14
Flieht vor dem kommenden Unheil
August 1767
Sie hatten die Frau in einem Tabakschuppen am Rand von Farquard Campbells abgelegensten Feldern versteckt. Es war nicht wahrscheinlich, daß irgend jemand etwas merkte - abgesehen von Campbells Sklaven, die sowieso Bescheid wußten -, doch wir richteten es so ein, daß wir unmittelbar nach Anbruch der Dunkelheit dort ankamen, als der lavendelblaue Himmel sich schon grau gefärbt hatte und die Umrisse des dunklen Trockenschuppens kaum noch zu sehen waren.
Die Frau glitt heraus wie ein Geist, in einen Umhang mit Kapuze gehüllt, und sie wurde auf das zusätzliche Pferd gehievt wie ein Bündel Schmuggelware, das man hastig an Bord schafft. Sie zog die Beine an, klammerte sich mit beiden Händen an den Sattel und rollte sich voll Panik zusammen - offenbar hatte sie noch nie auf einem Pferd gesessen.
Myers versuchte, ihr die Zügel zu reichen, doch sie beachtete ihn nicht, sondern hielt sich einfach nur fest und stöhnte in einer Art melodischer Schreckensagonie vor sich hin. Die Männer wurden ungeduldig und blickten hinter sich auf die menschenleeren Felder, als erwarteten sie jeden Augenblick die Ankunft von Sergeant Murchison und seinen Helfershelfern.
»Laßt sie mit mir reiten«, schlug ich vor. »Vielleicht fühlt sie sich dann sicherer.«
Die Frau wurde unter Schwierigkeiten wieder von ihrem Pferd gehoben und hinter dem Sattel auf den Rücken meines Pferdes gesetzt. Sie roch durchdringend nach frischen Tabakblättern und nach etwas anderem, das mehr an Moschus erinnerte. Sie schlang sofort die Arme um meine Taille und hielt sich mit aller Kraft fest. Ich tätschelte eine ihrer Hände, die meine Gürtellinie umklammerten, und sie drückte noch fester zu, machte aber sonst keine Bewegung und gab keinen Laut von sich.
Kein Wunder, daß sie Todesangst hatte, dachte ich, während ich das Pferd wendete, damit es Myers folgte. Vielleicht wußte sie nichts von dem Aufruhr, den Murchison im Distrikt veranstaltete, doch sie konnte sich keine Illusionen machen über das, was geschehen würde, wenn man sie fing; sie war sicherlich vor zwei Wochen unter den Zuschauern an der Sägemühle gewesen.
Als Alternative zum sicheren Tod mochte sie die Flucht in die Arme der Rothäute geringfügig vorziehen, doch ihrem Zittern nach zu schließen, nicht sehr - es war alles andere als kalt, doch sie bibberte wie vor Kälte.
Sie preßte mir fast den Atem aus dem Leib, als Rollo auftauchte und sich aus dem Gebüsch schlich wie ein Dämon des Waldes. Mein Pferd war von seinem Anblick auch nicht besonders begeistert: Schnaubend und stampfend ging es rückwärts und versuchte, mir die Zügel zu entreißen.
Ich mußte zugeben, daß Rollo einigermaßen furchterregend aussah, selbst wenn er in Sonntagslaune war, und das war er im Augenblick - Rollo liebte Ausflüge. Dennoch bot er zweifellos einen unheimlichen Anblick. Seine Zähne waren zu einem erfreuten Grinsen entblößt und seine Schlitzaugen halb geschlossen, während er witterte. Wenn man die Art und Weise hinzufügte, wie sich die Grau- und Schwarztöne seines Felles dem Schatten anpaßten, dann bekam man den merkwürdigen und beunruhigenden Eindruck, daß er aus der Substanz der Nacht heraus Gestalt angenommen hatte, der verkörperte Appetit.
Er trottete direkt an uns vorbei, kaum einen halben Meter entfernt, und die Frau schnappte nach Luft. Ihr Atem blies heiß in meinen Nacken. Ich tätschelte ihr noch einmal die Hand und sprach sie an, doch sie antwortete nicht. Duncan hatte gesagt, daß sie aus Afrika stammte und nur wenig Englisch sprach, aber sie mußte doch sicher ein paar Worte verstehen.
»Alles wird gut«, sagte ich noch einmal. »Hab keine Angst.«
Ganz mit meinem Pferd und meiner Mitreisenden beschäftigt, hatte ich Jamie nicht bemerkt, bis er plötzlich lautlos wie Rollo direkt neben mir erschien.
»Alles in Ordnung, Sassenach?« fragte er leise und legte mir die Hand auf den Oberschenkel.
»Ich glaube schon«, sagte ich. Ich deutete auf die verbissene Umklammerung, die meine Taille umschloß. »Sofern ich nicht ersticke.«
Er sah hin und lächelte.
»Na ja, zumindest läuft sie nicht Gefahr herunterzufallen.«
»Ich wünschte, ich wüßte etwas, was ich ihr sagen könnte; die Ärmste, sie hat solche Angst. Meinst du, sie weiß überhaupt, wo wir sie hinbringen?«
»Ich glaube es kaum - ich weiß ja selbst nicht, wohin wir unterwegs sind.« Er trug eine Reithose, hatte aber sein Plaid darübergegürtet und das lose Ende über die Schulter geschlungen. Der dunkle Tartan verschmolz mit den Schatten des Waldes wie früher mit den Farben der schottischen Heide; alles, was ich von ihm sehen konnte, war ein weißer Fleck, der von seiner Hemdbrust herrührte, und das bleiche Oval seines Gesichtes.
