39
Der Spieler
In der Nacht verstärkte sich der Nebel. In der
Morgendämmerung glitt das Schiff in einer Wolke dahin, die so dicht
war, daß man von der Reling aus die See nicht sehen konnte, und nur
das Rauschen an der Bordwand zeugte davon, daß die Gloriana
immer noch im Wasser trieb und nicht in der Luft.
Die Sonne war nicht zu sehen, und es wehte kaum
Wind; die Segel hingen schlaff herunter und erzitterten dann und
wann in einem vorübergehenden Luftzug. Niedergeschlagen gingen die
Männer im Dämmerlicht wie Geister über das Deck und tauchten mit
einer Plötzlichkeit aus dem Dunst auf, daß sie sich gegenseitig
einen Schrecken einjagten.
Diese Sichtbehinderung kam Roger sehr gelegen; er
konnte sich fast ungesehen auf dem Schiff bewegen und unbeobachtet
in den Lagerraum schlüpfen, wobei er den kleinen
Lebensmittelvorrat, den er von seinen eigenen Mahlzeiten
zurückbehalten hatte, in seinem Hemd verbarg.
Der Nebel war auch in den Frachtraum gedrungen;
feuchtkalte, weiße Schlieren, die zwischen den Bergen von
Wasserfässern hervordrifteten, benetzten sein Gesicht und
umschwebten seine Füße. Hier unten war es dunkler als je zuvor, das
staubiggoldene Zwielicht hatte das Schwarzbraun kalten, feuchten
Holzes angenommen.
Das Kind schlief; Roger sah nur die Rundung seiner
Wangen, die immer noch mit roten Pusteln übersät war. Sie sahen
aggressiv und entzündet aus. Morag sah seinen zweifelnden Blick,
sagte aber nichts, sondern ergriff seine Hand und preßte sie gegen
den Hals des Säuglings.
Der winzige Pulsschlag machte klopf-klopf-klopf
unter seinem Finger, und die weiche, faltige Haut war warm, aber
feucht. Beruhigt lächelte er Morag an, und sie antwortete mit einem
kurzen Aufleuchten.
Ein Monat im Zwischendeck hatte sie abmagern lassen
und sie mit
Schmutz überzogen; die letzten beiden Tage hatten ihr bleibende
Falten der Furcht ins Gesicht geprägt. Das Haar hing ihr in langen
Zotteln um das Gesicht; es stand vor Fett und wimmelte vor Läusen.
Ihre Augen waren wund vor Müdigkeit, und sie roch nach Fäkalien und
Urin, saurer Milch und abgestandenem Schweiß. Ihre Lippen waren
verkrampft und bleich wie der Rest ihres Gesichtes. Roger ergriff
ganz sanft ihre Schultern, bückte sich und küßte sie auf den
Mund.
Oben auf der Leiter sah er sich um. Sie stand immer
noch da, das Kind in den Armen, und sah zu ihm hoch.
Das Deck war völlig still bis auf das Gemurmel von
Steuermann und Bootsmann, unsichtbar am Steuerrad. Roger ließ den
Lukendeckel wieder an seinen Platz gleiten. Sein Herzschlag begann
sich zu verlangsamen, ihre Berührung wärmte ihm immer noch die
Hände. Zwei Tage. Möglicherweise drei. Vielleicht würden sie es
schaffen; zumindest war Roger überzeugt, daß sie recht hatte; das
Kind hatte keine Pocken.
In der nächsten Zeit würde wohl niemand einen Grund
haben, in den Frachtraum zu gehen - erst gestern war ein frisches
Wasserfaß hochgebracht worden. Er konnte Wege finden, ihr Essen zu
bringen - wenn sie nur lange genug wach bleiben konnte. Das scharfe
Ting der Schiffsglocke durchbohrte den Nebel, eine
Erinnerung an die Zeit, die nicht länger zu existieren schien, da
kein Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit ihr Verstreichen
anzeigte.
Roger hörte es, als er zum Heck hinüberging; ein
plötzliches, lautes Wusch im Nebel unter der Reling, ganz
dicht bei ihnen. Im nächsten Augenblick erzitterte das Schiff
leicht unter ihm, als etwas Riesiges an seinen Planken
vorbeistrich.
»Wal!« kam ein Ausruf von oben. Er sah die
schwachen Umrisse zweier Männer neben dem Hauptmast im Nebel
stehen. Sie erstarrten bei dem Ausruf, und er stellte fest, daß er
ebenfalls stocksteif dastand und lauschte.
