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Das zersplitterte Lächeln
»Zwei Speere ist uns wohlgesonnen. Die
Angelegenheit muß vor den Rat gebracht und dort genehmigt werden,
aber ich glaube, das wird sie auch.« Jamie ließ sich gegen eine
Kiefer fallen und sackte vor Erschöpfung ein wenig zusammen. Wir
waren eine Woche im Dorf gewesen; er hatte die letzten drei Tage
fast vollständig mit dem Sachem des Dorfes verbracht. Ich
hatte ihn oder Ian kaum zu Gesicht bekommen, war aber von den
Frauen gastlich aufgenommen worden, die höflich waren, aber auf
Distanz blieben. Ich hielt mein Amulett sorgfältig außer
Reichweite.
»Dann haben sie ihn also?« fragte ich und spürte,
wie sich der Knoten der Angst zu lösen begann, den ich so lange mit
mir herumgetragen hatte. »Roger ist wirklich hier?« Bis jetzt waren
die Mohawk nicht bereit gewesen, sich dazu zu äußern, ob Roger noch
unter den Lebenden war - oder zur Alternative.
»Aye, tja, was das angeht, der alte Schurke gibt es
nicht zu - weil er Angst hat, ich könnte versuchen, ihn zu stehlen,
schätze ich -, aber entweder ist er hier, oder er ist nicht weit
weg. Wenn der Rat dem Handel zustimmt, dann tauschen wir ihn in
drei Tagen gegen den Whisky ein - und dann nichts wie weg.« Er
blickte auf die schwerbeladenen Wolken, die die fernen Berge
verhüllten. »Gott, ich hoffe, was da kommt, ist Regen und kein
Schnee.«
»Meinst du, es könnte sein, daß der Rat nicht
zustimmt?«
Er seufzte tief und fuhr sich mit der Hand durch
das Haar. Es war nicht zusammengebunden und fiel ihm wirr über die
Schultern; offensichtlich waren die Verhandlungen schwierig
gewesen.
»Aye, könnte sein. Sie hätten den Whisky gern, aber
sie fürchten sich auch davor. Einige der älteren Männer werden
gegen den Tausch sein, weil sie Angst haben vor dem Schaden, den
der Alkohol bei einigen der Leute anrichten könnte; die jüngeren
sind Feuer und Flamme. Ein paar Gemäßigte sagen, aye, nehmt ihn;
sie können den Alkohol zum Tauschhandel benutzen, wenn sie sich
davor fürchten, ihn zu trinken.«
»Das hat dir alles Wakatihsnore erzählt?« Ich war
überrascht. Der Sachem, Handelt Rasch, schien mir ein viel
zu besonnener und gerissener Patron für solche Offenheit zu
sein.
»Nicht er: unser Ian.« Jamie lächelte kurz. »Der
Junge zeigt vielversprechende Ansätze als Spion, das muß ich sagen.
Er hat an jeder Feuerstelle im Dorf gesessen, und er hat ein
Mädchen gefunden, das ihn sehr mag. Sie erzählt Ian, was der Rat
der Mütter denkt.«
Ich zog die Schultern hoch und wickelte mich fest
in meinen Umhang; unser Aussichtspunkt auf den Felsen außerhalb des
Dorfes bewahrte uns zwar vor Unterbrechungen, doch als Preis für
die ungehinderte Sicht waren wir dem bitteren Wind
ausgesetzt.
»Und was sagt der Rat der Mütter?« Eine Woche in
einem Langhaus hatte mir einen Eindruck davon vermittelt, wie
wichtig die Meinung der Frauen in der Gesellschaftsordnung des
Dorfes war; obwohl sie keine direkten Entscheidungen trafen,
geschah kaum etwas ohne ihre Zustimmung.
»Sie wünschten, ich würde ihnen ein anderes
Lösegeld als Whisky anbieten, und sie sind sich nicht ganz sicher,
ob sie den Mann hergeben sollen; mehr als nur eine der Damen hat
ein wenig ihr Auge auf ihn geworfen. Sie hätten nichts dagegen, ihn
in den Stamm aufzunehmen.« Jamies Mund verzog sich bei diesen
Worten, und ich lachte trotz meiner Besorgnis.
»Roger sieht nicht übel aus«, sagte ich.
»Ich hab’ ihn gesehen«, sagte Jamie kurz. »Die
meisten der Männer finden, er ist ein häßlicher, haariger Kerl.
Natürlich denken sie dasselbe auch über mich.« Sein Mundwinkel hob
sich widerstrebend, als er sich mit der Hand über das Kinn strich;
da er die Abneigung der Indianer gegenüber jeder Form von
Gesichtsbehaarung kannte, achtete er darauf, sich jeden Morgen zu
rasieren.
»Das könnte in diesem Fall aber entscheidend
sein.«
»Was, Rogers Aussehen? Oder deins?«
»Die Tatsache, daß mehr als eine der Damen den Kerl
will. Ian sagt, sein Mädchen sagt, ihre Tante glaubt, daß es Ärger
bringen wird, ihn zu behalten; sie hält es für besser, ihn uns
zurückzugeben, als daß es seinetwegen Spannungen unter den Frauen
gibt.«
Ich rieb mir meine von der Kälte geröteten Knöchel
über die Lippen und versuchte, nicht loszulachen.
»Weiß der Rat der Männer, daß einige der Frauen an
Roger interessiert sind?«
»Weiß nicht. Warum?«
»Weil, wenn sie es wüßten, würden sie dir Roger
umsonst geben.«
Jamie schnaubte darüber, zog aber eine Augenbraue
hoch.
»Aye, vielleicht. Ich werd’ Ian sagen, er soll es
bei den jungen Männern erwähnen. Es kann nicht schaden.«
»Du hast gesagt, die Frauen wünschten, du würdest
ihnen etwas anderes als Whisky anbieten. Hast du Handelt Rasch
gegenüber den Opal erwähnt?«
Jetzt setzte er sich gerade hin,
interessiert.
»Aye, das habe ich. Sie hätten nicht erschrockener
sein können, wenn ich eine Schlange aus meinem Sporran gezogen
hätte. Sie wurden sehr aufgeregt - wütend und angstvoll, und ich
halte es für möglich, daß sie mir etwas angetan hätten, wenn ich
nicht bereits den Whisky erwähnt gehabt hätte.«
Er griff in die Brusttasche seines Rockes, zog den
Opal heraus und ließ ihn in meine Hand fallen.
»Am besten nimmst du ihn, Sassenach. Aber ich
denke, du solltest ihn niemandem zeigen.«
»Wie merkwürdig.« Ich sah auf den Stein herunter,
dessen spiralförmiger Petroglyph farbig schimmerte. »Also hatte er
eine Bedeutung für sie.«
»Oh ja«, versicherte er mir. »Ich könnte nicht
sagen, welche, aber was auch immer es gewesen ist, sie waren nicht
besonders glücklich darüber. Der Kriegshäuptling wollte wissen, wo
ich ihn herhatte, und ich habe ihnen gesagt, du hättest ihn
gefunden. Daraufhin haben sie sich etwas zurückgenommen, aber sie
waren wie ein Kessel kurz vor dem Überkochen.«
»Warum willst du, daß ich ihn nehme?« Der Stein war
warm von seinem Körper und fühlte sich in meiner Hand glatt und
angenehm an. Mein Daumen fuhr automatisch wieder und wieder an der
spiralförmigen Gravur entlang.
