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In welchem Kapitel wir einem Geist begegnen
»Zehn, elf, zwölf… und zwei, und sechs… ein Pfund, acht Schillinge, Sixpence, zwei Farthings!« Fergus ließ die letzte Münze feierlich in den Stoffbeutel fallen, zog ihn zu und reichte ihn Jamie. »Und drei Knöpfe«, fügte er hinzu, »aber die habe ich behalten«. Er klopfte sich auf seinen Rock.
»Hast du bei dem Wirt unser Essen bezahlt?« fragte mich Jamie und prüfte das Gewicht des kleinen Beutels.
»Ja«, versicherte ich ihm. »Ich habe noch vier Schillinge und Sixpence, dazu das, was Fergus gesammelt hat.«
Fergus lächelte bescheiden, und seine weißen Zähne blitzten in dem schwachen Licht, das aus dem Kneipenfenster fiel.
»Dann haben wir ja das Geld, das wir für die Beerdigung brauchen«, sagte er. »Bringen wir Monsieur Hayes jetzt zu dem Priester, oder warten wir bis morgen?«
Jamie blickte stirnrunzelnd zum Wagen hinüber, der still am Rand des Kneipenhofs stand.
»Ich glaube nicht, daß der Priester um diese Zeit noch wach ist«, sagte er mit einem Blick auf den aufgehenden Mond. »Aber…«
»Ich würde ihn lieber nicht mitnehmen«, sagte ich. »Nichts für ungut«, fügte ich mit einem entschuldigenden Blick auf den Wagen hinzu. »Aber wenn wir draußen im Wald schlafen, dann wird der… äh… Geruch…« Es war noch nicht überwältigend, aber sobald man den Rauchgeruch des Wirtshauses hinter sich ließ, nahm man in der Nähe des Wagens einen deutlichen Geruch wahr. Es war kein sanfter Tod gewesen, und wir hatten einen heißen Tag gehabt.
»Tante Claire hat recht«, sagte Ian, und fuhr sich unauffällig mit den Knöcheln unter der Nase entlang. »Wir wollen keine wilden Tiere anlocken.«
»Aber wir können Gavin doch nicht hierlassen!« protestierte Duncan, empört bei dem Gedanken. »Was, ihn hier am Eingang der Wirtschaft in seinem Leichentuch liegenlassen wie ein Findelkind in Windeln? « Er schwankte alarmierend, denn der Alkoholkonsum beeinträchtigte sein ohnehin schon empfindliches Gleichgewicht.
Im Licht des Mondes, der weiß auf sein messerscharfes Nasenbein schien, sah ich Jamies breiten Mund vor Belustigung zucken.
»Nein«, sagte er. »Wir lassen ihn nicht hier.« Er warf den kleinen Beutel mit einem leisen Klimpern von einer Hand in die andere und steckte ihn dann in die Rocktasche. Er hatte einen Entschluß gefaßt.
»Wir begraben ihn selbst«, sagte er. »Fergus, kannst du da drüben in den Stall gehen und schauen, ob du sehr billig einen Spaten kaufen kannst?«
 
Der kurze Weg durch die stillen Straßen von Charleston zur Kirche verlief ein bißchen weniger würdevoll als bei einem Leichenzug üblich, was unter anderem daran lag, daß Duncan darauf bestand, den Zug mit den interessantesten Passagen seines Trauergesanges zu begleiten.
Jamie fuhr langsam und rief ab und zu den Pferden ein paar anfeuernde Worte zu; Duncan stolperte heiser singend neben dem Gespann her und klammerte sich an das Halfter des einen Pferdes, während Ian das andere festhielt, damit es nicht durchging. Fergus hatte den neu erstandenen Spaten geschultert und prophezeite düster, daß wir noch die Nacht im Gefängnis verbringen müßten, weil wir die nächtliche Ruhe von Charleston gestört hatten.
Doch die Kirche stand in einer ruhigen Straße in einigem Abstand vom nächsten Haus. Das war gut, denn wir wollten ja keine Aufmerksamkeit erregen, doch es bedeutete auch, daß der Kirchhof beängstigend dunkel war und weder von Kerze noch Fackel erleuchtet wurde.
Große Magnolienbäume streckten ihre Äste über das Tor, ihre ledrigen Blätter schlaff vor Hitze, und eine Reihe Kiefern, die tagsüber Schatten und Zuflucht bieten sollte, schloß nachts auch die letzte Spur von Mond- und Sternenschein aus, so daß der Kirchhof in das Schwarz… nun, einer Grabkammer getaucht war.
Wenn man durch diese Luft ging, war es, als schöbe man Vorhänge aus schwarzem Samt beiseite, die durchdringend nach dem Terpentin der sonnenerhitzten Kiefern dufteten: lauter erdrückende Duftwolken. Nichts hätte der kalten Klarheit der Highlands unähnlicher sein können als diese drückende Atmosphäre des Südens. Dennoch - am Fuß der dunklen Ziegelmauern hingen schwache Nebelschwaden, und ich wünschte mir, Jamie hätte die Geschichte vom tannasq nicht ganz so farbenfroh erzählt.
»Wir suchen uns eine Stelle. Bleib hier und halt die Pferde, Duncan.« Jamie glitt von der Sitzbank des Wagens und nahm mich beim Arm.
»Vielleicht finden wir ein schönes Plätzchen an der Mauer«, sagte er und führte mich zum Tor. »Ian und ich graben, während du das Licht hältst, und Fergus kann Wache stehen.«
»Was ist mit Duncan?« fragte ich und sah zurück. »Alles in Ordnung mit ihm?« Der Schotte war unsichtbar, sein großer, dürrer Körper war mit dem größeren Fleck verschmolzen, der die Pferde und den Wagen andeutete, doch man konnte ihn immer noch deutlich hören.
»Er ist unser Zeremonienmeister«, sagte Jamie mit der Spur eines Lächelns in der Stimme. »Paß auf deinen Kopf auf, Sassenach.« Ich duckte mich automatisch unter einem tiefhängenden Magnolienzweig durch. Ich wußte nicht, ob Jamie wirklich im Dunkeln sehen konnte oder ob er die Hindernisse nur instinktiv erspürte, jedenfalls hatte ich ihn noch nie stolpern sehen, egal, wie dunkel es um ihn herum war.
»Meinst du nicht, daß ein frisches Grab den Leuten auffallen wird?« Es war doch nicht völlig schwarz auf dem Kirchhof; nachdem ich einmal aus dem Dunkel der Magnolien getreten war, konnte ich die verschwommenen Formen von Grabsteinen ausmachen, schattenhaft, aber unheimlich in der Dunkelheit. Ein schwacher Nebel stieg aus dem dichten Gras an ihrem Sockel auf.
Meine Fußsohlen prickelten, als wir uns vorsichtig einen Weg zwischen den Steinen bahnten. Mir war, als schlügen mir von unten unsichtbare Wellen des Tadels über unser unschickliches Eindringen entgegen. Ich stieß mir das Schienbein an einem Grabstein und biß mir auf die Lippen, weil ich das Bedürfnis unterdrücken mußte, mich bei seinem Eigentümer zu entschuldigen.
»Kann schon sein.« Jamie ließ meinen Arm los, um in seinem Rock herumzukramen. »Aber wenn der Priester Geld dafür haben wollte, Gavin zu beerdigen, wird er sich kaum die Mühe machen, ihn umsonst wieder auszugraben, aye?«
Ian jagte mir einen Schrecken ein, indem er aus dem Nichts neben mir auftauchte.
»An der Nordmauer ist noch Platz, Onkel Jamie«, sagte er leise, obwohl es offensichtlich war, daß niemand da war, der ihn hätte hören können. Er hielt inne und kam näher zu mir.
»Ziemlich dunkel hier, oder?« Der Junge hörte sich angespannt an. Er hatte fast so viel getrunken wie Jamie oder Fergus, aber während der Alkohol die älteren Männer mit grimmigem Humor erfüllt hatte, hatte er Ians Lebensgeister eher erlahmen lassen.
»Das stimmt, aye. Ich habe aber einen Kerzenstumpf aus der Wirtschaft, warte einen Augenblick.« Leises Geraschel kündete von Jamies Suche nach Feuerstein und Zunderschachtel.
Die Dunkelheit um mich herum gab mir das Gefühl, körperlos, selbst ein Geist zu sein. Ich blickte nach oben und sah ein paar Sterne, die so schwach durch die dicke Luft leuchteten, daß sie kein Licht auf den Boden warfen, sondern nur ein Gefühl immenser Distanz und unendlicher Ferne vermittelten.
»Es ist wie in der Osternacht«, kam leise Jamies Stimme, begleitet von den schwachen Kratzgeräuschen eines Feuersteins. »Ich habe die Messe einmal erlebt, in Notre Dame in Paris. Vorsicht, Ian, da ist ein Stein.« Ein dumpfes Geräusch und ein unterdrücktes Stöhnen zeigten an, daß Ian den Stein zu spät bemerkt hatte.
»Die Kirche war ganz dunkel«, fuhr Jamie fort, »aber die Leute, die zur Messe kamen, kauften kleine Wachskerzen bei den alten Frauen an der Tür. Es war ein bißchen wie hier« - ich fühlte seine himmelwärts gerichtete Geste mehr, als daß ich sie sah - »ein riesiger Raum über uns, der vor Stille widerhallte, und die Bänke rechts und links voller Leute.« Trotz der Hitze erschauerte ich unwillkürlich bei diesen Worten, die eine Vision der Toten um uns heraufbeschworen, dicht an dicht gedrängt in Erwartung ihrer unmittelbar bevorstehenden Auferstehung.
»Und dann, gerade als ich dachte, ich könnte die Stille und die Menschenmenge nicht mehr ertragen, kam die Stimme des Priesters vom Eingang. ›Lumen Christi‹, rief er aus, und die Meßdiener zündeten die große Kerze an, die er trug. Dann nahmen sie die Flamme mit ihren eigenen, kleinen Kerzen auf und huschten in den Gängen auf und ab, um das Licht an die Gläubigen weiterzugeben.«
Ich konnte seine Hände sehen, als die winzigen Funken des Feuersteins sie schwach erleuchteten.
»Danach erfüllte sich die Kirche mit dem Licht tausend kleiner Flammen, aber es war jene erste Kerze, die die Dunkelheit besiegt hat.«
Die Kratzgeräusche verstummten, und er nahm die Hand fort, mit der er die neugeborene Flamme geschützt hatte. Die Flamme wurde kräftiger und beleuchtete sein Gesicht von unten, tauchte seine hohen Wangenknochen und seine Stirn in goldenes Licht und seine Augenhöhlen in tiefe Schatten.
Er hob die Kerze hoch und begutachtete die Grabsteine, die unheimlich wie ein Steinkreis um uns aufragten.
»Lumen Christi«, sagte er leise und neigte vor einer Granitsäule, die von einem Kreuz gekrönt war, den Kopf. »Et requiescite in pace, amici.« Der halb spottende Ton war aus seiner Stimme verschwunden; er sprach völlig ernst, und ich fühlte mich sogleich merkwürdig getröstet, als hätte sich eine wachsame Präsenz zurückgezogen.