In der Nähe erklang ein weiteres Wusch und
noch einmal weiter weg. Die Besatzung der Gloriana stand
schweigend da, und jeder der Männer legte für sich im Geiste ein
Verzeichnis der gewaltigen Atemzüge an, erstellte eine unsichtbare
Landkarte, auf der das Schiff zwischen beweglichen Sandbänken
dahintrieb, schweigenden, intelligenten Fleischbergen.
Wie groß waren sie? fragte sich Roger. Groß genug,
um das Schiff zu beschädigen? Er strengte seine Augen an und
versuchte vergebens, im Nebel irgend etwas zu erkennen.
Da war es wieder, ein Rumpeln, so stark, daß es an
der Reling unter
seinen Händen zerrte, gefolgt von einem langen, mahlenden Schaben,
das die Planken erzittern ließ. Von unten erklangen unterdrückte
Angstschreie; die Menschen im Zwischendeck mußten es genau neben
sich spüren, und nur die Planken der Bordwand trennten sie vom
Schiffbruch - einem plötzlichen Stoß und dem schreckenerregenden
Eindringen der See. Im Vergleich zu den gewaltigen Tieren, die
neben ihnen umherschwammen und unsichtbar im Nebel atmeten,
schienen die zehn Zentimeter dicken Eichenplanken etwa die
Haltbarkeit von Toilettenpapier zu haben.
»Entenmuscheln«, sagte eine leise, irische Stimme
hinter ihm im Nebel. Roger fuhr verblüfft zusammen, dann erklang
ein amüsiertes, leises Lachen und nahm Bonnets schattigen Umriß an.
Der Kapitän hielt eine Cherootzigarre zwischen den Zähnen, und ein
plötzlicher Lichtstrahl aus der Kombüse illuminierte die Falten und
Flächen seines Gesichtes, die in dem roten Licht verschwommen
wirkten. Das kratzende Zittern durchlief erneut die Planken.
»Sie kratzen sich, um ihre Haut von den Parasiten
zu befreien«, erklärte Bonnet beiläufig. »Wir sind für sie nur ein
schwimmender Stein.« Er zog kräftig an seiner Zigarre, um sie
anzufachen, blies den duftenden Rauch aus und warf ein Stück
brennendes Papier über Bord. Es verschwand im Nebel wie eine
Sternschnuppe.
Roger atmete aus, und es klang kaum leiser als die
Wale. Wie nah war ihm Bonnet gewesen? Hatte der Kapitän ihn aus dem
Frachtraum kommen sehen?
»Dann können sie das Schiff also nicht
beschädigen?« fragte er in nicht minder beiläufigem Ton als der
Kapitän.
Bonnet rauchte einen Augenblick lang schweigend und
konzentrierte sich auf die Züge an seiner Zigarre. Ohne die
Beleuchtung durch die offene Flamme war er wieder ein Schatten,
dessen Position allein die Glut seiner Zigarrenspitze
verriet.
»Wer weiß?« sagte er schließlich, und kleine
Rauchwölkchen pufften beim Sprechen zwischen seinen Zähnen hervor.
»Jedes einzelne dieser Tiere könnte uns versenken, wenn es sich
ärgert. Ich habe einmal ein Schiff gesehen - oder was davon übrig
war -, das ein wütender Wal in Stücke geschmettert hatte. Eine
meterlange Planke und ein paar treibende Latten - versenkt mit Mann
und Maus, zweihundert Seelen.«
»Die Möglichkeit scheint Euch keine großen Sorgen
zu bereiten.«
Er hörte Bonnet langsam ausatmen, ein schwaches
Echo der Walseufzer, als er mit gespitzten Lippen den Rauch
hervorblies.
»Ich würde nur meine Kraft vergeuden, wenn ich mir
Sorgen
machen würde. Ein kluger Mann überläßt die Dinge, die nicht in
seiner Macht liegen, den Göttern - und betet, daß Danu ihm
beisteht.« Die Hutkrempe des Kapitäns wandte sich ihm zu. »Ihr wißt
doch, wer Danu ist, oder, MacKenzie?«
»Danu?« sagte Roger geplättet, und dann fiel der
Groschen, und die Erinnerung an ein altes Lied kehrte aus den
Nebeln der Kindheit zu ihm zurück. »Komm zu mir, Danu, bring mir
Glück. Mach mich kühn. Gib mir Gold - und laß mir Liebe
blühn.«
Hinter dem Glimmen erklang ein belustigtes
Grunzen.
