39
Der Spieler
In der Nacht verstärkte sich der Nebel. In der Morgendämmerung glitt das Schiff in einer Wolke dahin, die so dicht war, daß man von der Reling aus die See nicht sehen konnte, und nur das Rauschen an der Bordwand zeugte davon, daß die Gloriana immer noch im Wasser trieb und nicht in der Luft.
Die Sonne war nicht zu sehen, und es wehte kaum Wind; die Segel hingen schlaff herunter und erzitterten dann und wann in einem vorübergehenden Luftzug. Niedergeschlagen gingen die Männer im Dämmerlicht wie Geister über das Deck und tauchten mit einer Plötzlichkeit aus dem Dunst auf, daß sie sich gegenseitig einen Schrecken einjagten.
Diese Sichtbehinderung kam Roger sehr gelegen; er konnte sich fast ungesehen auf dem Schiff bewegen und unbeobachtet in den Lagerraum schlüpfen, wobei er den kleinen Lebensmittelvorrat, den er von seinen eigenen Mahlzeiten zurückbehalten hatte, in seinem Hemd verbarg.
Der Nebel war auch in den Frachtraum gedrungen; feuchtkalte, weiße Schlieren, die zwischen den Bergen von Wasserfässern hervordrifteten, benetzten sein Gesicht und umschwebten seine Füße. Hier unten war es dunkler als je zuvor, das staubiggoldene Zwielicht hatte das Schwarzbraun kalten, feuchten Holzes angenommen.
Das Kind schlief; Roger sah nur die Rundung seiner Wangen, die immer noch mit roten Pusteln übersät war. Sie sahen aggressiv und entzündet aus. Morag sah seinen zweifelnden Blick, sagte aber nichts, sondern ergriff seine Hand und preßte sie gegen den Hals des Säuglings.
Der winzige Pulsschlag machte klopf-klopf-klopf unter seinem Finger, und die weiche, faltige Haut war warm, aber feucht. Beruhigt lächelte er Morag an, und sie antwortete mit einem kurzen Aufleuchten.
Ein Monat im Zwischendeck hatte sie abmagern lassen und sie mit Schmutz überzogen; die letzten beiden Tage hatten ihr bleibende Falten der Furcht ins Gesicht geprägt. Das Haar hing ihr in langen Zotteln um das Gesicht; es stand vor Fett und wimmelte vor Läusen. Ihre Augen waren wund vor Müdigkeit, und sie roch nach Fäkalien und Urin, saurer Milch und abgestandenem Schweiß. Ihre Lippen waren verkrampft und bleich wie der Rest ihres Gesichtes. Roger ergriff ganz sanft ihre Schultern, bückte sich und küßte sie auf den Mund.
Oben auf der Leiter sah er sich um. Sie stand immer noch da, das Kind in den Armen, und sah zu ihm hoch.
Das Deck war völlig still bis auf das Gemurmel von Steuermann und Bootsmann, unsichtbar am Steuerrad. Roger ließ den Lukendeckel wieder an seinen Platz gleiten. Sein Herzschlag begann sich zu verlangsamen, ihre Berührung wärmte ihm immer noch die Hände. Zwei Tage. Möglicherweise drei. Vielleicht würden sie es schaffen; zumindest war Roger überzeugt, daß sie recht hatte; das Kind hatte keine Pocken.
In der nächsten Zeit würde wohl niemand einen Grund haben, in den Frachtraum zu gehen - erst gestern war ein frisches Wasserfaß hochgebracht worden. Er konnte Wege finden, ihr Essen zu bringen - wenn sie nur lange genug wach bleiben konnte. Das scharfe Ting der Schiffsglocke durchbohrte den Nebel, eine Erinnerung an die Zeit, die nicht länger zu existieren schien, da kein Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit ihr Verstreichen anzeigte.
Roger hörte es, als er zum Heck hinüberging; ein plötzliches, lautes Wusch im Nebel unter der Reling, ganz dicht bei ihnen. Im nächsten Augenblick erzitterte das Schiff leicht unter ihm, als etwas Riesiges an seinen Planken vorbeistrich.
»Wal!« kam ein Ausruf von oben. Er sah die schwachen Umrisse zweier Männer neben dem Hauptmast im Nebel stehen. Sie erstarrten bei dem Ausruf, und er stellte fest, daß er ebenfalls stocksteif dastand und lauschte.
