36
Es gibt kein Zurück
Inverness, Juli 1769
Roger ging langsam durch die Stadt und sah sich mit einer Mischung aus Faszination und Entzücken um. Inverness hatte sich in den letzten zweihundert Jahren ziemlich verändert, kein Zweifel, und doch war es eindeutig dieselbe Stadt; sicher, es war ein ganzes Stück kleiner, und die Hälfte seiner schlammigen Straßen war ungepflastert, und doch kannte er die Straße, die er gerade entlangspazierte, war sie schon hundert Mal entlangspaziert.
Es war die Huntly Street, und während die meisten der kleinen Geschäfte und Gebäude ihm neu waren, stand am anderen Flußufer die Old High Church - zur Zeit noch nicht ganz so alt -, und ihr stämmiger Turm war so kantig wie eh und je. Wenn er jetzt eintreten würde, würde doch bestimmt gerade Mrs. Dunvegan, die Frau des Pfarrers, die Blumen für den Sonntagsgottesdienst auf der Kanzel arrangieren, oder? Nein, das würde sie nicht - Mrs. Dunvegan mit ihren dicken Wollpullovern und den fürchterlichen Napfkuchen, mit denen sie die kranken Gemeindemitglieder traktierte, gab es noch gar nicht. Und doch stand die kleine Steinkirche fest und vertraut da, in der Obhut eines Fremden.
Die Kirche seines Vaters war noch nicht da; sie war - würde? - 1837 gebaut worden. Ebenso hatte man das Pfarrhaus, das ihm immer so alt und gebrechlich vorgekommen war, erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut. Er war an dem Grundstück vorbeigekommen; im Augenblick befand sich dort nur ein Dickicht aus Fingerkraut und Ginster, und ein einzelner Ebereschenschößling sproß aus dem Unterholz hervor und ließ sein Laub im sanften Wind flattern.
Dieselbe feuchte Kühle lag in der Luft, frisch und kribbelnd - doch der allgegenwärtige Gestank der Autoabgase fehlte und war einem schwachen Abwassergeruch gewichen. Was ihm am meisten auffiel, war das Fehlen der Kirchen; dort, wo eines Tages beide Ufer von vornehmen Türmen und Spitzdächern nur so wimmeln würden, verteilten sich jetzt nur kleine Häuser.
Es gab nur die eine, steinerne Fußgängerbrücke, doch der River Ness war ganz der alte. Der Fluß war nicht tief, in den Stromschnellen saßen die gleichen Möwen und kreischten sich gegenseitig zu, während sie zwischen den Steinen, die gerade eben unter der Wasseroberfläche lagen, kleine Fische fingen.
»Viel Glück, Kumpel«, sagte er zu einer feisten Möwe, die auf der Brücke saß, und ging über den Fluß in die Stadt.
Hier und dort stand ein elegantes Anwesen, abgeschirmt durch ein großes Grundstück, eine Dame von Welt, die ihre Röcke ausbreitete und die Anwesenheit des umstehenden Pöbels ignorierte. In einiger Entfernung von ihm stand Mountgerald; das große Haus sah exakt so aus, wie er es in Erinnerung hatte, nur daß die großen Rotbuchen, die es später umgeben würden, noch nicht gepflanzt waren; statt dessen lehnte sich eine Reihe spindeldürrer, italienischer Zypressen traurig an die Gartenmauer und machten ganz den Eindruck, als hätten sie Heimweh nach ihrem sonnigen Geburtsland.
Trotz seiner Eleganz sagte man Mountgerald nach, das Haus sei in der denkbar ältesten Tradition gebaut worden - indem man das Fundament über einem Menschenopfer errichtete. Der Sage nach hatte man einen Arbeiter in das Kellerloch gelockt und ihm von der neu gebauten Mauer aus einen Stein auf den Kopf fallen lassen, der ihn erschlug. Er war - so besagte die Lokalgeschichte - dort im Keller begraben worden, sein Blut ein Sühneopfer für die hungrigen Erdgeister, welche somit zufriedengestellt gestattet hatten, daß das Gebäude die Jahre blühend und unbehelligt überstand.
Im Augenblick konnte das Haus nicht älter sein als zwanzig oder dreißig Jahre. Es war gut möglich, daß noch Menschen in der Stadt lebten, die an seiner Errichtung mitgearbeitet hatten; die genau wußten, was in diesem Keller geschehen war, wem und warum.