»Wie gesagt, sie sind erschrocken, als sie ihn
gesehen haben - und dann wurden sie wütend. Ein oder zwei sahen
aus, als wollten sie auf mich einschlagen, aber sie haben sich
zurückgehalten. Ich habe sie eine Zeitlang beobachtet, den Stein in
der Hand, und dabei ist mir klar geworden, daß sie Angst davor
hatten; daß sie mich nicht anrühren würden, solange ich ihn
hatte.«
Er streckte die Hand aus und schloß meine Faust um
den Stein.
»Halt ihn bei dir. Sollte sich eine Gefahr ergeben,
hol ihn hervor.«
»Es ist doch viel wahrscheinlicher, daß du in
Gefahr gerätst«, protestierte ich und versuchte, ihm den Stein
zurückzugeben.
Doch er schüttelte den Kopf, und seine Haarspitzen
hoben sich im Wind.
»Nein, nicht mehr jetzt, wo sie von dem Whisky
wissen. Sie würden mir niemals etwas antun, solange sie nicht
gehört haben, wo er ist.«
»Aber warum sollte mir Gefahr drohen?« Diese
Vorstellung war beunruhigend; die Frauen waren zurückhaltend, aber
nicht feindselig gewesen, und die Männer des Dorfes hatten mich
mehr oder weniger ignoriert.
Er runzelte die Stirn und sah zum Dorf herunter.
Von hier aus war kaum etwas zu sehen außer den äußeren Palisaden
und den Rauchsäulen aus den unsichtbaren Langhäusern, die über
ihnen aufschwebten.
»Ich kann es nicht sagen, Sassenach. Nur, daß ich
schon lange Jäger bin - und schon gejagt worden bin. Du weißt, wie
die Vögel aufhören zu singen und Stille im Wald herrscht, wenn
etwas Ungewohntes in der Nähe ist?«
Er nickte zum Dorf hinüber, den Blick gebannt auf
den Rauchwirbel gerichtet, als könnte eine Gestalt daraus
hervorkommen.
»Hier herrscht eine solche Stille. Es geht etwas
vor, das ich nicht sehen kann. Ich glaube nicht, daß es etwas mit
uns zu tun hat - und doch… ist mir unwohl«, schloß er abrupt. »Und
ich lebe schon zu lange, um ein solches Gefühl einfach so
abzutun.«
Ian, der nach kurzer Zeit am Treffpunkt zu uns
stieß, schloß sich dieser Meinung an.
»Aye, es ist, als ob man den Rand eines
Fischernetzes festhält, das unter Wasser ist«, sagte er
stirnrunzelnd. »Man kann das Gezappel in den Fingern spüren, und
man weiß, daß da Fische sind - aber man kann nicht sehen, wo.« Der
Wind zerzauste sein dichtes, braunes Haar; wie üblich war es halb
geflochten und einzelne Strähnen lösten sich. Er strich sich eine
davon geistesabwesend hinter sein Ohr.
»Irgend etwas geht bei den Leuten vor sich;
irgendeine Zwistigkeit, glaube ich. Und irgend etwas ist
letzte Nacht im Haus des Rates passiert. Emily weigert sich, mir zu
antworten, wenn ich sie danach frage; sie wendet nur den Blick ab
und sagt, daß es nichts mit uns zu tun hat. Ich glaube aber schon,
irgendwie.«
»Emily?« Jamie zog eine Augenbraue hoch, und Ian
grinste.
»So nenne ich sie kurz«, sagte er. »Eigentlich
heißt sie Wakyo’tey-ehsnonhsa; das heißt
Die-mit-den-Händen-arbeitet. Sie kann ausgezeichnet schnitzen,
unsere Emily. Wollt ihr sehen, was sie für mich gemacht hat?« Er
griff in seinen Beutel und brachte stolz einen winzigen Otter zum
Vorschein, der aus weißem Speckstein geschnitten war.
Das Tier stand hellwach da, den Kopf erhoben und zu jedem Streich
bereit; ich mußte einfach lächeln, als ich es ansah.
»Sehr hübsch.« Jamie begutachtete die Schnitzerei
anerkennend und strich über den geschwungenen Körper. »Das Mädchen
scheint dich zu mögen, Ian.«
»Aye, tja, ich mag sie auch, Onkel Jamie.« Ian
klang ganz beiläufig, doch seine mageren Wangen waren etwas röter,
als man es dem kalten Wind zuschreiben konnte. Er hustete und
lenkte leicht vom Thema ab.
»Sie hat zu mir gesagt, sie glaubt, daß es den Rat
zu unseren Gunsten beeinflussen könnte, wenn du einige von ihnen
den Whisky kosten lassen würdest, Onkel Jamie. Wenn du nichts
dagegen hast, hole ich ein Faß, und heute abend gibt es ein kleines
Ceilidh. Emily sorgt für alles Nötige.«
Jetzt zog Jamie beide Augenbrauen hoch, nickte aber
einen Augenblick später.
»Ich vertraue auf dein Urteilsvermögen, Ian«, sagte
er. »Im Haus des Rates?«
Ian schüttelte den Kopf.
»Nein. Emily sagt, es ist besser, wenn wir es im
Langhaus ihrer Tante machen - die alte Tewaktenyonh ist die Schöne
Frau.«
»Ist was?« fragte ich aufgeschreckt.
»Die Schöne Frau«, erklärte er und wischte sich die
laufende Nase an seinem Ärmel ab. »Eine einflußreiche Frau im Dorf
hat die Macht zu entscheiden, was mit Gefangenen geschehen soll;
sie nennen sie die Schöne Frau, egal, wie sie aussieht. Du
verstehst also, es ist zu unserem Vorteil, wenn wir Tewaktenyonh zu
der Überzeugung bringen können, daß der Tausch, den wir anbieten,
ein guter ist.«
»Ich schätze, einem freigelassenen Gefangenen kommt
die Frau in jedem Fall schön vor«, sagte Jamie spöttisch. »Aye, ich
verstehe. Mach nur; kannst du den Whisky allein holen?«
Ian nickte und wandte sich zum Gehen.
»Einen Moment, Ian«, sagte ich und zeigte ihm den
Opal, als er sich zu mir zurückdrehte. »Könntest du Emily fragen,
ob sie irgendwas über dies hier weiß?«
»Aye, Tante Claire, ich werd’s erwähnen. Rollo!« Er
pfiff scharf durch die Zähne, und Rollo, der argwöhnisch unter
einem Felsvorsprung herumgeschnüffelt hatte, ließ davon ab und
sprang seinem Herrn hinterher. Jamie sah zu, wie sie gingen, ein
leichtes Stirnrunzeln zwischen den Augenbrauen.
