20
Der weiße Rabe
Oktober 1767
»›Körper, Seele und Verstand‹«, übersetzte Jamie,
während er sich bückte, um den nächsten zurechtgehauenen Baumstamm
am Ende zu packen. »›Der Körper für die Empfindungen, die Seele als
Triebfeder unserer Handlungen, der Verstand für die Prinzipien.
Dennoch hat auch der Ochse im Stall die Fähigkeit zur Empfindung;
jedes wilde Tier und jeder Abartige folgt den Zuckungen seiner
Impulse; und selbst Männer, die die Götter verleugnen oder ihr Land
verraten oder‹ - Vorsicht, Mann!«
Nach dieser Warnung schritt Ian zielsicher über den
Axtgriff hinweg, drehte sich nach links und bugsierte sein Ende der
Last vorsichtig um die Ecke der halbfertigen Wand aus
Stämmen.
»›- oder hinter verschlossenen Türen alle Arten von
Schindluder treiben, besitzen einen Verstand, der sie auf den
geraden Pfad der Tugend führen könnte‹«, resümierte Jamie Marcus
Aurelius’ Selbstbetrachtungen. »›Wenn man also begreift‹ -
einen Schritt höher. Aye, gut, jetzt haben wir’s - ›wenn man also
begreift, daß alles andere auch solchen Menschen angeboren ist,
dann ist das einzige, was den guten Menschen auszeichnet, die
Bereitwilligkeit, mit der er jede Erfahrung willkommen heißt, die
der Webstuhl des Schicksals für ihn webt; seine Weigerung, das
Göttliche, das seiner Brust innewohnt, zu beflecken oder es durch
Sinnesverwirrungen durcheinanderzubringen…‹ Gut so, und hau…
ruck!«
Sein Gesicht wurde scharlachrot vor Anstrengung,
als sie jetzt an der richtigen Stelle ankamen und gemeinsam den
abgevierten Stamm auf Schulterhöhe hievten. Zu beansprucht, um mit
Marc Aurels Selbstbetrachtungen fortzufahren, steuerte Jamie
die Bewegungen seines Neffen mit Kopfrucken und atemlos
hervorgebrachten kurzen Befehlen, während sie den sperrigen
Holzbalken in die Einkerbung der darunterliegenden Querbalken
manövrierten.
»Ach, die Zuckungen seiner Impulse, was?« Ian
strich sich eine
Haarlocke aus dem schweißnassen Gesicht. »Ich spüre leichte
Zukkungen in der Magengegend. Ist das schon abartig?«
»Ich glaube, das ist eine der Tageszeit angemessene
körperliche Empfindung«, gestand Jamie ihm zu und stöhnte leise,
als sie den Balken den letzten Zentimeter in Position manövrierten.
»Noch etwas nach links, Ian.«
Der Stamm senkte sich in die vorbereiteten
Einkerbungen und die beiden traten mit einem gemeinsamen Seufzer
der Erleichterung zurück. Ian grinste seinen Onkel an.
»Das heißt, du hast auch Hunger, oder?«
Jamie grinste zurück, doch bevor er antworten
konnte, hob Rollo den Kopf, spitzte die Ohren, und ein leises
Knurren grollte in seiner Brust. Daraufhin hörte Ian auf, sich das
Gesicht mit seinem Hemdschoß abzuwischen, und wandte suchend den
Kopf.
»Wir kriegen Gesellschaft, Onkel Jamie«, sagte er
und deutete mit einem Kopfnicken zum Waldrand. Jamie erstarrte.
Bevor er sich jedoch umdrehen oder nach einer Waffe greifen konnte,
hatte ich erkannt, was Rollo und Ian im wechselnden Licht der
Blätter gesehen hatten.
»Keine Sorge«, sagte ich belustigt. »Es ist dein
ehemaliger Saufkumpan - für eine Stippvisite herausgeputzt.
Anscheinend eine kleine Überraschung, die der Webstuhl des
Schicksals gewebt hat, auf daß du sie bereitwillig willkommen
heißt.«
Nacognaweto wartete höflich im Schatten des
Kastanienhains, bis er sicher war, daß wir ihn gesehen hatten. Dann
trat er aus dem Wald und kam langsam näher, diesmal nicht von
seinen Söhnen gefolgt, sondern von drei Frauen. Zwei von ihnen
trugen große Bündel auf dem Rücken.
