab, rieben mich fest zwischen meinen kitzeligen
Rippen, unter meinem Schlüsselbein, um und unter meinen
empfindlichen Brüsten ein, fetteten mich so gründlich ein wie ein
Spanferkel, das man für den Spieß vorbereitet.
»Du Schuft!« sagte ich kichernd und atemlos
vor Anstrengung, als er mich losließ. Ich roch nach Pfefferminze
und Kampfer, und meine Haut strahlte vom Kinn bis zum Bauch Hitze
aus.
Er grinste mich an, befriedigt und ohne eine Spur
von Reue.
»Das machst du mit mir auch, wenn ich krank
bin«, warf er ein und rieb sich die Hände am Handtuch ab. »Wie du
mir, so ich dir, aye?«
»Ich bin aber nicht krank. Ich habe noch nicht
einmal einen Schnupfen!«
»Das kommt schon noch, nachdem du die ganze Nacht
draußen warst und in nassen Kleidern geschlafen hast.« Er schnalzte
mißbilligend mit der Zunge wie eine schottische Hausfrau.
»Das hast du natürlich noch nie getan, nicht wahr?
Wie oft hast du dich schon vom Schlafen im Freien erkältet?« wollte
ich wissen. »Lieber Himmel, du hast sieben Jahre in einer
Höhle gelebt!«
»Und habe drei davon mit Niesen verbracht. Außerdem
bin ich ein
Mann«, fügte er vollkommen unlogisch hinzu. »Willst du nicht
lieber dein Nachthemd anziehen, Sassenach? Du hast keinen Faden am
Leib.«
»Das habe ich schon bemerkt. Von nassen Kleidern
und Kälte wird man nicht krank«, informierte ich ihn und suchte
unter dem Tisch nach der heruntergefallenen Decke.
Er zog beide Augenbrauen hoch.
»Ach nein?«
»Nein.« Ich kroch rückwärts unter dem Tisch hervor
und hielt dabei die Decke fest. »Ich habe dir schon einmal gesagt,
daß es Erreger sind, von denen man krank wird. Wenn ich keinem
Erreger ausgesetzt war, werde ich auch nicht krank.«
»Ah, Errrreger«, sagte er. Es klang, als rollte er
eine Murmel im Mund herum. »Himmel, hast du einen schönen, fetten
Hintern! Warum werden die Leute dann im Winter eher krank als im
Frühling? Die Erreger vermehren sich wohl in der Kälte?«
»Nicht ganz.« In absurder Befangenheit breitete ich
die Decke aus und wollte sie mir wieder um die Schultern legen.
Doch ehe ich mich darin einwickeln konnte, hatte er mich am Arm
gepackt und mich an sich gezogen.
»Komm her«, sagte er überflüssigerweise. Bevor ich
etwas sagen konnte, hatte er mir kräftig auf den nackten Hintern
geklatscht, mich umgedreht und mich heftig geküßt.
Er ließ los, und ich wäre fast hingefallen. Ich
warf die Arme um ihn, und er faßte mich um die Taille und stützte
mich.
»Ist mir egal, ob es Erreger sind oder die
Nachtluft oder weiß der Teufel was«, sagte er und blickte mich
streng von oben herab an. »Es kommt nicht in Frage, daß du krank
wirst, und damit Schluß. Und jetzt schlüpfst du sofort in dein
Nachthemd, und dann ab ins Bett mit dir!«
Er fühlte sich furchtbar gut an in meinen Armen.
Das glatte Leinen seiner Hemdbrust lag kühl an meinen glühenden,
eingeriebenen Brüsten, und obwohl sich die Wolle seines Kilts an
meinen nackten Beinen und meinem Bauch weitaus kratziger anfühlte,
war sie doch ebenfalls alles andere als unangenehm. Ich rieb mich
langsam an ihm wie eine Katze an einem Pfosten.
»Ab ins Bett«, sagte er noch einmal und klang schon
etwas weniger streng.
»Mmmm«, sagte ich und machte es hinreichend klar,
daß ich nicht vorhatte, mich allein dorthin zu begeben.
»Nein«, sagte er und wand sich sacht. Ich nahm an,
daß er sich befreien
wollte, doch da ich nicht losließ, verschärfte die Bewegung nur
die Lage zwischen uns.
»Mm-hmm«, sagte ich und hielt ihn fest. Ich war
zwar betrunken, doch es war mir dennoch nicht entgangen, daß Duncan
zweifellos die Nacht auf dem Teppich vor dem Herd verbringen würde
und Ian im Rollbett. Und ich fühlte mich zwar im Augenblick
einigermaßen ungehemmt, doch so weit ging dieses Gefühl dann doch
nicht.
»Mein Vater hat gesagt, ich soll nie eine Frau
übervorteilen, die zuviel getrunken hat«, sagte er. Er hatte
aufgehört, sich zu winden, fing jetzt aber wieder damit an,
langsamer, als könnte er es nicht verhindern.
