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Es gibt kein Zurück
Inverness, Juli 1769
Roger ging langsam durch die Stadt und sah sich
mit einer Mischung aus Faszination und Entzücken um. Inverness
hatte sich in den letzten zweihundert Jahren ziemlich verändert,
kein Zweifel, und doch war es eindeutig dieselbe Stadt; sicher, es
war ein ganzes Stück kleiner, und die Hälfte seiner schlammigen
Straßen war ungepflastert, und doch kannte er die Straße,
die er gerade entlangspazierte, war sie schon hundert Mal
entlangspaziert.
Es war die Huntly Street, und während die meisten
der kleinen Geschäfte und Gebäude ihm neu waren, stand am anderen
Flußufer die Old High Church - zur Zeit noch nicht ganz so alt -,
und ihr stämmiger Turm war so kantig wie eh und je. Wenn er jetzt
eintreten würde, würde doch bestimmt gerade Mrs. Dunvegan, die Frau
des Pfarrers, die Blumen für den Sonntagsgottesdienst auf der
Kanzel arrangieren, oder? Nein, das würde sie nicht - Mrs. Dunvegan
mit ihren dicken Wollpullovern und den fürchterlichen Napfkuchen,
mit denen sie die kranken Gemeindemitglieder traktierte, gab es
noch gar nicht. Und doch stand die kleine Steinkirche fest und
vertraut da, in der Obhut eines Fremden.
Die Kirche seines Vaters war noch nicht da; sie war
- würde? - 1837 gebaut worden. Ebenso hatte man das Pfarrhaus, das
ihm immer so alt und gebrechlich vorgekommen war, erst Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts gebaut. Er war an dem Grundstück
vorbeigekommen; im Augenblick befand sich dort nur ein Dickicht aus
Fingerkraut und Ginster, und ein einzelner Ebereschenschößling
sproß aus dem Unterholz hervor und ließ sein Laub im sanften Wind
flattern.
Dieselbe feuchte Kühle lag in der Luft, frisch und
kribbelnd - doch der allgegenwärtige Gestank der Autoabgase fehlte
und war einem schwachen Abwassergeruch gewichen. Was ihm am meisten
auffiel, war das Fehlen der Kirchen; dort, wo eines Tages beide
Ufer von vornehmen
Türmen und Spitzdächern nur so wimmeln würden, verteilten sich
jetzt nur kleine Häuser.
Es gab nur die eine, steinerne Fußgängerbrücke,
doch der River Ness war ganz der alte. Der Fluß war nicht tief, in
den Stromschnellen saßen die gleichen Möwen und kreischten sich
gegenseitig zu, während sie zwischen den Steinen, die gerade eben
unter der Wasseroberfläche lagen, kleine Fische fingen.
»Viel Glück, Kumpel«, sagte er zu einer feisten
Möwe, die auf der Brücke saß, und ging über den Fluß in die
Stadt.
Hier und dort stand ein elegantes Anwesen,
abgeschirmt durch ein großes Grundstück, eine Dame von Welt, die
ihre Röcke ausbreitete und die Anwesenheit des umstehenden Pöbels
ignorierte. In einiger Entfernung von ihm stand Mountgerald; das
große Haus sah exakt so aus, wie er es in Erinnerung hatte, nur daß
die großen Rotbuchen, die es später umgeben würden, noch nicht
gepflanzt waren; statt dessen lehnte sich eine Reihe spindeldürrer,
italienischer Zypressen traurig an die Gartenmauer und machten ganz
den Eindruck, als hätten sie Heimweh nach ihrem sonnigen
Geburtsland.
Trotz seiner Eleganz sagte man Mountgerald nach,
das Haus sei in der denkbar ältesten Tradition gebaut worden -
indem man das Fundament über einem Menschenopfer errichtete. Der
Sage nach hatte man einen Arbeiter in das Kellerloch gelockt und
ihm von der neu gebauten Mauer aus einen Stein auf den Kopf fallen
lassen, der ihn erschlug. Er war - so besagte die Lokalgeschichte -
dort im Keller begraben worden, sein Blut ein Sühneopfer für die
hungrigen Erdgeister, welche somit zufriedengestellt gestattet
hatten, daß das Gebäude die Jahre blühend und unbehelligt
überstand.