Eine war ein junges Mädchen, kaum älter als
vielleicht dreizehn, und die zweite, die in den Dreißigern war,
eindeutig die Mutter des Mädchens. Die dritte Frau, die sie
begleitete, war viel älter - nicht die Großmutter, dachte ich beim
Anblick ihrer gebeugten Haltung und ihres weißen Haars, vielleicht
die Urgroßmutter.
Sie hatten sich tatsächlich für ihren Besuch
herausgeputzt; Nacognawetos Unterschenkel waren nackt, seine Füße
steckten in Schnürstiefeln, doch er trug eine Musselinkniehose, die
am Knie locker saß, und darüber ein Hemd aus rot gefärbtem Leinen,
das von einem prachtvollen Gürtel mit Verzierungen aus
Stachelschweinborsten und weißen und lavendelblauen Muscheln
gerafft wurde. Darüber trug er eine perlenbestickte Lederweste, und
eine Art locker gewickelter Turban aus blauem Kaliko thronte auf
seinem offenen Haar, aus dem
über jedem Ohr eine Krähenfeder herabbaumelte. Schmuck aus
Muscheln und Silber - ein Ohrring, mehrere Halsbänder, eine
Gürtelschnalle und kleine Ornamente, die er sich ins Haar gebunden
hatte - vervollständigte das Bild.
Die Frauen waren etwas weniger prunkvoll
aufgemacht, aber immer noch eindeutig in ihrem Sonntagsstaat mit
langen, weiten Kleidern, die ihnen bis an die Knie reichten und
unter denen weiche Stiefel und Lederleggings zu sehen waren. Sie
waren mit Hirschlederschürzen gegürtet, die mit dekorativen Mustern
bemalt waren, und die beiden jüngeren Frauen trugen ebenfalls
schmuckvolle Westen. Sie näherten sich im Gänsemarsch und blieben
auf halbem Weg auf der Lichtung stehen.
»Mein Gott«, murmelte Jamie, »eine Gesandtschaft.«
Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und stieß Ian
zwischen die Rippen. »Sag für mich guten Tag, Ian; ich bin gleich
wieder da.«
Ian, der ein etwas verblüfftes Gesicht zog, trat
vor, um die Indianer zu begrüßen, und winkte mit seiner großen Hand
als offizielle Willkommensgeste. Jamie packte mich am Arm und schob
mich um die Ecke in das halbfertige Haus.
»Was -«, begann ich verblüfft.
»Zieh dich um«, unterbrach er mich und schob die
Kleiderkiste in meine Richtung. »Zieh deine prunkvollsten Sachen
an, aye? Sonst würden wir ihnen nicht genug Respekt zollen.«
»Prunkvoll« war nicht gerade die Beschreibung, die
auf irgendeins meiner Kleidungsstücke zutraf, doch ich tat mein
Bestes, indem ich mir hastig einen gelben Leinenrock um die Taille
schnürte und mein einfaches, weißes Halstuch durch ein mit Kirschen
besticktes Tuch ersetzte, das Jocasta mir mitgeschickt hatte. Das
würde reichen, dachte ich - schließlich waren es offensichtlich die
Männchen der Gattung, die hier im Zentrum der Aufmerksamkeit
standen.
Nachdem Jamie in Rekordzeit seine Kniehose
abgestreift und sich das rote Plaid um die Hüften geschlungen
hatte, befestigte er es mit einer kleinen, bronzenen Brosche, zog
eine Flasche unter dem Bettgestell hervor und war durch die offene
Seite des Hauses verschwunden, bevor ich mein Haar in Ordnung
bringen konnte. Daraufhin gab ich den Versuch als vergebliche
Liebesmüh auf und eilte ihm nach draußen nach.
Die Frauen beobachteten mich mit der gleichen
Faszination, die ich für sie hegte, doch sie hielten sich im
Hintergrund, während Jamie und Nacognaweto die üblichen Begrüßungen
austauschten, wobei formell Brandy ausgeschenkt und gemeinsam
getrunken wurde, ein
Ritual, in das sie Ian miteinschlossen. Erst dann trat die zweite
Frau auf eine Geste Nacognawetos hin vor und grüßte uns mit einem
schüchternen Kopfnicken.