Da lächelte er mich an und reichte mir die Kerze.
»Sieh nach, ob du ein Stück Holz für eine Fackel finden kannst, Sassenach«, sagte er. »Ian und ich werden uns mit dem Graben abwechseln.«
 
Ich war nicht mehr nervös, kam mir aber immer noch wie eine Grabräuberin vor, als ich mit meiner Fackel unter einer Kiefer stand und zusah, wie Ian und Jamie sich in der tiefer werdenden Grube abwechselten, die nackten Rücken schweißglänzend im Fackelschein.
»Die Medizinstudenten haben früher Männer angeheuert, die ihnen frische Leichen von den Kirchhöfen stahlen«, sagte ich und reichte Jamie mein schmutziges Halstuch, als er sich, vor Anstrengung grunzend, aus dem Loch hob. »Es war ihre einzige Möglichkeit, das Sezieren zu üben.«
»Früher?« fragte Jamie. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und warf mir einen schnellen, ironischen Blick zu. »Oder heutzutage?«
Glücklicherweise war es so dunkel, daß Ian nicht sehen konnte, wie ich errötete. Es war nicht mein erster Ausrutscher und würde wahrscheinlich auch nicht mein letzter sein, doch meist brachten mir diese ungeschickten Bemerkungen höchstens einmal einen fragenden Blick ein, wenn sie überhaupt jemandem auffielen. Die Wahrheit war einfach keine Möglichkeit, die irgend jemand in Betracht gezogen hätte.
»Sie tun es heutzutage wohl auch noch«, gab ich zu. Mich schauderte bei dem Gedanken, einer frisch exhumierten und unkonservierten Leiche gegenüberzustehen, an der noch der Schmutz ihres entweihten Grabes klebte. Eine einbalsamierte Leiche auf einem Edelstahltisch war zwar auch nicht besonders angenehm, doch die Förmlichkeit der Präsentation trug mit dazu bei, die zerstörerische Realität des Todes wenigstens etwas auf Abstand zu halten.
Ich atmete kräftig durch die Nase aus, um die eingebildeten wie die erinnerten Gerüche loszuwerden. Als ich wieder einatmete, füllte sich meine Nase mit dem Aroma von feuchter Erde, dem heißem Pech meiner Kiefernfackel und dem schwächeren, kühleren Duft der lebendigen Kiefer über mir.
»Sie nehmen auch arme Schlucker und Verbrecher aus den Gefängnissen.« Ian, der unseren Wortwechsel offenbar gehört hatte, ohne ihn zu verstehen, ergriff die Gelegenheit zu einer kurzen Pause. Er wischte sich über die Stirn und stützte sich auf die Schaufel.
»Papa hat mir erzählt, wie er einmal festgenommen und nach Edinburgh gebracht wurde. Er wurde im Tolbooth festgehalten. Er war mit drei anderen Männern in einer Zelle, und einer davon war ein Kerl mit Schwindsucht, der furchtbar hustete, und die anderen Tag und Nacht wachhielt. Eines Nachts hörte der Husten auf, und da wußten sie, daß er tot war. Aber Papa sagte, sie waren so müde, daß sie nur noch ein Vaterunser für seine Seele beten und einschlafen konnten.«
Der Junge hielt inne und rieb sich die juckende Nase.
»Papa hat gesagt, er wurde ganz plötzlich wach, weil jemand seine Beine umklammerte und jemand anders ihn bei den Armen nahm und hochhob. Er trat um sich und schrie, und der, der seine Arme festhielt, kreischte und ließ ihn fallen, so daß er sich den Kopf auf den Steinen stieß. Er setzte sich hin, rieb sich den Schädel und stellte fest, daß er sich einem Arzt aus dem Hospital und zwei Helfern gegenübersah, die die Leiche zum Sezierraum tragen wollten.«
Ian grinste breit bei dem Gedanken und wischte sich das schweißnasse Haar aus dem Gesicht.
»Papa hat gesagt, er war sich nicht sicher, wer mehr erschrocken war, er oder die Kerle, die sich den Falschen geschnappt hatten. Er hat aber gesagt, daß der Arzt es zu bedauern schien - er meinte, mit seinem Beinstumpf hätte Papa ein interessanteres Objekt abgegeben.«
Jamie lachte und reckte die Arme, um seine Schultern zu entspannen. Seine Aufmachung, Gesicht und Oberkörper waren mit roter Erde verschmiert, sein Haar hatte er mit einem um die Stirn gebundenen Halstuch gebändigt - ließ ihn so verwegen wie den schlimmsten Grabräuber aussehen.
»Aye, ich erinnere mich an die Geschichte«, sagte er. »Ian meinte danach, alle Ärzte wären Unholde, und wollte nichts mehr mit ihrer Zunft zu tun haben.« Er grinste mich an; ich war in meiner eigenen Zeit Ärztin - Chirurgin - gewesen, doch hier hielt man mich nur für eine weise Frau, die sich mit Kräutern auskannte.
»Glücklicherweise hab’ ich ja keine Angst vor dem einen oder anderen Unhold«, sagte er und beugte sich zu mir herab, um mich schnell zu küssen. Seine Lippen waren warm und schmeckten nach Ale. Ich sah die Schweißtropfen, die sich in seinen lockigen Brusthaaren verfangen hatten, und seine Brustwarzen, dunkle Knospen im schwachen Licht. Mich überlief ein Zittern, das weder von der Kälte noch von unserer unheimlichen Umgebung herrührte. Er sah es, und sein Blick traf den meinen. Er holte tief Luft, und plötzlich wurde mir bewußt, wie eng mein Mieder saß und schwer meine Brüste in dem schweißdurchtränkten Stoff lagen.
Jamie verlagerte leicht sein Gewicht und zupfte an seiner engsitzenden Hose herum.
»Verdammt«, sagte er leise. Er senkte den Blick und wandte sich ab, die Spur eines reumütigen Lächelns auf den Lippen.
Ich hatte nicht damit gerechnet, erkannte es aber nur zu gut. Ein plötzlicher Anflug von Lust war eine häufige, wenn auch absonderliche Reaktion auf die Gegenwart des Todes. Ein Soldat spürt ihn im Dämmerzustand nach der Schlacht, auch dem Heiler, dessen Geschäft Blut und Überlebenskampf sind, ist er vertraut. Vielleicht war Ian der Wahrheit ja näher, als ich dachte, wenn er Ärzte für Unholde hielt.
Jamies Hand berührte meinen Rücken, und ich fuhr auf. Meine flammende Fackel versprühte einen Funkenschauer. Er nahm sie mir ab und deutete auf einen Grabstein neben uns.
»Setz dich, Sassenach«, sagt er. »Du solltest nicht so lange stehen.« Ich hatte mir bei unserem Schiffbruch das linke Schienbein gebrochen, und obwohl es gut verheilt war, schmerzte das Bein manchmal noch.
»Mir geht’s gut.« Dennoch ging ich zu dem Stein hinüber und streifte Jamie im Vorbeigehen. Er strahlte Hitze aus, doch seine nackte Haut fühlte sich durch den verdunstenden Schweiß kühl an. Ich konnte ihn riechen.
Ich blickte ihn an und sah, daß er dort, wo ich seine helle Haut berührt hatte, eine Gänsehaut bekam. Ich schluckte und verdrängte das plötzliche Verlangen, mich mit ihm zu einer heftigen Paarung auf zerdrücktem Gras und nackter Erde ins Dunkel zu stürzen.
Seine Hand verweilte auf meinem Ellbogen, als er mir half, mich auf den Stein zu setzen. Rollo lag hechelnd daneben, und seine Speicheltropfen glitzerten im Fackelschein. Seine gelben Augen blickten mich an und verengten sich.
»Vergiß es«, sagte ich und kniff meinerseits die Augen zusammen. »Wenn du mich beißt, ramme ich dir meinen Schuh so tief in den Hals, daß du erstickst.«
»Wuff!« sagte Rollo leise. Er legte seine Schnauze auf die Pfoten, doch seine haarigen Ohren waren aufgerichtet, bereit, auch das leiseste Geräusch aufzunehmen.
Der Spaten bohrte sich fast lautlos in die Erde zu Ians Füßen. Er richtete sich auf, strich sich mit dem Handrücken den Schweiß aus dem Gesicht und hinterließ dabei schwarze Streifen auf seinem Kinn. Er atmete tief aus, sah zu Jamie hoch und spielte mit hängender Zunge den Erschöpften.
»Aye, ich denke, es ist tief genug.« Jamie erhörte sein wortloses Flehen mit einem Kopfnicken. »Dann hole ich jetzt Gavin.«
Fergus runzelte angespannt die Stirn - seine Gesichtszüge leuchteten klar im Fackelschein.
»Werdet Ihr keine Hilfe brauchen, um die Leiche zu tragen?« Sein Widerstreben war nicht zu übersehen, aber immerhin hatte er das Angebot gemacht. Jamie lächelte ihm leise ironisch zu.
»Das schaffe ich schon«, sagte er. »Gavin war ein kleiner Kerl. Aber du könntest die Fackel mitnehmen, damit ich etwas sehe.«
»Ich komme mit, Onkel Jamie!« Ian krabbelte hastig aus der Grube; seine mageren Schultern glänzten vor Schweiß. »Nur falls du Hilfe brauchst«, fügte er atemlos hinzu.
»Angst, im Dunkeln allein zu bleiben?« fragte Fergus sarkastisch. Ich hatte den Eindruck, daß ihn der Friedhof nervös machte, denn obgleich er Ian, den er als einen jüngeren Bruder betrachtete, manchmal hänselte, wurde er dabei nur selten gemein.
»Ja, habe ich«, sagte Ian schlicht. »Du nicht?«
Fergus öffnete den Mund, zog die Augenbrauen hoch, machte den Mund wieder zu und wandte sich ohne ein Wort der schwarzen Öffnung des Friedhofstores zu, durch die Jamie verschwunden war.
»Findest du nicht, daß es hier schrecklich ist, Tante Claire?« murmelte Ian nervös. Er hielt sich dicht neben mir, als wir Fergus’ flackernder Fackel zwischen den aufragenden Steinen folgten. »Ich muß immer an die Geschichte denken, die Onkel Jamie erzählt hat. Und daß vielleicht jetzt, wo Gavin tot ist, das kalte Wesen… ich meine, glaubst du, es könnte kommen… und ihn holen?« Ein hörbares Schlucken unterbrach die Frage, und ein eisiger Finger berührte mich genau an der Wurzel meiner Wirbelsäule.
»Nein«, sagte ich etwas zu laut. Ich ergriff Ians Arm, weniger zur Stütze als vielmehr, weil er ein Wesen aus Fleisch und Blut war. »Ganz bestimmt nicht.«
Seine Haut war klamm vom verdunstenden Schweiß, aber es beruhigte mich, seinen mageren, muskulösen Arm unter meinen Fingern zu spüren. Jetzt, wo er nur halb sichtbar war, erinnerte er mich an Jamie; er war fast so groß wie sein Onkel und fast genauso stark, obwohl er noch die magere Schlaksigkeit des Heranwachsenden an sich hatte.