Doch er hatte anderes zu tun; Mountgerald und sein Geist würden ihr Geheimnis für sich behalten müssen. Mit einem leisen Stich des Bedauerns ließ er das große Haus hinter sich und wandte seine Historikernase der Straße zu, die flußabwärts zu den Docks führte.
Mit einem Gefühl, das man nur als déjà vu bezeichnen konnte, schob er die Tür einer Kneipe auf. Der Fachwerkeingang mit dem Steinfußboden war derselbe, den er noch vor einer Woche gesehen hatte - und in zweihundert Jahren -, und der vertraute Geruch von Hopfen und Gerste in der Luft tröstete seine Lebensgeister. Der Name hatte sich verändert, doch der Biergeruch nicht.
Roger trank einen tiefen Schluck aus seinem Holzbecher und verschluckte sich fast. »Alles in Ordnung, Mann?« Der Wirt blieb stehen, einen Eimer Sand in der Hand, und sah Roger an.
»Klar«, sagte Roger heiser. »Alles klar.«
Der Wirt nickte und streute weiter seinen Sand aus, doch er behielt Roger aus Erfahrung im Blick für den Fall, daß dieser drohte, sich auf den frisch gekehrten und mit Sand bestreuten Boden zu übergeben.
Roger hustete und räusperte sich, dann probierte er vorsichtig noch einen Schluck. Der Geschmack war in Ordnung; er war sogar sehr gut. Es war der Alkoholgehalt, mit dem er nicht gerechnet hatte; dieses Zeug hatte es in sich wie kein modernes Bier, das Roger je untergekommen war. Claire hatte gesagt, Alkoholismus sei typisch für diese Zeit, und Roger konnte gut sehen, warum. Wenn allerdings Alkoholismus das größte Problem gewesen wäre, dem er sich gegenübersah, dann hätte er damit umgehen können.
Er saß still an der Feuerstelle, trank und genoß das dunkle, bittere Gebräu, während er beobachtete und die Ohren spitzte.
Es war eine Hafenkneipe, und sie war gut besucht. Da sie so nah an den Docks am Moray Firth lag, beherbergte sie Schiffskapitäne und Kaufleute ebenso wie Matrosen von den Schiffen, die im Hafen vor Anker lagen, und Hafenarbeiter und Arbeiter aus den umliegenden Lagerhäusern. Auf den bierfleckigen Oberflächen ihrer zahlreichen Tische wurde eine Vielzahl von Geschäften besiegelt.
Mit halbem Ohr konnte Roger hören, wie ein Vertrag für die Verschiffung von dreihundert Ballen billigen Drogettstoffes aus Aberdeen in die Kolonien abgeschlossen wurde, der gegen eine Schiffsladung Reis und Indigo aus Carolina ausgetauscht werden sollte. Hundert Gallowayrinder, sechs Zentner Kupfer, Fässer mit Schwefel, Melasse und Wein. Mengen und Preise, Lieferdaten und -bedingungen trieben durch das Gerede und den Biergeruch der Kneipe wie die dichten, blauen Tabakrauchwolken, die knapp unter den niedrigen Deckenbalken schwebten.
Doch es wurde nicht nur mit Waren gehandelt. In einer Ecke saß ein Schiffskapitän, wie man an seinem langschößigen Rock und dem feinen, schwarzen Dreispitz erkennen konnte, der neben seinem Ellbogen auf dem Tisch lag. Ein Gehilfe assistierte ihm, und Hauptbuch und Geldkassette lagen vor ihm auf dem Tisch, während er einen unablässigen Strom von Menschen anhörte, Emigranten, die für sich und ihre Familien eine Möglichkeit zur Überfahrt in die Kolonien suchten.
Roger beobachtete die Vorgänge unauffällig. Das Schiff sollte nach Virginia fahren, und nachdem er einige Zeit zugehört hatte, schloß er, daß die Fahrtkosten für einen männlichen Passagier - wenn er wie ein feiner Herr reisen wollte - zehn Pfund und acht Schillinge betrug. Wer willens war, im Zwischendeck zu reisen, zusammengepfercht wie die Fässer und das Vieh unten im Frachtraum, konnte für vier Pfund, zwei Schillinge pro Nase an Bord gehen, wenn er die Verpflegung für die sechswöchige Reise selbst mitbrachte. Trinkwasser, so verstand er, wurde zur Verfügung gestellt.