In der Nähe erklang ein weiteres Wusch und noch einmal weiter weg. Die Besatzung der Gloriana stand schweigend da, und jeder der Männer legte für sich im Geiste ein Verzeichnis der gewaltigen Atemzüge an, erstellte eine unsichtbare Landkarte, auf der das Schiff zwischen beweglichen Sandbänken dahintrieb, schweigenden, intelligenten Fleischbergen.
Wie groß waren sie? fragte sich Roger. Groß genug, um das Schiff zu beschädigen? Er strengte seine Augen an und versuchte vergebens, im Nebel irgend etwas zu erkennen.
Da war es wieder, ein Rumpeln, so stark, daß es an der Reling unter seinen Händen zerrte, gefolgt von einem langen, mahlenden Schaben, das die Planken erzittern ließ. Von unten erklangen unterdrückte Angstschreie; die Menschen im Zwischendeck mußten es genau neben sich spüren, und nur die Planken der Bordwand trennten sie vom Schiffbruch - einem plötzlichen Stoß und dem schreckenerregenden Eindringen der See. Im Vergleich zu den gewaltigen Tieren, die neben ihnen umherschwammen und unsichtbar im Nebel atmeten, schienen die zehn Zentimeter dicken Eichenplanken etwa die Haltbarkeit von Toilettenpapier zu haben.
»Entenmuscheln«, sagte eine leise, irische Stimme hinter ihm im Nebel. Roger fuhr verblüfft zusammen, dann erklang ein amüsiertes, leises Lachen und nahm Bonnets schattigen Umriß an. Der Kapitän hielt eine Cherootzigarre zwischen den Zähnen, und ein plötzlicher Lichtstrahl aus der Kombüse illuminierte die Falten und Flächen seines Gesichtes, die in dem roten Licht verschwommen wirkten. Das kratzende Zittern durchlief erneut die Planken.
»Sie kratzen sich, um ihre Haut von den Parasiten zu befreien«, erklärte Bonnet beiläufig. »Wir sind für sie nur ein schwimmender Stein.« Er zog kräftig an seiner Zigarre, um sie anzufachen, blies den duftenden Rauch aus und warf ein Stück brennendes Papier über Bord. Es verschwand im Nebel wie eine Sternschnuppe.
Roger atmete aus, und es klang kaum leiser als die Wale. Wie nah war ihm Bonnet gewesen? Hatte der Kapitän ihn aus dem Frachtraum kommen sehen?
»Dann können sie das Schiff also nicht beschädigen?« fragte er in nicht minder beiläufigem Ton als der Kapitän.
Bonnet rauchte einen Augenblick lang schweigend und konzentrierte sich auf die Züge an seiner Zigarre. Ohne die Beleuchtung durch die offene Flamme war er wieder ein Schatten, dessen Position allein die Glut seiner Zigarrenspitze verriet.
»Wer weiß?« sagte er schließlich, und kleine Rauchwölkchen pufften beim Sprechen zwischen seinen Zähnen hervor. »Jedes einzelne dieser Tiere könnte uns versenken, wenn es sich ärgert. Ich habe einmal ein Schiff gesehen - oder was davon übrig war -, das ein wütender Wal in Stücke geschmettert hatte. Eine meterlange Planke und ein paar treibende Latten - versenkt mit Mann und Maus, zweihundert Seelen.«
»Die Möglichkeit scheint Euch keine großen Sorgen zu bereiten.«
Er hörte Bonnet langsam ausatmen, ein schwaches Echo der Walseufzer, als er mit gespitzten Lippen den Rauch hervorblies.
»Ich würde nur meine Kraft vergeuden, wenn ich mir Sorgen machen würde. Ein kluger Mann überläßt die Dinge, die nicht in seiner Macht liegen, den Göttern - und betet, daß Danu ihm beisteht.« Die Hutkrempe des Kapitäns wandte sich ihm zu. »Ihr wißt doch, wer Danu ist, oder, MacKenzie?«
»Danu?« sagte Roger geplättet, und dann fiel der Groschen, und die Erinnerung an ein altes Lied kehrte aus den Nebeln der Kindheit zu ihm zurück. »Komm zu mir, Danu, bring mir Glück. Mach mich kühn. Gib mir Gold - und laß mir Liebe blühn.«
Hinter dem Glimmen erklang ein belustigtes Grunzen.
