20
Der weiße Rabe
Oktober 1767
»›Körper, Seele und Verstand‹«, übersetzte Jamie, während er sich bückte, um den nächsten zurechtgehauenen Baumstamm am Ende zu packen. »›Der Körper für die Empfindungen, die Seele als Triebfeder unserer Handlungen, der Verstand für die Prinzipien. Dennoch hat auch der Ochse im Stall die Fähigkeit zur Empfindung; jedes wilde Tier und jeder Abartige folgt den Zuckungen seiner Impulse; und selbst Männer, die die Götter verleugnen oder ihr Land verraten oder‹ - Vorsicht, Mann!«
Nach dieser Warnung schritt Ian zielsicher über den Axtgriff hinweg, drehte sich nach links und bugsierte sein Ende der Last vorsichtig um die Ecke der halbfertigen Wand aus Stämmen.
»›- oder hinter verschlossenen Türen alle Arten von Schindluder treiben, besitzen einen Verstand, der sie auf den geraden Pfad der Tugend führen könnte‹«, resümierte Jamie Marcus Aurelius’ Selbstbetrachtungen. »›Wenn man also begreift‹ - einen Schritt höher. Aye, gut, jetzt haben wir’s - ›wenn man also begreift, daß alles andere auch solchen Menschen angeboren ist, dann ist das einzige, was den guten Menschen auszeichnet, die Bereitwilligkeit, mit der er jede Erfahrung willkommen heißt, die der Webstuhl des Schicksals für ihn webt; seine Weigerung, das Göttliche, das seiner Brust innewohnt, zu beflecken oder es durch Sinnesverwirrungen durcheinanderzubringen…‹ Gut so, und hau… ruck!«
Sein Gesicht wurde scharlachrot vor Anstrengung, als sie jetzt an der richtigen Stelle ankamen und gemeinsam den abgevierten Stamm auf Schulterhöhe hievten. Zu beansprucht, um mit Marc Aurels Selbstbetrachtungen fortzufahren, steuerte Jamie die Bewegungen seines Neffen mit Kopfrucken und atemlos hervorgebrachten kurzen Befehlen, während sie den sperrigen Holzbalken in die Einkerbung der darunterliegenden Querbalken manövrierten.
»Ach, die Zuckungen seiner Impulse, was?« Ian strich sich eine Haarlocke aus dem schweißnassen Gesicht. »Ich spüre leichte Zukkungen in der Magengegend. Ist das schon abartig?«
»Ich glaube, das ist eine der Tageszeit angemessene körperliche Empfindung«, gestand Jamie ihm zu und stöhnte leise, als sie den Balken den letzten Zentimeter in Position manövrierten. »Noch etwas nach links, Ian.«
Der Stamm senkte sich in die vorbereiteten Einkerbungen und die beiden traten mit einem gemeinsamen Seufzer der Erleichterung zurück. Ian grinste seinen Onkel an.
»Das heißt, du hast auch Hunger, oder?«
Jamie grinste zurück, doch bevor er antworten konnte, hob Rollo den Kopf, spitzte die Ohren, und ein leises Knurren grollte in seiner Brust. Daraufhin hörte Ian auf, sich das Gesicht mit seinem Hemdschoß abzuwischen, und wandte suchend den Kopf.
»Wir kriegen Gesellschaft, Onkel Jamie«, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken zum Waldrand. Jamie erstarrte. Bevor er sich jedoch umdrehen oder nach einer Waffe greifen konnte, hatte ich erkannt, was Rollo und Ian im wechselnden Licht der Blätter gesehen hatten.
»Keine Sorge«, sagte ich belustigt. »Es ist dein ehemaliger Saufkumpan - für eine Stippvisite herausgeputzt. Anscheinend eine kleine Überraschung, die der Webstuhl des Schicksals gewebt hat, auf daß du sie bereitwillig willkommen heißt.«
Nacognaweto wartete höflich im Schatten des Kastanienhains, bis er sicher war, daß wir ihn gesehen hatten. Dann trat er aus dem Wald und kam langsam näher, diesmal nicht von seinen Söhnen gefolgt, sondern von drei Frauen. Zwei von ihnen trugen große Bündel auf dem Rücken.