»Bonjour, Messieurs, Madame«, sagte sie
leise und blickte uns nacheinander an. Ihre Augen ruhten mit
unverhüllter Neugier auf mir und registrierten jedes Detail meiner
Erscheinung, daher hatte ich auch keine Hemmungen, sie ebenso
anzustarren. Ein Mischling, dachte ich, vielleicht
französisch?
»Je suis sa femme«, sagte sie und neigte
ihren Kopf graziös in Nacognawetos Richtung, während ihre Worte
meine Vermutungen über ihre Abstammung bestätigten. »Je
m’appelle Gabrielle.«
»Äh… je m’appelle Claire«, sagte ich und
deutete mit einer etwas weniger graziösen Geste auf mich. »S’il
vous plaît…« Ich wies auf den Stapel Baumstämme und lud sie zum
Sitzen ein, während ich mich insgeheim fragte, ob wir genug
Eichhörncheneintopf hatten, um sie einzuladen.
Unterdessen beäugte Jamie Nacognaweto mit einer
Mischung aus Belustigung und Verärgerung.
»So so, kein Franz’ wie?« sagte er. »Nicht ein
Wort, nehme ich an!« Der Indianer sah ihn mit völlig ausdruckslosem
Gesicht an und nickte seiner Frau zu, damit sie mit der Vorstellung
fortfahre.
Die ältere Frau hieß Nayawenne und war nicht
Gabrielles Großmutter, wie ich gedacht hatte, sondern Nacognawetos.
Sie war von leichtem Knochenbau, dünn und von Rheumatismus gebeugt,
doch sie hatte glänzende Augen wie die Spatzen, denen sie so
ähnlich sah. Um den Hals trug sie einen kleinen Lederbeutel, der
mit einem ungeschliffenen, durchbohrten grünen Stein und den
gefleckten Schwanzfedern eines Spechtes geschmückt war. Ein
größerer Beutel, diesmal aus Stoff, hing an ihrer Taille. Sie sah,
wie mein Blick auf die grünen Flecken auf dem groben Tuch fiel und
lächelte, wobei sie zwei vorstehende, gelbe Vorderzähne
entblößte.
Wie ich vermutet hatte, war das Mädchen Gabrielles
Tochter - nicht aber, so glaubte ich, Nacognawetos; sie hatte keine
Ähnlichkeit mit ihm, und verhielt sich ihm gegenüber schüchtern.
Ihr etwas unpassender Name war Berthe, und man sah ihr noch viel
deutlicher als ihrer Mutter an, daß sie ein Mischling war: Ihr Haar
war dunkel und seidig, jedoch dunkelbraun anstatt ebenholzschwarz,
und ihr rundes Gesicht hatte die frische Gesichtsfarbe einer
Europäerin, obwohl ihre Augen die indianische Mandelform
aufwiesen.
Als die offizielle Vorstellung vorbei war, winkte
Nacognaweto Berthe zu, die gehorsam das große Bündel hervorholte,
das sie getragen
hatte, es zu meinen Füßen absetzte und einen großen Korb voll
orange-grün gestreifter Kürbisse, auf einer Schnur aufgezogene
getrocknete Fische, einen kleineren Korb mit Yamswurzeln und einen
Berg geschälter und getrockneter Maiskolben zum Vorschein
brachte.
»Mein Gott«, murmelte ich. »Die Rückkehr des
Squanto!«
Alle sahen mich verständnislos an, und ich beeilte
mich zu lächeln und in - völlig ernstgemeinte Freudenrufe über die
Geschenke auszubrechen. Es war vielleicht nicht genug, um uns den
ganzen Winter über zu ernähren, doch würde es unseren Speiseplan
gut zwei Monate lang bereichern.
Nacognaweto erklärte durch Gabrielle, daß dies ein
kleiner und bedeutungsloser Dank für den Bären sei, den Jamie ihm
geschenkt hatte, was man in seinem Dorf mit Entzücken aufgenommen
habe. Jamies mutige Heldentat (hier sahen die Frauen mich an und
kicherten, denn sie alle hatten offenbar von der Episode mit dem
Fisch gehört) sei der Gegenstand vieler Gespräche und großer
Bewunderung gewesen.
Jamie, für den diese Art diplomatischer Wortwechsel
etwas völlig Normales war, leugnete bescheiden jeden Heroismus und
tat die Begegnung als puren Zufall ab.