»Ich habe nicht zuviel getrunken«, versicherte ich
ihm. »Außerdem -« Ich wand mich meinerseits langsam und
geschmeidig. »Ich habe gedacht, man ist nicht betrunken, wenn man
sich noch mit beiden Händen an den Hintern fassen kann.«
Er sah mich abschätzend an.
»Ich sage es ungern, Sassenach, aber es ist nicht
dein Hintern, den du da in den Händen hast - es ist meiner.«
»Das geht schon in Ordnung«, versicherte ich ihm.
»Wir sind verheiratet. Was mein ist, soll auch dein sein. Wir sind
eins, das hat der Priester gesagt.«
»Vielleicht war es doch ein Fehler, dich mit diesem
Fett einzureiben«, murmelte er halb zu sich selbst. »Bei mir
wirkt es nie so.«
»Na ja, du bist ja auch ein Mann.«
Er unternahm einen letzten tapferen Versuch.
»Solltest du nicht noch einen Bissen essen, Schatz?
Du mußt doch Hunger haben.«
»Mm-hm«, sagte ich. Ich vergrub mein Gesicht in
seinem Hemd und biß ihn sanft.
»Bärenhunger.«
Vom Grafen von Montrose erzählt man sich, daß ihn
eines Tages eine junge Frau halbtot vor Kälte und Hunger nach der
Schlacht auf dem Feld fand. Die junge Frau zog ihren Schuh aus,
rührte darin Gerste mit kaltem Wasser an, fütterte den am Boden
liegenden Grafen mit dem so entstandenen Brei und rettete ihm damit
das Leben.
Der Becher, der mir jetzt unter die Nase geschoben
wurde, schien eine Portion ebendieser lebensspendenden Substanz zu
enthalten, mit dem geringfügigen Unterschied, das diese hier warm
war.
»Was ist das?« fragte ich, während ich die blassen
Körner betrachtete, die in einer wässrigen Flüssigkeit trieben. Es
sah aus wie ein Becher voller ertrunkener Maden.
»Gerstensuppe«, sagte Ian und blickte so stolz auf
den Becher, als wäre er sein erstgeborenes Kind. »Ich habe sie
selbst gemacht, aus dem Sack, den du von den Muellers mitgebracht
hast.«
»Danke«, sagte ich und nahm vorsichtig einen
Schluck. Ich glaubte nicht, daß er sie in seinem Schuh angerührt
hatte, trotz des Schweißaromas. »Sehr gut«, sagte ich. »Wie lieb
von dir, Ian.«
Er wurde rot vor Dankbarkeit.
»Och, das ist doch nicht der Rede wert«, sagte er.
»Es ist noch genug da. Oder soll ich dir ein bißchen Käse holen?
Ich könnte die grünen Stellen für dich herausschneiden.«
»Nein, nein - das reicht mir«, sagte ich hastig.
»Ah… warum nimmst du nicht dein Gewehr und siehst zu, ob du draußen
ein Eichhörnchen oder ein Kaninchen erwischst? Ich bin sicher, daß
es mir so gut geht, daß ich zum Abendessen etwas kochen
kann.«
Er strahlte, und das Lächeln verwandelte sein
langes, knochiges Gesicht.
»Ich bin froh, das zu hören, Tante Claire«, sagte
er. »Du solltest einmal sehen, was Onkel Jamie und ich
gegessen haben, als du fort warst!«
Er ließ mich auf meinem Kissen zurück, und ich
fragte mich, was ich mit dem Becher Suppe anfangen sollte. Ich
wollte sie nicht trinken, doch ich fühlte mich wie warme Butter -
weich und sahnig, fast flüssig -,und die Vorstellung aufzustehen
schien mir mit unglaublichem Energieaufwand verbunden zu
sein.
Jamie hatte auf weiteren Widerstand verzichtet und
mich ins Bett gebracht, wo er seine Aufgabe, mich aufzutauen, in
aller Gründlichkeit und Eile zu Ende geführt hatte. Es war wohl
besser, daß er nicht mit Ian auf die Jagd gegangen war. Er roch
genauso nach Kampfer wie ich; jedes Tier würde ihn meilenweit
riechen.
Er hatte mich zärtlich zugedeckt und mich dem
Schlaf überlassen, während er Duncan jetzt offiziell begrüßte und
ihm die Gastfreundschaft des Hauses anbot. Ich konnte draußen das
Gemurmel ihrer tiefen Stimmen hören; sie saßen auf der Bank neben
der Tür und genossen die späte Nachmittagssonne - lange, bleiche
Strahlen fielen schräg durch das Fenster und hüllte innen Holz und
Zinn in ein warmes Licht.
Auch der Schädel wurde von der Sonne berührt. Er
lag auf meinem Schreibtisch am anderen Ende des Zimmers und bildete
mit einem Tonkrug voller Blumen und meinem Krankenbuch ein
häusliches Stilleben.