Eine war ein junges Mädchen, kaum älter als vielleicht dreizehn, und die zweite, die in den Dreißigern war, eindeutig die Mutter des Mädchens. Die dritte Frau, die sie begleitete, war viel älter - nicht die Großmutter, dachte ich beim Anblick ihrer gebeugten Haltung und ihres weißen Haars, vielleicht die Urgroßmutter.
Sie hatten sich tatsächlich für ihren Besuch herausgeputzt; Nacognawetos Unterschenkel waren nackt, seine Füße steckten in Schnürstiefeln, doch er trug eine Musselinkniehose, die am Knie locker saß, und darüber ein Hemd aus rot gefärbtem Leinen, das von einem prachtvollen Gürtel mit Verzierungen aus Stachelschweinborsten und weißen und lavendelblauen Muscheln gerafft wurde. Darüber trug er eine perlenbestickte Lederweste, und eine Art locker gewickelter Turban aus blauem Kaliko thronte auf seinem offenen Haar, aus dem über jedem Ohr eine Krähenfeder herabbaumelte. Schmuck aus Muscheln und Silber - ein Ohrring, mehrere Halsbänder, eine Gürtelschnalle und kleine Ornamente, die er sich ins Haar gebunden hatte - vervollständigte das Bild.
Die Frauen waren etwas weniger prunkvoll aufgemacht, aber immer noch eindeutig in ihrem Sonntagsstaat mit langen, weiten Kleidern, die ihnen bis an die Knie reichten und unter denen weiche Stiefel und Lederleggings zu sehen waren. Sie waren mit Hirschlederschürzen gegürtet, die mit dekorativen Mustern bemalt waren, und die beiden jüngeren Frauen trugen ebenfalls schmuckvolle Westen. Sie näherten sich im Gänsemarsch und blieben auf halbem Weg auf der Lichtung stehen.
»Mein Gott«, murmelte Jamie, »eine Gesandtschaft.« Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und stieß Ian zwischen die Rippen. »Sag für mich guten Tag, Ian; ich bin gleich wieder da.«
Ian, der ein etwas verblüfftes Gesicht zog, trat vor, um die Indianer zu begrüßen, und winkte mit seiner großen Hand als offizielle Willkommensgeste. Jamie packte mich am Arm und schob mich um die Ecke in das halbfertige Haus.
»Was -«, begann ich verblüfft.
»Zieh dich um«, unterbrach er mich und schob die Kleiderkiste in meine Richtung. »Zieh deine prunkvollsten Sachen an, aye? Sonst würden wir ihnen nicht genug Respekt zollen.«
»Prunkvoll« war nicht gerade die Beschreibung, die auf irgendeins meiner Kleidungsstücke zutraf, doch ich tat mein Bestes, indem ich mir hastig einen gelben Leinenrock um die Taille schnürte und mein einfaches, weißes Halstuch durch ein mit Kirschen besticktes Tuch ersetzte, das Jocasta mir mitgeschickt hatte. Das würde reichen, dachte ich - schließlich waren es offensichtlich die Männchen der Gattung, die hier im Zentrum der Aufmerksamkeit standen.
Nachdem Jamie in Rekordzeit seine Kniehose abgestreift und sich das rote Plaid um die Hüften geschlungen hatte, befestigte er es mit einer kleinen, bronzenen Brosche, zog eine Flasche unter dem Bettgestell hervor und war durch die offene Seite des Hauses verschwunden, bevor ich mein Haar in Ordnung bringen konnte. Daraufhin gab ich den Versuch als vergebliche Liebesmüh auf und eilte ihm nach draußen nach.
Die Frauen beobachteten mich mit der gleichen Faszination, die ich für sie hegte, doch sie hielten sich im Hintergrund, während Jamie und Nacognaweto die üblichen Begrüßungen austauschten, wobei formell Brandy ausgeschenkt und gemeinsam getrunken wurde, ein Ritual, in das sie Ian miteinschlossen. Erst dann trat die zweite Frau auf eine Geste Nacognawetos hin vor und grüßte uns mit einem schüchternen Kopfnicken.