Während Gabrielle mit der Übersetzung beschäftig
war, ignorierte die Alte die gegenseitigen Komplimente und stahl
sich seitwärts wie ein Krebs zu mir herüber. Ohne mir das geringste
Gefühl eines Affronts zu geben, klopfte sie mich vertraulich von
Kopf bis Fuß ab, befühlte meine Kleider, hob den Saum meines
Kleides hoch, um meine Schuhe zu begutachten, und murmelte mit
leiser, heiserer Stimme einen fortlaufenden Kommentar vor sich
hin.
Das Murmeln wurde lauter und nahm einen erstaunten
Tonfall an, als sie bei meinem Haar anlangte. Ihr zu Gefallen
fischte ich die Haarnadeln heraus und ließ es mir über die
Schultern fallen. Sie zog eine Locke heraus, zog sie stramm, ließ
sie dann zurückfedern und lachte gurgelnd.
Die Männer blickten in unsere Richtung, doch
inzwischen war Jamie dazu übergegangen, Nacognaweto die
Konstruktion unseres Hauses zu zeigen. Der Schornstein war fertig,
wie das Fundament aus Feldsteinen gebaut, und der Fußboden war
gelegt, doch die Wände, gebaut aus soliden, abgevierten Baumstämmen
von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser, erhoben sich erst
schulterhoch. Jamie drängte Ian, das Entrinden eines Baumstammes zu
demonstrieren, wobei er sich beständig nach hinten vorarbeitete,
immer an der Oberseite eines Stammes entlang, und bei jedem Hieb
gerade eben seine Zehen verfehlte.
Da diese Form männlicher Konversation keiner
Übersetzung bedurfte, stand es Gabrielle frei, zu uns zu kommen und
sich mit mir zu unterhalten; obwohl ihr Französisch merkwürdig
akzentuiert und voll seltsamer Redewendungen war, hatten wir keine
Schwierigkeiten, einander zu verstehen.
Binnen kurzem fand ich heraus, daß Gabrielle die
Tochter eines französischen Pelzhändlers und einer Huronenfrau war.
Sie war Nacognawetos zweite Frau, und er war wiederum ihr zweiter
Ehemann - der erste, Berthes Vater, war Franzose gewesen und zehn
Jahre zuvor im Franzosenkrieg ums Leben gekommen.
Sie lebten in einem Dorf namens Anna Ooka (ich biß
mir auf die Innenseite der Wange, um nicht zu lachen; zweifellos
hätte sich »New-Bern« für sie auch seltsam angehört), etwa zwei
Tagesritte nordwestlich - Gabrielle zeigte die Richtung mit einer
graziösen Kopfbewegung an.
Während ich mich mit Gabrielle und Berthe
unterhielt und mit Handbewegungen nachhalf, wurde mir allmählich
bewußt, daß noch eine andere Art von Kommunikation stattfand, und
zwar mit der alten Frau.
Sie sprach mich nicht direkt an - obwohl sie dann
und wann mit Berthe tuschelte, weil sie offensichtlich wissen
wollte, was ich gesagt hatte -, doch ihre leuchtenden, dunklen
Augen blieben auf mich gerichtet, und ich war mir ihrer
Aufmerksamkeit seltsam bewußt. Ich hatte das merkwürdige Gefühl,
daß sie mit mir sprach - und ich mit ihr -, ohne daß ein einziges
Wort gewechselt wurde.
Ich sah, wie Jamie am anderen Ende der Lichtung
Nacognaweto den Rest Brandy in der Flasche anbot; es war also an
der Zeit, Gegengeschenke zu machen. Ich gab Gabrielle das bestickte
Halstuch und Berthe eine mit Straß verzierte Haarnadel, worüber sie
in erfreute Ausrufe ausbrachen. Doch für Nayawenne hatte ich etwas
anderes.
Ich hatte in der Woche zuvor das Glück gehabt, vier
große Ginsengwurzeln zu finden. Ich holte alle vier aus meiner
Medizinkiste und drückte sie ihr lächelnd in die Hand. Sie blickte
mich an, grinste dann, band den Stoffbeutel von ihrem Gürtel los
und reichte ihn mir. Ich brauchte ihn gar nicht zu öffnen; ich
konnte die vier langen, knotigen Gegenstände durch den Stoff
fühlen.
Ich lachte zurück; ja, wir sprachen definitiv
dieselbe Sprache.