Es war der Anblick des Krankenbuches, das mich aus
meinem Dämmerzustand holte. Die Geburt, die ich bei den Muellers
begleitet
hatte, kam mir jetzt vage und unwirklich vor; ich hielt es für
besser, die Details festzuhalten, solange ich mich überhaupt noch
daran erinnern konnte.
Von den Regungen meines beruflichen Pflichtgefühls
aufgerüttelt, räkelte ich mich, stöhnte und setzte mich auf. Ich
fühlte mich immer noch etwas benommen, und meine Ohren summten von
den Nachwirkungen des Brandys. Außerdem war ich fast am gesamten
Körpers etwas wund - an manchen Stellen mehr als an anderen -,doch
im großen und ganzen war ich einigermaßen funktionsfähig.
Allerdings bekam ich allmählich Hunger.
Ich hoffte, daß Ian mit Fleisch zurückkommen würde,
das ich kochen konnte; ich war nicht so dumm, mir meinen
zusammengeschrumpften Magen mit Käse und eingelegtem Fisch
vollzustopfen, doch eine schöne, kräftigende Eichhörnchensuppe,
gewürzt mit Frühlingszwiebeln und getrockneten Pilzen, wäre genau
das, was der Arzt verordnen würde.
Was die Suppe anging - ich glitt zögernd aus dem
Bett und stolperte zum Herd, wo ich die kalte Gerstensuppe in den
Topf zurückschüttete. Ian hatte genug für ein ganzes Regiment
gekocht - vorausgesetzt allerdings, daß das Regiment sich aus
Schotten zusammensetzte. Da sie in einem Land lebten, in dem kaum
Eßbares wuchs, waren sie in der Lage, klebrige Getreidemassen zu
sich zu nehmen, ohne daß diese mit dem geringsten erlösenden Hauch
von Gewürz oder Geschmack in Berührung gekommen waren. Ich selbst
entstammte einer schwächeren Rasse und fühlte mich dem nicht ganz
gewachsen.
Der geöffnete Gerstensack stand neben dem Herd, und
der Jutesack war immer noch sichtlich feucht. Ich würde das Korn
zum Trocknen ausbreiten müssen, sonst würde es verderben. Unter
leichtem Protest meines verletzten Knies holte ich ein großes,
flaches Korbtablett aus geflochtenem Schilf und kniete mich hin, um
das feuchte Getreide in einer dünnen Lage darauf
auszubreiten.
»Hat er denn ein weiches Maul, Duncan?« Jamies
Stimme kam deutlich durch das Fenster; der Ledervorhang war
aufgerollt, um frische Luft hereinzulassen, und ich fing einen
schwachen Tabakhauch von Duncans Pfeife auf. »Er ist ein großer,
kräftiger Kerl, aber er hat einen freundlichen Blick.«
»Oh, er ist ein Prachtpferd«, sagte Duncan mit
einem unüberhörbar stolzen Unterton in der Stimme. »Und hat ein
schönes, weiches Maul, aye. Miss Jo hat ihn von ihrem Stallaufseher
auf dem Markt in Wilmington aussuchen lassen; hat ihm gesagt, daß
er ein Pferd finden muß, das man gut mit einer Hand reiten
kann.«
»Mmpf. Aye, ja, er ist ein hübsches Tier.« Die
Holzbank ächzte, als einer der Männer sein Gewicht verlagerte. Ich
verstand den Hintersinn von Jamies Kompliment und fragte mich, ob
Duncan es auch tat.
Zum Teil war es schlichte Herablassung; Jamie war
auf dem Pferderücken aufgewachsen, und als geborener Reiter wies er
die bloße Vorstellung, überhaupt die Hände zu gebrauchen, weit von
sich; ich hatte schon gesehen, wie er ein Pferd nur dadurch lenkte,
daß er den Druck seiner Knie und Oberschenkel verlagerte, oder wie
er sein Pferd auf einem überfüllten Schlachtfeld in Galopp setzte,
die Zügel auf dem Pferdehals zusammengeknotet, so daß er die Hände
für Schwert und Pistole frei hatte.
Doch Duncan war weder ein Reiter noch ein Soldat;
er hatte in der Nähe von Ardrossan als Fischer gelebt, bevor ihn
der Aufstand wie so viele andere von seinen Netzen und seinem Boot
fortgeholt hatte, um ihn nach Culloden und ins Verderben zu
schicken.
Jamie wäre nicht so taktlos, Duncan auf einen
Mangel an Erfahrung hinzuweisen, der diesem selbst schon mehr als
bewußt war; doch er würde ihn auf etwas anderes hinweisen wollen.
Hatte Duncan es gemerkt?
»Du bist es, dem sie helfen will, Mac Dubh, und das
weißt du auch.« Duncans Tonfall war voller Ironie; er hatte Jamie
sehr wohl verstanden.