»Weißt du nicht irgend etwas Passendes, was du auf Taki-taki zu ihr sagen könntest?« fragte ich. »Es kann natürlich sein, daß sie das auch nicht versteht, wenn man sie nicht über die Westindischen Inseln hierhergebracht hat.«
Er wandte den Kopf und sah meine Mitreisende abschätzend an.
»Ah«, sagte er. »Also, es gibt ein Wort, das sie alle kennen, egal, wo sie herkommen.« Er streckte die Hand aus und drückte den Fuß der Frau.
»Freiheit«, sagte er und hielt inne. »Saorsa. Verstehst du, was ich sage?«
Sie lockerte ihren Griff nicht, doch ihr Atem kam in einem erschauernden Seufzer, und ich glaubte, ihr Nicken zu spüren.
 
Die Pferde folgten einander im Gänsemarsch, Myers vornweg. Der grobe Pfad war nicht einmal eine Wagenstraße, nur eine Art flachgetrampelte Spur im Unterholz, doch wir kamen auf diese Weise mühelos durch den Wald.
Ich bezweifle, daß Sergeant Murchisons Rachedurst uns so weit verfolgen würde - wenn er uns überhaupt verfolgte -, doch das Gefühl, auf der Flucht zu sein, war zu stark, um es zu ignorieren. Wir alle empfanden dasselbe unausgesprochene, aber allgegenwärtige Gefühl der Dringlichkeit, und ohne es zu besprechen, waren wir uns darüber einig, daß wir so weit wie möglich reiten wollten.
Entweder verlor meine Mitreisende ihre Furcht oder sie wurde so müde, daß ihr alles egal war, denn nach einer mitternächtlichen Erfrischungspause ließ sie sich von Ian und Myers ohne Protest wieder auf das Pferd helfen, und obwohl sie meine Taille nie losließ, schien sie doch ab und zu einzunicken, wobei sie die Stirn an meine Schulter preßte.
Auch mich ermüdete der lange Ritt allmählich, wozu auch das hypnotische, leise Hufgetrappel der Pferde und das endlose Säuseln der Kiefern über uns beitrug. Wir befanden uns immer noch im Sumpfkiefernwald, und die hohen aufrechten Stämme um uns ragten wie die Masten längst versunkener Schiffe in die Höhe.
Die Zeilen eines uralten schottischen Liedes kamen mir in den Sinn - »Wie viele Erdbeeren wachsen im salzigen Meer; wie viele Schiffe segeln im Wald?« -, und ich fragte mich benommen, ob der Komponist wohl einmal in einem Wald wie diesem hier gewesen war, der sich unirdisch im Licht des Halbmondes und der Sterne ausbreitete, einem Traum so ähnlich, daß sich die Grenzen zwischen den Elementen auflösten - wir hätten genausogut auf dem Wasser wie auf festem Boden sein können, das Auf und Ab unter mir die Bewegung der Planken und das Säuseln der Kiefern der Wind in unseren Segeln.
In der Morgendämmerung machten wir halt, sattelten die Pferde ab, fesselten ihre Beine und ließen sie im hohen Gras einer kleinen Wiese fressen. Ich fand Jamie und rollte mich sofort neben ihm in einem Nest aus Gras zusammen. Das friedliche Kauen der Pferde war das letzte, was ich hörte.
Wir verschliefen die Tageshitze und erwachten kurz vor Sonnenuntergang, steif, durstig und mit Zecken übersät. Ich war zutiefst dankbar, daß die Zecken den Abscheu teilten, den die Moskitos vor mir empfanden, doch ich hatte mir auf unserer Reise nach Norden angewöhnt, Jamie und die anderen nach jeder Schlafpause zu kontrollieren; es gab immer Vorreiter.
»Igitt«, sagte ich, während ich ein besonders saftiges Exemplar von der Größe einer Traube betrachtete, das in dem weichen, zimtfarbenen Haar in Jamies Achselhöhle prangte. »Verdammt. Ich traue mich nicht, sie herauszuziehen, sie ist so vollgesogen, daß sie wahrscheinlich platzt.«
Er zuckte mit den Schultern, während er mit der anderen Hand seine Haare nach weiteren Eindringlingen durchforstete.
»Laß sie in Ruhe und kümmere dich um die anderen«, schlug er vor. »Vielleicht fällt sie von selbst ab.«
»Das sollte ich wohl«, stimmte ich zögernd zu. Von mir aus konnte die Zecke platzen, aber nicht, solange ihre Kiefer noch in Jamies Haut steckten. Ich wußte, wie eine Infektion aussah, die von einer gewaltsam entfernten Zecke herrührte, und damit wollte ich es mitten im Wald wirklich nicht zu tun bekommen. Ich hatte nur eine rudimentäre medizinische Ausrüstung bei mir - diese enthielt allerdings glücklicherweise eine sehr schöne Pinzette aus Dr. Rawlings’ Kiste.
Myers und Ian schienen gut zurechtzukommmen; beide hatten den Oberkörper entblößt, und Myers hockte über dem Jungen wie ein riesiger Pavian und machte sich mit den Fingern in Ians Haar zu schaffen.