»Ah, und dabei seid Ihr noch nicht einmal Ire. Aber
ich hab’ ja gleich gewußt, daß Ihr ein Gelehrter seid,
MacKenzie.«
»Ich kenne Danu, die Glücksbringerin«, sagte Roger
und hoffte wider jede Wahrscheinlichkeit, daß besagte keltische
Göttin eine gute Seefahrerin war und auf seiner Seite stand. Er
trat einen Schritt zurück und wollte gehen, doch eine Hand senkte
sich auf sein Handgelenk und hielt ihn fest.
»Ein gelehrter Mann«, wiederholte Bonnet leise, und
jede Leichtigkeit war aus seiner Stimme gewichen, »aber kein
weiser. Seid Ihr denn wenigstens ein Mann des Gebets,
MacKenzie?«
Er spannte sich an, spürte aber die Kraft in
Bonnets Griff und zog sich nicht zurück. Seine Gliedmaßen sammelten
ihre Kräfte, denn sein Körper wußte schneller als er, daß der Kampf
gekommen war.
»Ich habe gesagt, ein weiser Mann sorgt sich nicht
um Dinge, die nicht in seiner Macht liegen, doch auf diesem Schiff,
MacKenzie, liegt alles in meiner Macht.« Der Griff um sein
Handgelenk verhärtete sich. »Alles und jeder.«
Roger riß sein Handgelenk zur Seite und entwand
sich dem Griff. Er stand allein da, wohl wissend, daß es keine
Hilfe und auch kein Entkommen gab. Es gab keine Welt jenseits des
Schiffes, und auf ihm, da hatte Bonnet recht, befanden sich alle in
der Gewalt des Kapitäns. Wenn er starb, würde das Morag nicht
helfen - doch diese Entscheidung war bereits gefallen.
»Warum?« fragte Bonnet, der sich nur schwach
interessiert anhörte. »Die Frau ist doch keine Schönheit. Und noch
dazu so ein gebildeter Mann; würdet Ihr mein Schiff und mein
Geschäft nur um eines warmen Körpers willen aufs Spiel
setzen?«
»Ich setze nichts aufs Spiel.« Die Worte kamen
heiser heraus, denn er zwang sie durch seine zugeschnürte Kehle
hindurch. Geh schon auf mich los, dachte er, und seine
Fäuste ballten sich an seinen Seiten. Geh auf mich los und laß
mir eine Chance, dich mit mir zu nehmen. »Das Kind hat keine
Pocken - es ist ein harmloser Ausschlag.«
»Ihr werdet mir vergeben, wenn ich meine unwissende
Meinung über die Eure stelle, Mr. MacKenzie, aber ich bin hier der
Kapitän.« Die Stimme war immer noch leise, doch das Gift war
deutlich zu hören.
»Es ist ein Kind, in Gottes Namen!«
»Das ist es - und völlig wertlos.«
»Für Euch vielleicht.«
Es folgte ein Moment der Stille, der nur von einem
entfernten Wusch in der weißen Leere unterbrochen
wurde.
»Und welchen Wert hat es für Euch?« fragte die
Stimme unnachgiebig. »Warum?«
Nur um eines warmen Körpers willen. Ja,
deswegen. Für einen Hauch von Menschlichkeit, um sich wieder an die
Zärtlichkeit zu erinnern, um die Hartnäckigkeit des Lebens im
Angesicht des Todes zu spüren.
»Aus Mitleid«, sagte er. »Sie ist arm, es gab
niemanden, der ihr helfen konnte.«
Das starke Tabakaroma erreichte ihn, narkotisch,
verzaubernd. Er atmete es ein und stärkte sich daran.
Bonnet bewegte sich, und er bewegte sich ebenfalls
und hielt sich bereit. Doch der Schlag blieb aus; der Schatten
vergrub die Hand in einer Tasche und hielt ihm eine Geisterhand
entgegen, in der sich das Glitzern des diffusen Laternenlichtes wie
in einem Elsternest fing - Münzen und Kleinkram und etwas, das er
für das rasche Aufblitzen eines Edelsteins hielt. Dann wählte der
Kapitän einen Silberschilling und schob den Rest in seine Tasche
zurück.