Im Augenblick konnte das Haus nicht älter sein als
zwanzig oder dreißig Jahre. Es war gut möglich, daß noch Menschen
in der Stadt lebten, die an seiner Errichtung mitgearbeitet hatten;
die genau wußten, was in diesem Keller geschehen war, wem und
warum.
Doch er hatte anderes zu tun; Mountgerald und sein
Geist würden ihr Geheimnis für sich behalten müssen. Mit einem
leisen Stich des Bedauerns ließ er das große Haus hinter sich und
wandte seine Historikernase der Straße zu, die flußabwärts zu den
Docks führte.
Mit einem Gefühl, das man nur als déjà vu
bezeichnen konnte, schob er die Tür einer Kneipe auf. Der
Fachwerkeingang mit dem Steinfußboden war derselbe, den er noch vor
einer Woche gesehen hatte - und in zweihundert Jahren -, und der
vertraute Geruch von Hopfen und Gerste in der Luft tröstete seine
Lebensgeister. Der Name hatte sich verändert, doch der Biergeruch
nicht.
Roger trank einen tiefen Schluck aus seinem
Holzbecher und verschluckte sich fast. »Alles in Ordnung, Mann?«
Der Wirt blieb stehen, einen Eimer Sand in der Hand, und sah Roger
an.
»Klar«, sagte Roger heiser. »Alles klar.«
Der Wirt nickte und streute weiter seinen Sand aus,
doch er behielt Roger aus Erfahrung im Blick für den Fall, daß
dieser drohte, sich auf den frisch gekehrten und mit Sand
bestreuten Boden zu übergeben.
Roger hustete und räusperte sich, dann probierte er
vorsichtig noch einen Schluck. Der Geschmack war in Ordnung; er war
sogar sehr gut. Es war der Alkoholgehalt, mit dem er nicht
gerechnet hatte; dieses Zeug hatte es in sich wie kein modernes
Bier, das Roger je untergekommen war. Claire hatte gesagt,
Alkoholismus sei typisch für diese Zeit, und Roger konnte gut
sehen, warum. Wenn allerdings Alkoholismus das größte Problem
gewesen wäre, dem er sich gegenübersah, dann hätte er damit umgehen
können.
Er saß still an der Feuerstelle, trank und genoß
das dunkle, bittere Gebräu, während er beobachtete und die Ohren
spitzte.
Es war eine Hafenkneipe, und sie war gut besucht.
Da sie so nah an den Docks am Moray Firth lag, beherbergte sie
Schiffskapitäne und Kaufleute ebenso wie Matrosen von den Schiffen,
die im Hafen vor Anker lagen, und Hafenarbeiter und Arbeiter aus
den umliegenden Lagerhäusern. Auf den bierfleckigen Oberflächen
ihrer zahlreichen Tische wurde eine Vielzahl von Geschäften
besiegelt.
Mit halbem Ohr konnte Roger hören, wie ein Vertrag
für die Verschiffung von dreihundert Ballen billigen Drogettstoffes
aus Aberdeen in die Kolonien abgeschlossen wurde, der gegen eine
Schiffsladung Reis und Indigo aus Carolina ausgetauscht werden
sollte. Hundert Gallowayrinder, sechs Zentner Kupfer, Fässer mit
Schwefel, Melasse und Wein. Mengen und Preise, Lieferdaten und
-bedingungen trieben durch das Gerede und den Biergeruch der Kneipe
wie die dichten, blauen Tabakrauchwolken, die knapp unter den
niedrigen Deckenbalken schwebten.