»Ich habe auch nie das Gegenteil behauptet,
Duncan.« Jamies Stimme war ruhig.
»Mmpf.«
Ich lächelte trotz des Anflugs von Schärfe zwischen
ihnen. Duncan beherrschte die für die Highlands typische Kunst der
wortlosen Beredsamkeit genausogut wie Jamie. Dieses spezielle
Geräusch beinhaltete sowohl einen leichten Anflug von Beleidigung
über Jamies Andeutung, daß es sich für Duncan nicht gehörte, von
Jocasta ein Pferd als Geschenk anzunehmen, als auch die
Bereitschaft, die ebenfalls nur angedeutete Entschuldigung
anzunehmen.
»Also, hast du es dir überlegt?« Die Bank ächzte,
als Duncan abrupt das Thema wechselte. »Willst du Sinclair oder
Geordie Chisholm?«
Er fuhr fort, ohne Jamie Zeit zum Antworten zu
lassen, allerdings in einem Tonfall, der deutlich erkennen ließ,
daß er all dies schon einmal gesagt hatte. Ich fragte mich, ob er
versuchte, Jamie zu überzeugen, oder sich selbst - oder nur beiden
bei ihrer Entscheidung helfen wollte, indem er die Fakten
wiederholte.
»Es stimmt, Sinclair ist ein Küfer, aber Geordie
ist ein guter Mann;
ein sparsamer Arbeiter, und außerdem hat er zwei kleine Söhne.
Sinclair ist nicht verheiratet, also würde er nicht viel brauchen,
um hier anfangen zu können, aber -«
»Er würde eine Drehbank brauchen und Werkzeuge, und
Eisen und abgelagertes Holz«, fiel Jamie ihm ins Wort. »Er könnte
in seiner Werkstatt schlafen, aye, aber dazu müßte er erst einmal
eine Werkstatt haben. Und es wird ziemlich teuer, glaube ich, alles
zu kaufen, was man für eine Küferwerkstatt braucht. Geordie
bräuchte etwas Essen für seine Familie, aber das haben wir hier;
darüber hinaus bräuchte er für den Anfang nur ein paar Werkzeuge -
er hat doch eine Axt, oder?«
»Aye, die hat er sicher noch aus seiner Zeit als
Zwangsarbeiter, aber jetzt ist Pflanzzeit, Mac Dubh. Mit dem Boden
-«
»Das weiß ich wohl«, sagte Jamie ein wenig gereizt.
»Ich war es schließlich, der vor einem Monat fünf Morgen Mais gesät
hat. Und sie vorher gerodet hat.« Während Duncan es sich auf
River Run hatte gutgehen lassen, in Wirtshäusern seine Schwätzchen
gehalten und sein neues Pferd zugeritten hatte. Ich hörte es und
Duncan ebenfalls; es folgte ein vielsagendes Schweigen.
Ein Ächzen der Bank, und Duncan sprach ruhig
weiter.
»Deine Tante Jo schickt dir ein Geschenk.«
»Oh, tut sie das?« Die Schärfe in seiner Stimme war
jetzt noch deutlicher. Ich hoffte, Duncan war klug genug, darauf zu
achten.
»Eine Flasche Whisky.« In Duncans Stimme lag ein
Lächeln, das Jamie mit einem zurückhaltenden Lachen
beantwortete.
»Oh, wirklich?« wiederholte er in völlig anderem
Ton. »Das ist sehr liebenswürdig.«
»Das will sie auch sein.« Beträchtliches Ächzen und
Geschlurfe, als Duncan aufstand. »Komm mit und hol sie, Mac Dubh.
Ein kleiner Schluck kann deiner Laune nicht schaden.«
»Nein, das stimmt.« Jamie klang reumütig. »Ich habe
letzte Nacht nicht geschlafen, und ich bin so reizbar wie ein
Keiler auf Brautschau. Du mußt mir mein Benehmen verzeihen,
Duncan.«
»Och, keine Ursache.« Es erklang ein leises
Geräusch, wie wenn eine Hand auf eine Schulter klopft, und ich
hörte sie zusammen über den Hof davongehen. Ich trat ans Fenster
und sah ihnen nach. Jamies Haar glänzte wie dunkle Bronze in der
untergehenden Sonne, als er der Knopf schräglegte, um sich
anzuhören, was Duncan ihm erzählte. Der kleinere Mann gestikulierte
zur Erläuterung, wobei ihn die Bewegungen seines Armes so aus dem
Tritt brachten, daß er sich beim Gehen ruckartig bewegte wie eine
große Marionette.
Was wäre wohl aus ihm geworden, fragte ich mich,
hätte Jamie ihn nicht gefunden - und einen Platz für ihn? In
Schottland war kein Platz für einen einarmigen Fischer. Mit
Sicherheit wäre ihm dort nichts anderes übriggeblieben, als zu
betteln. Oder zu verhungern, oder das Lebensnotwendige zu stehlen
und am Galgen zu enden wie Gavin Hayes.