»Ah, Mitleid«, sagte er. »Und wie war das, hattet
Ihr nicht gesagt, daß Ihr manchmal spielt, MacKenzie?«
Er hielt ihm den Schilling hin und ließ ihn fallen.
Roger fing ihn aus purem Reflex auf.
»Um das Leben des Säuglings also«, sagte Bonnet und
der leicht belustigte Tonfall war wieder da. »Eine Wette unter
Ehrenmännern, wollen wir es so nennen? Kopf, und er lebt, Zahl, und
er stirbt.«
Die Münze lag warm und fest in seiner Handfläche,
ein Fremdkörper in dieser Welt der Unterkühlung. Seine Hände waren
schlüpfrig vor Schweiß, und doch war sein Verstand eiskalt und
hellwach geworden, scharf wie die Spitze eines Eispickels.
Kopf, und er lebt, Zahl, und er stirbt,
dachte er ganz ruhig und meinte damit nicht das Kind unter Deck. Er
machte Hals und Schritt des anderen Mannes aus; zupacken und
losstürzen, ein Schlag und dann hoch mit ihm - die Reling war
keinen halben Meter entfernt, und dahinter lag das endlose Reich
der Wale.
Jenseits dieser Überlegungen gab es keinen Platz
für irgendwelche Angstgefühle. Er sah die Münze hochwirbeln, als
hätte eine andere Hand sie geworfen, dann fiel sie auf das Deck.
Seine Muskeln spannten sich langsam an.
»Sieht so aus, als wäre Danu heute nacht auf Eurer
Seite.« Bonnets leise, irische Stimme schien aus großer Entfernung
zu kommen, als der Kapitän sich bückte und die Münze aufhob.
Er begann es gerade erst zu begreifen, als der
Kapitän ihn an der Schulter packte und ihn zum Deck
herumdrehte.
»Ihr werdet jetzt ein Weilchen mit mir
spazierengehen, MacKenzie.«
Irgend etwas war mit seinen Knien passiert; er
fühlte sich, als sänke er bei jedem Schritt zusammen, hielt sich
aber dennoch irgendwie aufrecht, um mit dem Schatten Schritt zu
halten. Das Schiff war still, das Deck unter seinen Füßen
meilenweit entfernt; doch die See darunter war ein lebendes,
atmendes Wesen. Er spürte, wie sich auch in seinen Lungen der Atem
im Rhythmus des Decks hob und senkte, und sein Körper kam ihm
grenzenlos vor. Seinem Gefühl nach hätte unter seinen Füßen
genausogut Wasser wie Holz sein können.
Es dauerte eine Weile, bevor er Bonnets Worte zu
hören begann und mit einem vagen Gefühl des Erstaunens feststellte,
daß der Mann dabei zu sein schien, ihm auf stille, teilnahmslose
Weise seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Er war in Sligo jung zur Waise geworden und hatte
schnell gelernt, für sich selbst zu sorgen, sagte er, indem er als
Kajütenjunge auf Handelsschiffen arbeitete. Doch eines Winters, als
kaum Schiffe fuhren, hatte er sich in Inverness Arbeit an Land
gesucht und am Fundament eines großen Hauses mitgegraben, das in
der Nähe der Stadtmitte gebaut wurde.
»Ich war gerade siebzehn«, sagte er. »Der jüngste
in der Mannschaft der Bauarbeiter. Ich kann nicht sagen, warum sie
mich gehaßt haben. Vielleicht war es mein Benehmen, denn ich war
ziemlich grob - oder Eifersucht auf meine Größe und Kraft; sie
waren ein glückloser, kränklicher Haufen. Oder vielleicht, weil die
Mädchen mir hold waren. Oder vielleicht war es nur, weil ich ein
Fremder war.
Wie auch immer, jedenfalls wußte ich genau, daß ich
unbeliebt war - ich hatte allerdings keine Ahnung, wie
unbeliebt, bis zu dem Tag, an dem die Kellergrube fertig wurde und
mit dem Fundament begonnen werden konnte.«
Bonnet hielt inne, um an seiner Zigarre zu ziehen,
damit sie nicht ausging. Er blies Rauchwölkchen aus den
Mundwinkeln, weiße
Schlieren, die sich an seinem Kopf vorbei auf das allgegenwärtige
Weiß des Nebels zuschlängelten.
»Die Gräben waren fertig«, fuhr er fort, die
Zigarre zwischen die Zähne geklemmt, »und die Wände begonnen; ein
großer Felsblock stand für den Grundstein bereit. Ich war essen
gewesen und war unterwegs zu meinem Schlafplatz, als mich zu meiner
Überraschung zwei der Jungs einholten, mit denen ich
zusammenarbeitete.