Doch es wurde nicht nur mit Waren gehandelt. In
einer Ecke saß ein Schiffskapitän, wie man an seinem langschößigen
Rock und dem feinen, schwarzen Dreispitz erkennen konnte, der neben
seinem Ellbogen auf dem Tisch lag. Ein Gehilfe assistierte ihm, und
Hauptbuch und Geldkassette lagen vor ihm auf dem Tisch, während er
einen unablässigen Strom von Menschen anhörte, Emigranten, die für
sich und ihre Familien eine Möglichkeit zur Überfahrt in die
Kolonien suchten.
Roger beobachtete die Vorgänge unauffällig. Das
Schiff sollte nach
Virginia fahren, und nachdem er einige Zeit zugehört hatte, schloß
er, daß die Fahrtkosten für einen männlichen Passagier - wenn er
wie ein feiner Herr reisen wollte - zehn Pfund und acht Schillinge
betrug. Wer willens war, im Zwischendeck zu reisen,
zusammengepfercht wie die Fässer und das Vieh unten im Frachtraum,
konnte für vier Pfund, zwei Schillinge pro Nase an Bord gehen, wenn
er die Verpflegung für die sechswöchige Reise selbst mitbrachte.
Trinkwasser, so verstand er, wurde zur Verfügung gestellt.
Für jene, die die Überfahrt begehrten, sie aber
nicht finanzieren konnten, gab es andere Möglichkeiten.
»Zwangsarbeit für Euch, Eure Frau und Eure beiden
älteren Söhne?« Der Kapitän legte abschätzend den Kopf schräg und
betrachtete die Familie, die vor ihm stand. Ein kleiner, sehniger
Mann, der vielleicht Anfang Dreißig war, aber viel älter aussah,
schäbig und von der Arbeit gebeugt. Seine Frau, vielleicht ein
wenig jünger, die hinter ihrem Mann stand, die Augen fest auf den
Boden geheftet, und zwei kleine Mädchen fest an den Händen hielt.
Die älteren Jungen standen bei ihrem Vater und gaben sich Mühe,
männlich zu wirken. Roger hielt sie für vielleicht zehn und zwölf,
unter Berücksichtigung der Unterernährung, die für ihre
schwächliche Statur verantwortlich war.
»Ihr selbst und die Jungen, aye, das geht«, sagte
der Kapitän. Er blickte stirnrunzelnd auf die Frau, die ihren Blick
nicht hob. »Niemand wird eine Frau mit so vielen Kindern kaufen -
vielleicht kann sie eins behalten. Aber die Mädchen müßt Ihr
verkaufen.«
Der Mann sah sich nach seiner Familie um. Seine
Frau hielt den Kopf gesenkt, unbeweglich, ohne irgend etwas
anzusehen. Eins der Mädchen zuckte und wand sich jedoch und
beschwerte sich leise, daß ihre Hand zerquetscht würde. Der Mann
wandte sich wieder um.
»Gut«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Können sie
- dürfen sie vielleicht - zusammen gehen?«
Der Kapitän rieb sich mit der Hand über den Mund
und nickte beiläufig.
»Sehr wahrscheinlich.«
Roger wartete die Details der Transaktion nicht ab.
Er stand abrupt auf und verließ die Kneipe; das dunkle Bier
schmeckte ihm nicht mehr.
Draußen auf der Straße blieb er stehen und befühlte
die Münzen in seiner Tasche. Es war alles, was er in der Zeit, die
ihm zur Verfügung stand, an passendem Geld hatte auftreiben können.
Allerdings hatte er gedacht, daß es reichen würde; er war kräftig
gebaut und hatte einiges Vertrauen in seine Fähigkeiten. Doch die
kleine Szene, die er in der Kneipe erlebt hatte, hatte ihn
erschüttert.
Er war mit der Geschichte der Highlands
aufgewachsen. Er wußte sehr gut, was eine Familie so tief in die
Verzweiflung treiben konnte, daß sie dauerhafte Trennung und
Quasi-Sklaverei als Preis für das Überleben in Kauf nahm.