Von Neugier und einem Impuls getrieben, den ich
nicht beschreiben konnte, fragte ich Gabrielle nach dem Amulett der
alten Dame, wobei ich hoffte, daß dies keine unverzeihliche
Verletzung der Etikette bedeutete.
»Grandmère est…« Sie zögerte, denn sie
suchte nach dem richtigen französischen Wort, doch ich wußte
bereits Bescheid.
»Pas docteur«, sagte ich, »et pas
sorcière, magicienne. Elle est…« Ich zögerte ebenfalls; es gab
einfach kein passendes französisches Wort.
»Wir sagen, sie ist eine Sängerin«, warf Berthe
schüchtern auf französisch ein. »Wir nennen sie Schamanin, und ihr
Name bedeutet ›Es mag sein, es wird geschehen‹.«
Die Alte sagte etwas und nickte mir dabei zu, und
die beiden Frauen machten ein etwas erschrockenes Gesicht.
Nayawenne senkte den Kopf, nahm den kleinen Beutel ab und legte ihn
mir in die Hand.
Er war so schwer, daß mein Handgelenk nachgab und
ich ihn beinahe fallen ließ. Erstaunt schloß ich meine Finger
darum. Das abgetragene Leder war von ihrem Körper erwärmt, und die
runde Form schmiegte sich glatt in meine Hand. Einen kurzen
Augenblick lang hatte ich das bemerkenswerte Gefühl, daß in dem
Beutel etwas lebendig war.
Mein Gesicht muß mein Unbehagen angezeigt haben,
denn die Alte krümmte sich vor Lachen. Sie hielt mir die Hand hin,
und ich gab ihr das Amulett mit beträchtlicher Hast zurück.
Gabrielle eröffnete mir höflich, daß es der Großmutter ihres Mannes
ein Vergnügen wäre, mir die nützlichen Pflanzen zu zeigen, die hier
wuchsen, wenn ich mit ihr einen Spaziergang unternehmen
wolle.
Ich nahm diese Einladung begierig an, und die Alte
machte sich mit einer Sicherheit und einem Tempo auf den Weg, die
ihr Alter Lügen straften. Ich beobachtete ihre winzigen Füße in den
weichen Lederschuhen und hoffte, daß ich in ihrem Alter auch noch
in der Lage sein würde, zwei Tage durch die Wälder zu marschieren
und dann noch einen Erkundungsgang unternehmen zu wollen.
Wir wanderten ein Stück am Bach entlang, in
respektvoller Entfernung von Gabrielle und Berthe gefolgt, die nur
zu uns aufschlossen, wenn wir sie zum Übersetzen riefen.
»Jede Pflanze trägt in sich das Heilmittel für eine
Krankheit«, erklärte die Alte durch Gabrielle. Sie pflückte einen
Zweig und reichte ihn mir mit einem ironischen Blick. »Wenn wir sie
nur alle kennen würden!«
Großenteils kamen wir ganz gut mit Gesten zurecht,
doch als wir das große Wasserbecken erreichten, in dem Jamie und
Ian oft Forellen angelten, blieb Nayawenne stehen und winkte
Gabrielle wieder herbei. Sie sagte etwas zu der Frau, die mich mit
leicht überraschtem Blick ansah.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, daß sie von
Euch geträumt hat, in der Vollmondnacht vor zwei Monaten.«
»Von mir?«
Gabrielle nickte. Nayawenne legte mir die Hand auf
den Arm und blickte mir aufmerksam ins Gesicht, als wollte sie
sehen, welche Wirkung Gabrielles Worte hatten.
»Sie hat uns von dem Traum erzählt, in dem sie eine
Frau gesehen hatte mit -« Ihre Lippen zuckten, doch rasch hatte sie
sich wieder unter Kontrolle und berührte sacht die Spitzen ihres
eigenen, glatten Haars. »Drei Tage danach kehrten mein Mann und
seine Söhne zurück und berichteten, daß sie Euch und dem Bärentöter
im Wald begegnet waren.«
Berthe betrachtete mich ebenfalls mit unverhohlenem
Interesse und wickelte sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares
um die Spitze ihres Zeigefingers.