Für jene, die die Überfahrt begehrten, sie aber nicht finanzieren konnten, gab es andere Möglichkeiten.
»Zwangsarbeit für Euch, Eure Frau und Eure beiden älteren Söhne?« Der Kapitän legte abschätzend den Kopf schräg und betrachtete die Familie, die vor ihm stand. Ein kleiner, sehniger Mann, der vielleicht Anfang Dreißig war, aber viel älter aussah, schäbig und von der Arbeit gebeugt. Seine Frau, vielleicht ein wenig jünger, die hinter ihrem Mann stand, die Augen fest auf den Boden geheftet, und zwei kleine Mädchen fest an den Händen hielt. Die älteren Jungen standen bei ihrem Vater und gaben sich Mühe, männlich zu wirken. Roger hielt sie für vielleicht zehn und zwölf, unter Berücksichtigung der Unterernährung, die für ihre schwächliche Statur verantwortlich war.
»Ihr selbst und die Jungen, aye, das geht«, sagte der Kapitän. Er blickte stirnrunzelnd auf die Frau, die ihren Blick nicht hob. »Niemand wird eine Frau mit so vielen Kindern kaufen - vielleicht kann sie eins behalten. Aber die Mädchen müßt Ihr verkaufen.«
Der Mann sah sich nach seiner Familie um. Seine Frau hielt den Kopf gesenkt, unbeweglich, ohne irgend etwas anzusehen. Eins der Mädchen zuckte und wand sich jedoch und beschwerte sich leise, daß ihre Hand zerquetscht würde. Der Mann wandte sich wieder um.
»Gut«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Können sie - dürfen sie vielleicht - zusammen gehen?«
Der Kapitän rieb sich mit der Hand über den Mund und nickte beiläufig.
»Sehr wahrscheinlich.«
Roger wartete die Details der Transaktion nicht ab. Er stand abrupt auf und verließ die Kneipe; das dunkle Bier schmeckte ihm nicht mehr.
Draußen auf der Straße blieb er stehen und befühlte die Münzen in seiner Tasche. Es war alles, was er in der Zeit, die ihm zur Verfügung stand, an passendem Geld hatte auftreiben können. Allerdings hatte er gedacht, daß es reichen würde; er war kräftig gebaut und hatte einiges Vertrauen in seine Fähigkeiten. Doch die kleine Szene, die er in der Kneipe erlebt hatte, hatte ihn erschüttert.
Er war mit der Geschichte der Highlands aufgewachsen. Er wußte sehr gut, was eine Familie so tief in die Verzweiflung treiben konnte, daß sie dauerhafte Trennung und Quasi-Sklaverei als Preis für das Überleben in Kauf nahm.
Er wußte alles über die Verkäufe von Ländereien, mit denen man die kleinen Pächter von dem Land vertrieb, das ihre Familien seit Hunderten von Jahren bestellt hatten, alles über die fürchterlichen Armuts- und Hungerzustände in den Städten, über die schlichte Unmöglichkeit, in dieser Zeit in Schottland sein Dasein zu fristen. Und doch hatten ihn all die Jahre der Lektüre nicht auf den Blick im Gesicht dieser Frau vorbereitet, die ihre Augen fest auf den frisch mit Sand bestreuten Boden heftete und die Hände ihrer Töchter krampfhaft mit den ihren umklammerte.
Zehn Pfund, acht Schillinge. Oder vier Pfund und zwei. Plus was auch immer die Lebensmittel kosten mochten. Er hatte exakt vierzehn Schillinge und drei Pence in seiner Tasche, außerdem eine Handvoll Kupferkleingeld und ein paar Farthings.
Er ging langsam durch die Straße, die am Meer entlangführte, und blickte auf die Ansammlung von Schiffen, die an den Holzdocks angelegt hatte. Zum Großteil Fischketschen, kleine Galeeren und Briggs, die entlang des Firths ihren Geschäften nachgingen oder im Höchstfall über den Kanal fuhren und Fracht und Passagiere nach Frankreich brachten. Nur drei große Schiffe lagen im Firth vor Anker, von der Größe, die den Winden der Atlantiküberfahrt trotzen konnte.