Er wußte alles über die Verkäufe von Ländereien,
mit denen man die kleinen Pächter von dem Land vertrieb, das ihre
Familien seit Hunderten von Jahren bestellt hatten, alles über die
fürchterlichen Armuts- und Hungerzustände in den Städten, über die
schlichte Unmöglichkeit, in dieser Zeit in Schottland sein Dasein
zu fristen. Und doch hatten ihn all die Jahre der Lektüre nicht auf
den Blick im Gesicht dieser Frau vorbereitet, die ihre Augen fest
auf den frisch mit Sand bestreuten Boden heftete und die Hände
ihrer Töchter krampfhaft mit den ihren umklammerte.
Zehn Pfund, acht Schillinge. Oder vier Pfund und
zwei. Plus was auch immer die Lebensmittel kosten mochten. Er hatte
exakt vierzehn Schillinge und drei Pence in seiner Tasche, außerdem
eine Handvoll Kupferkleingeld und ein paar Farthings.
Er ging langsam durch die Straße, die am Meer
entlangführte, und blickte auf die Ansammlung von Schiffen, die an
den Holzdocks angelegt hatte. Zum Großteil Fischketschen, kleine
Galeeren und Briggs, die entlang des Firths ihren Geschäften
nachgingen oder im Höchstfall über den Kanal fuhren und Fracht und
Passagiere nach Frankreich brachten. Nur drei große Schiffe lagen
im Firth vor Anker, von der Größe, die den Winden der
Atlantiküberfahrt trotzen konnte.
Er konnte natürlich nach Frankreich übersetzen und
von dort ein Schiff nehmen. Oder auf dem Landweg nach Edinburgh
reisen, welches einen viel größeren Hafen hatte als Inverness. Doch
dann würde es schon sehr spät im Jahr für eine Überfahrt sein.
Brianna war ihm bereits sechs Wochen voraus; er durfte keine Zeit
mehr verlieren, sie zu finden - weiß Gott, was einer Frau allein
hier zustoßen konnte.
Vier Pfund, zwei Schillinge. Nun, er konnte
natürlich arbeiten. Da er weder Frau noch Kinder zu versorgen
hatte, würde er den Großteil seines Verdienstes sparen können. Aber
da ein normaler Bürogehilfe etwa zwölf Pfund im Jahr verdiente und
er wahrscheinlich eher Arbeit als Stallknecht als in der
Buchhaltung finden würde, waren seine Chancen, das Geld für die
Überfahrt in absehbarer Zeit zusammenzusparen, herzlich
gering.
»Immer der Reihe nach«, murmelte er. »Finde erst
mal heraus, wohin sie gefahren ist, bevor du dir den Kopf
zerbrichst, wie du selbst dorthin kommst.«
Er nahm die Hand aus der Tasche und wandte sich,
zwischen zwei
Lagerhäusern hindurch, nach rechts in eine enge Gasse. Seine
Hochstimmung vom Morgen war zum Großteil verflogen, doch ein wenig
davon kehrte zurück, als er sah, daß er richtig geraten hatte; das
Büro des Hafenmeisters war genau dort, wo es seines Wissens nach
sein mußte - in demselben flachen Steingebäude, in dem es auch in
zweihundert Jahren noch sein würde. Roger lächelte mit ironischem
Humor; Schotten waren nicht geneigt, Veränderungen nur um ihrer
selbst willen durchzuführen.
Innen war es voll und geschäftig, und vier
abgehetzte Bürogehilfen saßen hinter einer abgenutzten Holztheke,
schrieben und stempelten, trugen Papierbündel hin und her, nahmen
Geld entgegen und trugen es sorgsam in ein innenliegendes Büro, aus
welchem sie Sekunden später mit Japanlacktabletts wieder
herauskamen, auf denen Quittungen lagen.