»Bonjour, Messieurs, Madame«, sagte sie leise und blickte uns nacheinander an. Ihre Augen ruhten mit unverhüllter Neugier auf mir und registrierten jedes Detail meiner Erscheinung, daher hatte ich auch keine Hemmungen, sie ebenso anzustarren. Ein Mischling, dachte ich, vielleicht französisch?
»Je suis sa femme«, sagte sie und neigte ihren Kopf graziös in Nacognawetos Richtung, während ihre Worte meine Vermutungen über ihre Abstammung bestätigten. »Je m’appelle Gabrielle.«
»Äh… je m’appelle Claire«, sagte ich und deutete mit einer etwas weniger graziösen Geste auf mich. »S’il vous plaît…« Ich wies auf den Stapel Baumstämme und lud sie zum Sitzen ein, während ich mich insgeheim fragte, ob wir genug Eichhörncheneintopf hatten, um sie einzuladen.
Unterdessen beäugte Jamie Nacognaweto mit einer Mischung aus Belustigung und Verärgerung.
»So so, kein Franz’ wie?« sagte er. »Nicht ein Wort, nehme ich an!« Der Indianer sah ihn mit völlig ausdruckslosem Gesicht an und nickte seiner Frau zu, damit sie mit der Vorstellung fortfahre.
Die ältere Frau hieß Nayawenne und war nicht Gabrielles Großmutter, wie ich gedacht hatte, sondern Nacognawetos. Sie war von leichtem Knochenbau, dünn und von Rheumatismus gebeugt, doch sie hatte glänzende Augen wie die Spatzen, denen sie so ähnlich sah. Um den Hals trug sie einen kleinen Lederbeutel, der mit einem ungeschliffenen, durchbohrten grünen Stein und den gefleckten Schwanzfedern eines Spechtes geschmückt war. Ein größerer Beutel, diesmal aus Stoff, hing an ihrer Taille. Sie sah, wie mein Blick auf die grünen Flecken auf dem groben Tuch fiel und lächelte, wobei sie zwei vorstehende, gelbe Vorderzähne entblößte.
Wie ich vermutet hatte, war das Mädchen Gabrielles Tochter - nicht aber, so glaubte ich, Nacognawetos; sie hatte keine Ähnlichkeit mit ihm, und verhielt sich ihm gegenüber schüchtern. Ihr etwas unpassender Name war Berthe, und man sah ihr noch viel deutlicher als ihrer Mutter an, daß sie ein Mischling war: Ihr Haar war dunkel und seidig, jedoch dunkelbraun anstatt ebenholzschwarz, und ihr rundes Gesicht hatte die frische Gesichtsfarbe einer Europäerin, obwohl ihre Augen die indianische Mandelform aufwiesen.
Als die offizielle Vorstellung vorbei war, winkte Nacognaweto Berthe zu, die gehorsam das große Bündel hervorholte, das sie getragen hatte, es zu meinen Füßen absetzte und einen großen Korb voll orange-grün gestreifter Kürbisse, auf einer Schnur aufgezogene getrocknete Fische, einen kleineren Korb mit Yamswurzeln und einen Berg geschälter und getrockneter Maiskolben zum Vorschein brachte.
»Mein Gott«, murmelte ich. »Die Rückkehr des Squanto!«
Alle sahen mich verständnislos an, und ich beeilte mich zu lächeln und in - völlig ernstgemeinte Freudenrufe über die Geschenke auszubrechen. Es war vielleicht nicht genug, um uns den ganzen Winter über zu ernähren, doch würde es unseren Speiseplan gut zwei Monate lang bereichern.
Nacognaweto erklärte durch Gabrielle, daß dies ein kleiner und bedeutungsloser Dank für den Bären sei, den Jamie ihm geschenkt hatte, was man in seinem Dorf mit Entzücken aufgenommen habe. Jamies mutige Heldentat (hier sahen die Frauen mich an und kicherten, denn sie alle hatten offenbar von der Episode mit dem Fisch gehört) sei der Gegenstand vieler Gespräche und großer Bewunderung gewesen.
Jamie, für den diese Art diplomatischer Wortwechsel etwas völlig Normales war, leugnete bescheiden jeden Heroismus und tat die Begegnung als puren Zufall ab.