Doch dies war die Neue Welt, und wenn das Leben
hier auch nicht ohne Risiko war, so bedeutete es doch immerhin eine
Chance. Kein Wunder, daß sich Jamie darüber den Kopf zerbrach, wer
die beste Chance bekommen sollte, Sinclair, der Küfer, oder
Chisholm, der Bauer.
Es wäre viel wert, einen Küfer zur Hand zu haben;
es würde den Männern auf dem Berg den langen Weg nach Cross Creek
oder Averasboro ersparen, um dort die Fässer zu holen, die sie für
ihr Pech und Terpentin brauchten, für Pökelfleisch und Cidre. Doch
es wäre teuer, eine Küferwerkstatt einzurichten, selbst wenn man
nur das Nötigste anschaffte. Und dann mußte man auch an die Frau
des unbekannten Chisholm und seine kleinen Kinder denken - wie
lebten sie jetzt, und was würde ohne Hilfe aus ihnen werden?
Duncan hatte bis jetzt dreißig der Männer aus
Ardsmuir ausfindig gemacht; Gavin Hayes war der erste, und für ihn
hatten wir alles getan, was in unserer Macht lag. Wir hatten dafür
gesorgt, daß er die Reise in den Himmel sicher antrat. Zwei weitere
waren gestorben, der eine an einer Fieberkrankheit, der andere war
ertrunken. Drei hatten ihre Zwangsarbeit hinter sich gebracht und -
ausgerüstet mit der Axt und den Kleidungsstücken, die der
Entlassungslohn eines Zwangsarbeiters waren - selbst Fuß fassen
können, indem sie Land im Landesinneren erschlossen und dort kleine
Niederlassungen gegründet hatten.
Von den übrigen Männern hatten wir bis jetzt
zwanzig unter Jamies Regie und mit seiner finanziellen
Unterstützung auf gutem Land am Fluß angesiedelt. Ein weiterer war
schwachsinnig, arbeitete aber als Knecht für einen anderen und
verdiente so seinen Lebensunterhalt. Damit waren all unsere
Rücklagen aufgebraucht. Das Unternehmen hatte unser kleines
Barvermögen, Schuldscheine auf den Gegenwert der Zeit noch nicht
existenter Ernten und einen haarsträubenden Ausflug nach Cross
Creek erfordert.
Dort hatte Jamie all seine Bekannten aufgesucht,
von jedem eine kleine Geldsumme geliehen und war mit diesem Geld
dann in die Hafenkneipen gegangen, wo er es in drei schlaflosen
Nächten geschafft hatte, beim Spiel seinen Einsatz zu vervierfachen
- und dabei nur
knapp einem Messerattentat entkommen war, wie ich erst später
erfuhr.
Ich war sprachlos gewesen beim Anblick des langen,
gezackten Risses in der Brust seines Rockes.
»Was -?« hatte ich schließlich gekrächzt.
Er hatte kurz mit den Achseln gezuckt und plötzlich
sehr müde ausgesehen.
»Es spielt keine Rolle«, hatte er gesagt. »Es ist
vorbei.«
Dann hatte er sich rasiert, sich gewaschen, war ein
weiteres Mal zu allen Plantagenbesitzern gegangen und hatte jedem
der Männer sein Geld mit einem kleinen Leihzins zurückgezahlt, so
daß uns genug blieb für Maissaat, ein zusätzliches Maultier zum
Pflügen, eine Ziege und ein paar Schweine.
Ich stellte ihm keine weiteren Fragen, flickte ihm
nur den Rock und sah zu, daß er heil ins Bett fand, als er nach der
Rückzahlung des geliehenen Geldes heimkam. Doch ich saß lange Zeit
neben ihm und sah zu, wie sich die Falten der Erschöpfung in seinem
Gesicht im Schlaf ein wenig glätteten.
Nur ein wenig. Ich hatte seine Hand hochgehoben,
schlaff und schwer im Schlummer, und hatte die tiefen Linien seiner
glatten, schwieligen Handfläche wieder und wieder nachgezeichnet.
Wie viele Leben lagen jetzt in diesen Furchen?
Mein eigenes. Das seiner Siedler. Fergus’ und
Marsalis, die gerade aus Jamaica zurückgekehrt waren und jetzt für
Germain aufkommen mußten, einen pausbäckigen, blonden Charmeur, der
seinen hingerissenen Vater fest in seiner dicken kleinen
Hand hatte.
Bei diesem Gedanken blickte ich unwillkürlich aus
dem Fenster. Ian und Jamie hatten ihnen geholfen, ein kleines
Blockhaus nur eine Meile von unserem entfernt zu bauen, und
manchmal kam Marsali uns abends besuchen und brachte das Baby mit.