»Ah, und dabei seid Ihr noch nicht einmal Ire. Aber ich hab’ ja gleich gewußt, daß Ihr ein Gelehrter seid, MacKenzie.«
»Ich kenne Danu, die Glücksbringerin«, sagte Roger und hoffte wider jede Wahrscheinlichkeit, daß besagte keltische Göttin eine gute Seefahrerin war und auf seiner Seite stand. Er trat einen Schritt zurück und wollte gehen, doch eine Hand senkte sich auf sein Handgelenk und hielt ihn fest.
»Ein gelehrter Mann«, wiederholte Bonnet leise, und jede Leichtigkeit war aus seiner Stimme gewichen, »aber kein weiser. Seid Ihr denn wenigstens ein Mann des Gebets, MacKenzie?«
Er spannte sich an, spürte aber die Kraft in Bonnets Griff und zog sich nicht zurück. Seine Gliedmaßen sammelten ihre Kräfte, denn sein Körper wußte schneller als er, daß der Kampf gekommen war.
»Ich habe gesagt, ein weiser Mann sorgt sich nicht um Dinge, die nicht in seiner Macht liegen, doch auf diesem Schiff, MacKenzie, liegt alles in meiner Macht.« Der Griff um sein Handgelenk verhärtete sich. »Alles und jeder.«
Roger riß sein Handgelenk zur Seite und entwand sich dem Griff. Er stand allein da, wohl wissend, daß es keine Hilfe und auch kein Entkommen gab. Es gab keine Welt jenseits des Schiffes, und auf ihm, da hatte Bonnet recht, befanden sich alle in der Gewalt des Kapitäns. Wenn er starb, würde das Morag nicht helfen - doch diese Entscheidung war bereits gefallen.
»Warum?« fragte Bonnet, der sich nur schwach interessiert anhörte. »Die Frau ist doch keine Schönheit. Und noch dazu so ein gebildeter Mann; würdet Ihr mein Schiff und mein Geschäft nur um eines warmen Körpers willen aufs Spiel setzen?«
»Ich setze nichts aufs Spiel.« Die Worte kamen heiser heraus, denn er zwang sie durch seine zugeschnürte Kehle hindurch. Geh schon auf mich los, dachte er, und seine Fäuste ballten sich an seinen Seiten. Geh auf mich los und laß mir eine Chance, dich mit mir zu nehmen. »Das Kind hat keine Pocken - es ist ein harmloser Ausschlag.«
»Ihr werdet mir vergeben, wenn ich meine unwissende Meinung über die Eure stelle, Mr. MacKenzie, aber ich bin hier der Kapitän.« Die Stimme war immer noch leise, doch das Gift war deutlich zu hören.
»Es ist ein Kind, in Gottes Namen!«
»Das ist es - und völlig wertlos.«
»Für Euch vielleicht.«
Es folgte ein Moment der Stille, der nur von einem entfernten Wusch in der weißen Leere unterbrochen wurde.
»Und welchen Wert hat es für Euch?« fragte die Stimme unnachgiebig. »Warum?«
Nur um eines warmen Körpers willen. Ja, deswegen. Für einen Hauch von Menschlichkeit, um sich wieder an die Zärtlichkeit zu erinnern, um die Hartnäckigkeit des Lebens im Angesicht des Todes zu spüren.
»Aus Mitleid«, sagte er. »Sie ist arm, es gab niemanden, der ihr helfen konnte.«
Das starke Tabakaroma erreichte ihn, narkotisch, verzaubernd. Er atmete es ein und stärkte sich daran.
Bonnet bewegte sich, und er bewegte sich ebenfalls und hielt sich bereit. Doch der Schlag blieb aus; der Schatten vergrub die Hand in einer Tasche und hielt ihm eine Geisterhand entgegen, in der sich das Glitzern des diffusen Laternenlichtes wie in einem Elsternest fing - Münzen und Kleinkram und etwas, das er für das rasche Aufblitzen eines Edelsteins hielt. Dann wählte der Kapitän einen Silberschilling und schob den Rest in seine Tasche zurück.