Ein Gedränge ungeduldiger Männer preßte sich gegen
die Theke, und jeder von ihnen bemühte sich, mit Hilfe seiner
Stimme und Haltung zu signalisieren, daß sein Anliegen dringender
war als das seines Nachbarn. Als es Roger jedoch erst einmal
gelungen war, die Aufmerksamkeit eines der Angestellten für sich zu
beanspruchen, stellte sich heraus, daß er ohne Probleme die
Register der Schiffe einsehen konnte, die in den letzten paar
Monaten aus Inverness abgesegelt waren.
»Halt, wartet«, sagte er zu dem jungen Mann, der
ihm ein großes, ledergebundenes Buch über die Theke zuschob.
»Aye?« Der Bürogehilfe war rot vor Eile und hatte
einen Tintenklecks auf der Nase, hielt aber höflich mitten im Lauf
inne.
»Was verdient Ihr hier?« fragte Roger.
Die hellen Augenbrauen des Mannes gingen in die
Höhe, doch er hatte es viel zu eilig, um Rückfragen zu stellen oder
über die Frage beleidigt zu sein.
»Sechs Schillinge die Woche«, sagte er kurz und
verschwand, als jemand aus dem Büro hinter der Theke verärgert
»Munro!« rief.
»Mmpfm.« Roger schob sich durch die Menge zurück
und trug das Registerbuch zu einem kleinen Tisch am Fenster, fort
vom Hauptverkehr.
Da er gesehen hatte, unter welchen Bedingungen die
Schreiber arbeiteten, war Roger beeindruckt von der Lesbarkeit der
handgeschriebenen Register. Er war an die archaische Schreibweise
und Interpunktion gewöhnt, wenn auch die Dokumente, die er
gewöhnlich zu sehen bekam, immer vergilbt und empfindlich waren,
kurz vor der Auflösung. Als Historiker empfand er einen
merkwürdigen, leisen
Nervenkitzel dabei, die Seiten frisch und weiß vor sich zu sehen
und dahinter den Schreiber, der an einem hohen Tisch saß und seine
Einträge machte, so schnell er schreiben konnte, die Schultern
gegen den Andrang im Zimmer hochgezogen.
Du schiebst es nur vor dir her, sagte eine
kalte, leise Stimme in seinem Kopf. Entweder ist sie hier, oder
sie ist es nicht; daß du Angst hast nachzusehen, wird nichts daran
ändern. Mach voran!
Roger holte tief Luft und schlug das dicke
Hauptbuch auf. Die Namen der Schiffe standen in sauberen Buchstaben
am Kopf der Seiten, gefolgt von den Namen ihrer Kapitäne und Maate,
ihrer Hauptfracht und dem Tag der Abfahrt. Arianna. Polyphemus.
Lustige Witwe. Tiburon. Trotz seiner Anspannung mußte er die
Schiffsnamen bewundern, während er die Seiten durchblätterte.
Eine halbe Stunde später hatte er aufgehört, über
Poetisches und Pittoreskes zu staunen; statt dessen nahm er die
einzelnen Schiffsnamen kaum noch wahr, während er mit wachsender
Verzweiflung mit dem Finger über die Seiten fuhr. Nicht hier, sie
war nicht hier!
Doch sie mußte, argumentierte er mit sich selbst.
Sie mußte ein Schiff in die Kolonien genommen haben, wo zum
Teufel konnte sie sonst sein? Es sei denn, sie hatte die Notiz doch
nicht gefunden… aber das Übelkeitsgefühl unter seinen Rippen
versicherte ihm, daß sie sie gefunden hatte; nichts anderes hätte
sie dazu bewegen können, den Weg durch die Steine zu
riskieren.
Er holte tief Luft und schloß seine Augen, die die
Ermüdung vom Lesen der handgeschriebenen Seiten zu spüren begannen.
Dann öffnete er die Augen, wandte sich erneut dem ersten in Frage
kommenden Register zu und begann von vorne zu lesen, wobei er die
einzelnen Namen verbissen vor sich hin murmelte, um sicherzugehen,
daß er keinen überlas.
Mr. Phineas Forbes, Privatmann.
Mrs. Wilhelmina Forbes.