Es wäre schön, sie jetzt zu sehen, dachte ich sehnsüchtig. So sehr
ich Brianna manchmal vermißte, der kleine Germain war mein Ersatz
für das Enkelkind, das ich niemals im Arm halten würde.
Ich seufzte und vertrieb den Gedanken mit einem
Achselzucken.
Jamie und Duncan waren mit dem Whisky
zurückgekehrt; ich konnte hören, wie sie sich bei der Pferdekoppel
unterhielten.
Ihre Stimmen waren locker, und alle Spannung
zwischen ihnen war verflogen - für den Augenblick.
Ich breitete die dünne Lage Gerste fertig aus und
stellte sie zum Trocknen an eine Ecke der Feuerstelle. Dann ging
ich zum Schreibtisch, schraubte das Tintenfaß auf und öffnete das
Krankenbuch. Es
dauerte nicht lange, die Details der Geburt des jüngsten
Muellersprößlings festzuhalten; die Wehen hatte lange gedauert,
waren ansonsten aber ganz normal gewesen. Die Geburt selbst war
komplikationslos verlaufen; das einzig Ungewöhnliche war die
Glückshaube des Kindes gewesen…
Ich hielt im Schreiben inne und schüttelte den
Kopf. Immer noch abgelenkt von meinen Gedanken an Jamie, hatte ich
meine Aufmerksamkeit abschweifen lassen. Petronellas Kind war nicht
mit einer Glückshaube geboren worden. Ich erinnerte mich deutlich
daran, wie sein Scheitel sichtbar wurde, die Vulva ein glänzender
roter Ring, der sich eng um einen kleinen, schwarzbehaarten Fleck
schloß. Ich hatte ihn berührt, den winzigen Puls gespürt, der dort
schlug, genau unter der Haut. Ich erinnerte mich lebhaft daran, wie
sich die feuchten Daunenhaare unter meinen Fingern anfühlten: wie
die feuchte Haut eines frisch geschlüpften Kükens.
Es war der Traum, dachte ich. Ich hatte in der
Erdgrube geträumt und die Ereignisse der beiden Geburten vermischt
- dieser und Briannas. Es war Brianna, die mit einer Glückshaube
geboren worden war.
Ein glückliches Vorzeichen, so eine Glückshaube -
sagten die Schotten -,sie gewährte im späteren Leben Schutz vor dem
Ertrinken. Und manche Kinder, die mit einer Glückshaube geboren
wurden, waren mit der Gabe des zweiten Gesichts gesegnet - obwohl
ich mir nach meinen Begegnungen mit solcherart begabten Menschen
die Freiheit herausnahm zu bezweifeln, daß diese Fähigkeit ein
reiner Segen war.
Ob es ein Glück war oder nicht, Brianna hatte
jedenfalls niemals Anzeichen jenes seltsamen keltischen »Wissens«
gezeigt, und das war mir nur recht. Ich wußte genug über meine
eigene persönliche Form des zweiten Gesichtes - das sichere Wissen,
daß sich Dinge ereignen würden - um niemandem die damit verbundenen
Komplikationen zu wünschen.
Ich blickte auf die Seite vor mir. Ohne es richtig
zu merken, hatte ich die groben Umrisse eines Mädchenkopfes
gezeichnet. Eine gerundete breite Linie wirbelnden Haars, die bloße
Andeutung einer langen, geraden Nase. Darüberhinaus war sie
gesichtslos.
Ich war keine Künstlerin. Ich hatte gelernt, klare,
klinische Zeichnungen anzufertigen, akkurate Bilder von Gliedmaßen
und Körpern, doch mir fehlte Briannas Gabe, die Linien zum Leben zu
erwecken. So, wie er da stand, war der Entwurf nicht mehr als eine
Gedächtnisstütze; ich konnte ihn ansehen und mir ihr Gesicht in
Gedanken
ausmalen. Mehr zu versuchen - ihr Gesicht auf dem Papier
heraufzubeschwören - würde bedeuten, das zu ruinieren, zu
riskieren, daß ich das Bild verlor, das ich von ihr im Herzen
trug.
Und würde ich sie leibhaftig herbeschwören, wenn
ich es könnte? Nein. Das würde ich nicht tun; ich stellte sie mir
tausendmal lieber in der Sicherheit und Bequemlichkeit ihrer
eigenen Zeit vor, als sie mir herbeizuwünschen in diese rauhe,
gefährliche Zeit. Doch das bedeutete nicht, daß sie mir nicht
fehlte.
Zum ersten Mal empfand ich etwas Mitgefühl mit
Jocasta Cameron und ihrer Sehnsucht nach einem Erben; jemandem, der
zurückblieb und ihren Platz einnahm, der davon zeugte, daß ihr
Leben nicht umsonst gewesen war.