Dankbar tauchten wir schließlich in den kleinen Lichtkegel ein, den Fergus’ Fackel warf. Das flackernde Licht schien durch die Wagenräder und warf Schatten, die wie Spinnweben im Staub lagen. Auf der Straße war es genauso heiß wie auf dem Kirchhof, doch es kam mir irgendwie so vor, als könnte man die Luft freier und leichter atmen, wenn man nicht mehr unter den erdrückenden Bäumen stand.
Zu meiner Überraschung war Duncan immer noch wach. Er hing auf der Sitzbank des Wagens wie eine verschlafene Eule und hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. Er sang vor sich hin, hörte damit aber auf, als er uns sah. Das lange Warten schien ihn ein wenig ernüchtert zu haben; er stieg einigermaßen trittsicher vom Sitz und kam zur Rückseite des Wagens, um Jamie zu helfen.
Ich unterdrückte ein Gähnen. Ich würde froh sein, wenn wir diese traurige Pflicht hinter uns hatten und zu unserem Rastplatz unterwegs waren, auch wenn es nur ein Blätterhaufen war, den ich als Bett in Aussicht hatte.
»Ifrinn an Diabhuil! A Dhia, thoir cobhair!«
»Sacrée Vierge!«
Ich fuhr auf. Es brach allgemeines Geschrei aus, die Pferde wieherten aufgeschreckt, rissen wie verrückt an ihren Beinfesseln, so daß der Wagen schwankte wie ein betrunkener Käfer.
»Wuff!« sagte Rollo neben mir.
»Himmel!« sagte Ian und stierte den Wagen an. »Himmel noch mal!«
Ich folgte seinem Blick und schrie auf. Aus dem Laderaum ragte eine bleiche Gestalt, die jedes Schwanken des Wagens mitmachte. Mehr konnte ich nicht sehen, denn dann brach das Chaos aus.
Rollo spannte sein Hinterteil an und schoß mit lautem Knurren durch die Dunkelheit, begleitet von Ians und Jamies Rufen und einem schrecklichen Schrei des Geistes. Hinter mir hörte ich französische Flüche, als Fergus, der auf den Kirchhof zurückrannte, im Dunkeln stolperte und über die Grabsteine stürzte.
Jamie hatte die Fackel fallen lassen; sie flackerte und zischte auf der staubigen Straße und drohte zu verlöschen. Ich fiel auf die Knie, blies sie an und versuchte verzweifelt, sie am Brennen zu halten.
Der Chor aus Rufen und Knurren schwoll zu einem Crescendo an. Ich stand auf, die Fackel in der Hand, und sah, wie Ian mit Rollo rang und versuchte, ihn von den verschwommenen Gestalten fernzuhalten, die in einer Staubwolke miteinander kämpften.
»Arrêtes, espèce de cochon!« Fergus galoppierte aus der Dunkelheit hervor und schwang den Spaten, den er geholt hatte. Niemand beachtete seinen Befehl, also trat er einen Schritt vor und ließ den Spaten mit einem dumpfen Klong! auf den Kopf des Eindringlings niedersausen. Dann schwang er sich zu Ian und Rollo herum.
»Sei du ebenfalls still!« sagte Fergus zu dem Hund und bedrohte ihn mit dem Spaten. »Halt sofort das Maul, du nichtsnutziges Vieh, sonst schlage ich dir den Schädel ein!«
Rollo knurrte und entblößte dabei seine Zähne auf eindrucksvolle Weise, die »Na, dann komm doch!« zu sagen schien, doch Ian hinderte ihn daran, irgendwelchen Schaden anzurichten, indem er seinen Arm um den Hals des Hundes legte und alle weiteren Kommentare abwürgte.
»Wo kommt der denn her?« fragte Ian erstaunt. Er reckte den Hals und versuchte, einen Blick auf die am Boden liegende Gestalt zu werfen, ohne Rollo loszulassen.
»Aus der Hölle«, sagte Fergus kurz. »Und von mir aus kann er sofort dorthin zurückkehren.« Er zitterte vom Schock und vor Ermüdung. Das Licht auf seinem Haken glänzte dumpf, als er sich eine dichte schwarze Locke aus den Augen strich.
»Nicht aus der Hölle, vom Galgen. Erkennst du ihn nicht?«
Jamie kam langsam auf die Füße und klopfte sich den Staub von den Kniehosen. Er atmete schwer und war voller Schmutzflecken, schien aber unverletzt zu sein. Er hob sein Halstuch auf und sah sich um, während er sich das Gesicht abwischte. »Wo ist Duncan?«
»Hier, Mac Dubh«, sagte eine rauhe Stimme von der Vorderseite des Wagens. »Den Pferden war Gavin von Anfang an nicht besonders geheuer, und sie haben sich ziemlich aufgeregt, als es plötzlich so aussah, als würde er auferstehen. Nicht«, fügte er fairerweise hinzu, »daß ich nicht auch’nen kleinen Schrecken gekriegt hätte.« Er beäugte die Gestalt auf dem Boden mißmutig und klopfte einem der scheuenden Pferde auf den Hals. »Ah, es ist doch nur irgendein Dummkopf, luaidh, Schluß jetzt mit dem Lärm, aye?«
Ich hatte Ian die Fackel gegeben und kniete mich hin, um unseren Besucher zu inspizieren. Anscheinend hatte er weiter keinen Schaden genommen, denn der Mann begann schon, sich zu regen. Jamie hatte recht: Es war der Mann, der heute früh der Hinrichtung entkommen war. Er war jung, ungefähr dreißig, muskulös und kraftvoll gebaut, und sein helles, schweißnasses Haar stand vor Dreck. Er roch nach Gefängnis und dem muffig-scharfen Dunst fortgesetzter Angst. Kein Wunder.
Ich nahm ihn beim Arm und half ihm, sich aufzusetzen. Er stöhnte, griff sich an den Kopf und blinzelte im Fackelschein.
»Geht es Euch gut?« fragte ich.
»Herzlichen Dank, Ma’am, mir ging’s schon mal besser.« Er hatte einen leichten, irischen Akzent und eine sanfte, tiefe Stimme.
Rollos Oberlippe war gerade so weit hochgezogen, daß man einen angsteinflößenden Eckzahn sehen konnte, als er dem Fremden die Schnauze in die Achsel stieß, schnüffelte, den Kopf zurückriß und explosionsartig nieste. Ein leises, zitterndes Lachen durchlief die Runde, und die Spannung ließ für einen Augenblick nach.
»Seit wann seid Ihr schon im Wagen?« wollte Duncan wissen.
»Seit heute mittag.« Schwankend von den Nachwirkungen des Hiebes, erhob sich der Mann umständlich auf die Knie. Er griff sich noch einmal an den Kopf und zuckte zusammen. »O Himmel! Ich bin da reingekrochen, gleich nachdem der Franzmann den alten Gavin aufgeladen hatte.«
»Wo wart Ihr vorher?« fragte Ian.
»Unter dem Galgenkarren. Das war die einzige Stelle, von der ich dachte, da würden sie nicht nachsehen.« Er stand mühsam auf, schloß die Augen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen und öffnete sie wieder. Im Fackelschein waren sie blaßgrün, von der Farbe seichten Seewassers. Ich sah sie von einem Gesicht zum nächsten blicken, dann blieben sie auf Jamie ruhen. Der Mann verbeugte sich, wobei er auf seinen Kopf achtgab.
»Stephen Bonnet. Euer Diener, Sir.« Er machte keine Anstalten, die Hand zur Begrüßung auszustrecken, und Jamie tat das auch nicht.
»Mr. Bonnet.« Jamie nickte mit betont ausdrucksloser Miene zurück. Mir war nicht ganz klar, wie er es fertigbrachte, ehrfurchtgebietend auszusehen, obwohl er nur eine feuchte, dreckverschmierte Kniehose anhatte, aber er schaffte es. Er betrachtete den Besucher von oben bis unten und ließ sich kein Detail seiner Erscheinung entgehen.
Bonnet war das, was man »gut gebaut« nennt, groß und kraftvoll mit gewölbtem Brustkorb und groben, aber auf eine rauhe Weise gutaussehenden Gesichtszügen. Er war ein paar Zentimeter kleiner als Jamie, stand lässig auf seinen Fußballen und hielt die Fäuste halb geballt in Bereitschaft.
Seiner leicht schiefen Nase und der kleinen Narbe an seinem Mundwinkel nach zu urteilen, waren ihm Faustkämpfe nicht neu. Die kleinen Schönheitsfehler beeinträchtigten den allgemeinen Eindruck rein körperlicher Anziehungskraft nicht; er war ein Mann, der auf Frauen wirkte. Auf manche Frauen, verbesserte ich mich, als er mir einen spekulativen Blick zuwarf.
»Weswegen seid Ihr verurteilt worden, Mr. Bonnet?« fragte Jamie. Er selbst stand entspannt da, doch es lag eine Wachsamkeit in seinem Blick, die Bonnets Ausdruck verteufelt ähnlich sah. Es war ein Blick von der Sorte, wie ihn sich männliche Hunde mit angelegten Ohren zuwerfen, bevor sie entscheiden, ob sie aufeinander losgehen.
»Schmuggel«, sagte Bonnet.
Jamie antwortete nicht, legte aber den Kopf schief. Eine Augenbraue hob sich fragend.
»Und Piraterie.« Neben Bonnets Mund zuckte ein Muskel - der gescheiterte Versuch eines Lächelns oder ein unwillkürliches Zittern der Angst?
»Und habt Ihr bei der Ausübung Eurer Verbrechen jemanden umgebracht, Mr. Bonnet?« Bis auf die wachsamen Augen war Jamies Gesicht ausdruckslos. Überleg es dir gut, sagte sein Blick ganz unverhüllt. Sehr gut.
»Niemanden, der nicht versucht hätte, mich zuerst umzubringen«, antwortete Bonnet. Die Worte kamen entspannt, sein Tonfall war fast respektlos, doch die Hand, die sich an seiner Seite fest zur Faust ballte, strafte ihn Lügen.
Es dämmerte mir, daß Bonnet sich fühlen mußte, als stünde er Richter und Geschworenen erneut gegenüber. Er konnte ja nicht wissen, daß es uns fast genauso widerstrebte wie ihm, den Garnisonssoldaten zu nahe zu kommen.
Jamie sah Bonnet lange an, nahm ihn im flackernden Licht der Fackel genau in Augenschein, nickte dann und trat einen halben Schritt zurück.
»Dann geht«, sagte er ruhig. »Wir werden Euch nicht aufhalten.«
Bonnet holte hörbar Luft. Ich sah, wie er sich entspannte und wie seine Schultern unter dem billigen Leinenhemd erschlafften.
»Danke«, sagte er. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und holte noch einmal tief Atem. Seine grünen Augen blickten von mir zu Fergus und weiter zu Duncan. »Aber könnt Ihr mir vielleicht helfen?«
Duncan, der sich bei Jamies Worten entspannt hatte, gab einen Laut der Überraschung von sich.