»Weißt du, wo Ian seine Nächte verbringt,
Sassenach?«
»Wenn du meinst, in welchem Langhaus, ja. Wenn du
meinst, in wessen Bett, nein. Ich könnte es mir aber denken.«
»Mmpfm.« Er streckte sich und schüttelte sein Haar
zurück. »Komm, Sassenach, ich bringe dich ins Dorf zurück.«
Ians Ceilidh begann kurz nach Einbruch der
Dunkelheit; unter den geladenen Gästen waren die prominentesten
Mitglieder des Rates, die einzeln in Tewaktenyonhs Langhaus kamen
und dem Sachem, Zwei Speere, ihren Respekt erwiesen, der von
Jamie und Ian flankiert an der Hauptfeuerstelle saß. Ein schmales,
hübsches Mädchen, von dem ich annahm, daß es Ians Emily sein mußte,
saß still hinter ihm auf dem Whiskyfaß.
Außer Emily nahm keine Frau an der Whiskyprobe
teil. Ich war allerdings mitgekommen, um zuzusehen, und saß an
einer der kleineren Feuerstellen und hatte ein Auge auf die
Vorgänge, während ich zweien der Frauen half, Zwiebelzöpfe zu
flechten, und in einer stockenden Mischung aus Tuscarora, Englisch
und Französisch gelegentliche Höflichkeiten mit ihnen
austauschte.
Die Frau, an deren Feuerstelle ich saß, bot mir
einen Kürbisbecher mit Sprossenbier und eine Art Maismehlbrei als
Erfrischung an. Ich tat mein Bestes, es freundlich
entgegenzunehmen, doch mein Magen war so verkrampft, daß ich nur
anstandshalber den Versuch machte zu essen.
Zu viel hing von dieser spontanen Feierlichkeit ab.
Roger war hier; irgendwo im Dorf, das wußte ich. Er lebte; ich
konnte nur hoffen, daß es ihm gut ging - zumindest gut genug zum
Reisen. Ich blickte zum anderen Ende des Lagerhauses, zur größten
Feuerstelle. Ich konnte nicht mehr von Tewaktenyonh sehen als die
Rundung ihres weiß gesträhnten Kopfes; ein seltsamer Stoß durchfuhr
mich bei dem Anblick, und ich berührte Nayawennes Amulett, das als
kleine Verdickung unter meinem Hemd hing.
Sobald die Gäste versammelt waren, wurde ein grober
Kreis um die Feuerstelle herum gebildet und das geöffnete Whiskyfaß
in dessen Mitte gestellt. Zu meiner Überraschung kam auch das
Mädchen in den Kreis und nahm neben dem Faß Platz, einen
Schöpfbecher in der Hand.
Nach ein paar Worten von Zwei Speere nahmen die
Festivitäten ihren Lauf, wobei das Mädchen die Whiskyportionen
abmaß. Dies tat sie nicht etwa, indem sie den Whisky in die Becher
goß, sondern indem sie ihn schluckweise aus dem Kürbisbecher in den
Mund nahm und sorgfältig drei Schlucke in jeden Becher spuckte,
bevor sie ihn
einem der Männer aus dem Kreis gab. Ich blickte zu Jamie, der
zunächst ein verblüfftes Gesicht machte, seinen Becher aber höflich
entgegennahm und ohne Zögern trank.
Ich fragte mich, wieviel Whisky das Mädchen wohl
durch ihre Mundschleimhaut absorbierte. Nicht annähernd so viel wie
die Männer, wobei ich glaubte, daß es einer Menge bedurfte, um Zwei
Speere aufzuheitern, der ein verschwiegener alter Schurke war und
dessen Gesicht wie eine mißmutige Pflaume aussah. Doch bevor die
Feier richtig in Gang gekommen war, wurde ich durch die Ankunft
eines kleinen Jungen abgelenkt, Sprößling einer meiner
Begleiterinnen. Er kam schweigend herein, setzte sich neben seine
Mutter und lehnte sich schwer an sie. Sie sah ihn scharf an, legte
dann ihre Zwiebeln hin und erhob sich mit einem Ausruf der
Besorgnis.
Der Schein des Feuers fiel auf den Jungen, und ich
konnte sofort sehen, daß er auf merkwürdig zusammengekauerte Weise
dasaß. Ich erhob mich hastig auf die Knie und schob den Zwiebelkorb
beiseite. Ich beugte mich vor, ergriff seinen andern Arm und drehte
ihn zu mir hin. Seine linke Schulter war leicht ausgerenkt; er
schwitzte, die Lippen vor Schmerzen fest zusammengepreßt.
Ich wandte mich gestikulierend an seine Mutter, die
zögerte und mich stirnrunzelnd ansah. Der Junge machte ein leises
Wimmergeräusch, und sie zog ihn fort und hielt ihn fest. Einer
plötzlichen Eingabe folgend zog ich Nayawennes Amulett aus meinem
Hemd; sie würde nicht wissen, wem es gehörte, würde aber vielleicht
erkennen, was es war. So war es dann auch; ihre Augen weiteten sich
beim Anblick des kleinen Lederbeutels.
Der Junge gab keinen Ton mehr von sich, doch ich
konnte im Feuerschein sehen, wie ihm der klare Schweiß über die
unbehaarte Brust lief. Ich nestelte an dem Band herum, das den
Beutel verschlossen hielt, und grub im Inneren nach dem groben,
blauen Stein. Pierre sans peur, hatte Gabrielle ihn genannt.
Der furchtlose Stein. Ich ergriff die gesunde Hand des Jungen,
drückte ihm den Stein fest in die Handfläche und schloß seine
Finger darum.
»Je suis une sorcière«, sagte ich leise.
»C’est médecine, là.« Vertrau mir, dachte ich. Hab’ keine
Angst. Ich lächelte ihn an.
Der Junge starrte mich mit runden Augen an; die
beiden Frauen am Feuer wechselten Blicke und sahen dann wie eine
Person zu der weiter entfernten Feuerstelle hinüber, an der die
alte Frau saß.
Beim Ceilidh wurde geredet; jemand erzählte
eine alte Geschichte - ich erkannte das Auf und Ab der formellen
Rhythmen. Ich hatte schon öfter gehört, wie Highlander auf ähnliche
Weise ihre Geschichten
und Legenden auf Gälisch erzählten; es hörte sich fast genauso
an.
Die Mutter nickte; ihre Schwester schritt schnell
der Länge nach durch das Haus. Ich drehte mich nicht um, hörte
aber, wie hinter mir das Interesse erwachte, als sie an den anderen
Feuerstellen vorbeikam; Köpfe wandten sich und sahen zu uns
herüber. Ich hielt meinen Blick auf das Gesicht des Jungen
gerichtet, lächelte und hielt seine Hand fest in der meinen.