Während Gabrielle mit der Übersetzung beschäftig war, ignorierte die Alte die gegenseitigen Komplimente und stahl sich seitwärts wie ein Krebs zu mir herüber. Ohne mir das geringste Gefühl eines Affronts zu geben, klopfte sie mich vertraulich von Kopf bis Fuß ab, befühlte meine Kleider, hob den Saum meines Kleides hoch, um meine Schuhe zu begutachten, und murmelte mit leiser, heiserer Stimme einen fortlaufenden Kommentar vor sich hin.
Das Murmeln wurde lauter und nahm einen erstaunten Tonfall an, als sie bei meinem Haar anlangte. Ihr zu Gefallen fischte ich die Haarnadeln heraus und ließ es mir über die Schultern fallen. Sie zog eine Locke heraus, zog sie stramm, ließ sie dann zurückfedern und lachte gurgelnd.
Die Männer blickten in unsere Richtung, doch inzwischen war Jamie dazu übergegangen, Nacognaweto die Konstruktion unseres Hauses zu zeigen. Der Schornstein war fertig, wie das Fundament aus Feldsteinen gebaut, und der Fußboden war gelegt, doch die Wände, gebaut aus soliden, abgevierten Baumstämmen von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser, erhoben sich erst schulterhoch. Jamie drängte Ian, das Entrinden eines Baumstammes zu demonstrieren, wobei er sich beständig nach hinten vorarbeitete, immer an der Oberseite eines Stammes entlang, und bei jedem Hieb gerade eben seine Zehen verfehlte.
Da diese Form männlicher Konversation keiner Übersetzung bedurfte, stand es Gabrielle frei, zu uns zu kommen und sich mit mir zu unterhalten; obwohl ihr Französisch merkwürdig akzentuiert und voll seltsamer Redewendungen war, hatten wir keine Schwierigkeiten, einander zu verstehen.
Binnen kurzem fand ich heraus, daß Gabrielle die Tochter eines französischen Pelzhändlers und einer Huronenfrau war. Sie war Nacognawetos zweite Frau, und er war wiederum ihr zweiter Ehemann - der erste, Berthes Vater, war Franzose gewesen und zehn Jahre zuvor im Franzosenkrieg ums Leben gekommen.
Sie lebten in einem Dorf namens Anna Ooka (ich biß mir auf die Innenseite der Wange, um nicht zu lachen; zweifellos hätte sich »New-Bern« für sie auch seltsam angehört), etwa zwei Tagesritte nordwestlich - Gabrielle zeigte die Richtung mit einer graziösen Kopfbewegung an.
Während ich mich mit Gabrielle und Berthe unterhielt und mit Handbewegungen nachhalf, wurde mir allmählich bewußt, daß noch eine andere Art von Kommunikation stattfand, und zwar mit der alten Frau.
Sie sprach mich nicht direkt an - obwohl sie dann und wann mit Berthe tuschelte, weil sie offensichtlich wissen wollte, was ich gesagt hatte -, doch ihre leuchtenden, dunklen Augen blieben auf mich gerichtet, und ich war mir ihrer Aufmerksamkeit seltsam bewußt. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, daß sie mit mir sprach - und ich mit ihr -, ohne daß ein einziges Wort gewechselt wurde.
Ich sah, wie Jamie am anderen Ende der Lichtung Nacognaweto den Rest Brandy in der Flasche anbot; es war also an der Zeit, Gegengeschenke zu machen. Ich gab Gabrielle das bestickte Halstuch und Berthe eine mit Straß verzierte Haarnadel, worüber sie in erfreute Ausrufe ausbrachen. Doch für Nayawenne hatte ich etwas anderes.
Ich hatte in der Woche zuvor das Glück gehabt, vier große Ginsengwurzeln zu finden. Ich holte alle vier aus meiner Medizinkiste und drückte sie ihr lächelnd in die Hand. Sie blickte mich an, grinste dann, band den Stoffbeutel von ihrem Gürtel los und reichte ihn mir. Ich brauchte ihn gar nicht zu öffnen; ich konnte die vier langen, knotigen Gegenstände durch den Stoff fühlen.
Ich lachte zurück; ja, wir sprachen definitiv dieselbe Sprache.