»Hier ist’ne kleine«, sagte Jamie, beugte sich zu mir herüber und schob das Haar zur Seite, so daß ich nach der kleinen, dunklen Erhebung hinter seinem Ohr greifen konnte. Ich war dabei, das Tierchen sanft herauszudrehen, als mir bewußt wurde, daß jemand neben mir stand.
Als wir unser Lager aufgeschlagen hatten, war ich zu müde gewesen, um besonders auf unsere Flüchtige zu achten, denn ich hatte zu Recht angenommen, daß sie sich nicht allein in die Wildnis davonmachen würde. Allerdings war sie bis zu einem Bach in der Nähe spaziert und mit einem Eimer Wasser zurückgekehrt.
Diesen stellte sie jetzt ab, schöpfte eine Handvoll Wasser und ließ es in ihren Mund laufen. Einen Moment lang kaute sie heftig mit aufgeblasenen Wangen. Dann winkte sie mich beiseite, hob zu Jamies Überraschung seinen Arm hoch und spuckte ihm kräftig in die Achselhöhle.
Sie griff in die tropfende Höhlung und schien den Parasiten vorsichtig mit den Fingern zu kitzeln. Mit Sicherheit kitzelte sie Jamie, der in dieser Gegend sehr empfindlich war. Er wurde rot im Gesicht und zuckte bei ihrer Berührung erschauernd zusammen.
Doch sie hielt ihn am Handgelenk fest, und innerhalb von Sekunden fiel ihr die pralle Zecke in die Handfläche. Sie schnippte sie verächtlich weg und wandte sich mit einem Hauch von Genugtuung zu mir.
Solange sie in ihren Umhang gewickelt war, hatte ich geglaubt, daß sie einer Kugel ähnelte. Doch ohne Umhang sah sie auch nicht anders aus. Sie war sehr klein, keine anderthalb Meter groß und fast genauso breit. Ihr kurzgeschorener Kopf erinnerte an eine Kanonenkugel, und ihre Wangen waren so rund, daß die Augen darüber zu Schlitzen verengt waren.
Sie hatte große Ähnlichkeit mit den geschnitzten afrikanischen Fruchtbarkeitsidolen, die ich auf den Westindischen Inseln gesehen hatte - mächtige Brüste, schwere Hüften und die tiefe Röstkaffeefarbe der Kongolesen. Ihre Haut war so makellos, daß sie unter dem dünnen Schweißfilm aussah wie polierter Stein. Sie hielt mir die Hand hin und zeigte mir ein paar kleine Gegenstände in ihrer Handfläche, die in etwa die Größe und Form getrockneter Limabohnen hatten.
»Pah-pah«, sagte sie mit einer so tiefen Stimme, daß selbst Myers ihr überrascht den Kopf zuwandte. Es war eine laute, volle Stimme, volltönend wie eine Trommel. Als sie meine Reaktion darauf sah, lächelte sie ein wenig schüchtern und sagte etwas, was ich nicht ganz verstand, obwohl ich wußte, daß es Gälisch sein mußte.
»Sie sagt, du darfst die Samen nicht hinunterschlucken, weil sie giftig sind«, übersetzte Jamie und betrachtete sie ziemlich argwöhnisch, während er sich die Achselhöhle mit einem Zipfel seines Plaids abwischte.
»Hau«, stimmte Pollyanne zu und nickte heftig. »Gif-tick.« Sie bückte sich über ihren Eimer und schöpfte noch eine Handvoll Wasser, spülte sich damit den Mund und spuckte es gegen den Felsen. Es knallte wie ein Gewehrschuß.
»Damit könntest du anderen ganz schön gefährlich werden«, sagte ich zu ihr. Ich wußte nicht, ob sie mich verstand, doch aus meinem Lächeln schloß sie, daß meine Absichten freundschaftlich waren; sie lächelte zurück, steckte sich noch zwei der Paw-paw-Samen in den Mund und winkte Myers heran. Dabei kaute sie bereits, und die Samen zerplatzten mit einem leisen Knirschen, als sie sie zwischen ihren Zähnen zermahlte.
Als wir gegessen hatten und zum Aufbruch bereit waren, hatte sie sich, wenn auch reichlich nervös, bereit erklärt, es einmal allein auf einem Pferd zu versuchen. Jamie brachte sie dazu, sich dem Pferd zu nähern, und zeigte ihr, wie sie das Tier an ihr schnuppern lassen sollte. Sie zitterte, als die große Nase sie anstupste, doch dann schnaubte das Pferd. Sie fuhr auf, kicherte - was sich anhörte, wie wenn man Honig aus einem Krug schüttet - und ließ sich dann von Jamie und Ian hinaufhieven.
Pollyanne blieb den Männern gegenüber schüchtern, doch mir vertraute sie bald genug, um mit mir in einer polyglotten Mischung aus Gälisch, Englisch und ihrer Muttersprache zu reden. Ich hätte es nicht übersetzen können, doch ihr Gesicht und ihr Körper waren so ausdrucksvoll, daß ich oft erraten konnte, was sie sagte, obwohl ich nur jedes zehnte Wort verstand. Ich konnte nur bedauern, daß ich die Körpersprache nicht genauso beherrschte; sie verstand die meisten meiner Fragen und Bemerkungen nicht, so daß ich warten mußte, bis wir unser Lager aufschlugen und ich Jamie oder Ian bitten konnte, mir mit ein paar Brocken Gälisch auszuhelfen.