»Euch helfen? Einem Dieb?«
Bonnets Kopf fuhr zu Duncan herum. Das Halseisen lag wie ein dunkler Streifen um seine Kehle und erweckte den unheimlichen Eindruck, als wäre sein Kopf abgetrennt und schwebte mehrere Zentimeter über seinen Schultern.
»Helft mir«, wiederholte er. »Heute nacht werden Soldaten auf den Straßen sein - und Jagd auf mich machen.« Er deutete auf den Wagen. »Ihr könntet mich sicher an ihnen vorbeibringen - wenn Ihr so gütig wärt.« Er wandte sich wieder Jamie zu und straffte die Schultern. »Ich flehe Euch an, mir zu helfen, Sir, im Namen von Gavin Hayes, der mein Freund genau wie der Eure war - und ein Dieb wie ich.«
Die Männer musterten ihn einen Moment lang schweigend, während sie das verdauten. Fergus blickte Jamie fragend an; es war seine Entscheidung.
Doch nach einem langen, abschätzenden Blick auf Bonnet wandte sich Jamie an Duncan.
»Was meinst du, Duncan?« Duncan betrachtete Bonnet mit demselben Gesichtsausdruck wie zuvor Jamie und nickte schließlich.
»Um Gavins willen,« sagte er und wandte sich zum Friedhofstor um.
»Nun denn, in Ordnung«, sagte Jamie. Er seufzte und schob sich eine lose Haarsträhne hinter sein Ohr.
»Helft uns, Gavin zu begraben«, sagte er zu unserem Gast, »und dann brechen wir auf.«
 
Eine Stunde später war Gavins Grab ein Rechteck aus frisch umgegrabener Erde, das nackt zwischen den Grautönen des Grases hervorstach.
»Er muß eine Namenstafel bekommen«, sagte Jamie. Mühsam kratzte er mit der Spitze seines Messers Gavins Namen und seine Lebensdaten in einen glatten Stein. Ich rieb etwas Ruß von der Fackel in die eingravierten Lettern und schuf auf diese Weise einen einfachen, aber lesbaren Grabstein, den Ian fest in einen kleinen Grabhügel aus Kieseln drückte. Jamie setzte den Kerzenstummel aus dem Wirtshaus oben auf das kleine Monument.
Dann standen wir alle einen Moment lang befangen um das Grab herum, ohne zu wissen, wie wir Abschied nehmen sollten. Jamie und Duncan standen nah beieinander und blickten zu Boden. Sie hatten sich seit Culloden von vielen Kameraden für immer verabschieden müssen, und das oft sehr viel weniger förmlich.
Schließlich nickte Jamie Fergus zu. Dieser ergriff einen trockenen Kiefernzweig, zündete ihn an meiner Fackel an, bückte sich und berührte damit den Docht der Kerze.
»Requiem aeternam dona ei, et lux perpetua luceat ei…«, sagte Jamie leise.
»Schenke ihm ewige Ruhe, o Herr - und das ewige Licht leuchte ihm«, wiederholte Ian mit feierlichem Gesicht, vom Fackelschein beleuchtet.
Ohne ein weiteres Wort wandten wir uns ab und verließen den Kirchhof. Hinter uns brannte die Kerze reglos in der stillen, schweren Luft wie das ewige Licht in einer leeren Kirche.
 
Als wir den Militärposten vor den Stadtmauern erreichten, stand der Mond schon hoch am Himmel. Es war zwar nur Halbmond, doch er leuchtete so hell, daß wir den festgetrampelten Fahrweg vor uns sehen konnten, der breit genug war, daß zwei Wagen nebeneinander darauf fahren konnten.
Wir waren schon auf dem Weg von Savannah nach Charleston auf ein paar solcher Militärposten gestoßen. Sie waren zumeist mit gelangweilten Soldaten besetzt, die uns einfach durchwinkten, ohne sich die Mühe zu machen, die Pässe zu überprüfen, die wir in Georgia erworben hatten. Die Posten dienten vor allem dazu, Schmuggelware abzufangen und den einen oder anderen entlaufenen Zwangsarbeiter oder Sklaven festzunehmen.
Selbst schmutzig und ungekämmt erregten wir kaum Beachtung, denn Reisende sahen selten besser aus. Da Fergus und Duncan verstümmelt waren, konnten sie keine Zwangsarbeiter sein, und Jamies Ausstrahlung war trotz der Kleider spürbar. Niemand würde ihn für einen Untergebenen halten.
Doch heute nacht war es anders. Der Posten war mit acht Soldaten bemannt, und sie waren alle bewaffnet und hellwach. Musketenläufe blitzen im Mondlicht, und aus der Dunkelheit kam der Ruf: »Halt! Name und Begehr!« Eine Laterne hing plötzlich zehn Zentimeter vor meiner Nase und blendete mich einen Augenblick lang.
»James Fraser, unterwegs nach Wilmington mit meiner Familie und meinen Bediensteten.« Jamies Stimme war ruhig, und seine Hände zitterten nicht, als er mir die Zügel reichte, bevor er nach den Pässen in seiner Jacke griff.
Ich hob den Kopf nicht und versuchte, müde und gleichgültig auszusehen. Ich war müde, das stimmte - ich hätte mich einfach so auf die Straße legen und einschlafen können -, doch ich war alles andere als gleichgültig. Was machten sie wohl mit einem Mann, der einem entlaufenen Galgensträfling bei der Flucht half? Ein einzelner Schweißtropfen schlich sich an meinem Nacken herunter.
»Habt Ihr im Vorbeifahren irgend jemanden auf der Straße gesehen, Sir?« Das »Sir« kam etwas zögerlich, denn der traurige Zustand von Jamies Rock und meinem Kleid war im gelben Lichtkegel der Laterne nicht zu übersehen.
»Von der Stadt her ist uns eine Kutsche entgegengekommen, die habt Ihr wohl selbst gesehen«, antwortete Jamie. Der Sergeant antwortete mit einem Grunzen, überprüfte die Pässe sorgfältig und blinzelte dann in die Dunkelheit, um sicherzugehen, daß die Zahl der Anwesenden dazu paßte.
»Was habt Ihr dabei?« Er gab die Pässe zurück und signalisierte einem seiner Untergebenen, den Wagen zu durchsuchen. Ich ruckte aus Versehen an den Zügeln, und die Pferde schnaubten und warfen die Köpfe hin und her. Jamies Fuß stieß gegen den meinen, doch er sah mich nicht an.
»Haushaltswaren«, antwortete er, immer noch ruhig. »Ein Stück Wild und einen Beutel Salz als Vorräte. Und eine Leiche.«
Der Soldat, der nach der Abdeckung des Wagens gegriffen hatten, hielt abrupt inne. Der Sergeant warf uns einen scharfen Blick zu.
»Eine was?«
Jamie nahm mir die Zügel ab und wickelte sie sich lässig um das Handgelenk. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Duncan sich auf den dunklen Wald zubewegte. Fergus, der erfahrene Taschendieb, war bereits aus dem Blickfeld verschwunden.
»Die Leiche des Mannes, der heute mittag gehängt wurde. Ich kannte ihn, und habe mir von Colonel Franklin die Erlaubnis erbeten, ihn zu seinen Verwandten im Norden mitzunehmen. Deshalb reisen wir auch bei Nacht«, fügte er vielsagend hinzu.
»Aha.« Der Sergeant winkte einen Laternenträger heran. Er warf Jamie einen langen, nachdenklichen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu und nickte. »Ich erinnere mich an Euch«, sagte er. »Ihr habt ihm am Schluß etwas zugerufen. Euer Freund, ja?«
»Ich war einmal mit ihm bekannt. Vor einigen Jahren«, fügte er hinzu. Der Sergeant nickte seinem Untergebenen zu und ließ Jamie nicht aus den Augen.
»Sieh nach, Griswold.«
Griswold, der vielleicht vierzehn war, nahm den Befehl mit einem merklichen Mangel an Begeisterung entgegen, lüftete aber gehorsam die Segeltuchplane und hielt seine Laterne hoch, um das Innere auszuleuchten. Nur mit Mühe hielt ich mich davon ab, mich umzudrehen und hinzusehen.
Das Pferd direkt vor mir schnaubte und warf den Kopf zurück. Falls wir durchstarten mußten, würde es mehrere Sekunden dauern, bis sich der Wagen in Bewegung setzte. Ich hörte, wie Ian sich hinter mir bewegte und seine Hand auf den Hickoryknüppel legte, der hinter dem Sitz verstaut war.
»Ja, Sir, hier ist eine Leiche«, erstattete Griswold Bericht. Er ließ die Plane erleichtert sinken und atmete tief durch die Nase aus.
»Pflanz dein Bajonett auf und stich hinein«, sagte der Sergeant, den Blick noch auf Jamie gerichtet. Ich mußte ein Geräusch von mir gegeben haben, denn nun richtete sich der Blick des Sergeanten auf mich.
»Ihr werdet mir den Wagen ruinieren«, erhob Jamie Einspruch. »Der Mann hat einen Tag in der Sonne gelegen und ist ziemlich reif, aye?«
Der Sergeant schnaubte ungeduldig. »Dann stich ihn ins Bein. Los, Griswold.«
Mit beträchtlichem Widerwillen pflanzte Griswold sein Bajonett auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und fing an, im Laderaum herumzustochern. Hinter mir hatte Ian leise zu pfeifen begonnen, ein gälisches Lied mit dem Titel »Und am Morgen sterben wir« - was ich ziemlich geschmacklos von ihm fand.
»Nein, Sir, er ist wirklich tot.« Griswold stellte sich wieder auf die Fersen und klang erleichtert. »Ich hab’ fest zugestochen, aber es kam kein Muckser.«
»Also, in Ordnung.« Der Sergeant entließ den jungen Soldaten mit einer Kopfbewegung und nickte Jamie zu. »Fahrt weiter, Mr. Fraser. Aber ich würde Euch raten, Euch Eure Freunde in Zukunft besser auszusuchen.«
Ich sah, wie Jamies Knöchel auf den Zügeln weiß wurden, aber er setzte sich nur aufrecht hin und setzte sich den Hut fester auf den Kopf. Er schnalzte mit der Zunge, die Pferde zogen abrupt an und ließen bleiche Staubwölkchen zurück, die hinter uns im Laternenlicht schwebten.
Nach dem Licht erschien die Dunkelheit allumfassend; trotz des Mondes konnte ich so gut wie nichts sehen. Die Nacht hüllte uns ein. Ich spürte die Erleichterung eines gejagten Tieres, das sichere Zuflucht findet, und trotz der bedrückenden Hitze atmete ich freier.
Wir legten fast eine Viertelmeile zurück, bevor irgend jemand etwas sagte.
»Seid Ihr verletzt, Mr. Bonnet?« Ians Stimme war ein lautes Flüstern, das beim Rattern des Wagens gerade eben zu hören war.
»Ja, er hat mich in den Oberschenkel gestochen, das kleine Schwein.« Bonnets Stimme war leise, aber ruhig. »Gott sei Dank hat er von mir abgelassen, bevor das Blut durch das Tuch kommen konnte. Tote bluten nicht.«
»Seid Ihr schwer verletzt? Soll ich nach hinten kommen und es mir ansehen?« Ich drehte mich um. Bonnet hatte die Plane zurückgeschoben und sich aufgesetzt, eine verschwommene, blasse Gestalt in der Dunkelheit.