Er konnte natürlich nach Frankreich übersetzen und von dort ein Schiff nehmen. Oder auf dem Landweg nach Edinburgh reisen, welches einen viel größeren Hafen hatte als Inverness. Doch dann würde es schon sehr spät im Jahr für eine Überfahrt sein. Brianna war ihm bereits sechs Wochen voraus; er durfte keine Zeit mehr verlieren, sie zu finden - weiß Gott, was einer Frau allein hier zustoßen konnte.
Vier Pfund, zwei Schillinge. Nun, er konnte natürlich arbeiten. Da er weder Frau noch Kinder zu versorgen hatte, würde er den Großteil seines Verdienstes sparen können. Aber da ein normaler Bürogehilfe etwa zwölf Pfund im Jahr verdiente und er wahrscheinlich eher Arbeit als Stallknecht als in der Buchhaltung finden würde, waren seine Chancen, das Geld für die Überfahrt in absehbarer Zeit zusammenzusparen, herzlich gering.
»Immer der Reihe nach«, murmelte er. »Finde erst mal heraus, wohin sie gefahren ist, bevor du dir den Kopf zerbrichst, wie du selbst dorthin kommst.«
Er nahm die Hand aus der Tasche und wandte sich, zwischen zwei Lagerhäusern hindurch, nach rechts in eine enge Gasse. Seine Hochstimmung vom Morgen war zum Großteil verflogen, doch ein wenig davon kehrte zurück, als er sah, daß er richtig geraten hatte; das Büro des Hafenmeisters war genau dort, wo es seines Wissens nach sein mußte - in demselben flachen Steingebäude, in dem es auch in zweihundert Jahren noch sein würde. Roger lächelte mit ironischem Humor; Schotten waren nicht geneigt, Veränderungen nur um ihrer selbst willen durchzuführen.
Innen war es voll und geschäftig, und vier abgehetzte Bürogehilfen saßen hinter einer abgenutzten Holztheke, schrieben und stempelten, trugen Papierbündel hin und her, nahmen Geld entgegen und trugen es sorgsam in ein innenliegendes Büro, aus welchem sie Sekunden später mit Japanlacktabletts wieder herauskamen, auf denen Quittungen lagen.
Ein Gedränge ungeduldiger Männer preßte sich gegen die Theke, und jeder von ihnen bemühte sich, mit Hilfe seiner Stimme und Haltung zu signalisieren, daß sein Anliegen dringender war als das seines Nachbarn. Als es Roger jedoch erst einmal gelungen war, die Aufmerksamkeit eines der Angestellten für sich zu beanspruchen, stellte sich heraus, daß er ohne Probleme die Register der Schiffe einsehen konnte, die in den letzten paar Monaten aus Inverness abgesegelt waren.
»Halt, wartet«, sagte er zu dem jungen Mann, der ihm ein großes, ledergebundenes Buch über die Theke zuschob.
»Aye?« Der Bürogehilfe war rot vor Eile und hatte einen Tintenklecks auf der Nase, hielt aber höflich mitten im Lauf inne.
»Was verdient Ihr hier?« fragte Roger.
Die hellen Augenbrauen des Mannes gingen in die Höhe, doch er hatte es viel zu eilig, um Rückfragen zu stellen oder über die Frage beleidigt zu sein.
»Sechs Schillinge die Woche«, sagte er kurz und verschwand, als jemand aus dem Büro hinter der Theke verärgert »Munro!« rief.
»Mmpfm.« Roger schob sich durch die Menge zurück und trug das Registerbuch zu einem kleinen Tisch am Fenster, fort vom Hauptverkehr.
Da er gesehen hatte, unter welchen Bedingungen die Schreiber arbeiteten, war Roger beeindruckt von der Lesbarkeit der handgeschriebenen Register. Er war an die archaische Schreibweise und Interpunktion gewöhnt, wenn auch die Dokumente, die er gewöhnlich zu sehen bekam, immer vergilbt und empfindlich waren, kurz vor der Auflösung. Als Historiker empfand er einen merkwürdigen, leisen Nervenkitzel dabei, die Seiten frisch und weiß vor sich zu sehen und dahinter den Schreiber, der an einem hohen Tisch saß und seine Einträge machte, so schnell er schreiben konnte, die Schultern gegen den Andrang im Zimmer hochgezogen.