Die Schritte der Schwester traten leise hinter
mich. Die Mutter des Jungen ließ ihn zögernd los und überließ ihn
mir. Die Erlaubnis war erteilt.
Es war ein leichtes, das Gelenk wieder einzurenken;
er war ein kleiner Junge, die Verletzung unwesentlich. Seine
Knochen waren leicht unter meiner Hand. Ich lächelte ihn an,
während ich das Gelenk abtastete und den Schaden einschätzte. Dann
schnell den Arm gedreht, mit dem Ellbogen gekreist, den Arm
hochgeschwungen - und es war geschehen.
Der Junge sah zutiefst überrascht aus. Es war eine
höchst zufriedenstellende Operation, da der Schmerz fast
augenblicklich nachließ. Er befühlte seine Schulter und lächelte
dann schüchtern zurück. Ganz langsam öffnete er die Hand und hielt
mir den Stein hin.
Die kleine Sensation, die ich damit hervorgerufen
hatte, nahm meine Aufmerksamkeit eine Zeitlang in Anspruch, während
die Frauen näherrückten, den Jungen berührten und inspizierten und
ihre Freundinnen herbeizitierten, damit sie einen Blick auf den
matten Saphir warfen. Als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das
Whiskygelage an der entfernteren Feuerstelle lenken konnte, waren
die Festivitäten schon fortgeschritten. Ian sang auf Gälisch,
ziemlich schräg und aufs Geratewohl von einem oder zwei der anderen
Männer begleitet, die mit dem verrückten, schrillen Haihai!
einfielen, das ich dann und wann auch bei Nayawennes Leuten gehört
hatte.
Als hätte mein Gedanke sie heraufbeschworen, spürte
ich einen Blick in meinem Rücken, und als ich mich umdrehte, sah
ich, wie mich Tewaktenyonh beständig von ihrer eigenen Feuerstelle
am Ende des Langhauses beobachtete. Ich erwiderte ihren Blick und
nickte ihr zu. Sie beugte sich zur Seite, um etwas zu einer der
jungen Frauen an der Feuerstelle zu sagen, die sich daraufhin erhob
und auf mich zukam, wobei sie vorsichtig ein paar Kleinkindern
auswich, die unter dem Schlafverschlag ihrer Familie
spielten.
»Meine Großmutter fragt, ob Ihr zu ihr kommt.« Die
junge Frau hockte sich neben mich und sprach ruhig auf Englisch.
Ich war überrascht,
wenn auch nicht erstaunt, es zu hören. Onakara hatte recht gehabt,
einige der Mohawk konnten etwas Englisch. Sie benutzten es
allerdings nur, wenn es unumgänglich war, und bevorzugten sonst
ihre eigene Sprache.
Ich erhob mich und begleitete sie zu Tewaktenyonhs
Feuerstelle und fragte mich, was wohl hinter der Einladung der
Schönen Frau stecken mochte. Ich hatte meine eigenen Beweggründe;
den Gedanken an Roger und an Brianna.
Die alte Frau lud mich mit einem Kopfnicken ein,
mich zu setzen, und redete mit dem Mädchen, ohne den Blick von mir
abzuwenden.
»Meine Großmutter fragt, ob sie Eure Medizin sehen
darf.«
»Natürlich.« Ich konnte den Blick der alten Frau
auf meinem Amulett sehen. Neugierig sah sie zu, wie ich den Saphir
herausholte. Ich selbst hatte Nayawennes Spechtfeder noch zwei
weitere Federn hinzugefügt, die steifen, schwarzen Flügelfedern
eines Raben.
»Ihr seid die Frau von Bärentöter?«
»Ja. Die Tuscarora nennen mich Weißer Rabe«, sagte
ich, und das Mädchen fuhr erschrocken zusammen. Sie übersetzte es
schnell für ihre Großmutter. Die Alte riß die Augen weit auf, und
sie sah mich konsterniert an. Offenbar war dies nicht der
vielversprechendste Name. Ich lächelte sie an, wobei ich den Mund
geschlossen hielt; die Indianer entblößten normalerweise ihre Zähne
nur beim Lachen.
Die Alte gab mir den Stein zurück. Sie studierte
mich genau und sprach dann mit ihrer Enkeltochter, ohne mich aus
den Augen zu lassen.
»Meine Großmutter hat gehört, daß auch Euer Mann
einen Glitzerstein bei sich trägt«, dolmetschte das Mädchen.»Sie
würde gern mehr darüber hören; was es für einer ist und wie Ihr
daran gekommen seid.«
»Sie kann ihn sich gern ansehen.« Die Augen des
Mädchens weiteten sich vor Überraschung, als ich in den Beutel an
meiner Taille griff und den Stein hervorzog. Ich hielt der alten
Frau den Stein hin; sie beugte sich vor und sah ihn sich genau an,
machte aber keinerlei Anstalten, ihn mir abzunehmen.
Tewaktenyonhs Arme waren braun und unbehaart und
hatten das Aussehen von glattem, von Falten durchzogenem Satinholz.
Doch als ich jetzt hinsah, sah ich, wie sie von einer Gänsehaut
überzogen wurden, als sich Haare, die es nicht mehr gab, in
vergeblicher Abwehr sträubten. Sie hat ihn schon einmal
gesehen, dachte ich. Oder sie weiß zumindest, was er
bedeutet.
Ich hatte die Worte der Dolmetscherin nicht nötig;
ihr Blick traf
den meinen direkt und ich hörte die Frage deutlich, auch wenn die
Worte noch so fremd waren.
»Wie ist dies zu Euch gelangt?« sagte sie, und das
Mädchen wiederholte es wörtlich.
Ich ließ die Hand offen liegen; der Opal schmiegte
sich eng in meine Handfläche; seine Farben straften sein Gewicht
Lügen, denn sie schillerten wie eine Seifenblase in meiner
Hand.
»Er ist in einem Traum gekommen«, sagte ich
schließlich, denn ich wußte nicht, wie ich es sonst erklären
sollte.
Die alte Frau atmete in einem Seufzer aus. Die
Furcht verschwand nicht ganz aus ihren Augen, wurde aber von etwas
anderem überlagert - Neugier vielleicht? Sie sagte etwas, und eine
der Frauen erhob sich von der Feuerstelle und kramte in einem Korb
herum. Sie kam zurück, bückte sich neben der Alten und reichte ihr
etwas.
Die Alte begann zu singen, leise, mit einer vom
Alter gebrochenen Stimme, die dennoch immer noch kraftvoll war. Sie
rieb die Hände über dem Feuer aneinander, und ein Schauer kleiner,
brauner Partikel regnete auf das Feuer herab, um sogleich als Rauch
wieder aufzusteigen, schwer vom Tabakduft.
Es war eine ruhige Nacht; von der Feuerstelle, wo
die Männer tranken, konnte ich das Auf und Ab von Stimmen und
lautem Gelächter hören. Ab und zu konnte ich ein Wort in Jamies
Stimme ausmachen - er sprach Französisch. War Roger vielleicht so
nah, daß er es auch hören konnte?