Master Joshua Forbes.
Mrs. Josephine Forbes.
Mrs. Eglatine Forbes.
Mrs. Charlotte Forbes.
Mrs. Wilhelmina Forbes.
Master Joshua Forbes.
Mrs. Josephine Forbes.
Mrs. Eglatine Forbes.
Mrs. Charlotte Forbes.
Er lächelte vor sich hin bei dem Gedanken an Mr.
Phineas Forbes, umgeben von seinen Frauen. Obwohl er wußte, daß
»Mrs.« hier manchmal nur die abgekürzte Form von »Mistress« war und
demzufolge sowohl für verheiratete als auch für unverheiratete
Frauen benutzt
wurde - anstelle des »Miss« für kleine Mädchen - sah er im Geiste
das unwiderstehliche Bild von Phineas vor sich, der selbstsicher
den Zug seiner vier Ehefrauen anführte, während Master Joshua
zweifellos die Nachhut bildete.
Mr. William Talbot, Kaufmann.
Mr. Peter Talbot, Kaufmann.
Mr. Jonathan Bicknell, Arzt.
Mr. Robert MacLeod, Bauer.
Mr. Gordon MacLeod, Bauer.
Mr. Martin MacLeod, Bauer…
Mr. Peter Talbot, Kaufmann.
Mr. Jonathan Bicknell, Arzt.
Mr. Robert MacLeod, Bauer.
Mr. Gordon MacLeod, Bauer.
Mr. Martin MacLeod, Bauer…
Auch bei diesem Durchgang keine Randalls. Nicht
auf der Persephone, der Rache der Königin oder der
Phoebe. Er rieb sich die schmerzenden Augen und begann mit
dem Register der Phillip Alonzo. Ein spanischer Name, doch
es segelte unter schottischer Flagge. Abfahrt von Inverness unter
dem Kommando von Kapitän Patrick O’Brian.
Er hatte noch nicht aufgegeben, machte sich aber
bereits Gedanken darüber, was er als nächstes tun sollte, wenn er
sie nicht in den Registern aufgelistet fand. Lallybroch natürlich.
Er war einmal dort gewesen, in seiner eigenen Zeit, und hatte die
verlassenen Überreste des Gehöftes aufgesucht; würde er es jetzt
finden, ohne Hilfe von Straßen und Schildern?
Seine Gedanken kamen mit einem Ruck zum Stehen, als
sein wandernder Finger fast am Boden der Seite anhielt. Nicht
Brianna, nicht der Name, den er suchte, aber doch ein Name, bei dem
es in seinem Kopf klingelte. Fraser stand da in der
schrägen, klaren, schwarzen Schrift. Mr. Brian Fraser. Nein,
nicht Brian. Und auch nicht Mister. Er beugte sich tiefer über das
Blatt und blinzelte auf die verkrampften, schwarzen
Buchstaben.
Er schloß die Augen und spürte sein Herz heftig in
der Brust schlagen. Erleichterung durchlief ihn, so berauschend wie
das spezielle Schwarzbier in der Kneipe. Mrs., nicht Mr. -
und was zunächst nur wie ein ausladender Schlenker am »n« von Brian
ausgesehen hatte, erwies sich beim näheren Hinsehen fast sicher als
hingeschludertes »a«.
Sie, sie war es, sie mußte es sein! Es war ein
ungewöhnlicher Vorname - er hatte nirgendwo in dem massiven
Register eine andere Brianna oder Briana gesehen. Und Fraser paßte
ebenfalls; im Lauf der quichotischen Suche nach ihrem Vater hatte
sie seinen Namen angenommen, den Namen, der ihr von Geburt an
zustand.
Er knallte das Register zu, als wollte er
verhindern, daß sie zwischen den Seiten entwischte, und saß einen
Augenblick lang nur da und holte Luft. Hab’ dich! Er sah, wie der
Schreiber ihn von der Theke aus fragend anblickte, lief rot an und
öffnete das Buch erneut.