Du schiebst es nur vor dir her, sagte eine kalte, leise Stimme in seinem Kopf. Entweder ist sie hier, oder sie ist es nicht; daß du Angst hast nachzusehen, wird nichts daran ändern. Mach voran!
Roger holte tief Luft und schlug das dicke Hauptbuch auf. Die Namen der Schiffe standen in sauberen Buchstaben am Kopf der Seiten, gefolgt von den Namen ihrer Kapitäne und Maate, ihrer Hauptfracht und dem Tag der Abfahrt. Arianna. Polyphemus. Lustige Witwe. Tiburon. Trotz seiner Anspannung mußte er die Schiffsnamen bewundern, während er die Seiten durchblätterte.
Eine halbe Stunde später hatte er aufgehört, über Poetisches und Pittoreskes zu staunen; statt dessen nahm er die einzelnen Schiffsnamen kaum noch wahr, während er mit wachsender Verzweiflung mit dem Finger über die Seiten fuhr. Nicht hier, sie war nicht hier!
Doch sie mußte, argumentierte er mit sich selbst. Sie mußte ein Schiff in die Kolonien genommen haben, wo zum Teufel konnte sie sonst sein? Es sei denn, sie hatte die Notiz doch nicht gefunden… aber das Übelkeitsgefühl unter seinen Rippen versicherte ihm, daß sie sie gefunden hatte; nichts anderes hätte sie dazu bewegen können, den Weg durch die Steine zu riskieren.
Er holte tief Luft und schloß seine Augen, die die Ermüdung vom Lesen der handgeschriebenen Seiten zu spüren begannen. Dann öffnete er die Augen, wandte sich erneut dem ersten in Frage kommenden Register zu und begann von vorne zu lesen, wobei er die einzelnen Namen verbissen vor sich hin murmelte, um sicherzugehen, daß er keinen überlas.
Mr. Phineas Forbes, Privatmann.
Mrs. Wilhelmina Forbes.
Master Joshua Forbes.
Mrs. Josephine Forbes.
Mrs. Eglatine Forbes.
Mrs. Charlotte Forbes.
Er lächelte vor sich hin bei dem Gedanken an Mr. Phineas Forbes, umgeben von seinen Frauen. Obwohl er wußte, daß »Mrs.« hier manchmal nur die abgekürzte Form von »Mistress« war und demzufolge sowohl für verheiratete als auch für unverheiratete Frauen benutzt wurde - anstelle des »Miss« für kleine Mädchen - sah er im Geiste das unwiderstehliche Bild von Phineas vor sich, der selbstsicher den Zug seiner vier Ehefrauen anführte, während Master Joshua zweifellos die Nachhut bildete.
Mr. William Talbot, Kaufmann.
Mr. Peter Talbot, Kaufmann.
Mr. Jonathan Bicknell, Arzt.
Mr. Robert MacLeod, Bauer.
Mr. Gordon MacLeod, Bauer.
Mr. Martin MacLeod, Bauer…
Auch bei diesem Durchgang keine Randalls. Nicht auf der Persephone, der Rache der Königin oder der Phoebe. Er rieb sich die schmerzenden Augen und begann mit dem Register der Phillip Alonzo. Ein spanischer Name, doch es segelte unter schottischer Flagge. Abfahrt von Inverness unter dem Kommando von Kapitän Patrick O’Brian.
Er hatte noch nicht aufgegeben, machte sich aber bereits Gedanken darüber, was er als nächstes tun sollte, wenn er sie nicht in den Registern aufgelistet fand. Lallybroch natürlich. Er war einmal dort gewesen, in seiner eigenen Zeit, und hatte die verlassenen Überreste des Gehöftes aufgesucht; würde er es jetzt finden, ohne Hilfe von Straßen und Schildern?
Seine Gedanken kamen mit einem Ruck zum Stehen, als sein wandernder Finger fast am Boden der Seite anhielt. Nicht Brianna, nicht der Name, den er suchte, aber doch ein Name, bei dem es in seinem Kopf klingelte. Fraser stand da in der schrägen, klaren, schwarzen Schrift. Mr. Brian Fraser. Nein, nicht Brian. Und auch nicht Mister. Er beugte sich tiefer über das Blatt und blinzelte auf die verkrampften, schwarzen Buchstaben.