Von Neugier und einem Impuls getrieben, den ich nicht beschreiben konnte, fragte ich Gabrielle nach dem Amulett der alten Dame, wobei ich hoffte, daß dies keine unverzeihliche Verletzung der Etikette bedeutete.
»Grandmère est…« Sie zögerte, denn sie suchte nach dem richtigen französischen Wort, doch ich wußte bereits Bescheid.
»Pas docteur«, sagte ich, »et pas sorcière, magicienne. Elle est…« Ich zögerte ebenfalls; es gab einfach kein passendes französisches Wort.
»Wir sagen, sie ist eine Sängerin«, warf Berthe schüchtern auf französisch ein. »Wir nennen sie Schamanin, und ihr Name bedeutet ›Es mag sein, es wird geschehen‹.«
Die Alte sagte etwas und nickte mir dabei zu, und die beiden Frauen machten ein etwas erschrockenes Gesicht. Nayawenne senkte den Kopf, nahm den kleinen Beutel ab und legte ihn mir in die Hand.
Er war so schwer, daß mein Handgelenk nachgab und ich ihn beinahe fallen ließ. Erstaunt schloß ich meine Finger darum. Das abgetragene Leder war von ihrem Körper erwärmt, und die runde Form schmiegte sich glatt in meine Hand. Einen kurzen Augenblick lang hatte ich das bemerkenswerte Gefühl, daß in dem Beutel etwas lebendig war.
Mein Gesicht muß mein Unbehagen angezeigt haben, denn die Alte krümmte sich vor Lachen. Sie hielt mir die Hand hin, und ich gab ihr das Amulett mit beträchtlicher Hast zurück. Gabrielle eröffnete mir höflich, daß es der Großmutter ihres Mannes ein Vergnügen wäre, mir die nützlichen Pflanzen zu zeigen, die hier wuchsen, wenn ich mit ihr einen Spaziergang unternehmen wolle.
Ich nahm diese Einladung begierig an, und die Alte machte sich mit einer Sicherheit und einem Tempo auf den Weg, die ihr Alter Lügen straften. Ich beobachtete ihre winzigen Füße in den weichen Lederschuhen und hoffte, daß ich in ihrem Alter auch noch in der Lage sein würde, zwei Tage durch die Wälder zu marschieren und dann noch einen Erkundungsgang unternehmen zu wollen.
Wir wanderten ein Stück am Bach entlang, in respektvoller Entfernung von Gabrielle und Berthe gefolgt, die nur zu uns aufschlossen, wenn wir sie zum Übersetzen riefen.
»Jede Pflanze trägt in sich das Heilmittel für eine Krankheit«, erklärte die Alte durch Gabrielle. Sie pflückte einen Zweig und reichte ihn mir mit einem ironischen Blick. »Wenn wir sie nur alle kennen würden!«
Großenteils kamen wir ganz gut mit Gesten zurecht, doch als wir das große Wasserbecken erreichten, in dem Jamie und Ian oft Forellen angelten, blieb Nayawenne stehen und winkte Gabrielle wieder herbei. Sie sagte etwas zu der Frau, die mich mit leicht überraschtem Blick ansah.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, daß sie von Euch geträumt hat, in der Vollmondnacht vor zwei Monaten.«
»Von mir?«
Gabrielle nickte. Nayawenne legte mir die Hand auf den Arm und blickte mir aufmerksam ins Gesicht, als wollte sie sehen, welche Wirkung Gabrielles Worte hatten.
»Sie hat uns von dem Traum erzählt, in dem sie eine Frau gesehen hatte mit -« Ihre Lippen zuckten, doch rasch hatte sie sich wieder unter Kontrolle und berührte sacht die Spitzen ihres eigenen, glatten Haars. »Drei Tage danach kehrten mein Mann und seine Söhne zurück und berichteten, daß sie Euch und dem Bärentöter im Wald begegnet waren.«
Berthe betrachtete mich ebenfalls mit unverhohlenem Interesse und wickelte sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares um die Spitze ihres Zeigefingers.