»Nein, danke, Ma’am. Ich habe mir den Strumpf darumgebunden, und ich denke, das wird reichen.« Meine Nachtsicht kehrte zurück; ich sah sein helles Haar schimmern, als er sich über seine Wunde beugte.
»Meint Ihr, daß Ihr laufen könnt?« Jamie zügelte die Pferde zum Schrittempo und drehte sich um, um unseren Gast in Augenschein zu nehmen. Obwohl sein Ton nicht unfreundlich war, war es doch klar, daß er unsere gefährliche Fracht so schnell wie möglich loswerden wollte.
»Nicht so richtig, tut mir ehrlich leid, Sir.« Auch Bonnet spürte Jamies Wunsch, ihn loszuwerden. Unter Schwierigkeiten zog er sich auf der Ladefläche hoch und stützte sich hinter dem Sitz auf sein gesundes Knie. Sein Unterkörper war in der Dunkelheit nicht zu erkennen, doch ich konnte sein Blut riechen, ein schärferer Geruch als der leichte, immer noch wahrnehmbare Geruch von Gavins Leichentuch.
»Ein Vorschlag, Mr. Fraser. Noch drei Meilen, dann erreichen wir die Straße zur Fähre. Eine Meile hinter der Kreuzung führt noch eine Straße zur Küste. Kaum mehr als eine Räderspur, aber befahrbar. Sie führt zum Ufer eines Flüßchens, das in die See mündet. Einige meiner Partner werden im Lauf der Woche dort vor Anker gehen. Wenn Ihr mir ein paar Vorräte überlassen würdet, könnte ich einigermaßen sicher auf sie warten, und Ihr könntet weiterfahren, ohne daß meine Gesellschaft Euch die Luft verpestet.«
»Partner? Ihr meint Piraten?« Ians Stimme war voller Mißtrauen. Seit er von Piraten aus Schottland entführt worden war, betrachtete er diese Leute nicht mehr mit demselben romantischen Blick wie andere Fünfzehnjährige.
»Das kommt auf den Blickwinkel an, Junge.« Bonnet hörte sich belustigt an. »Die Gouverneure von Carolina würden sie sicher so nennen, aber die Kaufleute von Wilmington und Charleston sehen das möglicherweise anders.«
Jamie schnaubte. »Schmuggler, aye? Und womit handeln Eure sogenannten Partner?«
»Mit allem, was so viel Geld bringt, daß sich der Transport lohnt.« Die Belustigung war nicht aus Bonnets Stimme gewichen, hatte jetzt aber eine zynische Färbung angenommen. »Wollt Ihr eine Belohnung für Eure Hilfe? Das läßt sich arrangieren.«
»Nein.« Jamies Stimme war kalt. »Ich habe Euch um Gavins und um meinetwillen gerettet. Dafür würde ich niemals eine Belohnung wollen.«
»Ich wollte Euch nicht beleidigen, Sir.« Bonnet neigte leicht den Kopf.
»Schon gut«, sagte Jamie kurz angebunden. Er schüttelte die Zügel aus und nahm sie wieder auf, diesmal mit der anderen Hand.
Die Unterhaltung erstarb nach diesem kurzen Wortwechsel, obwohl Bonnet weiter hinter uns kniete und über meine Schulter hinweg auf die dunkle Straße blickte. Doch es tauchten keine Soldaten mehr auf; nichts rührte sich, nicht einmal ein Luftzug in den Blättern. Nichts unterbrach die Stille der Sommernacht außer dem gelegentlichen Schrei eines vorbeifliegenden Nachtvogels oder dem Heulen einer Eule.
Das sanfte, rhythmische Hufgetrappel und das Quietschen und Rattern des Wagens begann, mich in den Schlaf zu lullen. Ich versuchte, mich aufrecht zu halten, beobachtete die schwarzen Schatten der Bäume links und rechts der Straße, doch langsam, aber sicher kippte ich zu Jamie hinüber, und all meinen Bemühungen zum Trotz fielen mir die Augen zu.
Jamie nahm die Zügel in die linke Hand, legte den rechten Arm um mich und zog mich an sich, so daß ich mich an seine Schulter lehnen konnte. Wie immer fühlte ich mich geborgen, sobald ich ihn berührte. Ich erschlaffte, die Wange gegen den staubigen Sergestoff seines Rokkes gepreßt, und verfiel sofort in jenes unangenehme Dösen, das sich einstellt, wenn man völlig erschöpft ist und sich nicht hinlegen kann.
Einmal öffnete ich die Augen und sah Duncan Innes’ lange, magere Gestalt mit dem unermüdlichen Schritt des Hochlandbewohners neben dem Wagen herlaufen, den Kopf wie in Gedanken gebeugt. Dann schloß ich sie wieder und verfiel in einen Halbschlaf, in dem sich Bilder des vergangenen Tages mit Traumfragmenten vermischten. Ich träumte von einem gigantischen Stinktier, das unter einem Kneipentisch schlief und dann aufwachte, um in den Refrain der Nationalhymne einzustimmen, dann von einer hin und her schwingenden Leiche, die ihren herunterbaumelnden Kopf hob und mich mit leeren Augenhöhlen angrinste… Ich erwachte und stellte fest, daß Jamie mich sanft schüttelte.
»Am besten kriechst du nach hinten und legst dich hin, Sassenach«, sagte er. »Du brabbelst im Schlaf. Nachher fällst du mir noch auf die Straße.«
Verschlafen stimmte ich zu, kroch umständlich über die Lehne der Sitzbank und tauschte den Platz mit Bonnet. Ian schlief auf der Ladefläche, und ich legte mich neben ihn.
Im Laderaum roch es muffig - und schlimmer. Ians Kopf ruhte auf einem Stück grob zerlegtem Wildbret, das in die ungegerbte Haut des Tieres gewickelt war. Rollo hatte es besser getroffen - seine haarige Schnauze ruhte bequem auf Ians Bauch. Ich wählte den ledernen Salzbeutel. Das glatte Leder lag hart, aber geruchlos unter meiner Wange.
Man konnte die rumpelnden Bretter der Ladefläche bei aller Phantasie nicht bequem nennen, doch die Erleichterung darüber, daß ich mich endlich ganz ausstrecken konnte, war so überwältigend, daß ich das Gerüttel kaum wahrnahm. Ich drehte mich auf den Rücken und blickte in die dunstige Unendlichkeit des südlichen Himmels auf, der mit flammenden Sternen übersät war. Lumen Christi, dachte ich und schlief wieder ein, beruhigt von der Vorstellung, daß Gavin Hayes im Himmelslicht sicher den Heimweg fand.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich unter meiner betäubenden Decke aus Hitze und Erschöpfung schlief. Ich erwachte, weil der Wagen die Geschwindigkeit änderte, und driftete schweißgebadet ins Bewußtsein zurück.
Bonnet und Jamie unterhielten sich im leisen, entspannten Tonfall zweier Männer, die die anfängliche Befangenheit ihres ersten Zusammentreffens überwunden haben.
»Ihr habt gesagt, daß Ihr mich um Gavin Hayes’ willen gerettet habt - und um Euretwillen«, sagte Bonnet. Seine Stimme war leise und ging beinahe im Gerumpel der Räder unter. »Was habt Ihr damit gemeint, wenn ich das fragen darf, Sir -?«
Jamie antwortete nicht sofort; ich schlief schon fast wieder, bevor er etwas sagte, doch schließlich kam seine Antwort und trieb körperlos in der warmen, dunklen Luft.
»Ich schätze, Ihr habt letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen, oder? In Erwartung dessen, was am nächsten Tag auf Euch zukam?«
Bonnet lachte leise, doch es klang nicht übermäßig belustigt.
»O ja«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß ich das so schnell vergessen werde.«
»Ich auch nicht.« Jamie murmelte den Pferden leise etwas auf Gälisch zu, und sie wurden daraufhin langsamer. »Ich habe auch schon einmal eine solche Nacht erlebt, in der ich wußte, daß ich am Morgen gehängt würde. Und dennoch habe ich überlebt, dank eines Menschen, der viel riskiert hat, um mich zu retten.«
»Ach so«, sagte Bonnet leise. »Also seid Ihr ein asgina ageli
»Aye? Und was ist das?«
Es gab ein kratzendes Geräusch, als der Wagen an ein paar Ästen vorbeischrammte, und der würzige Harzgeruch der Bäume wurde plötzlich stärker. Etwas Leichtes berührte mein Gesicht - Blätter, die von oben herunterfielen. Die Pferde wurden langsamer, und der Rhythmus des Wagens änderte sich merklich, denn die Wagenräder gerieten auf eine unebene Oberfläche. Wir waren in die kleine Straße eingebogen, die zu Bonnets Flüßchen führte.
»Asgina ageli ist ein Wort, das die Rothäute benutzen - die Cherokees in den Bergen. Ich habe es von einem, der einmal mein Führer war. Es bedeutet ›Halbgeist‹, einer, der eigentlich hätte sterben sollen, aber immer noch auf der Erde weilt: eine Frau, die eine tödliche Krankheit überlebt, ein Mann, der in die Hände seiner Feinde gefallen ist und entkommt. Sie sagen, ein asgina ageli steht mit einem Fuß auf der Erde und mit dem anderen in der Geisterwelt. Er kann mit den Geistern sprechen und die Nunnahee sehen - das Kleine Volk.«
»Kleines Volk? So wie unsere Feen?«
»So etwas Ähnliches.« Bonnet verlagerte sein Gewicht, und der Sitz knarrte, als er sich reckte. »Die Indianer sagen, daß die Nunnahee in den Felsen der Berge leben und herauskommen, um ihrem Volk im Krieg oder in der Not zu helfen.«
»Wirklich. Das klingt wie die Sagen, die man sich in Schottland in den Highlands erzählt - vom alten Volk.«
»Ach was.« Bonnet klang belustigt. »Nun, nach allem, was ich von den schottischen Hochlandbewohnern gehört habe, gibt es, was die Barbarei angeht, keinen großen Unterschied zwischen ihnen und den Roten.«
»Unsinn«, sagte Jamie, den das nicht im geringsten zu beleidigen schien. »Die Wilden hier essen die Herzen ihrer Feinde, habe ich zumindest gehört. Ich persönlich ziehe eine anständige Schüssel Porridge vor.«
Bonnet machte ein Geräusch, das er hastig unterdrückte.
»Ihr seid ein Highlander? Nun, ich muß sagen, für einen Barbaren finde ich Euch ganz zivilisiert, Sir«, versicherte er Jamie, und Gelächter schwang in seiner Stimme mit.
»Ich danke Euch außerordentlich für das Kompliment, Sir«, erwiderte Jamie mit derselben Höflichkeit.
Ihre Stimmen vermischten sich mit dem rhythmischen Quietschen der Räder, und bevor ich noch etwas hören konnte, war ich wieder eingeschlafen.