Draußen vor dem Fenster stieg das Zwielicht aus
Feld und Wald und Wasser. Man behauptet, daß die Nacht sich senkt,
aber eigentlich stimmt das nicht. Die Dunkelheit stieg auf, füllte
erst die Talmulden, überschattete dann die Berghänge und kroch
unmerklich an Baumstämmen und Pfosten hoch, während die Nacht den
Boden verschlang und dann aufstieg, um sich mit dem tieferen Dunkel
des sternenübersäten Himmels zu vereinen.
Ich saß da, starrte aus dem Fenster und sah zu, wie
sich das Licht auf den Pferden in der Koppel veränderte: statt zu
verblassen, wandelte es sich, so daß alles - die gebogenen Hälse,
die runden Hinterteile, selbst einzelne Grashalme - sich nackt und
klar abzeichnete und die Wirklichkeit für einen kurzen Augenblick
befreit war von den täglichen Illusionen von Sonne und
Schatten.
Ohne sie zu sehen, fuhr ich die Linien der
Zeichnung mit dem Finger nach, wieder und wieder, während die
Dunkelheit aufstieg und die Wirklichkeiten meines Herzens klar vor
mir im Dämmerlicht standen. Nein, ich wünschte mir Brianna nicht
hierher. Doch das bedeutete nicht, daß sie mir nicht fehlte.
Irgendwann beendete ich meine Notizen und saß dann
einen Augenblick lang still da. Ich hätte mich an das Abendessen
machen sollen, das wußte ich, doch nach meinem Abenteuer nagte
immer noch die Erschöpfung an mir und raubte mir die Willenskraft,
mich zu bewegen. All meine Muskeln schmerzten, und der Bluterguß an
meinem Knie pochte. Alles, was ich wirklich wollte, war, ins Bett
zurückzukriechen.
Statt dessen ergriff ich den Totenschädel, den ich
neben meinem Krankenbuch auf den Tisch gelegt hatte. Ich glitt
sanft mit dem Finger über das runde Cranium. Es war ein durch und
durch makaberer
Tischschmuck, das mußte ich zugeben, doch ich hing dennoch an ihm.
Ich hatte Knochen immer schon schön gefunden, egal, ob von Mensch
oder Tier: nackte, elegante Überreste des Lebens, das auf seine
Grundlagen reduziert wurde.
Plötzlich erinnerte ich mich an etwas, woran ich
seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte; eine kleine, dunkle
Kammer in Paris, die hinter dem Laden eines Apothekers verborgen
war. Die Wände mit wabenartigen Regalen überzogen, in jedem Fach
ein polierter Schädel. Viele verschiedene Tierarten, von
Spitzmäusen bis hin zu Wölfen, Mäusen und Bären.
Und während meine Hand auf dem Kopf meines
unbekannten Freundes lag, hörte ich Maître Raymonds Stimme so
deutlich in meiner Erinnerung, als stünde er neben mir.
»Zuneigung?« hatte er gesagt, als ich die hohe
Wölbung eines Elchschädels berührte. »Es ist ungewöhnlich, so etwas
für einen Knochen zu empfinden, Madonna.«
Doch er hatte gewußt, was ich meinte. Ich wußte,
daß es so war, denn als ich ihn fragte, wozu er all diese Schädel
hatte, hatte er gelächelt und gesagt: »Sie leisten mir bei meiner
Arbeit Gesellschaft.«
Und ich wußte auch, was er meinte, denn der Herr,
dessen Schädel ich hier hatte, hatte mir ebenfalls Gesellschaft
geleistet, und zwar an einem sehr dunklen und einsamen Ort. Ich
fragte mich nicht zum ersten Mal, ob er vielleicht etwas mit der
Erscheinung zu tun hatte, die ich auf dem Berg gesehen hatte, dem
Indianer mit dem schwarz bemalten Gesicht.
Der Geist - wenn es ein Geist gewesen war - hatte
nicht gelächelt oder gesprochen. Ich hatte seine Zähne nicht
gesehen, den einzigen Anhaltspunkt für einen Vergleich mit dem
Schädel in meiner Hand - denn ich ertappte mich dabei, wie ich mit
dem Daumen über den gezackten Rand seines gesprungenen
Schneidezahns fuhr. Ich hob den Schädel ins Licht und untersuchte
ihn im weichen Licht des Sonnenuntergangs aus der Nähe.
Auf der einen Seite waren seine Zähne zertrümmert,
waren gesprungen und zersplittert, als sei sein Mund mit aller
Gewalt getroffen worden, vielleicht von einem Stein oder einem
Knüppel - einem Gewehrschaft? Auf der anderen Seite waren sie
unversehrt, sogar in sehr gutem Zustand. Ich war keine Expertin,
glaubte aber, daß es der Schädel eines erwachsenen Mannes Ende
Dreißig oder Anfang Vierzig war. Ein Mann in diesem Alter hätte
recht abgenutzte Zähne haben sollen, wenn man in Betracht zog, daß
sich die Indianer von Maismehl ernährten, das aufgrund ihrer Art,
den Mais zwischen flachen
Steinen zu zermalmen eine beträchtliche Menge gemahlenen Steins
enthielt.