Nachdem sie zumindest vorübergehend vom Druck des Schreckens befreit war und sie sich in unserer Gesellschaft immer sicherer fühlte, zeigte sich allmählich ihr überschäumendes Temperament. Während wir Seite an Seite ritten, redete sie ohne Punkt und Komma, ohne sich darum zu kümmern, ob ich sie verstand. Ab und zu brach sie in leise johlendes Gelächter aus, das wie das Heulen des Windes in einem Höhleneingang klang.
Nur einmal dämpfte sich ihre Stimmung: als wir über eine große Lichtung ritten, auf der sich das Grasland in seltsamen, sanft gewellten Hügeln erhob, als läge eine große Schlange darunter begraben. Pollyanne verstummte bei diesem Anblick, und als sie versuchte, ihr Pferd anzutreiben, zog sie statt dessen die Zügel an und brachte es zum Stillstand. Ich ritt zurück, um ihr zu helfen.
»Droch àite«, murmelte sie und sah die schweigenden Hügel aus den Augenwinkeln heraus an. Ein schlimmer Ort. »Djudju.« Sie verzog das Gesicht und machte eine kleine, schnelle Handbewegung, ein Zeichen gegen das Böse, dachte ich.
»Ist das ein Friedhof?« fragte ich Myers, der kehrtgemacht hatte, um nachzusehen, warum wir angehalten hatten. Die Hügel waren nicht gleichmäßig angeordnet, sondern erhoben sich am Rand der Lichtung, als wären sie künstlich angelegt. Sie erschienen mir allerdings zu groß für Gräber - es sei denn, es waren Grabhügel, wie sie in grauer Vorzeit in Schottland errichtet worden waren, oder Massengräber, dachte ich und erinnerte mich beklommen an Culloden.
»Friedhof würde ich nicht sagen«, anwortete er und schob seinen Hut zurück. »Das war mal ein Dorf, wahrscheinlich der Tuscarora. Die Erhebungen hier« - er ließ die Hand darüber schweifen - »sind eingestürzte Häuser. Das große da an der Seite dürfte wohl das Langhaus des Häuptlings gewesen sein. Dauert nicht lang, bis da wieder Gras drüberwächst. Aber so, wie es aussieht, ist das hier schon seit einer ganzen Weile überwachsen.«
»Was ist hier geschehen?« Ian und Jamie hatten ebenfalls angehalten und waren umgekehrt, um einen Blick auf die kleine Lichtung zu werfen.
Myers kratzte sich nachdenklich den Bart.
»Kann ich nicht sagen, nicht sicher. Kann sein, daß eine Krankheit sie vertrieben hat, kann sein, daß die Cherokee oder die Creek sie vertrieben haben, obwohl wir uns hier ziemlich weit nördlich von den Cherokee befinden. Wahrscheinlich ist es aber im Krieg passiert.« Er grub kräftig in seinem Bart, verdrehte die Hand und schnippte die Reste einer hartnäckigen Zecke fort. »Kann nicht sagen, daß ich hier freiwillig bleiben würde.«
Da Pollyanne sichtlich derselben Meinung war, ritten wir weiter. Als es Abend wurde, hatten wir die Kiefernwälder des hügeligen Vorlandes hinter uns gelassen. Wir gewannen jetzt ernsthaft an Höhe, und der Baumbestand veränderte sich: kleine Kastanienhaine, weite, mit Eichen und Hickorynußbäumen bestandene Flächen, dazwischen Hartriegel und Dattelpflaumen, Eßkastanien und Pappeln - wir waren umgeben von Wellen gefiederten Grüns.
Auch die Luft roch anders und fühlte sich anders an, als wir an Höhe gewannen. Das überwältigende, scharfe Harzaroma der Kiefern wich einer Vielzahl leichterer Gerüche; der Duft von Laub mischte sich mit dem der Sträucher und Blumen, die aus jedem Riß in den schroffen Felsen wuchsen. Es war immer noch feucht und schwül, doch nicht mehr so heiß; die Luft schien nicht länger eine erstickende Decke zu sein, sondern etwas, was wir atmen konnten - mit Vergnügen atmen konnten, denn sie roch nach vermodertem Laub, sonnengewärmten Blättern und feuchtem Moos.
Beim Sonnenuntergang des sechsten Tages waren wir tief im Gebirge, und überall erklang das Gemurmel fließenden Wassers. Bäche durchzogen die Täler, ergossen sich von Bergkämmen und rieselten an steilen Felswänden herab, wo sie einen kunstvollen grünen Vorhang aus Nebel und Moos nach sich zogen. Als wir um den Hang eines steilen Hügels bogen, hielt ich erstaunt an: In einiger Entfernung stürzte ein Wasserfall gut fünfundzwanzig Meter tief in die darunterliegende Schlucht.
»Jetzt seht Euch das bloß an!« Ian stand vor Ehrfurcht der Mund offen.
»Schon ganz nett«, gab Myers mit der selbstgefälligen Überlegenheit eines Grundbesitzers zu. »Nicht die größten Fälle, die ich kenne, aber ganz ordentlich.«
Ian wandte mit großen Augen den Kopf.
»Es gibt noch größere?«
Myers lachte, das leise Lachen eines Bergläufers, kaum mehr als ein Hauch.