Der Mond hing tief über den Bäumen, als wir schließlich haltmachten. Ich schreckte hoch, weil Ian schläfrig über den Rand des Wagens krabbelte, um Jamie bei den Pferden zu helfen. Ich hob den Kopf und sah einen breiten Wasserstreifen, der an lehmigen Schlammbänken vorbeifloß. Der Strom war schwarzglänzend, und wo die Stromschnellen über die Felsen in Ufernähe eilten, glitzerte er silbern. Mit dem in der Neuen Welt üblichen Hang zur Untertreibung mochte Bonnet es ein Flüßchen nennen, doch bei den meisten Bootsleuten würde es als waschechter Fluß durchgehen, dachte ich.
Die Männer bewegten sich im Schatten hin und her und führten ihre Aufgaben aus, ohne mehr als ein gelegentliches, leises Wort zu wechseln. Sie bewegten sich mit ungewohnter Langsamkeit und schienen mit der Nacht zu verschmelzen, als nähme die Müdigkeit ihnen die Substanz.
»Geh und such dir einen Platz zum Schlafen, Sassenach«, sagte Jamie und hielt inne, um mich zu stützen, als ich vom Wagen sprang. »Ich muß zusehen, daß unser Gast ein paar Vorräte bekommt und aufbricht, und daß die Pferde trockengerieben werden und grasen können.«
Die Temperatur war seit Anbruch der Nacht fast überhaupt nicht gesunken, doch hier am Wasser schien mir die Luft etwas frischer zu sein, und ich spürte, wie meine Lebensgeister zurückkehrten.
»Ich kann nicht schlafen, bevor ich nicht gebadet habe«, sagte ich und zog mir das durchnäßte Mieder meines Kleides von den Brüsten. »Ich fühle mich furchtbar.« Mir klebte das Haar an den Schläfen, und meine Haut fühlte sich schmutzig an und juckte. Das dunkle Wasser sah kühl und einladend aus. Jamie warf einen sehnsüchtigen Blick darauf und zupfte an seiner zerknitterten Halsbinde.
»Das kann ich dir nicht verdenken. Sei aber vorsichtig; Bonnet sagt, die Fahrrinne ist so tief, daß man den Fluß mit einem Zweimaster befahren kann. Außerdem ist es ein Gezeitenwasser; die Strömung ist stark.«
»Ich bleibe nah am Ufer.« Ich deutete flußabwärts, wo eine kleine Landzunge eine Flußbiegung anzeigte. Dort wuchsen Weiden, die silberdämmrig im Mondlicht leuchteten. »Siehst du die kleine Landzunge? Da ist bestimmt ein Becken mit Strudeln.«
»Aye. Sei vorsichtig«, sagte er noch einmal und drückte meinen Ellbogen zum Abschied. Als ich mich zum Gehen wandte, ragte eine bleiche Gestalt vor mir auf; unser ehemaliger Gast mit einem dunklen Fleck von getrocknetem Blut am Hosenbein.
»Ergebenster Diener, Ma’am«, sagte er und machte trotz seines verletzten Beines eine achtbare Verbeugung. »Sagen wir uns jetzt adieu?« Er stand etwas näher bei mir, als mir lieb war, und ich unterdrückte den Drang, einen Schritt zurückzutreten.
»Ja«, sagte ich und nickte ihm zu, während ich eine lose Haarlocke zurückstrich. »Viel Glück, Mr. Bonnet.«
»Danke für die guten Wünsche, Ma’am«, antwortete er leise. »Ich habe allerdings festgestellt, daß man am besten seines eigenen Glückes Schmied ist. Gute Nacht, Ma’am.« Er verbeugte sich noch einmal und wandte sich dann ab. Er hinkte stark und sah aus wie der Geist eines verkrüppelten Bären.
Das Rauschen des Flusses verschluckte die meisten normalen Geräusche der Nacht. Ich sah eine Fledermaus auf der Jagd nach unsichtbaren Insekten über eine mondbeschienene Stelle fliegen und in der Nacht verschwinden. Falls sonst noch etwas in der Dunkelheit lauerte, verhielt es sich still.
Jamie grunzte leise.
»Na, ich hab’ so meine Zweifel, was den Mann angeht«, sagte er, als beantwortete er eine Frage, die ich nicht gestellt hatte. »Ich kann nur hoffen, daß für mein Herz und nicht gegen meinen Verstand spricht, daß ich ihm geholfen habe.«
»Aber du konntest doch nicht zulassen, daß man ihn aufhängt«, sagte ich.
»O doch, das hätte ich gekonnt«, sagte er zu meiner Überraschung. Er sah, wie ich zu ihm aufblickte, und lächelte, eine ironische Mundbewegung, die in der Dunkelheit kaum zu sehen war.
»Die Krone sucht sich nicht immer den Falschen zum Hängen aus, Sassenach«, sagte er. »Meistens hat der Mann am Ende des Strickes ihn auch verdient. Und ich möchte mir nicht vorwerfen müssen, daß ich einem Schurken zur Flucht verholfen habe.« Er zuckte die Achseln und schob sich das Haar aus dem Gesicht.
»Aye, nun, passiert ist passiert. Geh baden, Sassenach, ich komme zu dir, sobald ich kann.«
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen, und fühlte ihn dabei lächeln. Meine Zunge berührte sanft einladend seinen Mund, und als Antwort biß er mich leicht in die Unterlippe.
»Kannst du noch ein bißchen wach bleiben, Sassenach?«
»So lange wie nötig«, versicherte ich ihm. »Aber beeil dich, ja?«
 
Dichtes Gras wuchs unter den Weiden am Rand der Landzunge. Ich zog mich langsam aus und genoß es, den Luftzug, den das Wasser herantrug, durch den feuchten Stoff von Hemd und Strümpfen zu spüren - und dann schließlich die Freiheit, als die letzten Kleidungsstücke zu Boden fielen und ich nackt in der Nacht stand.
Ich trat vorsichtig ins Wasser. Es war überraschend kühl - kalt im Kontrast zu der heißen Nachtluft. Der Boden unter meinen Füßen bestand zum Großteil aus Schlamm, ging aber einen Meter vom Ufer entfernt in feinen Sand über.
Obwohl der Fluß ein Gezeitenwasser war, befanden wir uns so weit stromaufwärts, daß das Wasser frisch und süß war. Ich trank und bespritzte mir das Gesicht, um mir den Staub aus Kehle und Nase zu spülen.
Ich watete bis zur Hälfte meiner Oberschenkel hinein, Jamies Warnungen vor Fahrrinne und Strömungen im Hinterkopf. Nach der umwerfenden Hitze des Tages und der erdrückenden Umarmung der Nacht brachte das Gefühl der Kühle auf entblößter Haut überwältigende Erleichterung. Ich schöpfte Wasser mit den Händen und ließ es mir über Gesicht und Brüste laufen; die Tropfen rannen mir den Bauch herunter und kitzelten mich kalt zwischen den Beinen.
Ich fühlte den leichten Druck der ansteigenden Flut, die sich sanft gegen meine Unterschenkel schob und mich zum Ufer drängte. Ich war aber noch nicht soweit. Ich hatte keine Seife, daher kniete ich mich hin, spülte mein Haar wieder und wieder im klaren, dunklen Wasser aus und rieb mir den Körper mit einer Handvoll Sand ab, bis sich meine Haut dünn und heiß anfühlte.
Schließlich kletterte ich aus dem Wasser auf eine Felsbank und lag genießerisch wie eine Meerjungfrau im Mondlicht. Jetzt waren die Hitze der Luft und der sonnenwarme Stein eine Wohltat für meinen ausgekühlten Körper. Ich kämmte mir das dichte, lockige Haar mit den Fingern aus, wobei ich überall Wassertropfen versprühte. Der feuchte Stein roch nach Regen, staubig und prickelnd.
Ich war sehr müde und fühlte mich doch gleichzeitig sehr lebendig, in jenem halb bewußten Zustand, in dem sich das Denken verlangsamt und sich die kleinen physischen Wahrnehmungen verstärken. Ich bewegte meinen nackten Fuß langsam über den Sandsteinfelsen und genoß die leichte Reibung. Dann ließ ich eine Hand sanft über die Innenseite meines Oberschenkels gleiten, und bei dieser Berührung überlief mich eine Gänsehaut.
Meine Brüste erhoben sich im Mondlicht, kühle, weiße Halbkugeln, noch von klaren Tropfen benetzt. Ich streifte meine Brustwarze und sah zu, wie sie sich versteifte und sich wie von Zauberhand aufrichtete.
Und es war wirklich ein verzauberter Ort, dachte ich. Die Nacht war lautlos und still, doch die Atmosphäre war so träge, als triebe man im warmen Meer. So nah an der Küste war der Himmel klar, und die Sterne leuchteten wie Diamanten, mit kraftvollem, hellem Licht.
Ein leises Klatschen ließ mich zum Fluß blicken. Nur das schwache Funkeln der Sterne bewegte sich auf der Wasseroberfläche, wie Glühwürmchen in einem Spinnennetz.
Da durchbrach ein großer Kopf in der Flußmitte die Wasseroberfläche, und Wasser strömte an beiden Seiten der spitzen Schnauze herab. Ein Fisch schlug zwischen Rollos Kiefern um sich; seine Schuppen glänzten kurz auf, als Rollo mit aller Kraft den Kopf schüttelte, um ihm das Genick zu brechen. Der riesige Hund schwamm langsam ans Ufer, schüttelte sich kurz und schlich dann mit seinem Abendessen davon, das ihm schlaff und schimmernd aus dem Maul hing.
Am anderen Ufer blieb er einen Augenblick stehen und sah mich an; seine zotteligen Nackenhaare umrahmten die gelben Augen und den glänzenden Fisch. Wie ein primitives Gemälde, dachte ich - ein Rousseau, mit seinem Kontrast zwischen völliger Wildnis und perfekter Stille.
Dann war der Hund verschwunden, und am anderen Ufer waren nur noch die Bäume, die alles verbargen, was hinter ihnen lag. Was das wohl war? fragte ich mich. Noch mehr Bäume, antwortete mein Verstand.
»Viel mehr«, murmelte ich und blickte in die rätselhafte Dunkelheit. Die Zivilisation - selbst von der primitiven Sorte, an die ich mich gewöhnt hatte - war nur eine schmale Sichel am Rand des Kontinents. Zweihundert Meilen weiter landeinwärts gab es keine Städte oder Gehöfte mehr. Und dahinter lagen dreitausend Meilen… wovon? Wildnis, sicherlich, und Gefahr. Abenteuer, das auch - und Freiheit.
Es war schließlich eine neue Welt, frei von Furcht und voller Glück, denn jetzt waren Jamie und ich zusammen, für den Rest unseres Lebens. Abschied und Leid lagen hinter uns. Selbst der Gedanke an Brianna erfüllte mich nicht mit furchtbarem Bedauern - ich vermißte sie sehr und dachte ständig an sie, doch ich wußte, daß sie in ihrer eigenen Zeit in Sicherheit war, und dieses Wissen ließ mich ihre Abwesenheit leichter ertragen.