Sie hatten eine Flasche dabei; sie setzten sich auf
eine Mauer und drängten mich, mit ihnen zu trinken. Ich hätte es
ahnen sollen, denn sie waren freundlich zu mir, und das war noch
nie vorgekommen. Aber ich trank und trank, und innerhalb kürzester
Zeit war ich völlig betrunken, denn ich war nicht an Schnaps
gewöhnt, weil ich nie genug Geld hatte, um mir Hochprozentiges zu
kaufen. Als es dunkel wurde, war ich gut abgefüllt und dachte gar
nicht daran, mich loszureißen, als sie mich bei den Armen packten
und mich die Gasse herunterdrängten. Dann hoben sie mich hoch,
warfen mich über eine halbfertige Mauer, und zu meiner Überraschung
fand ich mich auf dem feuchten Erdboden der Kellergrube wieder, die
ich selbst mitgegraben hatte.
Und sie waren alle da, die Arbeiter. Und es war
noch jemand bei ihnen; einer von ihnen hatte eine Laterne, und als
er sie hochhielt, konnte ich sehen, daß es der dumme Joey war. Der
dumme Joey war ein Bettler, der unter der Brücke lebte - er hatte
keine Zähne, und er aß verwesende Fische und Dung, der im Fluß
trieb, und er stank schlimmer als der Frachtraum eines
Sklavenschiffes.
Ich war so benommen vom Whisky und meinem Sturz,
daß ich liegenblieb, wo ich war und ihre Unterhaltung nur halb
mitbekam - oder besser ihren Streit, denn der Anführer der Bande
war wütend, weil die zwei mich mitgebracht hatten. Der Idiot würde
reichen, sagte er; man würde ihm sogar einen Gefallen tun. Aber die
zwei, die mich mitgebracht hatten, sagten nein, besser ich. Jemand
könnte den Bettler vermissen, sagten sie. Dann lachte jemand und
sagte aye, und sie bräuchten mir den Lohn der letzten Woche nicht
zu bezahlen, und da begriff ich, daß sie vorhatten, mich
umzubringen.
Sie hatten sich schon vorher bei der Arbeit darüber
unterhalten. Ein Opfer, sagten sie, für das Fundament, damit die
Erde nicht bebte und die Wände nicht einstürzten. Aber ich hatte
nicht darauf geachtet - und selbst wenn, dann wäre ich nie darauf
gekommen, daß sie nicht einfach vorhatten, einem Hahn den Kopf
abzuschlagen, wie sonst auch.«
Er hatte Roger während seiner Rezitation nicht
angesehen, sondern blickte statt dessen gebannt in den Nebel, als
ereigneten sich die
Geschehnisse, die er beschrieb, erneut, irgendwo hinter dem weißen
Nebelvorhang.
Roger hing die Kleidung am Körper, klebrig und zum
Auswringen naß vom Nebel und von kaltem Schweiß. Sein Magen
verkrampfte sich, und der Jauchegestank des Zwischendecks hätte
genausogut die Ausdünstung des dummen Joey in jenem Keller sein
können.
»Also machten sie ein bißchen Palaver«, fuhr Bonnet
fort, »und der Bettler fing an, laut zu werden, weil er noch etwas
zu trinken wollte. Und am Ende sagte der Anführer, es wäre
Wortverschwendung, er würde mit einer Münze entscheiden. Dann nahm
er eine Münze aus der Tasche und fragte mich lachend, ›Also, Mann,
willst du Kopf oder Zahl?‹
Mir war zu übel, als daß ich ein Wort hätte sagen
können; der Himmel war schwarz und drehte sich, und in meinen
Augenwinkeln flackerten pausenlos Lichtblitze auf wie
Sternschnuppen. Also sagte er es für mich; Geordies Kopf, und ich
würde leben, Geordies Hintern, und ich würde sterben, und damit
warf er den Schilling in die Luft. Er landete neben meinem Kopf im
Dreck, aber ich hatte nicht die Kraft, mich umzudrehen und
nachzusehen.
Er bückte sich, sah nach und grunzte, dann stand er
auf und beachtete mich nicht mehr.«
Ihre ruhigen Schritte hatten sie zum Heck geführt.