»Sie, die heilt, hat sofort gesagt, daß sie Euch
sehen muß, und als wir dann hörten, daß Ihr hier seid…«
Das jagte mir einen kleinen Schrecken ein; ich
hatte nicht das Gefühl gehabt, daß wir beobachtet wurden, und doch
hatte ganz offensichtlich jemand unsere Anwesenheit auf dem Berg
bemerkt und Nacognaweto die Nachricht überbracht.
Da ihr diese Nebensächlichkeiten zu lange dauerten,
stieß Nayawenne ihre Schwiegerenkelin an, sagte etwas und wies dann
nachdrücklich auf das Wasser zu unseren Füßen.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, Ihr seid ihr
hier an dieser Stelle im Traum erschienen.« Gabrielle wies auf das
Becken und sah mich mit großem Ernst an.
»Sie ist Euch hier in der Nacht begegnet. Der Mond
war im Wasser. Ihr habt Euch in einen weißen Raben verwandelt, seid
über das Wasser geflogen und habt den Mond verschluckt.«
»Oh?« Ich hoffte, daß das keine Untat von mir
gewesen war.
»Der weiße Rabe kam zurück und hat ihr ein Ei in
die Handfläche gelegt. Das Ei ist aufgesprungen, und es war ein
glänzender Stein darin. Die Großmutter meines Mannes wußte, daß
dies ein großer Zauber war, daß dieser Stein Krankheiten heilen
kann.«
Nayawenne nickte mehrere Male, nahm den
Amulettbeutel erneut von ihrem Hals und griff hinein.
»Am Tag nach dem Traum ist die Großmutter meines
Mannes in den Wald gegangen, um kinnea-Wurzeln auszugraben,
und unterwegs hat sie etwas Blaues im Lehm am Bachufer stecken
sehen.«
Nayawenne zog einen kleinen Klumpen hervor und
legte ihn mir
in die Hand. Es war ein Stein, zwar ungeschliffen, aber eindeutig
ein Edelstein. Es hafteten noch Teile der Steinmatrix daran, doch
das Herz des Steins war von einem tiefen, sanften Blau.
»Mein Gott - das ist ein Saphir, nicht wahr?«
»Saphir?« Gabrielle ließ sich das Wort auf der
Zunge zergehen, als wollte sie seinen Geschmack prüfen. »Wir nennen
ihn« - sie zögerte und suchte nach der richtigen französischen
Übersetzung - »pierre sans peur.«
»Pierre sans peur?« Ein Stein ohne
Furcht?
Nayawenne nickte und fuhr fort. Bevor ihre Mutter
den Mund auftun konnte, fiel Berthe mit der Übersetzung ein.
»Die Großmutter meines Vaters sagt, ein Stein wie
dieser sorgt dafür, daß die Menschen keine Angst bekommen, er
stärkt ihre Lebensgeister, so daß sie schneller gesund werden.
Dieser Stein hat schon zwei Menschen vom Fieber befreit und die
Augenentzündung meines jüngeren Bruders geheilt.«
»Die Großmutter meines Mannes möchte Euch für
dieses Geschenk danken.« Geschickt übernahm Gabrielle wieder die
Gesprächsführung.
»Äh… sagt ihr, keine Ursache.« Ich nickte der Alten
freundlich zu und gab ihr den blauen Stein zurück. Sie ließ ihn in
den Beutel fallen und verschloß ihn wieder. Dann sah sie mich genau
an, streckte die Hand aus, zog an einer meiner Locken und rieb sie
beim Sprechen zwischen ihren Fingern.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, ihr habt die
Heilkraft schon, aber sie wird noch zunehmen. Wenn Euer Haar so
weiß ist wie das ihre, werdet Ihr zu Eurer ganzen Macht
finden.«
Die Alte ließ die Haarlocke los und sah mir einen
Moment lang in die Augen. Ich glaubte eine große Traurigkeit in den
verblichenen Tiefen zu sehen, und streckte unwillkürlich die Hand
aus, um sie zu berühren.
Sie trat zurück und sagte noch etwas. Gabrielle
blickte mich seltsam an.
»Sie sagt, Ihr sollt Euch keine Vorwürfe machen,
Krankheiten werden von den Göttern gesandt. Es wird nicht Eure
Schuld sein.«
Ich sah Nayawenne erschrocken an, doch sie hatte
sich schon abgewandt.
»Was wird nicht meine Schuld sein?« fragte ich,
doch die Alte war nicht bereit, mehr zu sagen.