Ich legte mich wieder auf den Felsen, dessen Oberfläche die gespeicherte Hitze des Tages auf meinen Körper ausstrahlte, und war einfach nur froh, am Leben zu sein. Ich sah zu, wie die Wassertropfen auf meinen Brüsten trockneten, sich in einen feuchten Film verwandelten und dann völlig verschwanden.
Kleine Mückenwolken hingen über dem Wasser. Ich konnte sie zwar nicht sehen, doch das gelegentliche Platschen eines Fisches, der hochsprang, um sie in der Luft zu fangen, verriet mir, daß sie da waren.
Die Insekten waren eine allgegenwärtige Plage gewesen. Jeden Morgen unterzog ich Jamies Haut einer eingehenden Inspektion, zog ihm gierige Zecken und anderes Getier vom Körper und rieb die Männer großzügig mit einem Aufguß von Poleiminze- und Tabakblättern ein. Dies verhinderte, daß sie bei lebendigem Leib von den Moskitos, Stechmücken und anderen Blutsaugern verspeist wurden, die in den sonnengefleckten Schatten der Wälder hingen, doch es konnte die vorwitzigen Insektenschwärme nicht davon abhalten, sie durch ständige kitzelnde Erkundungsgänge in Ohr, Auge, Nase und Mund zum Wahnsinn zu treiben.
Merkwürdigerweise ließen mich die meisten Insekten strikt in Ruhe. Ian sagte im Scherz, daß mein starker Kräutergeruch sie wohl verjagte, doch ich glaubte, daß mehr dahintersteckte - selbst wenn ich frisch gebadet war, zeigten die Insekten keinerlei Neigung, mich zu belästigen.
Ich hielt das für eine weitere Manifestation jener evolutionären Merkwürdigkeit, die - so vermutete ich zumindest - mich hier auch vor Erkältungen und harmlosen Erkrankungen schützte. Die Entwicklung der blutsaugenden Insekten verlief genau wie die der Mikroben parallel zur Entwicklung des Menschen, und sie waren empfänglich für die subtilen chemischen Signale ihrer Wirte. Da ich aus einer anderen Zeit kam, verbreitete ich nicht mehr dieselben Signale, und demzufolge betrachteten mich die Insekten nicht länger als Beute.
»Oder vielleicht hat Ian ja recht und ich rieche einfach nur scheußlich«, sagte ich laut. Ich tauchte meine Finger ins Wasser und spritzte eine Libelle naß, die auf meinem Felsen Rast machte, kaum mehr als ein transparenter Schatten, den die Dunkelheit seiner Farben beraubt hatte.
Ich hoffte, daß Jamie sich beeilen würde. Tagaus, tagein direkt neben ihm auf dem Wagen zu sitzen, die kaum merklichen Bewegungen seines Körpers beim Fahren zu beobachten, zuzusehen, wie sich der Lichteinfall in seinem Gesicht beim Reden und Lächeln veränderte, reichte völlig aus, um meine Handflächen prickeln zu lassen vor Sehnsucht, ihn zu berühren. Wir hatten seit einigen Tagen nicht mehr miteinander geschlafen, da wir solche Eile hatten, Charleston zu erreichen, und ich Hemmungen hatte, in Hörweite von einem Dutzend Männer intim zu werden.
Ein warmer Lufthauch wehte an mir vorbei, und die flaumigen Härchen meines Körpers sträubten sich. Jetzt gab es keine Eile mehr, und niemand konnte uns hören. Ich schob eine Hand über meinen sanft gerundeten Bauch, über die weiche Innenseite meiner Oberschenkel, wo das Blut im Rhythmus meines Herzschlags pulsierte. Ich schloß meine Hand um das geschwollene, feuchte Brennen meines drängenden Verlangens.
Ich schloß sanft reibend die Augen und genoß das Gefühl des zunehmenden Drängens.
»Und wo zum Teufel bist du, Jamie Fraser?« murmelte ich.
»Hier«, kam es heiser zurück.
Erschrocken öffnete ich die Augen. Er stand zwei Meter von mir entfernt oberschenkeltief im Wasser, seine Genitalien dunkel vor dem bleichen Glanz seines Körpers. Sein Haar lag offen auf seinen Schultern und umrahmte ein Gesicht, das so weiß war wie Knochen, die Augen reglos und konzentriert wie die des Wolfshundes. Völlige Wildnis, vollkommene Stille.
Dann regte er sich und kam zu mir, immer noch konzentriert, aber nicht mehr still. Seine Oberschenkel waren so kalt wie das Wasser, als er mich berührte, doch in Sekundenschnelle wurde er warm, dann heiß. Schweißperlen bildeten sich augenblicklich überall dort, wo seine Hände meine Haut berührten, und eine Flut heißer Feuchtigkeit benetzte von neuem meine Brüste, die rund und glatt unter seiner harten Brust lagen.
Dann wanderte sein Mund zu meinem und ich verschmolz - fast buchstäblich - mit ihm. Es war mir egal, wie heiß es war und ob die Feuchtigkeit auf meiner Haut sein Schweiß war oder meiner. Sogar die Insektenwolken verloren jede Bedeutung. Ich hob meine Hüften an, und er glitt hinein, glatt und fest, und der letzte Rest seiner Kühle erlosch in meiner Hitze wie das kalte Metall eines Schwertes in heißem Blut.
Meine Hände glitten auf einem feuchten Film über seinen Rücken, meine Brüste bewegten sich unter seiner Brust, und ein Rinnsal tropfte zwischen ihnen nach unten und glättete die Reibung von Bauch und Oberschenkel.
»Himmel, dein Mund ist so schlüpfrig und salzig wie deine Möse«, murmelte er und streckte die Zunge aus, um die kleinen Salzperlen in meinem Gesicht zu kosten, Schmetterlingsflügel auf Schläfen und Augenlidern.
Ich spürte den harten Felsen unter mir kaum. Die gespeicherte Tageshitze, die von ihm aufstieg, wanderte durch mich hindurch, und die rauhe Felsoberfläche schürfte mir Rücken und Hinterteil auf, doch es störte mich nicht.
»Ich kann nicht warten«, flüsterte er mir atemlos ins Ohr.
»Dann tu’s auch nicht«, sagte ich und schlang meine Beine fest um seine Hüften, Haut an Haut im kurzen Wahn der Erlösung.
»Ich habe ja schon gehört, daß Leute vor Leidenschaft dahinschmelzen«, sagte ich und schnappte nach Luft, »aber das hier ist lächerlich.«
Er hob den Kopf von meiner Brust, und es gab ein leises, klebriges Geräusch, als sich seine Wange löste. Er lachte und glitt langsam zur Seite.
»Mein Gott, ist das heiß!« sagte er. Er schob sich das schweißnasse Haar aus der Stirn und atmete aus. Seine Brust hob und senkte sich immer noch vor Anstrengung. »Wie schaffen die Leute das, wenn es so heiß ist?«
»Genau wie wir gerade«, erläuterte ich. Ich atmete selbst schwer.
»Das geht nicht«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Nicht auf die Dauer, sie würden sterben.«
»Nun, vielleicht machen sie es langsamer«, sagte ich. »Oder unter Wasser. Oder sie warten bis zum Herbst.«
»Bis zum Herbst?« sagte er. »Vielleicht möchte ich doch nicht im Süden leben. Ist es heiß in Boston?«
»Um diese Jahreszeit schon«, versicherte ich ihm. »Und im Winter verdammt kalt. Du wirst dich an die Hitze gewöhnen. Und an die Insekten.«
Er streifte sich eine eifrige Mücke von der Schulter und blickte von mir zum Fluß.
»Vielleicht«, sagte er, »vielleicht auch nicht, aber im Moment…« Er schlang die Arme fest um mich und drehte sich. Mit der schwerfälligen Eleganz eines rollenden Baumstamms fielen wir vom Rand der Felsbank ins Wasser.
 
Wir lagen feucht und kühl auf dem Felsen und berührten uns kaum, während die letzten Wassertropfen auf unserer Haut verdampften. Am anderen Ufer ließen die Weiden ihre Blätter ins Wasser hängen, und ihre Kronen sahen im Mondlicht schwarz und zerzaust aus. Hinter den Weiden lagen Morgen um Morgen und Meile um Meile jungfräulicher Wälder, denn die Zivilisation hatte gerade erst am Rand des Kontinentes Fuß gefaßt.
Jamie folgte meiner Blickrichtung und erriet meine Gedanken.
»Es hat sich wohl ziemlich verändert, seit du es zuletzt gesehen hast, oder?« Er deutete auf das Blätterdunkel.
»Ach, ein bißchen.« Ich verschränkte meine Hand mit der seinen, und mein Daumen liebkoste abwesend seinen breiten knochigen Handrücken. »Die Straßen sind dann befestigt, nicht gepflastert, sondern mit einem harten, glatten Material bedeckt, das ein Schotte namens MacAdam erfunden hat.«
Jamie grunzte leise vor Belustigung.
»Also gibt es dann Schotten in Amerika? Das ist gut.«
Ich ignorierte ihn und redete weiter, während ich in die tanzenden Schatten blickte, als könnte ich die blühenden Städte heraufbeschwören, die dort eines Tages entstehen sollten.
»Es wird dann Menschen aus aller Herren Länder in Amerika geben. Das ganze Land wird besiedelt, von hier bis zur Westküste, bis zu einem Ort namens Kalifornien. Aber im Augenblick« - ich erschauerte sacht trotz der warmen, feuchten Luft - »haben wir nur dreitausend Meilen Wildnis vor uns. Da draußen ist überhaupt nichts.«
»Aye, nur Tausende von blutrünstigen Wilden«, sagte er pragmatisch. »Und wahrscheinlich das eine oder andere gefährliche Tier.«
»Na ja«, stimmte ich zu. »So ist es wohl.« Es war eine beunruhigende Vorstellung; natürlich war mir - ganz vage und theoretisch - bekannt gewesen, daß die Wälder von Indianern, Bären und anderen Waldbewohnern bevölkert waren, doch diese ganz allgemeine Vorstellung war plötzlich dem konkreten und ganz akuten Bewußtsein gewichen, daß wir leicht - und unerwartet - mit irgendwelchen dieser Bewohner zusammentreffen konnten, von Angesicht zu Angesicht.
»Was wird aus ihnen? Den Indianern?« fragte Jamie neugierig, während er genau wie ich in die Dunkelheit blickte, als versuchte er, die Zukunft in den schwankenden Schatten zu lesen. »Sie werden besiegt und vertrieben, nicht wahr?«
Mich überlief wieder ein leichtes Zittern, und meine Zehen krampften sich zusammen.
»Ja«, sagte ich. »Umgebracht, viele von ihnen. Oder gefangengenommen und eingesperrt.«
»Das ist doch gut.«
»Ich schätze, das hängt sehr vom Standpunkt ab«, sagte ich ziemlich trocken. »Ich glaube nicht, daß die Indianer das auch so sehen.«
»Kann schon sein«, sagte er. »Aber wenn ein verdammter Wilder mit aller Kraft versucht, mir die Kopfhaut abzusägen, interessiert mich sein Standpunkt nicht besonders, Sassenach.«
»Das kannst du ihnen aber nicht zum Vorwurf machen«, protestierte ich.