»Junge, du hast noch gar nichts gesehen.«
Wir schlugen unser Nachtlager in einer Mulde in der Nähe eines größeren Baches auf - ein Bach, der tief genug für Forellen war. Jamie und Ian wateten mit Begeisterung hinein und rückten den Wasserbewohnern mit biegsamen Weideruten zu Leibe. Ich hoffte, daß sie Glück haben würden; unsere Vorräte an frischen Lebensmitteln gingen zur Neige, obwohl wir immer noch reichlich Maismehl übrig hatten.
Pollyanne kam die Böschung herauf und brachte einen Eimer Wasser mit, um einen neuen Schwung Maiskuchen zu backen, kleine, rechteckige Kekse aus grobem Maismehl für unterwegs. Frisch vom Blech schmeckten sie gut, und am nächsten Tag waren sie zumindest noch eßbar. Mit der Zeit wurden sie jedoch immer unappetitlicher und nach vier Tagen hatten sie größte Ähnlichkeit mit Zementbröckchen. Da sie aber leicht zu transportieren waren und nicht so schnell vergammelten, waren sie, neben getrocknetem Rindfleisch und gepökeltem Schweinefleisch, ein beliebter Reiseproviant.
Pollyannes Überschwenglichkeit schien ein wenig gedämpft zu sein, und in ihrem runden Gesicht lauerten Schatten. Ihre Augenbrauen waren so dünn, daß sie fast nicht zu sehen waren, was den paradoxen Effekt hatte, daß sie die Ausdruckskraft ihres Gesichtes verstärkten, wenn es in Bewegung war, und es im Zustand der Ruhe von jeglichem Ausdruck befreiten. Wenn sie wollte, konnte sie völlig teilnahmslos dreinblicken - eine nützliche Fähigkeit für eine Sklavin.
Ich nahm an, daß ihre Gedankenverlorenheit zumindest zum Teil daher rührte, daß dies die letzte Nacht war, die wir alle zusammen verbringen würden. Wir hatten das Hinterland erreicht, wo das Land der Krone endete. Morgen würde Myers sich nach Norden wenden und sie über den Grat der Berge ins Indianerland führen, wo sie, so gut es eben ging, Sicherheit finden und sich ein neues Leben aufbauen würde.
Ihr runder, dunkler Kopf war über die Holzschüssel gebeugt, und ihre kurzen Finger vermischten Maismehl mit Wasser und Schmalz. Ich hockte ihr gegenüber und legte Zweige auf das Feuer, neben dem das schwarze, eiserne Bratblech fertig gefettet bereitstand. Myers war eine Pfeife rauchen gegangen. Ich hörte, wie Jamie Ian flußabwärts etwas zurief und ihm ein gedämpftes Lachen antwortete.
Es herrschte jetzt dunkles Zwielicht; um unsere Mulde ragten düster die Berge auf; Dunkelheit schien das flache Tal anzufüllen und an den umstehenden Bäumen emporzukriechen. Ich hatte keine Ahnung, aus was für einer Gegend sie gekommen war, ob Wald oder Dschungel, Küste oder Wüste, aber ich hielt es nicht für wahrscheinlich, daß es dort so wie hier ausgesehen hatte.
Was mochte sie wohl denken? Sie hatte die Überfahrt aus Afrika und die Sklaverei überlebt; was auch immer vor ihr lag, ich glaubte nicht, daß es viel schlimmer sein konnte. Dennoch war es eine unbekannte Zukunft - in eine Wildnis zu gehen, die so weit und absolut war, daß ich jeden Moment das Gefühl hatte, ich könnte darin verschwinden, ohne eine Spur verschluckt werden. Unser Feuer schien nur ein winziger Funke in der Weite der Nacht zu sein.
Rollo spazierte in den Feuerschein und schüttelte sich. Er spritzte Wasser in alle Richtungen, so daß das Feuer zischte und Funken sprühten. Anscheinend hatte er sich den Anglern angeschlossen.
»Geh weg, du gräßlicher Hund«, sagte ich. Natürlich tat er das nicht, sondern kam einfach her und beschnüffelte mich unsanft, um sicherzugehen, daß ich immer noch die war, für die er mich hielt. Dann wandte er sich um, um Pollyanne derselben Behandlung zu unterziehen.
Ohne besonderen Gesichtsausdruck wandte sie den Kopf und spuckte ihm ins Auge. Er winselte, trat einen Schritt zurück und blieb dann stehen, schüttelte den Kopf und machte ein durch und durch überraschtes Gesicht. Sie hob den Kopf und grinste mich breit an, so daß ihre Zähne weiß aufblitzten.
Ich lachte und beschloß, mir nicht allzu viele Sorgen zu machen - wer es fertigbrachte, einem Wolf ins Auge zu spucken, würde wahrscheinlich auch mit den Indianern, der Wildnis und allen anderen Umständen fertig werden.
Die Schüssel war fast leer, und die Maiskuchen waren ordentlich auf dem Blech aufgereiht. Pollyanne wischte sich die Finger an einer Handvoll Gras ab und sah zu, wie das gelbe Maismehl zu brutzeln begann und dann braun wurde, als das Schmalz zerlief. Ein warmer, beruhigender Duft stieg vom Feuer auf, vermischte sich mit dem Geruch des brennenden Holzes, und mein Magen knurrte leise und erwartungsvoll. Das Feuer schien jetzt mehr Substanz zu haben, der Duft des brutzelnden Essens schien seine Reichweite zu vergrößern und so die Nacht in Schach zu halten.