»Ah, Mitleid«, sagte er. »Und wie war das, hattet Ihr nicht gesagt, daß Ihr manchmal spielt, MacKenzie?«
Er hielt ihm den Schilling hin und ließ ihn fallen. Roger fing ihn aus purem Reflex auf.
»Um das Leben des Säuglings also«, sagte Bonnet und der leicht belustigte Tonfall war wieder da. »Eine Wette unter Ehrenmännern, wollen wir es so nennen? Kopf, und er lebt, Zahl, und er stirbt.«
Die Münze lag warm und fest in seiner Handfläche, ein Fremdkörper in dieser Welt der Unterkühlung. Seine Hände waren schlüpfrig vor Schweiß, und doch war sein Verstand eiskalt und hellwach geworden, scharf wie die Spitze eines Eispickels.
Kopf, und er lebt, Zahl, und er stirbt, dachte er ganz ruhig und meinte damit nicht das Kind unter Deck. Er machte Hals und Schritt des anderen Mannes aus; zupacken und losstürzen, ein Schlag und dann hoch mit ihm - die Reling war keinen halben Meter entfernt, und dahinter lag das endlose Reich der Wale.
Jenseits dieser Überlegungen gab es keinen Platz für irgendwelche Angstgefühle. Er sah die Münze hochwirbeln, als hätte eine andere Hand sie geworfen, dann fiel sie auf das Deck. Seine Muskeln spannten sich langsam an.
»Sieht so aus, als wäre Danu heute nacht auf Eurer Seite.« Bonnets leise, irische Stimme schien aus großer Entfernung zu kommen, als der Kapitän sich bückte und die Münze aufhob.
Er begann es gerade erst zu begreifen, als der Kapitän ihn an der Schulter packte und ihn zum Deck herumdrehte.
»Ihr werdet jetzt ein Weilchen mit mir spazierengehen, MacKenzie.«
Irgend etwas war mit seinen Knien passiert; er fühlte sich, als sänke er bei jedem Schritt zusammen, hielt sich aber dennoch irgendwie aufrecht, um mit dem Schatten Schritt zu halten. Das Schiff war still, das Deck unter seinen Füßen meilenweit entfernt; doch die See darunter war ein lebendes, atmendes Wesen. Er spürte, wie sich auch in seinen Lungen der Atem im Rhythmus des Decks hob und senkte, und sein Körper kam ihm grenzenlos vor. Seinem Gefühl nach hätte unter seinen Füßen genausogut Wasser wie Holz sein können.
Es dauerte eine Weile, bevor er Bonnets Worte zu hören begann und mit einem vagen Gefühl des Erstaunens feststellte, daß der Mann dabei zu sein schien, ihm auf stille, teilnahmslose Weise seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Er war in Sligo jung zur Waise geworden und hatte schnell gelernt, für sich selbst zu sorgen, sagte er, indem er als Kajütenjunge auf Handelsschiffen arbeitete. Doch eines Winters, als kaum Schiffe fuhren, hatte er sich in Inverness Arbeit an Land gesucht und am Fundament eines großen Hauses mitgegraben, das in der Nähe der Stadtmitte gebaut wurde.
»Ich war gerade siebzehn«, sagte er. »Der jüngste in der Mannschaft der Bauarbeiter. Ich kann nicht sagen, warum sie mich gehaßt haben. Vielleicht war es mein Benehmen, denn ich war ziemlich grob - oder Eifersucht auf meine Größe und Kraft; sie waren ein glückloser, kränklicher Haufen. Oder vielleicht, weil die Mädchen mir hold waren. Oder vielleicht war es nur, weil ich ein Fremder war.
Wie auch immer, jedenfalls wußte ich genau, daß ich unbeliebt war - ich hatte allerdings keine Ahnung, wie unbeliebt, bis zu dem Tag, an dem die Kellergrube fertig wurde und mit dem Fundament begonnen werden konnte.«
Bonnet hielt inne, um an seiner Zigarre zu ziehen, damit sie nicht ausging. Er blies Rauchwölkchen aus den Mundwinkeln, weiße Schlieren, die sich an seinem Kopf vorbei auf das allgegenwärtige Weiß des Nebels zuschlängelten.