Die Phillip Alonzo. Aus Inverness abgesegelt
am vierten Juli Anno Domini 1769. Nach Charleston, South
Carolina.
Bei der Ortsangabe runzelte er die Stirn, plötzlich
unsicher. South Carolina. War das ihr eigentliches Ziel, oder
konnte sie nicht näher herankommen? Ein schneller Blick in die
anderen Register zeigte im Juli keine Schiffe nach North Carolina.
Vielleicht hatte sie einfach das erste Schiff in die südlichen
Kolonien genommen und beabsichtigte, auf dem Landweg
weiterzureisen.
Oder vielleicht hatte er sich geirrt. Ihn packte
eine Kälte, die nicht vom Flußwind herrührte, der neben ihm durch
die Fensterritzen drang. Er blickte noch einmal auf die Seite und
war beruhigt. Nein, es war kein Beruf angegeben, wie das bei allen
Männern der Fall war. Es war ganz sicher »Mrs.«, und daher mußte es
auch »Briana« sein. Und wenn es »Briana« war, dann war es auch
Brianna, das wußte er.
Er stand auf und reichte seinem blonden Bekannten
das Buch über die Theke.
»Danke, Mann«, sagte er und verfiel entspannt in
seinen üblichen, weichen Akzent. »Könnt Ihr mir sagen, ob zur Zeit
ein Schiff im Hafen liegt, das bald in die amerikanischen Kolonien
aufbricht?«
»Oh, aye«, sagte der Bürogehilfe, während er
geschickt mit einer Hand den Registerband verstaute und mit der
anderen von einem Kunden eine Verladequittung in Empfang nahm.
»Zufällig liegt hier die Gloriana; sie fährt übermorgen nach
Carolina.« Er betrachtete Roger von oben bis unten. »Emigrant oder
Seemann?« fragte er.
»Seemann«, sagte Roger prompt. Ohne die
hochgezogene Augenbraue des anderen Mannes zu beachten, schwenkte
er die Hand über den Wald aus Masten, der durch die verglasten
Fenster zu sehen war. »Wo kann ich mich einschreiben?«
Der Schreiber, der jetzt beide Augenbrauen
hochgezogen hatte, wies kopfnickend zur Tür.
»Ihr Kapitän schlägt seine Zelte im ›Klosterbruder‹
auf, wenn er im Hafen liegt. Bestimmt ist er jetzt auch da -
Kapitän Bonnet.« Er verzichtete darauf, hinzuzufügen, was sein
skeptischer Gesichtsausdruck deutlich sagte; wenn Roger ein Seemann
war, dann war er, der Schreiber, ein afrikanischer Papagei.
»Gut, mo ghille. Danke.« Mit einem
angedeuteten Salut wandte sich Roger ab, drehte sich jedoch an der
Tür noch einmal um und sah,
daß der Schreiber ihn immer noch beobachtete, ohne den Andrang
seiner ungeduldigen Kunden zu beachten.
»Wünscht mir Glück«, sagte Roger grinsend.
Das Antwortgrinsen des Schreibers war mit einem
Ausdruck versetzt, der Bewunderung oder Sehnsucht hätte sein
können.
»Viel Glück, Mann!« rief er und winkte zum
Abschied. Als die Tür zuschlug, war er schon in ein Gespräch mit
dem nächsten Kunden vertieft und hielt den Federkiel bereit.
Wie angekündigt, fand er Kapitän Bonnet in der
Kneipe, wo er sich in einer Ecke unter einer dichten, blauen
Dunstwolke niedergelassen hatte, zu der die Zigarre des Kapitäns
ihren Teil beitrug.
»Euer Name?«
»MacKenzie«, sagte Roger, einem plötzlichen Impuls
folgend. Was Brianna konnte, konnte er auch.