»Kann ich wohl«, versicherte er mir. »Wenn dich einer von den Kerlen skalpiert, werde ich ihm alles mögliche zum Vorwurf machen.«
»Äh… hmm«, sagte ich. Ich räusperte mich und machte noch einen Versuch.
»Was, wenn ein Haufen Fremder ankäme und versuchte, dich umzubringen oder dich von dem Boden zu vertreiben, auf dem du immer gelebt hast?«
»Schon geschehen«, sagte er sehr trocken. »Sonst wäre ich noch in Schottland, aye?«
»Hmm…« Ich kam ins Schwimmen. »Aber ich meine doch nur - du würdest unter diesen Umständen doch auch kämpfen, oder?«
Er holte tief Luft und atmete kräftig durch die Nase aus.
»Wenn ein englischer Dragoner zu meinem Haus käme und Ärger machte«, sagte er wohlüberlegt, »würde ich mich gegen ihn verteidigen. Ich würde auch nicht eine Sekunde lang zögern, ihn umzubringen. Ich würde ihm weder das Haar abschneiden und es durch die Luft schwenken, noch würde ich seine Genitalien essen. Ich bin kein Barbar, Sassenach.«
»Das habe ich auch nicht gesagt«, protestierte ich. »Ich habe nur gesagt, daß -«
»Außerdem«, sagte er mit unumstößlicher Logik, »habe ich nicht vor, irgendwelche Indianer umzubringen. Wenn sie mich in Ruhe lassen, werde ich ihnen auch nichts tun.«
»Sie werden sicher froh sein, das zu hören«, murmelte ich und gab für den Augenblick auf.
Wir lagen aneinandergeschmiegt in der Felsmulde, sanft vom Schweiß verklebt, und beobachteten die Sterne. Ich war unvorstellbar glücklich und zugleich ein wenig mißtrauisch. Konnte dieser Glückszustand wirklich andauern? Einst hatte ich das »für immer« zwischen uns als selbstverständlich betrachtet, doch damals war ich noch jünger.
So Gott wollte, würden wir uns bald niederlassen, den Ort finden, wo wir uns ein Heim, ein Leben aufbauen konnten. Das war alles, was ich wollte, doch gleichzeitig kamen mir Zweifel. Seit meiner Rückkehr hatten wir erst ein paar Monate miteinander verbracht. Jede Berührung, jedes Wort war immer noch in Erinnerungen gehüllt und gleichzeitig eine Neuentdeckung. Was würde geschehen, wenn wir uns gründlich aneinander gewöhnt hatten und den Alltag und seine Routine teilten?
»Meinst du, daß du meiner überdrüssig wirst?« murmelte er. »Wenn wir uns niedergelassen haben?«
»Ich habe mich gerade umgekehrt dasselbe gefragt.«
»Nein«, sagte er, und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Bestimmt nicht, Sassenach.«
»Woher weißt du das?« fragte ich.
»Ich war es nie«, erinnerte er mich. »Damals. Wir waren drei Jahre verheiratet, und ich habe dich am letzten Tag noch genauso begehrt wie am ersten. Vielleicht sogar mehr«, fügte er leise hinzu. Genau wie ich dachte er an unseren letzten Liebesakt, bevor er mich durch die Steine geschickt hatte.
Ich beugte mich herab und küßte ihn. Er schmeckte sauber und frisch und hatte noch etwas vom durchdringenden Geruch des Geschlechtsaktes an sich.
»Ich auch.«
»Dann mach dir keine Sorgen, Sassenach, und ich mach’ mir auch keine.« Er berührte mein Haar und strich mir die feuchten Locken aus der Stirn. »Ich glaube, ich könnte mein Leben lang mit dir zusammensein und dich immer noch lieben. Und obwohl ich schon so oft bei dir gelegen habe, überrascht du mich manchmal immer noch, so wie heute nacht.«
»Ja? Was habe ich denn getan?« Ich starrte zu ihm hinunter, meinerseits überrascht.
»Oh… also. Ich wollte nicht… äh -«
Er klang plötzlich verlegen, und sein Körper war ungewohnt steif.
»Mm?« Ich küßte ihn aufs Ohr.
»Äh… als ich zu dir gekommen bin… was du da gemacht hast… ich meine - war es das, was ich dachte?«
Ich lächelte im Dunkeln in seine Schulter hinein.
»Das kommt darauf an, was du gedacht hast, nehme ich an.«
Er stützte sich auf seinen Ellbogen, und seine Haut löste sich mit einem leisen Schmatzgeräusch von der meinen. Die feuchte Stelle, an der er festgeklebt hatte, war plötzlich kühl. Er drehte sich auf die Seite und grinste mich an.
»Du weißt ganz genau, was ich gedacht habe, Sassenach.«
Ich berührte sein Kinn, das von sprießenden Bartstoppeln überschattet war.
»Stimmt. Und du weißt auch ganz genau, was ich gemacht habe, warum fragst du also?«
»Na ja, ich hätte einfach nicht gedacht, daß eine Frau so etwas macht.«
Der Mond war so hell, daß ich seine halb hochgezogene Augenbraue sehen konnte.
»Männer tun es doch auch«, erinnerte ich ihn. »Du zumindest. Du hast es selbst gesagt - als du im Gefängnis warst, hast du gesagt -«
»Das war etwas anderes!« Ich sah, wie sich sein Mund verzog, während er sich überlegte, was er sagen sollte. »Ich - ach, ich konnte damals einfach nicht anders. Ich konnte schließlich nicht -«
»Tust du es denn sonst nie?« Ich setzte mich auf, schüttelte mein feuchtes Haar aus und warf ihm über die Schulter einen vorsichtigen Blick zu. Man konnte im Mondlicht nicht sehen, wenn jemand errötete, doch ich hatte den Eindruck, daß er rot angelaufen war.
»Na gut«, murmelte er. »Ich denke schon, ja.« Ihm kam ein plötzlicher Gedanke, und seine Augen weiteten sich, als er mich ansah. »Machst du - hast du das schon oft gemacht?« Das letzte Wort kam als Krächzen heraus, und er mußte innehalten und sich räuspern.
»Das kommt darauf an, was du unter ›oft‹ verstehst«, sagte ich und ließ es zu, daß sich ein Hauch von Bitterkeit in meine Stimme schlich. »Ich habe schließlich zwei Jahre lang als Witwe gelebt.«
Er rieb sich mit den Fingerknöcheln über seine Lippen und beobachtete mich mit Interesse.
»Aye, das stimmt. Es ist nur - ich hatte einfach nicht gedacht, daß Frauen so etwas machen, das ist alles.« Zunehmende Faszination bekam die Oberhand über seine Überraschung. »Kannst du - es zu Ende bringen? Ohne einen Mann, meine ich?«
Da mußte ich laut lachen, und leise Echos hallten aus den umstehenden Bäumen wider und wurden vom Fluß zurückgeworfen.
»Ja, aber es ist viel schöner mit einem Mann«, versicherte ich ihm. Ich streckte die Hand aus und berührte seine Brust. Ich sah, wie sich eine Gänsehaut auf seiner Brust und seinen Schultern ausbreitete, und er erschauerte sacht, als ich mit meiner Fingerspitze einen sanften Kreis um seine Brustwarze zog. »Viel schöner«, sagte ich leise.
»Oh«, sagte er und hörte sich erfreut an. »Dann ist es ja gut, aye?«
Er war heiß - noch heißer als die flüssige Luft -, und mein erster Impuls war zurückzuweichen, doch ich folgte ihm nicht. Augenblicklich brach mir überall dort, wo seine Hände auf meiner Haut innehielten, der Schweiß aus, und ganze Rinnsale liefen mir den Hals herunter.
»So habe ich noch nie mit dir geschlafen«, sagte er. »Wie Aale, aye? Und dein Körper gleitet mir durch die Finger, so schlüpfrig wie Seetang.« Er fuhr mit beiden Händen an meinem Rücken herab, wobei er seine Daumen in die Furche meiner Wirbelsäule preßte. Die Härchen in meinem Nacken prickelten vor Vergnügen.
»Mm. Das kommt davon, daß es in Schottland zu kalt ist, um wie ein Schwein zu schwitzen«, sagte ich. »Obwohl - schwitzen Schweine eigentlich? Das habe ich mich schon immer gefragt.«
»Ich weiß es nicht, ich habe noch nie mit einem Schwein geschlafen.« Er neigte den Kopf, und seine Zunge berührte meine Brust. »Aber du schmeckst ein bißchen nach Forelle, Sassenach.«
»Wonach schmecke ich?«
»Frisch und süß mit etwas Salz«, antwortete er und hob den Kopf, bevor er sich weiter auf den Weg nach unten machte.
»Das kitzelt«, sagte ich und erzitterte unter seiner Zunge, machte aber keine Anstalten, mich ihm zu entziehen.
»Soll es auch«, sagte er und hob das feuchte Gesicht zum Atemholen, bevor er sich wieder ans Werk machte. »Gefällt mir nicht, daß du ganz ohne mich auskommen könntest.«
»Kann ich auch gar nicht«, versicherte ich ihm. »Oh!«
»Ah?« kam die gedämpfte Nachfrage. Ich legte mich auf den Stein zurück, den Rücken durchgedrückt, während die Sterne über mir schwindelerregend zu tanzen begannen.
»Ich habe ›Oh!‹ gesagt«, sagte ich schwach. Und dann sagte ich eine ganze Zeitlang nichts Zusammenhängendes mehr, bis er heftig atmend dalag und sein Kinn ganz leicht auf mein Schambein stützte. Ich langte herunter, um ihm das schweißdurchtränkte Haar aus dem Gesicht zu streichen, und er küßte meine Handfläche.
»Ich komme mir vor wie Eva«, sagte ich leise und sah zu, wie hinter ihm der Mond im dunklen Wald versank. »Genau am Rand des Gartens Eden.«
In meiner Nabelgegend erklang ein kurzes, prustendes Lachen.
»Aye, dann bin ich wohl Adam«, sagte Jamie. »Am Tor zum Paradies.« Er wandte den Kopf und blickte sehnsüchtig über den Fluß auf das unbekannte Land, dann legte er seine Wange auf meinen Bauch. »Ich wünschte nur, ich wüßte, ob ich gerade hineingehe oder herauskomme.«
Ich lachte ebenfalls, und das schreckte ihn auf. Dann packte ich ihn bei beiden Ohren und zog ihn sanft über meine schlüpfrige nackte Haut.
»Hinein«, sagte ich. »Ich sehe jedenfalls keinen Engel mit einem Feuerschwert.«
Er sank auf mich herab, seine Haut ebenfalls fieberheiß, und ich erschauerte unter ihm.
»Nicht?« murmelte er. »Dann siehst du wohl nicht genau genug hin.«
Dann trennte mich das Feuerschwert vom Bewußtsein ab und steckte meinen Körper in Brand. Wir flammten gemeinsam auf, hell wie Sterne in der Sommernacht, dann sanken wir ausgebrannt zurück, und unsere Asche löste sich auf in einem warmen Urmeer aus Salzwasser, in dem sich das erste pulsierende Leben regte.
Der Ruf Der Trommel
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