War es dort, wo sie herkam, so gewesen? Hatten Feuer und Essen das Dunkel des Dschungels auf Abstand gehalten, statt Bären Leoparden ferngehalten? Hatten Licht und Gesellschaft ihr Trost gespendet und die Illusion der Sicherheit? Denn es war bestimmt nur eine Illusion gewesen - das Feuer bot keinen Schutz vor Menschen oder vor der Dunkelheit, die über sie gekommen war. Mir fehlten die Worte, um sie zu fragen.
 
»Ich habe noch nie so viele Fische gesehen, nie«, wiederholte Jamie zum viertenmal, und verträumte Seligkeit lag in seinem Blick, als er eine dampfende, in Maismehl gebratene Forelle aufschlitzte. »Da waren ganze Schwärme im Wasser, stimmt’s, Ian?«
Ian nickte, einen ähnlich erfurchtsvollen Ausdruck in seinem gutmütigen Gesicht.
»Mein Papa würde sein anderes Bein hergeben, um das zu sehen«, sagte er. »Sie sind uns an den Haken gesprungen, wirklich, Tante Claire.«
»Die Indianer geben sich meist gar nicht mit Haken und Angelschnur ab«, warf Myers ein, während er seinen Anteil des Fangs zielsicher mit dem Messer aufspießte. »Sie bauen Fallen und Reusen, oder manchmal legen sie Zweige und anderes Zeug quer über den Fluß, um die Fische aufzuhalten, und stellen sich dann mit spitzen Stöcken oberhalb der Stelle hin und spießen die Fische einfach im Wasser auf.«
Das war Ians Stichwort: Jede Erwähnung von Indianern und ihrer Lebensweise animierte ihn zu einer Flut von wißbegierigen Fragen. Nachdem er alles über die Methoden des Fischfangs erfahren hatte, erkundigte er sich erneut nach dem verlassenen Dorf, das wir am Anfang unserer Reise gesehen hatten.
»Ihr habt gesagt, es könnte im Krieg passiert sein«, sagte Ian, während er seine dampfende Forelle entgrätete und dann die Finger schüttelte, um sie abzukühlen. Er reichte Rollo ein Stück des entgräteten Fisches, und dieser verschluckte es in einem Bissen, ohne sich an der Temperatur zu stören. »Habt Ihr den mit den Franzosen gemeint? Ich habe nicht gewußt, daß es so weit im Süden Kämpfe gegeben hat.«
Myers schüttelte den Kopf, kaute und schluckte, bevor er antwortete.
»O nein, ich habe den Tuscarorakrieg gemeint; so nennen ihn zumindest die Weißen.«
Der Tuscarorakrieg, so erklärte er, war ein kurzer, aber brutaler Konflikt gewesen, der etwas mehr als vierzig Jahre zurücklag und durch einen Angriff auf einige Siedler im Hinterland ausgelöst worden war. Der damalige Gouverneur der Kolonie hatte als Vergeltungsmaßnahme Truppen in die Tuscaroradörfer geschickt, und das Ergebnis waren einige regelrechte Schlachten gewesen, die die viel besser bewaffneten Kolonisten mühelos gewonnen hatten - vernichtend für den Stamm der Tuscarora.
Myers nickte in der Dunkelheit.
»Gibt jetzt nur noch sieben Tuscaroradörfer - und nicht mehr als jeweils hundertfünfzig Leute darin, außer im größten.« Derart empfindlich getroffen, wären die Tuscarora leichte Beute für die umliegenden Stämme gewesen und vollständig verschwunden, wären sie nicht offiziell von den Mohawk adoptiert und damit in den machtvollen Irokesenbund aufgenommen worden.
Jamie kam mit einer Flasche aus seiner Satteltasche zum Feuer zurück. Es war schottischer Whisky, ein Abschiedsgeschenk von Jocasta. Er goß sich einen kleinen Becher voll und bot Myers dann die halbvolle Flasche an.
»Ist das Land der Mohawk nicht viel weiter im Norden?« fragte er. »Wie können sie ihren Kameraden hier Schutz bieten, wo sie doch überall von feindlichen Stämmen umgeben sind?«
Myers nahm einen Schluck Whisky und kostete ihn genießerisch aus, bevor er antwortete.
»Mmm. Das ist ein guter Tropfen, mein Freund James. Aye, die Mohawk sind ein ganzes Stück weit weg. Doch mit dem Irokesenbund ist nicht zu spaßen - und die Mohawk sind der wildeste der sechs Stämme. Keiner - ob rot oder weiß - legt sich ohne guten Grund mit den Mohawk an, bestimmt nicht.«
Das faszinierte mich. Allerdings war ich auch erfreut zu hören, daß das Gebiet der Mohawk ein gutes Stück von uns entfernt war.
»Warum waren die Mohawk dann daran interessiert, die Tuscarora zu adoptieren?« fragte Jamie und zog eine Augenbraue hoch. »Es sieht nicht so aus, als hätten sie Verbündete nötig, wenn sie so wild sind, wie Ihr sagt.«
Myers’ haselnußbraune Augen hatten sich unter dem Einfluß des guten Whiskys verträumt geschlossen.