Er schloß die Augen und spürte sein Herz heftig in der Brust schlagen. Erleichterung durchlief ihn, so berauschend wie das spezielle Schwarzbier in der Kneipe. Mrs., nicht Mr. - und was zunächst nur wie ein ausladender Schlenker am »n« von Brian ausgesehen hatte, erwies sich beim näheren Hinsehen fast sicher als hingeschludertes »a«.
Sie, sie war es, sie mußte es sein! Es war ein ungewöhnlicher Vorname - er hatte nirgendwo in dem massiven Register eine andere Brianna oder Briana gesehen. Und Fraser paßte ebenfalls; im Lauf der quichotischen Suche nach ihrem Vater hatte sie seinen Namen angenommen, den Namen, der ihr von Geburt an zustand.
Er knallte das Register zu, als wollte er verhindern, daß sie zwischen den Seiten entwischte, und saß einen Augenblick lang nur da und holte Luft. Hab’ dich! Er sah, wie der Schreiber ihn von der Theke aus fragend anblickte, lief rot an und öffnete das Buch erneut.
Die Phillip Alonzo. Aus Inverness abgesegelt am vierten Juli Anno Domini 1769. Nach Charleston, South Carolina.
Bei der Ortsangabe runzelte er die Stirn, plötzlich unsicher. South Carolina. War das ihr eigentliches Ziel, oder konnte sie nicht näher herankommen? Ein schneller Blick in die anderen Register zeigte im Juli keine Schiffe nach North Carolina. Vielleicht hatte sie einfach das erste Schiff in die südlichen Kolonien genommen und beabsichtigte, auf dem Landweg weiterzureisen.
Oder vielleicht hatte er sich geirrt. Ihn packte eine Kälte, die nicht vom Flußwind herrührte, der neben ihm durch die Fensterritzen drang. Er blickte noch einmal auf die Seite und war beruhigt. Nein, es war kein Beruf angegeben, wie das bei allen Männern der Fall war. Es war ganz sicher »Mrs.«, und daher mußte es auch »Briana« sein. Und wenn es »Briana« war, dann war es auch Brianna, das wußte er.
Er stand auf und reichte seinem blonden Bekannten das Buch über die Theke.
»Danke, Mann«, sagte er und verfiel entspannt in seinen üblichen, weichen Akzent. »Könnt Ihr mir sagen, ob zur Zeit ein Schiff im Hafen liegt, das bald in die amerikanischen Kolonien aufbricht?«
»Oh, aye«, sagte der Bürogehilfe, während er geschickt mit einer Hand den Registerband verstaute und mit der anderen von einem Kunden eine Verladequittung in Empfang nahm. »Zufällig liegt hier die Gloriana; sie fährt übermorgen nach Carolina.« Er betrachtete Roger von oben bis unten. »Emigrant oder Seemann?« fragte er.
»Seemann«, sagte Roger prompt. Ohne die hochgezogene Augenbraue des anderen Mannes zu beachten, schwenkte er die Hand über den Wald aus Masten, der durch die verglasten Fenster zu sehen war. »Wo kann ich mich einschreiben?«
Der Schreiber, der jetzt beide Augenbrauen hochgezogen hatte, wies kopfnickend zur Tür.
»Ihr Kapitän schlägt seine Zelte im ›Klosterbruder‹ auf, wenn er im Hafen liegt. Bestimmt ist er jetzt auch da - Kapitän Bonnet.« Er verzichtete darauf, hinzuzufügen, was sein skeptischer Gesichtsausdruck deutlich sagte; wenn Roger ein Seemann war, dann war er, der Schreiber, ein afrikanischer Papagei.
»Gut, mo ghille. Danke.« Mit einem angedeuteten Salut wandte sich Roger ab, drehte sich jedoch an der Tür noch einmal um und sah, daß der Schreiber ihn immer noch beobachtete, ohne den Andrang seiner ungeduldigen Kunden zu beachten.
»Wünscht mir Glück«, sagte Roger grinsend.
Das Antwortgrinsen des Schreibers war mit einem Ausdruck versetzt, der Bewunderung oder Sehnsucht hätte sein können.
»Viel Glück, Mann!« rief er und winkte zum Abschied. Als die Tür zuschlug, war er schon in ein Gespräch mit dem nächsten Kunden vertieft und hielt den Federkiel bereit.
 
Wie angekündigt, fand er Kapitän Bonnet in der Kneipe, wo er sich in einer Ecke unter einer dichten, blauen Dunstwolke niedergelassen hatte, zu der die Zigarre des Kapitäns ihren Teil beitrug.