»Die Gräben waren fertig«, fuhr er fort, die Zigarre zwischen die Zähne geklemmt, »und die Wände begonnen; ein großer Felsblock stand für den Grundstein bereit. Ich war essen gewesen und war unterwegs zu meinem Schlafplatz, als mich zu meiner Überraschung zwei der Jungs einholten, mit denen ich zusammenarbeitete.
Sie hatten eine Flasche dabei; sie setzten sich auf eine Mauer und drängten mich, mit ihnen zu trinken. Ich hätte es ahnen sollen, denn sie waren freundlich zu mir, und das war noch nie vorgekommen. Aber ich trank und trank, und innerhalb kürzester Zeit war ich völlig betrunken, denn ich war nicht an Schnaps gewöhnt, weil ich nie genug Geld hatte, um mir Hochprozentiges zu kaufen. Als es dunkel wurde, war ich gut abgefüllt und dachte gar nicht daran, mich loszureißen, als sie mich bei den Armen packten und mich die Gasse herunterdrängten. Dann hoben sie mich hoch, warfen mich über eine halbfertige Mauer, und zu meiner Überraschung fand ich mich auf dem feuchten Erdboden der Kellergrube wieder, die ich selbst mitgegraben hatte.
Und sie waren alle da, die Arbeiter. Und es war noch jemand bei ihnen; einer von ihnen hatte eine Laterne, und als er sie hochhielt, konnte ich sehen, daß es der dumme Joey war. Der dumme Joey war ein Bettler, der unter der Brücke lebte - er hatte keine Zähne, und er aß verwesende Fische und Dung, der im Fluß trieb, und er stank schlimmer als der Frachtraum eines Sklavenschiffes.
Ich war so benommen vom Whisky und meinem Sturz, daß ich liegenblieb, wo ich war und ihre Unterhaltung nur halb mitbekam - oder besser ihren Streit, denn der Anführer der Bande war wütend, weil die zwei mich mitgebracht hatten. Der Idiot würde reichen, sagte er; man würde ihm sogar einen Gefallen tun. Aber die zwei, die mich mitgebracht hatten, sagten nein, besser ich. Jemand könnte den Bettler vermissen, sagten sie. Dann lachte jemand und sagte aye, und sie bräuchten mir den Lohn der letzten Woche nicht zu bezahlen, und da begriff ich, daß sie vorhatten, mich umzubringen.
Sie hatten sich schon vorher bei der Arbeit darüber unterhalten. Ein Opfer, sagten sie, für das Fundament, damit die Erde nicht bebte und die Wände nicht einstürzten. Aber ich hatte nicht darauf geachtet - und selbst wenn, dann wäre ich nie darauf gekommen, daß sie nicht einfach vorhatten, einem Hahn den Kopf abzuschlagen, wie sonst auch.«
Er hatte Roger während seiner Rezitation nicht angesehen, sondern blickte statt dessen gebannt in den Nebel, als ereigneten sich die Geschehnisse, die er beschrieb, erneut, irgendwo hinter dem weißen Nebelvorhang.
Roger hing die Kleidung am Körper, klebrig und zum Auswringen naß vom Nebel und von kaltem Schweiß. Sein Magen verkrampfte sich, und der Jauchegestank des Zwischendecks hätte genausogut die Ausdünstung des dummen Joey in jenem Keller sein können.
»Also machten sie ein bißchen Palaver«, fuhr Bonnet fort, »und der Bettler fing an, laut zu werden, weil er noch etwas zu trinken wollte. Und am Ende sagte der Anführer, es wäre Wortverschwendung, er würde mit einer Münze entscheiden. Dann nahm er eine Münze aus der Tasche und fragte mich lachend, ›Also, Mann, willst du Kopf oder Zahl?‹
Mir war zu übel, als daß ich ein Wort hätte sagen können; der Himmel war schwarz und drehte sich, und in meinen Augenwinkeln flackerten pausenlos Lichtblitze auf wie Sternschnuppen. Also sagte er es für mich; Geordies Kopf, und ich würde leben, Geordies Hintern, und ich würde sterben, und damit warf er den Schilling in die Luft. Er landete neben meinem Kopf im Dreck, aber ich hatte nicht die Kraft, mich umzudrehen und nachzusehen.
Er bückte sich, sah nach und grunzte, dann stand er auf und beachtete mich nicht mehr.«
Ihre ruhigen Schritte hatten sie zum Heck geführt. Dort blieb Bonnet stehen, legte die Hände auf die Reling und rauchte schweigend. Dann nahm er die Zigarre aus dem Mund.