Ich holte tief Luft. Der Rauch stieg in einer
dünnen, weißen Säule senkrecht vom Feuer auf, und der starke, süße
Tabakduft vermischte sich mit dem Geruch der kalten Luft. Ich
erinnerte mich plötzlich an Briannas Highschool-Fußballspiele; an
anheimelnde Gerüche nach Wolldecken und Thermoskannen voll Kakao,
Zigarettenrauchwölkchen, die aus der Menge hochschwebten. Weiter
zurück lagen andere, schroffere Erinnerungen, an junge Männer in
Uniform, die im gebrochenen Licht der Landeplätze ihre Glimmstengel
ausdrückten und ihrer Schlacht entgegenrannten, und der Rauchgeruch
in der Winterluft war das einzige, was von ihnen übrigblieb.
Tewaktenyonh sprach, den Blick immer noch auf mich
gerichtet, und die leise Stimme des Mädchens fiel ein.
»Erzählt mir diesen Traum.«
War es wirklich ein Traum, den ich ihr erzählen
würde, oder eine Erinnerung wie diese, herbeigetragen auf den
rauchenden Flügeln eines brennenden Baumes? Es spielte keine Rolle;
hier waren all meine Erinnerungen Träume.
Ich erzählte es ihr, soweit ich konnte. Die
Erinnerung - an den Sturm und meinen Unterschlupf unter den Wurzeln
des Lebensbaumes, den Schädel, der zusammen mit dem Stein vergraben
war - und den Traum; das Licht auf dem Berg und den Mann mit dem
schwarz bemalten Gesicht - und ich verschmolz beides ohne
Unterschiede.
Die Alte beugte sich vor, und das Erstaunen in
ihren Gesichtszügen war ein Spiegelbild des Erstaunens ihrer
Enkeltochter.
»Ihr habt den Feuerträger gesehen?« platzte das
Mädchen heraus. »Ihr habt sein Gesicht gesehen?« Sie wich
vor mir zurück, als könnte ich ihr gefährlich werden.
Die Alte ergriff gebieterisch das Wort; ihr
Erschrecken war einem durchdringenden Blick des Interesses
gewichen. Sie stieß das Mädchen an und wiederholte ungeduldig ihre
Frage.
»Meine Großmutter fragt, könnt Ihr sagen, wie er
ausgesehen hat; was er anhatte?«
»Nichts. Einen Lendenschurz, meine ich. Und er war
angemalt.«
»Angemalt? Wie?« fragte das Mädchen auf die scharfe
Frage ihrer Großmutter hin.
So sorgfältig, wie ich konnte, beschrieb ich die
Körperbemalung des Mannes, den ich gesehen hatte. Das war nicht
schwierig; wenn ich die Augen schloß, konnte ich ihn noch genauso
deutlich sehen, wie er mir auf dem Berghang erschienen war.
»Und sein Gesicht war schwarz von der Stirn bis zum
Kinn«, schloß ich und öffnete die Augen.
Die Dolmetscherin wurde sichtlich nervös, während
ich den Mann beschrieb; ihre Lippen zitterten, und sie blickte
angstvoll von mir zu ihrer Großmutter. Doch die alte Frau hörte
aufmerksam zu, mit suchendem Blick, denn sie versuchte, den Sinn in
meinem Gesicht abzulesen, bevor die Worte verzögert ihre Ohren
erreichen konnten.
Als ich fertig war, blieb sie still sitzen, den
dunklen Blick in meine Augen versenkt. Schließlich nickte sie, hob
ihre faltige Hand und berührte die Wampumstränge, die ihr über die
Schulter hingen. Myers hatte mir davon erzählt, so daß ich die
Geste erkannte. Das Wampum war ihre Familiengeschichte, ihr
Amtszeichen; wenn sie es beim Sprechen festhielt, dann war das wie
ein Zeugnis, das auf die Bibel abgelegt wurde.
»Am Grünen Maisfest vor so vielen Jahren« - die
Dolmetscherin zeigte mir viermal alle zehn Finger - »kam ein Mann
aus dem Norden zu uns. Seine Sprache war seltsam, aber wir konnten
ihn verstehen, er sprach wie ein Canienga oder vielleicht Onondaga,
wollte uns aber seinen Stamm oder sein Dorf nicht nennen - nur
seinen Clan,
den der Schildkröte. Er war ein wilder Mann, aber auch ein
tapferer. Er war ein guter Jäger und ein Krieger. Oh, ein schöner
Mann; alle Frauen haben ihn gern angesehen, aber wir hatten Angst,
ihm zu nahe zu kommen.« Tewaktenyonh hielt einen Augenblick inne,
und der entfernte Blick in ihrem Gesicht ließ mich zurückrechnen;
sie mußte damals eine erwachsene Frau gewesen sein, aber immer noch
jung genug, um sich von dem furchterregenden, faszinierenden
Fremden beeindrucken zu lassen.
»Die Männer waren nicht so vorsichtig; Männer sind
nicht so.« Sie warf einen kurzen, sardonischen Blick auf das
Ceilidh, das von Minute zu Minute lauter wurde. »Also
setzten sie sich mit ihm zusammen und rauchten mit ihm, tranken
Sprossenbier und hörten ihm zu. Er redete vom Mittag bis zur
Dämmerung und weiter in der Nacht am Feuer. Sein Gesicht war immer
wild, weil er vom Krieg sprach.«
Sie seufzte, und ihre Finger schlossen sich um die
purpurfarbenen Muschelstränge.
»Immer Krieg. Nicht gegen die Froschesser aus dem
Nachbardorf oder die, die Elchdung essen. Nein, wir sollten unsere
Tomahawks gegen die O’seronni erheben. Bringt sie alle um,
sagte er, von den Ältesten bis zu den Jüngsten, von der
Vertragsgrenze bis zum großen Wasser. Geht zu den Cayuga, schickt
Boten zu den Seneca, laßt den Irokesenbund vereint ausziehen. Geht,
bevor es zu spät ist, sagte er.«
Eine ihrer zerbrechlichen Schultern hob und senkte
sich.
»›Zu spät wozu?‹, fragten die Männer. ›Und warum
sollen wir ohne Grund einen Krieg beginnen? Wir brauchen nichts in
diesem Jahr; wir haben keinen Vertrag‹ - dies war vor der Zeit der
Franzosen, versteht Ihr? ›Es ist eure letzte Chance‹, sagte er zu
ihnen. ›Vielleicht ist es schon zu spät. Sie verführen uns mit
ihrem Metall, locken uns mit der Hoffnung auf Messer und Gewehre in
ihre Nähe und zerstören uns im Tausch für ein paar Kochtöpfe. Kehrt
um, Brüder! Ihr habt Bräuche aufgegeben, die so alt sind, daß man
die Jahre nicht zählen kann. Kehrt um, sage ich - oder es wird euer
Ende sein. Eure Geschichten werden in Vergessenheit geraten. Tötet
sie jetzt, oder sie werden euch fressen.‹
Und mein Bruder - er war damals Sachem, und
mein anderer Bruder war der Häuptling - sagte, das sei dummes Zeug.