Dort blieb Bonnet stehen, legte die Hände auf die Reling und
rauchte schweigend. Dann nahm er die Zigarre aus dem Mund.
»Sie zogen den Idioten zu der Wand, die im Bau war,
und setzten ihn an ihren Fuß. Ich erinnere mich noch an sein dummes
Gesicht«, sagte er leise. »Er trank, und er lachte mit ihnen, und
sein Mund stand offen - schlaff und feucht wie die Fotze einer
alten Hure. Im nächsten Moment kam der Stein von der Mauerkrone
geflogen und zerschmetterte ihm den Kopf.«
Feuchte Tropfen hatten sich an den Haarstoppeln in
Rogers Nacken gesammelt; er spürte, wie sie einzeln herunterrannen
und ihm kalt die Wirbelsäule hinunterliefen.
»Sie haben mich aufs Gesicht gedreht und mir einen
Schlag verpaßt«, fuhr Bonnet ungerührt fort. »Als ich wieder zu mir
kam, lag ich auf dem Boden eines Fischerbootes. Der Fischer hat
mich in der Nähe von Peterhead ans Ufer gesetzt und gesagt, er
würde mir raten, mir wieder ein Schiff zu suchen - er könnte mir
ansehen, hat er gesagt, daß ich nicht fürs Land gemacht war.«
Er hielt die Zigarre hoch und klopfte sanft mit dem
Finger darauf, um die Asche zu lösen.
»Übrigens«, sagte er, »haben sie mir meinen Lohn
gegeben; als ich nachsah, war der Schilling in meiner Tasche. Ah,
sie waren schon ehrliche Männer.«
Roger lehnte sich an die Reling und umklammerte das
Holz, das einzig Stabile in einer Welt, die weich und nebulös
geworden war.
«Und seid Ihr wieder an Land gegangen?« fragte er,
und seine eigene Stimme klang übernatürlich ruhig, als gehörte sie
jemand anderem.
»Ihr meint, habe ich sie gefunden?« Bonnet drehte
sich um und lehnte sich an die Reling, so daß er Roger halb
zugewandt war. »Oh, ja. Jahre später. Einen nach dem anderen. Aber
ich habe sie alle gefunden.« Er öffnete die Hand, in der er die
Münze hielt, hielt sie nachdenklich vor sich und drehte sie hin und
her, so daß das Silber im Licht der Laterne schimmerte.
»Kopf, und man lebt, Zahl, und man stirbt. Eine
gerechte Chance, meint Ihr nicht, MacKenzie?«
»Für sie?«
»Für Euch.«
Die leise, irische Stimme war so teilnahmslos, als
stellte sie Beobachtungen über das Wetter an.
Wie im Traum spürte Roger, wie sich das Gewicht des
Schillings erneut in seine Hände senkte. Er hörte, wie das Wasser
an der Bordwand saugte und zischte, hörte die Wale blasen - und
hörte die Saug-und Zischgeräusche, wenn Bonnet an seiner Zigarre
zog. Sieben Wale einen Cirein Croin.
»Eine gerechte Chance«, sagte Bonnet. »Einmal habt
Ihr Glück gehabt, MacKenzie. Mal sehen, ob Danu Euch noch einmal
beisteht - oder ob es diesmal der Seelenfresser ist?«
Der Nebel hatte sich auf das Deck gesenkt. Es war
nichts zu sehen außer Bonnets Zigarre, ein brennender Zyklop im
Dunst. Der Mann hätte wirklich ein Teufel sein können, ein Auge vor
dem Elend der Menschen verschlossen, ein Auge offen für die
Dunkelheit. Und Roger stand ihm ausgeliefert da, und sein Schicksal
leuchtete silbern in seiner Hand.
»Es ist mein Leben; ich darf es mir aussuchen«,
sagte er und war überrascht, wie ruhig und stetig seine Stimme
klang. »Zahl - Zahl ist für mich.« Er warf die Münze, fing sie auf,
schlug die eine Hand fest auf den Rücken der anderen und umschloß
die Münze und ihr unbekanntes Urteil.
Er schloß die Augen und dachte ganz kurz an
Brianna. Tut mir leid, sagte er schweigend zu ihr und hob
die Hand.
Ein warmer Atemhauch lief über seine Haut, und dann
spürte er eine kühle Stelle auf seinem Handrücken, als die Münze
entfernt wurde, doch er bewegte sich nicht, öffnete die Augen
nicht.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis er begriff, daß er
allein war.