»Sie zogen den Idioten zu der Wand, die im Bau war, und setzten ihn an ihren Fuß. Ich erinnere mich noch an sein dummes Gesicht«, sagte er leise. »Er trank, und er lachte mit ihnen, und sein Mund stand offen - schlaff und feucht wie die Fotze einer alten Hure. Im nächsten Moment kam der Stein von der Mauerkrone geflogen und zerschmetterte ihm den Kopf.«
Feuchte Tropfen hatten sich an den Haarstoppeln in Rogers Nacken gesammelt; er spürte, wie sie einzeln herunterrannen und ihm kalt die Wirbelsäule hinunterliefen.
»Sie haben mich aufs Gesicht gedreht und mir einen Schlag verpaßt«, fuhr Bonnet ungerührt fort. »Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden eines Fischerbootes. Der Fischer hat mich in der Nähe von Peterhead ans Ufer gesetzt und gesagt, er würde mir raten, mir wieder ein Schiff zu suchen - er könnte mir ansehen, hat er gesagt, daß ich nicht fürs Land gemacht war.«
Er hielt die Zigarre hoch und klopfte sanft mit dem Finger darauf, um die Asche zu lösen.
»Übrigens«, sagte er, »haben sie mir meinen Lohn gegeben; als ich nachsah, war der Schilling in meiner Tasche. Ah, sie waren schon ehrliche Männer.«
Roger lehnte sich an die Reling und umklammerte das Holz, das einzig Stabile in einer Welt, die weich und nebulös geworden war.
«Und seid Ihr wieder an Land gegangen?« fragte er, und seine eigene Stimme klang übernatürlich ruhig, als gehörte sie jemand anderem.
»Ihr meint, habe ich sie gefunden?« Bonnet drehte sich um und lehnte sich an die Reling, so daß er Roger halb zugewandt war. »Oh, ja. Jahre später. Einen nach dem anderen. Aber ich habe sie alle gefunden.« Er öffnete die Hand, in der er die Münze hielt, hielt sie nachdenklich vor sich und drehte sie hin und her, so daß das Silber im Licht der Laterne schimmerte.
»Kopf, und man lebt, Zahl, und man stirbt. Eine gerechte Chance, meint Ihr nicht, MacKenzie?«
»Für sie?«
»Für Euch.«
Die leise, irische Stimme war so teilnahmslos, als stellte sie Beobachtungen über das Wetter an.
Wie im Traum spürte Roger, wie sich das Gewicht des Schillings erneut in seine Hände senkte. Er hörte, wie das Wasser an der Bordwand saugte und zischte, hörte die Wale blasen - und hörte die Saug-und Zischgeräusche, wenn Bonnet an seiner Zigarre zog. Sieben Wale einen Cirein Croin.
»Eine gerechte Chance«, sagte Bonnet. »Einmal habt Ihr Glück gehabt, MacKenzie. Mal sehen, ob Danu Euch noch einmal beisteht - oder ob es diesmal der Seelenfresser ist?«
Der Nebel hatte sich auf das Deck gesenkt. Es war nichts zu sehen außer Bonnets Zigarre, ein brennender Zyklop im Dunst. Der Mann hätte wirklich ein Teufel sein können, ein Auge vor dem Elend der Menschen verschlossen, ein Auge offen für die Dunkelheit. Und Roger stand ihm ausgeliefert da, und sein Schicksal leuchtete silbern in seiner Hand.
»Es ist mein Leben; ich darf es mir aussuchen«, sagte er und war überrascht, wie ruhig und stetig seine Stimme klang. »Zahl - Zahl ist für mich.« Er warf die Münze, fing sie auf, schlug die eine Hand fest auf den Rücken der anderen und umschloß die Münze und ihr unbekanntes Urteil.
Er schloß die Augen und dachte ganz kurz an Brianna. Tut mir leid, sagte er schweigend zu ihr und hob die Hand.
Ein warmer Atemhauch lief über seine Haut, und dann spürte er eine kühle Stelle auf seinem Handrücken, als die Münze entfernt wurde, doch er bewegte sich nicht, öffnete die Augen nicht.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis er begriff, daß er allein war.
Der Ruf Der Trommel
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