Uns mit Werkzeugen zerstören? Uns fressen? Die Weißen verspeisen
nicht einmal in der Schlacht die Herzen ihrer Feinde.
Die jungen Männer hörten ihm zu; sie hören auf
jeden, der eine laute Stimme hat. Aber die Alten sahen den Fremden
skeptisch an und sagten nichts.
Er wußte es«, sagte sie, und die Alte nickte
zustimmend. Sie sprach beinahe schneller, als ihre Enkeltochter
übersetzen konnte. »Er wußte, was geschehen würde - daß die Briten
und die Franzosen einander bekriegen würden und uns um unsere Hilfe
ersuchen würden, jeder gegen den anderen. Er sagte, das würde der
Zeitpunkt sein; wenn sie einander bekämpften, dann müßten wir uns
gegen sie beide erheben und sie auslöschen.
Tawineonawira - Otterzahn - das war sein Name -
sagte zu mir: ›Ihr lebt für den Augenblick. Ihr kennt die
Vergangenheit, doch ihr seht nicht in die Zukunft. Eure Männer
sagen, wir brauchen nichts in diesem Jahr, also rühren sie sich
nicht. Eure Frauen finden es leichter, in einem Eisenkessel zu
kochen als Tontöpfe herzustellen. Ihr seht nicht, was wegen eurer
Faulheit, eurer Gier geschehen wird.‹
›Das ist nicht wahr‹, sagte ich zu ihm. ›Wir sind
nicht faul. Wir gerben Felle, wir trocknen Fleisch und Mais, wir
pressen das Öl aus den Sonnenblumen und füllen es in Gefäße; wir
sorgen für das kommende Jahr - immer. Wenn wir es nicht täten,
würden wir sterben. Und was haben Töpfe und Kessel damit zu
tun?‹
Da lachte er, aber sein Blick war traurig. Wenn er
mit mir zusammen war, war er nicht immer wild, versteht Ihr.« Bei
diesen Worten glitt der Blick der jungen Frau zu ihrer Großmutter
hinüber, dann wandte sie ihn ab und hielt ihn wieder auf ihren
Schoß gerichtet.
»›Frauensorgen‹, sagte er und schüttelte den Kopf.
›Ihr denkt darüber nach, was ihr essen, was ihr anziehen sollt. Das
spielt alles keine Rolle. Männer können darüber nicht
nachdenken.‹
›Du kannst ein Hodeenosaunee sein und so
denken?‹ sagte ich. ›Woher kommst du, daß es dir egal ist, was die
Frauen denken?‹
Er schüttelte wieder den Kopf und sagte: ›Euer
Blick reicht nicht weit genug.‹ Ich fragte ihn, wie weit er
denn sehen konnte, aber er wollte nicht antworten.«
Ich kannte die Antwort darauf, und trotz des Feuers
überzog sich meine Haut ebenfalls mit einer Gänsehaut. Ich wußte
viel zu gut, wie weit er gesehen hatte - und wie gefährlich der
Blick von dieser Klippe war.
»Aber nichts von dem, was ich sagte, hat etwas
genutzt«, fuhr die Alte fort, »und die Worte meiner Brüder
ebenfalls nicht. Otterzahn wurde noch wütender. Eines Tages kam er
heraus und tanzte den Kriegstanz. Er war bemalt - seine Arme und
Beine waren rot gestreift -, und er sang und brüllte durch das
Dorf. Alle kamen heraus, um ihm zuzusehen, zu sehen, wer sich ihm
anschließen würde, und als er seinen Tomahawk in den Kriegsbaum
gerammt und gerufen
hatte, er würde bei den Shawnee Pferde stehlen und plündern gehen,
folgte ihm eine Anzahl der jungen Männer.
Sie blieben die Dauer eines Mondlaufes fort und
kamen mit Pferden und mit Skalps zurück. Weißen Skalps, und meine
Brüder wurden wütend. Es würde Soldaten aus dem Fort zu uns führen,
sagten sie - oder Rachefeldzüge von den Siedlungen an der
Vertragsgrenze, wo sie die Skalps erbeutet hatten.
Otterzahn antwortete geradeheraus, er hoffte, daß
dies geschähe; dann würden wir zum Kampf gezwungen werden. Und er
sagte offen, daß er solche Raubzüge wiederholen würde - wieder und
wieder, bis das ganze Land in Aufruhr war und wir endlich einsähen,
daß es so war, wie er sagte; daß wir die O’seronni töten
oder selber sterben müßten.
Niemand konnte ihn daran hindern, seine Worte in
Taten umzusetzen, und ein paar von den jungen Männern waren
Hitzköpfe; sie folgten ihm, egal, was die anderen sagten. Mein
Bruder, der Sachem, errichtete sein Medizinzelt und rief die
Große Schildkröte um Rat an. Er blieb einen Tag und eine Nacht in
dem Zelt. Das Zelt schüttelte sich und schwankte, und es erklangen
Stimmen darin, und die Menschen hatten Angst.
Als mein Bruder aus dem Zelt kam, sagte er,
Otterzahn müßte das Dorf verlassen. Er würde tun, was er tun würde,
aber wir würden nicht zulassen, daß er die Vernichtung über uns
brachte. Er stürzte die Menschen in Uneinigkeit; er müßte
gehen.
Otterzahn wurde wütender, als wir ihn je gesehen
hatten. Er stellte sich in die Mitte des Dorfes und brüllte, bis
die Adern an seinem Hals vorsprangen und seine Augen rot vor
Raserei waren.« Das Mädchen senkte die Stimme. »Er brüllte
schreckliche Dinge. Dann wurde er ganz still und wir hatten Angst.
Er sagte Dinge, die uns jeden Mut nahmen. Selbst diejenigen, die
sich ihm angeschlossen hatten, hatten jetzt Angst vor ihm.
Er schlief nicht, und er aß nicht. Einen ganzen Tag
und eine ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag redete er weiter.
Er ging wieder und wieder durch das Dorf, blieb an den Türen der
Häuser stehen und redete, bis die Bewohner des Hauses ihn
vertrieben. Und dann ist er fortgegangen.
Aber er kam wieder zurück. Und wieder. Er ging fort
und versteckte sich im Wald, doch dann war er wieder da, nachts an
den Feuern, dünn und hungrig, mit glühenden Augen wie ein Fuchs und
er redete ohne Unterlaß. Seine Stimme erfüllte nachts das Dorf, und
niemand konnte schlafen.
Uns dämmerte, daß er von einem bösen Geist besessen
war; vielleicht war es Atatarho, aus dessen Kopf Hiawatha die
Schlangen gekämmt hatte, vielleicht waren die Schlangen auf der
Suche nach einem Zuhause zu diesem Mann gekommen. Schließlich sagte
mein Bruder, der Kriegshäuptling, dies müsse ein Ende haben; er
müßte gehen, sonst würden wir ihn umbringen.«
Tewaktenyonh hielt inne. Ihre Finger, die
unablässig über das Wampum gestrichen hatten, als zöge sie die
Kraft für ihre Erzählung daraus, standen jetzt still.