»Euer Name?«
»MacKenzie«, sagte Roger, einem plötzlichen Impuls folgend. Was Brianna konnte, konnte er auch.
»MacKenzie. Irgendwelche Erfahrung, MacKenzie?«
Ein Sonnenstrahl fiel auf das Gesicht des Kapitäns und brachte ihn zum Blinzeln. Bonnet zog sich in den Schatten der Bank zurück, und die Falten um seine Augen entspannten sich. Roger sah sich einem unangenehm durchdringenden Blick ausgesetzt.
»Hab’ schon mal Heringe im Minch gefischt.«
Das war nicht gelogen; er hatte als Teenager mehrfach den Sommer als Matrose auf einem Heringsfischerboot verbracht, das einem Bekannten des Reverend gehörte. Von dieser Erfahrung hatte er eine nützliche Muskelschicht zurückbehalten, ein gutes Ohr für den Singsang-Akzent der Inseln und eine hartnäckige Abneigung gegen Heringe. Doch zumindest hatte er schon einmal ein Tau in der Hand gespürt.
»Aye, groß genug seid Ihr ja. Aber ein Fischer ist wohl kaum dasselbe wie ein Seefahrer.« Das sanft schwingende Irisch des Mannes ließ offen, ob dies eine Frage war, eine Feststellung - oder eine Provokation.
»Ich hätte nicht gedacht, daß es ein Beruf ist, der große Erfahrung erfordert.« Aus einem Grund, den er nicht benennen konnte, sträubten sich in Kapitän Bonnets Gegenwart seine Nackenhaare.
Die grünen Augen verschärften sich.
»Vielleicht mehr, als Ihr glaubt - aber es ist sicher keine Sache, die ein williger Mann nicht lernen könnte. Aber was könnte es sein, das einen von Eurer Sorte plötzlich auf See zieht?«
Seine Augen flackerten im Schatten der Wirtschaft, während sie ihn betrachteten. Von Eurer Sorte. Was war es? fragte sich Roger. Nicht seine Aussprache - er hatte darauf geachtet, jede Andeutung des Oxforder Gelehrten zu unterdrücken und den singenden »Teuchter«-Dialekt der Inseln zu benutzen. War er für einen Möchtegern-Seemann zu gut gekleidet? Oder war es der versengte Kragen und die Brandstelle auf der Brust seines Rocks?
»Ich denke, das ist nicht Eure Angelegenheit«, antwortete er gelassen. Mit deutlicher Anstrengung hielt er die Hände an seinen Seiten entspannt.
Die grünen Augen studierten ihn ungerührt und reglos. Wie ein Leopard, der ein vorbeiziehendes Gnu beobachtet und sich fragt, ob es wohl die Jagd wert ist, dachte Roger.
Die schweren Lider senkten sich; er war es ihm nicht wert - im Augenblick.
»Bei Sonnenuntergang seid Ihr an Bord«, sagte Bonnet. »Fünf Schillinge im Monat, drei Tage in der Woche Fleisch, sonntags Plumpudding. Ihr bekommt eine Hängematte, aber für Eure Kleider müßt Ihr selbst sorgen. Ihr könnt das Schiff verlassen, wenn die Fracht entladen ist, vorher nicht. Sind wir uns einig, Sir?«
»Abgemacht«, sagte Roger, dessen Mund plötzlich ausgetrocknet war. Er hätte viel um ein Bier gegeben, aber nicht jetzt, nicht hier unter diesem aufmerksamen grünen Blick.
»Fragt nach Mr. Dixon, wenn Ihr an Bord geht. Er ist der Zahlmeister.« Bonnet lehnte sich zurück, zog ein kleines, in Leder gebundenes Buch aus seiner Tasche und schlug es auf. Audienz beendet.
Roger wandte sich um und ging hinaus, ohne zurückzusehen. Er spürte eine kleine, kalte Stelle an seinem Schädelansatz. Wenn er sich umsah, das wußte er, dann würde er die grünen, leuchtenden Augen reglos über den Rand des ungelesenen Buches gerichtet sehen, und sie würden jede Schwäche registrieren.
Die kalte Stelle, dachte er, war dort, wo die Zähne zupacken würden.
Der Ruf Der Trommel
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