»Wild sind sie schon - aber sie sind auch sterblich«, sagte er. »Indianer sind blutrünstig, und die Mohawk sind die schlimmsten. Sie sind Ehrenmänner, versteht mich nicht falsch« - er hob ermahnend seinen kräftigen Finger -, »aber sie töten aus vielen Gründen, manche verständlich, manche nicht. Sie veranstalten Raubzüge untereinander, versteht Ihr, und sie töten aus Rache - nichts hält einen rachedurstigen Mohawk auf, es sei denn, man bringt ihn um. Und dann hat man noch seinen Bruder, seinen Sohn oder seinen Neffen auf den Fersen.«
Er leckte sich langsm und nachdenklich den Whisky von den Lippen.
»Manchmal morden die Indianer aus Gründen, die niemand für wichtig halten würde; vor allem, wenn Alkohol im Spiel ist.«
»Hört sich an wie die Schotten«, murmelte ich Jamie zu, der mir als Antwort einen kalten Blick zuwarf.
Myers ergriff die Whiskyflasche und drehte sie zwischen den Handflächen.
»Jeder kann mal einen Schluck zuviel trinken und dann Unsinn treiben, aber bei einem Indianer ist jeder Tropfen zuviel. Ich habe von mehr als einem Massaker gehört, das vielleicht nicht passiert wäre, wären die Männer nicht sinnlos betrunken gewesen.«
Er schüttelte den Kopf und besann sich wieder auf sein Thema.
»Wie auch immer, es ist ein hartes Leben und ein blutiges dazu. Es kommt vor, daß ganze Stämme ausgelöscht werden, und sie haben alle keinen Männerüberschuß. Also adoptieren sie Fremde, um diejenigen zu ersetzen, die getötet werden oder an Krankheiten sterben. Manchmal machen sie Gefangene - nehmen sie in eine Familie auf und betrachten sie als die Ihren. Das werden sie auch mit Mrs. Polly hier tun.« Er wies kopfnickend auf Pollyanne, die still am Feuer saß und seinen Worten keinerlei Aufmerksamkeit schenkte.
»So haben also vor fünfzig Jahren die Mohawk den ganzen Stamm der Tuscarora adoptiert. Es gibt nicht viele Stämme, die dieselbe Sprache sprechen«, erklärte Myers. »Doch manche sind miteinander verwandt. Tuscarora ähnelt der Mohawksprache mehr als der Sprache der Creek oder Cherokee.«
.»Könnt Ihr auch Mohawk sprechen, Mr. Myers?« Ian hatte während dieser Erklärung glühende Ohren bekommen. Ian war von jedem Felsen, Baum und Vogel auf unserer Reise fasziniert, doch noch mehr faszinierte ihn jede Erwähnung von Indianern.
»Ach, ganz gut.« Myers zuckte bescheiden mit den Achseln. »Jeder Händler schnappt hier und da ein paar Worte auf. Kusch, Hund.« Rollo, der seine Nase in Schnüffelweite von Myers’ letzter Forelle geschoben hatte, zuckte bei der Ermahnung mit den Ohren, zog seine Nase aber nicht zurück.
»Dann wollt Ihr Mistress Polly also zu den Tuscarora bringen?« fragte Jamie, während er einen Maiskuchen in mundgerechte Stücke zerkrümelte.
Myers nickte und kaute vorsichtig; wenn man nur noch so wenige Zähne hatte wie er, stellten sogar frische Maiskuchen ein riskantes Unterfangen dar.
»Aye. Noch vier, fünf Tagesritte«, erklärte er. Er wandte sich an mich und lächelte mir beruhigend zu. »Ich passe auf, daß sie gut aufgenommen wird, Mrs. Claire, macht Euch keine Sorgen um sie.«
»Was wohl die Indianer von ihr denken werden, frage ich mich?« sagte Ian. Er sah Pollyanne interessiert an. »Ob sie schon einmal eine Schwarze gesehen haben?«
Myers lachte.
»Junge, es gibt viele Tuscarora, die noch nie eine Weiße gesehen haben, Mrs. Polly wird sie nicht mehr erschrecken, als es deine Tante tun würde.« Myers trank einen großen Schluck Wasser und spülte sich damit den Mund. Er betrachtete Pollyanne nachdenklich. Sie spürte seinen Blick und erwiderte ihn unverwandt.
»Ich glaube aber, daß sie sie für eine Schönheit halten werden, sie mögen ihre Frauen gern schön rund.« Es war einigermaßen offensichtlich, daß Myers diese Bewunderung teilte. Sein Blick wanderte anerkennend und mit einem Hauch unschuldiger Lüsternheit über Pollyanne.
Sie sah das, und es kam eine außergewöhnliche Veränderung über sie. Obwohl sie sich kaum zu bewegen schien, konzentrierte sie sich auf einmal ganz auf Myers. Ihre Augen glänzten im Feuerschein schwarz und unergründlich. Sie war immer noch klein und schwer, doch durch eine ganz leichte Haltungsänderung waren plötzlich ihre ausladenden Brüste und breiten Hüften betont und rundeten sich zu einem Versprechen sinnlicher Fülle.
Myers schluckte hörbar.