»Er war ein Fremder«, sagte sie leise. »Aber ihm
war nicht klar, daß er ein Fremder war. Ich glaube, das hat er nie
verstanden.«
Am anderen Ende wurde das Trinkgelage langsam laut;
alle Männer lachten jetzt und schwankten vor Belustigung hin und
her. Ich konnte die Stimme des Mädchens Emily hören, höher,
ebenfalls lachend. Tewaktenyonh blickte mit einem leichten
Stirnrunzeln in diese Richtung.
Mir lief es eiskalt über den Rücken. Ein Fremder.
Ein Indianer, seinem Gesicht nach zu urteilen, seiner Sprache nach;
seiner etwas seltsamen Aussprache. Ein Indianer - mit
Silberfüllungen in den Zähnen. Nein, er hatte es nicht verstanden.
Er hatte gedacht, sie wären trotz allem sein Volk. Da er ihre
Zukunft kannte, war er gekommen, um sie zu retten. Wie hätte er
ernstlich glauben können, daß sie ihm etwas tun würden?
Doch sie hatten es ernst gemeint. Sie hatten
ihn entkleidet, sagte Tewaktenyonh, und ihr Gesichtsausdruck war
abwesend. Sie hatten ihn an einen Pfahl in der Dorfmitte gebunden
und sein Gesicht mit einer Tinte bemalt, die aus Ruß und
Eichengalle bestand.
»Schwarz bedeutet Tod; alle Gefangenen, die getötet
werden sollen, werden so angemalt«, sagte das Mädchen. Sie zog die
Augenbraue ein wenig in die Höhe. »Habt Ihr das gewußt, als Ihr dem
Mann auf dem Berg begegnet seid?«
Ich schüttelte stumm den Kopf. Der Opal war in
meiner Hand warm geworden, schlüpfrig vom Schweiß.
Sie hatten ihn eine Zeitlang gefoltert; mit
angespitzten Stöcken auf seinen nackten Körper eingestochen, dann
mit glühenden Kohlen, so daß Blasen entstanden, die dann
aufplatzten, so daß ihm die Haut in Fetzen herabhing. Er hatte es
gefaßt ertragen, ohne aufzuschreien, und das hatte ihnen gefallen.
Er machte immer noch einen kräftigen Eindruck, daher ließen sie ihn
über Nacht stehen, immer noch an den Pfahl gefesselt.
»Am Morgen war er fort.« Das glatte Gesicht der
Frau war voller
Geheimnisse. Niemand würde je erfahren, ob sie erfreut,
erleichtert oder besorgt über sein Entkommen gewesen war.
»Ich sagte, sie sollten ihm nicht folgen, aber mein
Bruder hielt es für falsch; er würde nur zurückkommen, wenn wir es
nicht zu Ende brächten.«
Also war eine Gruppe von Kriegern aus dem Dorf
aufgebrochen und hatte sich auf Otterzahns Spur begeben. Da sie so
blutig war, war sie nicht schwierig zu verfolgen gewesen.
»Sie sind ihm gen Süden hinterhergejagt. Wieder und
wieder dachten sie, sie hätten ihn, doch er war stark. Er rannte
weiter. Vier Tage lang sind sie ihm gefolgt, und schließlich
spürten sie ihn in einem Espenhain auf, blattlose Bäume im Schnee
mit Ästen so weiß wie Fingerknochen.«
Sie sah die Frage, die bei diesen Worten in meinen
Augen aufleuchtete, und nickte.
»Mein Bruder, der Kriegshäuptling, ist
dabeigewesen. Er hat es mir hinterher erzählt.
Er war allein und unbewaffnet. Er hatte keine
Chance, und er wußte es. Aber er stellte sich ihnen dennoch
entgegen - und er redete. Selbst nachdem einer der Männer seinen
Mund mit einem Keulenhieb getroffen hatte, sprach er trotz des
Blutes, spuckte die Worte mit seinen zertrümmerten Zähnen
aus.
Er war ein tapferer Mann«, sagte sie sinnierend.
»Er hat nicht gebettelt. Er hat dieselben Dinge wie zuvor zu ihnen
gesagt, aber mein Bruder hat gesagt, diesmal war es anders. Vorher
war er so heiß wie Feuer gewesen; im Sterben war er so kalt wie
Schnee - und weil sie so kalt waren, jagten seine Worte den
Kriegern Angst und Schrecken ein.
Auch, als der Fremde schon tot im Schnee lag,
schienen seine Worte den Kriegern weiter in den Ohren zu klingen.
Sie legten sich schlafen, doch seine Stimme sprach in ihren Träumen
zu ihnen und hielt sie wach. Ihr werdet in Vergessenheit
geraten. Es wird die Nationen der Irokesen nicht mehr geben.
Niemand wird mehr eure Geschichten erzählen. Alles, was ihr seid
und gewesen seid, wird verlorengehen.
Sie wandten sich heimwärts, doch seine Stimme
folgte ihnen. Nachts konnten sie nicht schlafen, weil sie seine
bösen Worte im Ohr hatten. Tagsüber hörten sie Schreie und Flüstern
aus den Bäumen an ihrem Weg. Manche von ihnen sagten, es seien nur
die Rufe der Raben, aber andere sagten, nein, sie hörten ihn
deutlich.
Schließlich, so sagte mein Bruder, war klar, daß
dieser Mann ein Zauberer war.«
Die Alte sah mich scharf an. Je suis une
sorcière, hatte ich gesagt. Ich schluckte, und meine Hand fuhr
zu dem Amulett an meinem Hals.
»Was sie tun mußten, sagte mein Bruder, war, ihm
den Kopf abzutrennen, dann würde er nicht mehr reden. Also kehrten
sie zurück und schnitten ihm den Kopf ab und banden ihn an die
Zweige einer Fichte. Aber auch in dieser Nacht hörten sie im Schlaf
seine Stimme, und sie erwachten mit ausgelaugten Herzen. Die Raben
hatten ihm die Augen ausgepickt, doch der Kopf redete immer
noch.
Ein Mann, der sehr tapfer war, sagte, er würde den
Kopf nehmen und ihn weit weg begraben.« Sie lächelte kurz. »Dieser
tapfere Mann war mein Mann. Er wickelte den Kopf in ein Stück
Hirschleder und lief damit weit nach Süden, und der Kopf redete
immer noch unablässig unter seinem Arm, so daß er sich die Ohren
mit Bienenwachs verstopfen mußte. Schließlich sah er einen sehr
großen Lebensbaum, und er wußte, daß dies die Stelle war, denn der
Lebensbaum hat einen starken, heilenden Geist.