»MacKenzie. Irgendwelche Erfahrung,
MacKenzie?«
Ein Sonnenstrahl fiel auf das Gesicht des Kapitäns
und brachte ihn zum Blinzeln. Bonnet zog sich in den Schatten der
Bank zurück, und die Falten um seine Augen entspannten sich. Roger
sah sich einem unangenehm durchdringenden Blick ausgesetzt.
»Hab’ schon mal Heringe im Minch gefischt.«
Das war nicht gelogen; er hatte als Teenager
mehrfach den Sommer als Matrose auf einem Heringsfischerboot
verbracht, das einem Bekannten des Reverend gehörte. Von dieser
Erfahrung hatte er eine nützliche Muskelschicht zurückbehalten, ein
gutes Ohr für den Singsang-Akzent der Inseln und eine hartnäckige
Abneigung gegen Heringe. Doch zumindest hatte er schon einmal ein
Tau in der Hand gespürt.
»Aye, groß genug seid Ihr ja. Aber ein Fischer ist
wohl kaum dasselbe wie ein Seefahrer.« Das sanft schwingende Irisch
des Mannes ließ offen, ob dies eine Frage war, eine Feststellung -
oder eine Provokation.
»Ich hätte nicht gedacht, daß es ein Beruf ist, der
große Erfahrung erfordert.« Aus einem Grund, den er nicht benennen
konnte, sträubten sich in Kapitän Bonnets Gegenwart seine
Nackenhaare.
Die grünen Augen verschärften sich.
»Vielleicht mehr, als Ihr glaubt - aber es ist
sicher keine Sache, die ein williger Mann nicht lernen könnte. Aber
was könnte es sein, das einen von Eurer Sorte plötzlich auf See
zieht?«
Seine Augen flackerten im Schatten der Wirtschaft,
während sie ihn betrachteten. Von Eurer Sorte. Was war es?
fragte sich Roger. Nicht
seine Aussprache - er hatte darauf geachtet, jede Andeutung des
Oxforder Gelehrten zu unterdrücken und den singenden
»Teuchter«-Dialekt der Inseln zu benutzen. War er für einen
Möchtegern-Seemann zu gut gekleidet? Oder war es der versengte
Kragen und die Brandstelle auf der Brust seines Rocks?
»Ich denke, das ist nicht Eure Angelegenheit«,
antwortete er gelassen. Mit deutlicher Anstrengung hielt er die
Hände an seinen Seiten entspannt.
Die grünen Augen studierten ihn ungerührt und
reglos. Wie ein Leopard, der ein vorbeiziehendes Gnu beobachtet und
sich fragt, ob es wohl die Jagd wert ist, dachte Roger.
Die schweren Lider senkten sich; er war es ihm
nicht wert - im Augenblick.
»Bei Sonnenuntergang seid Ihr an Bord«, sagte
Bonnet. »Fünf Schillinge im Monat, drei Tage in der Woche Fleisch,
sonntags Plumpudding. Ihr bekommt eine Hängematte, aber für Eure
Kleider müßt Ihr selbst sorgen. Ihr könnt das Schiff verlassen,
wenn die Fracht entladen ist, vorher nicht. Sind wir uns einig,
Sir?«
»Abgemacht«, sagte Roger, dessen Mund plötzlich
ausgetrocknet war. Er hätte viel um ein Bier gegeben, aber nicht
jetzt, nicht hier unter diesem aufmerksamen grünen Blick.
»Fragt nach Mr. Dixon, wenn Ihr an Bord geht. Er
ist der Zahlmeister.« Bonnet lehnte sich zurück, zog ein kleines,
in Leder gebundenes Buch aus seiner Tasche und schlug es auf.
Audienz beendet.
Roger wandte sich um und ging hinaus, ohne
zurückzusehen. Er spürte eine kleine, kalte Stelle an seinem
Schädelansatz. Wenn er sich umsah, das wußte er, dann würde er die
grünen, leuchtenden Augen reglos über den Rand des ungelesenen
Buches gerichtet sehen, und sie würden jede Schwäche
registrieren.
Die kalte Stelle, dachte er, war dort, wo die Zähne
zupacken würden.