Ich wandte den Blick von diesem kleinen Zwischenspiel ab und sah, daß Jamie es ebenfalls beobachtete. Er sah gleichermaßen amüsiert und besorgt aus. Ich stieß ihn unauffällig an und warf ihm einen Blick zu, der mit allem Nachdruck, den ich aufbrachte, »Tu etwas!« sagte.
Er blinzelte.
Ich riß die Augen auf und starrte ihn beschwörend an, was sich mit »Ich weiß nicht, was, aber tu etwas!« übersetzen ließ.
»Mmpf.«
Jamie räusperte sich, beugte sich vor, legte seine Hand auf Myers’ Arm und riß den Bergläufer aus seiner Trance.
»Ich würde mir nicht wünschen, daß die Frau auf irgendeine Weise mißbraucht wird«, sagte er höflich, doch er legte einen Hauch von schottischer Anzüglichkeit in das Wort »mißbraucht«, der grenzenlose Unanständigkeit andeutete. Er drückte leicht zu. »Werdet Ihr es auf Euch nehmen, für ihre Sicherheit zu garantieren, Mr. Myers?«
Myers warf ihm aus seinen blutunterlaufenen Augen einen verständnislosen Blick zu, doch dann dämmerte es ihm. Der Bergläufer befreite langsam seinen Arm, nahm dann seinen Becher, trank den letzten Schluck Whisky, hustete und wischte sich den Mund ab. Möglich, daß er errötete, doch durch seinem Bart war das nicht zu erkennen.
»O ja. Ich meine, o nein. Nein, wirklich nicht. Bei den Mohawk und den Tuscarora suchen sich die Frauen aus, mit wem sie ins Bett gehen, sogar, wen sie heiraten. Bei ihnen gibt es keine Vergewaltigung. O nein. Nein, Sir; sie wird nicht mißbraucht, das kann ich versprechen.«
»Na, da bin ich ja froh, das zu hören.« Jamie lehnte sich beruhigt zurück und warf mir aus den Augenwinkeln einen erbosten »Ichhoffe-du-bist-zufrieden«-Blick zu. Ich lächelte sittsam.
Ian war zwar noch keine sechzehn, doch er war viel zu aufgeweckt, als daß ihm dieser Wortwechsel entgangen wäre. Er gab ein bedeutsames schottisches Husten von sich.
»Onkel Jamie, Mr. Myers war so freundlich, mich einzuladen, ihn und Mrs. Polly zu begleiten und mir das Indianerdorf anzusehen. Ich sorge bestimmt dafür, daß sie dort gut behandelt wird.«
»Du -« Jamie brach ab. Über das Feuer hinweg warf er seinem Neffen einen langen Blick zu. Ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete.
Ian hatte nicht um Erlaubnis gebeten mitzugehen, sondern hatte uns mitgeteilt, daß er gehen würde. Wenn Jamie es ihm verbot, mußte er es begründen - und er konnte kaum sagen, daß es zu gefährlich war, denn damit hätte er nicht nur eingestanden, daß er bereit war, die Sklavin einer Gefahr auszusetzen, sondern auch, daß er Myers und seinen Beziehungen zu den hier ansässigen Indianern nicht traute. Jamie saß in der Falle, und zwar gründlich.
Er atmete kräftig durch die Nase ein. Ian grinste.
Ich blickte wieder über das Feuer. Pollyanne saß noch genauso da wie zuvor, ohne sich zu bewegen. Ihr Blick ruhte auf Myers, und um ihre Lippen spielte ein einladendes Lächeln. Ihre Hand hob sich langsam und umfaßte fast abwesend eine der massiven Brüste.
Myers starrte zurück, betäubt wie ein Reh, dem ein Jäger ins Gesicht leuchtet.
Und würde ich es anders machen? dachte ich später, während ich dem Rascheln und dem leisen Stöhnen aus der Gegend von Myers’ Decke lauschte. Wenn ich wüßte, daß mein Leben von einem Mann abhing? Würde ich im Angesicht unbekannter Gefahren nicht alles tun, um sicherzugehen, daß er mich beschützte?
Etwas knackte und knisterte im hohen Gebüsch. Es war laut, und ich erstarrte. Jamie auch. Er zog seine Hand aus meinem Hemd und griff nach seinem Dolch, entspannte sich dann aber, als der beruhigende Geruch eines Stinktieres unsere Nasen erreichte.
Er schob seine Hand wieder unter mein Hemd, drückte sanft meine Brust und schlief wieder ein, sein Atem warm in meinem Nacken.
Vielleicht doch kein so großer Unterschied. War meine Zukunft irgendwie gesicherter als ihre? Und hing nicht mein Leben von einem Mann ab, der - zumindest zum Teil - durch das Verlangen nach meinem Körper an mich gebunden war?
Ein sanfter Wind strich durch die Bäume, und ich zog mir die Decke über die Schultern. Das Feuer war bis auf die Glut heruntergebrannt, und so hoch in den Bergen war es nachts kühl. Der Mond war untergegangen, doch es war sehr klar. Die Sterne flammten in der Nähe auf, ein Netz aus Licht, das über den Berggipfeln ausgeworfen war.
Nein, es gab Unterschiede. Wie ungewiß meine Zukunft auch sein mochte, ich würde sie teilen, und die Bindung zwischen mir und meinem Mann ging über das Körperliche hinaus. Doch darüber hinaus gab es den einen großen Unterschied - ich war aus freien Stücken hier.
Der Ruf Der Trommel
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