Also hat er den Kopf unter den Wurzeln des Baumes
vergraben, und als er das Bienenwachs aus seinen Ohren nahm, konnte
er nur den Wind und das Wasser hören. Dann ging er heim, und
niemand in diesem Dorf hat Otterzahns Namen jemals wieder erwähnt,
von jenem Tag an bis zu diesem.«
Das Mädchen sprach zu Ende, den Blick auf ihre
Großmutter gerichtet. Es stimmte offenbar; sie hörte diese
Geschichte zum ersten Mal.
Ich schluckte und versuchte, ungehindert Luft zu
holen. Der Rauch war während ihrer Erzählung versiegt und hatte
sich in einer tiefhängenden Wolke über unseren Köpfen gesammelt,
sein narkotisches Parfüm lag schwer in der Luft.
Die Heiterkeit im Kreis der Trinker hatte
nachgelassen. Einer der Männer stand auf und ging stolpernd aus dem
Haus. Zwei weitere lagen im Halbschlaf auf der Seite am
Feuer.
»Und dies?« sagte ich und hielt ihr den Opal hin.
»Habt ihr den Stein schon einmal gesehen? Hat er ihm gehört?«
Tewaktenyonh streckte die Hand aus, als wollte sie
den Stein berühren, zog sie dann aber zurück.
»Es gibt eine Legende«, sagte das Mädchen, ohne den
Blick von dem Opal abzuwenden. »Magische Schlangen tragen Steine in
ihren Köpfen. Wer eine solche Schlange tötet und den Stein an sich
nimmt, dem verleiht er große Kraft.« Sie rutschte beklommen hin und
her, und genau wie sie konnte ich mir ohne Probleme vorstellen, wie
groß eine Schlange sein mußte, die einen solchen Stein in sich
trug.
Die Alte sprach plötzlich und wies kopfnickend auf
den Stein. Das Mädchen fuhr auf, wiederholte aber gehorsam die
Worte.
»Es war seiner«, sagte sie. »Er nannte ihn seine
Far-ka.«
Ich sah die Dolmetscherin an, doch sie schüttelte
den Kopf. Far-ka«, sagte sie ganz deutlich. »Ist das kein
Wort aus Eurer Sprache?«
Ich schüttelte den Kopf.
Nach dem Ende ihrer Erzählung lehnte sich die alte
Frau in ihre Felle zurück und beobachtete mich voller Spekulation.
Ihr Blick ruhte auf dem Amulett um meinen Hals.
»Warum hat er zu Euch gesprochen? Warum hat er Euch
das gegeben?« Sie wies kopfnickend auf meine Hand, und meine Finger
schlossen sich instinktiv um den gerundeten Opal.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich, aber sie hatte mich
überrumpelt; ich hatte keine Zeit gehabt, mein Gesicht
vorzubereiten.
Sie fixierte mich mit einem durchdringenden Blick.
Sie wußte genau, daß ich log - und doch, wie hätte ich ihr die
Wahrheit sagen sollen? Ihr sagen sollen, was Otterzahn - wie auch
immer er wirklich hieß - gewesen war? Ganz zu schweigen davon, daß
seine Prophezeiungen wahr waren?
»Ich glaube, er gehörte vielleicht zu meiner
…Familie«, sagte ich schließlich und erinnerte mich daran, was mir
Pollyanne über die Geister der Vorfahren erzählt hatte. Es war
nicht zu sagen, woher - oder aus welcher Zeit - er gekommen war;
ich nahm an, daß er ein Vorfahr oder ein Nachkomme sein mußte. Wenn
nicht von mir, dann von jemandem wie mir.
Bei diesen Worten setzte sich Tewaktenyonh
kerzengerade auf und sah mich erstaunt an. Langsam verblaßte der
Ausdruck, und sie nickte.
»Er hat Euch zu mir geschickt, damit ihr dies hört.
Er hatte unrecht«, erklärte sie selbstsicher. »Mein Bruder hat
gesagt, wir sollten nicht von ihm sprechen; wir sollten ihn dem
Vergessen anheimfallen lassen. Aber niemand ist vergessen, solange
es noch zwei Menschen unter dem Himmel gibt. Einen, um seine
Geschichte zu erzählen, den anderen, um sie zu hören. Also.«
Sie streckte die Hand aus und berührte die meine,
achtete aber darauf, nicht an den Stein zu kommen. Das feuchte
Glitzern in ihren Augen hätte vom Tabakrauch stammen können.
»Ich bin der eine. Ihr der andere. Er ist
unvergessen.«
Sie winkte dem Mädchen, das sich schweigend erhob
und uns Speisen und Getränke brachte.
Als ich schließlich aufstand, warf ich einen Blick
auf das Trinkgelage.
Der Boden war mit schnarchenden Gestalten übersät, und das Faß lag
leer auf der Seite. Zwei Speere lag friedlich auf dem Rücken, und
ein seliges Lächeln vertiefte die Falten in seinem Gesicht. Das
Mädchen, Ian und Jamie waren fort.
Jamie stand vor dem Haus und wartete auf mich. Sein
Atem stieg weiß in der Nachtluft auf, und aus seinem Plaid wehten
mir Tabak-und Whiskygerüche entgegen.
»Ihr scheint euch amüsiert zu haben«, sagte ich und
ergriff seinen Arm. »Irgendwelche Fortschritte, was meinst
du?«
»Ich glaube schon.« Wir gingen Seite an Seite an
der großen zentralen Lichtung entlang zu dem Langhaus, in dem unser
Quartier war. »Es hat gut funktioniert. Ian hatte recht, Gott sei
Dank; jetzt, wo sie gesehen haben, daß dieses kleine Ceilidh
keinen Schaden angerichtet hat, werden sie, glaube ich, geneigt
sein, sich auf den Handel einzulassen.«
Ich blickte auf die Reihe der Langhäuser, die
dahintreibenden Rauchwolken und den Feuerschein, der aus
Rauchabzügen und Türeingängen drang. War Roger jetzt in einem
davon? Ich zählte mechanisch, wie ich es jeden Tag tat - sieben
Monate. Der Boden taute jetzt; wenn wir einen Teil des Weges auf
dem Fluß zurücklegten, konnten wir es vielleicht in einem Monat
schaffen - höchstens sechs Wochen. Ja, wenn wir bald aufbrachen,
würden wir rechtzeitig kommen.
»Und du, Sassenach? Du scheinst eine sehr ernste
Unterhaltung mit der alten Dame gehabt zu haben. Hat sie etwas von
dem Stein gewußt?«
»Ja. Komm herein, und ich erzähl’s dir.«
Er hob das Fell an, das vor der Tür hing, und ich
trat ein. Der Opal lag als solides Gewicht in meiner Hand. Sie
hatten nicht verstanden, wie er ihn genannt hatte, aber ich wußte
es. Der Mann namens Otterzahn, der gekommen war, um einen Krieg zu
beginnen, eine Nation zu retten - mit Silberfüllungen in seinen
Zähnen. Ja, ich wußte, was sie war, die Far-ka.
Seine unbenutzte Rückfahrkarte. Mein Erbe.