Doch die Schneide- und Eckzähne auf der guten Seite
waren kaum abgenutzt. Ich drehte den Schädel um, um den Zustand der
Backenzähne zu begutachten, und hielt jäh inne.
Mir war plötzlich kalt, trotz der Wärme des Feuers
in meinem Rücken. So kalt, wie mir gewesen war, als ich mich in der
Dunkelheit verirrt hatte, ohne Feuer, allein auf dem Berg mit dem
Kopf eines toten Mannes. Denn die Abendsonne ließ jetzt an meinen
Händen das silberne Band meines Eherings aufleuchten - und ebenso
die Silberfüllungen im Mund meines verstorbenen Freundes.
Einen Moment lang saß ich da und starrte vor mich
hin, dann drehte ich den Schädel um und legte ihn so sanft auf den
Tisch, als wäre er aus Glas.
»Mein Gott«, sagte ich, und alle Müdigkeit war
vergessen. »Mein Gott«, sagte ich zu seinen leeren Augen und seinem
schiefen Grinsen. »Wer bist du gewesen?«
»Was meinst du, wer er gewesen sein könnte?« Jamie
berührte den Schädel vorsichtig. Uns blieben nur wenige Momente;
Duncan war zum Abort gegangen, und Ian fütterte die Schweine. Doch
ich konnte es nicht ertragen zu warten - ich hatte es sofort
jemandem sagen müssen.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Außer
natürlich, daß er jemand… wie ich gewesen sein muß.« Ich
erschauerte heftig. Jamie sah mich an und runzelte die Stirn.
»Du hast dich doch nicht erkältet, oder,
Sassenach?«
»Nein.« Ich lächelte schwach zu ihm hoch. »Mich
überläuft es nur kalt.«
Er holte mein Schultertuch vom Haken an der Tür und
warf es in einem Schwung um mich. Dann legte er die Hände auf meine
Schultern, warm und beruhigend.
»Es bedeutet noch etwas, nicht wahr?« fragte er
leise. »Es bedeutet, es gibt noch eine… Stelle. Vielleicht in der
Nähe.«
Noch ein Steinkreis - oder etwas Ähnliches. Ich
hatte auch schon daran gedacht, und der Gedanke ließ mich erneut
erschauern. Jamie sah den Schädel nachdenklich an, zog sich dann
das Taschentuch aus dem Ärmel und drapierte es sanft über die
leeren Augen.
»Ich begrabe ihn nach dem Abendessen«, sagte
er.
»Oh, das Abendessen.« Ich schob mir die Haare
hinter das Ohr und versuchte, meine zerstreuten Gedanken auf das
Abendessen zu
konzentrieren. »Ja, mal sehen, ob ich ein paar Eier finden kann.
Das geht schnell.«
»Mach dir keine Mühe, Sassenach.« Jamie blickte in
den Topf auf dem Herdfeuer. »Wir können das hier essen.«
Diesmal erschauerte ich nur, weil ich wählerisch
war.
»Igitt«, sagte ich. Jamie grinste mich an.
»Du hast doch nichts gegen eine gute Gerstensuppe,
oder?«
»Falls es so etwas überhaupt gibt«, antwortete ich
und blickte angewidert in den Topf. »Das hier riecht eher wie
Braumaische.« Die Suppe war mit feuchten Körnern gekocht worden,
und zwar nicht lange genug, dann hatte man sie stehenlassen; und
nun strömte die kalte, schaumige Suppe bereits den Hefegeruch der
Fermentierung aus.
»Apropos«, sagte ich und stieß den feuchten
Gerstensack mit den Zehen an, »das hier muß zum Trocknen
ausgebreitet werden, bevor es verschimmelt, falls das nicht schon
passiert ist.«
Jamie starrte auf die ekelerregende Suppe, die
Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen.
»Aye?« sagte er dann geistesabwesend. »Oh, aye. Ich
mache das.« Er drehte den Sack oben zu und hob ihn auf seine
Schulter. Auf dem Weg nach draußen blieb er stehen und warf einen
Blick auf den zugedeckten Schädel.
»Du hast gesagt, du glaubst nicht, daß er Christ
war,« sagte er und sah mich neugierig an. »Warum denn,
Sassenach?«
Ich zögerte, doch die Zeit reichte nicht, um ihm
von meinem Traum zu erzählen - wenn es ein Traum gewesen war. Ich
konnte hören, wie Duncan und Ian plaudernd auf das Haus
zukamen.
»Ohne besonderen Grund«, sagte ich
achselzuckend.
»Aye, gut«, sagte er. »Dann behaupten wir es
einfach.«