»Sie, die heilt, hat sofort gesagt, daß sie Euch sehen muß, und als wir dann hörten, daß Ihr hier seid…«
Das jagte mir einen kleinen Schrecken ein; ich hatte nicht das Gefühl gehabt, daß wir beobachtet wurden, und doch hatte ganz offensichtlich jemand unsere Anwesenheit auf dem Berg bemerkt und Nacognaweto die Nachricht überbracht.
Da ihr diese Nebensächlichkeiten zu lange dauerten, stieß Nayawenne ihre Schwiegerenkelin an, sagte etwas und wies dann nachdrücklich auf das Wasser zu unseren Füßen.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, Ihr seid ihr hier an dieser Stelle im Traum erschienen.« Gabrielle wies auf das Becken und sah mich mit großem Ernst an.
»Sie ist Euch hier in der Nacht begegnet. Der Mond war im Wasser. Ihr habt Euch in einen weißen Raben verwandelt, seid über das Wasser geflogen und habt den Mond verschluckt.«
»Oh?« Ich hoffte, daß das keine Untat von mir gewesen war.
»Der weiße Rabe kam zurück und hat ihr ein Ei in die Handfläche gelegt. Das Ei ist aufgesprungen, und es war ein glänzender Stein darin. Die Großmutter meines Mannes wußte, daß dies ein großer Zauber war, daß dieser Stein Krankheiten heilen kann.«
Nayawenne nickte mehrere Male, nahm den Amulettbeutel erneut von ihrem Hals und griff hinein.
»Am Tag nach dem Traum ist die Großmutter meines Mannes in den Wald gegangen, um kinnea-Wurzeln auszugraben, und unterwegs hat sie etwas Blaues im Lehm am Bachufer stecken sehen.«
Nayawenne zog einen kleinen Klumpen hervor und legte ihn mir in die Hand. Es war ein Stein, zwar ungeschliffen, aber eindeutig ein Edelstein. Es hafteten noch Teile der Steinmatrix daran, doch das Herz des Steins war von einem tiefen, sanften Blau.
»Mein Gott - das ist ein Saphir, nicht wahr?«
»Saphir?« Gabrielle ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, als wollte sie seinen Geschmack prüfen. »Wir nennen ihn« - sie zögerte und suchte nach der richtigen französischen Übersetzung - »pierre sans peur.«
»Pierre sans peur?« Ein Stein ohne Furcht?
Nayawenne nickte und fuhr fort. Bevor ihre Mutter den Mund auftun konnte, fiel Berthe mit der Übersetzung ein.
»Die Großmutter meines Vaters sagt, ein Stein wie dieser sorgt dafür, daß die Menschen keine Angst bekommen, er stärkt ihre Lebensgeister, so daß sie schneller gesund werden. Dieser Stein hat schon zwei Menschen vom Fieber befreit und die Augenentzündung meines jüngeren Bruders geheilt.«
»Die Großmutter meines Mannes möchte Euch für dieses Geschenk danken.« Geschickt übernahm Gabrielle wieder die Gesprächsführung.
»Äh… sagt ihr, keine Ursache.« Ich nickte der Alten freundlich zu und gab ihr den blauen Stein zurück. Sie ließ ihn in den Beutel fallen und verschloß ihn wieder. Dann sah sie mich genau an, streckte die Hand aus, zog an einer meiner Locken und rieb sie beim Sprechen zwischen ihren Fingern.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, ihr habt die Heilkraft schon, aber sie wird noch zunehmen. Wenn Euer Haar so weiß ist wie das ihre, werdet Ihr zu Eurer ganzen Macht finden.«
Die Alte ließ die Haarlocke los und sah mir einen Moment lang in die Augen. Ich glaubte eine große Traurigkeit in den verblichenen Tiefen zu sehen, und streckte unwillkürlich die Hand aus, um sie zu berühren.
Sie trat zurück und sagte noch etwas. Gabrielle blickte mich seltsam an.
»Sie sagt, Ihr sollt Euch keine Vorwürfe machen, Krankheiten werden von den Göttern gesandt. Es wird nicht Eure Schuld sein.«
Ich sah Nayawenne erschrocken an, doch sie hatte sich schon abgewandt.
»Was wird nicht meine Schuld sein?« fragte ich, doch die Alte war nicht bereit, mehr zu sagen.
Der Ruf Der Trommel
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