62
Der Dreidrittelgeist
River Run, April 1770
»Sie haben Stephen Bonnet festgenommen.«
Brianna ließ die Kiste mit dem Spiel auf den Boden fallen. Spielsteine aus Elfenbein explodierten in alle Richtungen und rollten unter die Möbelstücke. Sprachlos stand sie da und starrte Lord John an, der sein Brandyglas abstellte und hastig an ihre Seite kam.
»Geht es dir gut? Mußt du dich hinsetzen? Ich entschuldige mich vielmals. Ich hätte es nicht -«
»Doch, das hättest du. Nein, nicht das Sofa, dann komme ich nie wieder hoch.« Sie winkte ab, als er ihr die Hand anbot, und ging langsam zu einem einfachen Holzstuhl an der Fensterseite. Als sie sicher saß, blickte sie ihn lange und ruhig an.
»Wo?« sagte sie. »Wie?«
Er vertat keine Zeit mit der Frage, ob er Wein oder angebrannte Federn kommen lassen sollte; offenbar würde sie nicht in Ohnmacht fallen.
Er zog einen Stuhl zu ihr herüber, überlegte es sich dann aber anders und ging zur Tür des Salons. Er blickte in den dunklen Flur hinaus; tatsächlich, eins der Dienstmädchen döste in der Biegung der Treppe auf einem Hocker vor sich hin für den Fall, daß sie irgendwelche Wünsche hatten. Bei seinem Schritt fuhr der Kopf der Frau hoch, und ihre Augen leuchteten weiß im Halbdunkel.
»Geh zu Bett«, sagte er. »Wir werden heute abend nichts mehr brauchen.«
Die Sklavin nickte und schlurfte davon. Ihre zusammengesackten Schultern verrieten ihre Erleichterung, sie mußte seit der Dämmerung wach sein, und jetzt war es beinahe Mitternacht. Auch er war nach dem langen Ritt von Edenton furchtbar müde, doch seine Nachrichten konnten nicht warten. Er war am frühen Abend angekommen, hatte aber erst jetzt eine Gelegenheit gefunden, sich zu entschuldigen und Brianna allein zu sehen.
Er schloß die Türflügel und stellte eine Fußstütze davor, um jeder Unterbrechung vorzubeugen.
»Er ist hier in Cross Creek gefangengenommen worden«, sagte er ohne Umschweife, während er sich neben sie setzte. »Ich kann nicht sagen, wie. Die Anklage lautete auf Schmuggel. Doch natürlich kamen noch andere hinzu, nachdem erst einmal seine Identität feststand.«
»Was für Schmuggel?«
»Tee und Brandy. Zumindest diesmal.« Er rieb sich seinen steifen Nacken und versuchte die Folgen der vielen Stunden im Sattel zu lindern. »Ich habe in Edenton davon gehört; offenbar ist der Mann berüchtigt. Seine Reputation reicht von Charleston bis Jamestown.«
Er sah sie genau an; sie war bleich, aber nicht leichenblaß.
»Er ist schon abgeurteilt«, sagte er ruhig. »Er wird nächste Woche in Wilmington hängen. Ich dachte, du würdest das vielleicht gerne wissen.«
Sie holte tief Luft und atmete langsam aus, sagte aber nichts. Verstohlen betrachtete er sie noch genauer. Er wollte sie nicht anstarren, doch ihr Umfang erstaunte sie. Bei Gott, sie war immens! In den zwei Monaten seit ihrer Verlobung war sie mindestens doppelt so dick geworden.
Eine Seite ihres enormen Abdomens beulte sich plötzlich aus, und er erschrak. Er zweifelte mit einemmal daran, ob es klug war, es ihr zu erzählen; wenn der Schreck über die Nachricht ihre Niederkunft vorzeitig auslöste, würde er sich das niemals verzeihen. Jamie würde ihm auch nicht verzeihen.
Sie starrte ins Leere und zog konzentriert die Stirn kraus. Trächtige Stuten sahen manchmal bei der Geburt so aus; völlig absorbiert von ihrem Innenleben. Es war ein Fehler gewesen, die Sklavin gehen zu lassen. Er zog seine Füße an, um sich zu erheben und Beistand zu holen, doch seine Bewegung holte sie aus ihrer Trance.
»Danke«, sagte sie. Das Stirnrunzeln war immer noch da, doch ihre Augen hatten den abwesenden Blick verloren; sie waren mit einer enervierenden, blauen Direktheit auf ihn gerichtet - um so enervierender, weil sie ihm so vertraut war.
»Wann hängen sie ihn?« Sie beugte sich ein wenig vor, eine Hand gegen ihre Seite gepreßt. Wie als Reaktion auf den Druck überlief eine erneute Welle ihren Bauch.
Er lehnte sich zurück und betrachtete beklommen ihren Bauch.
»Freitag in einer Woche.«
»Ist er jetzt in Wilmington?«
Ein wenig beruhigt durch ihr besonnenes Verhalten, griff er nach seinem Glas. Er trank einen Schluck und schüttelte den Kopf, während er spürte, wie sich die Wärme des Alkohols wohltuend in seiner Brust ausbreitete.
»Nein. Er ist immer noch hier; es war kein Prozeß nötig, da er schon verurteilt war.«
»Also bringen sie ihn zur Exekution nach Wilmington? Wann?«
»Ich habe keine Ahnung.« Der abwesende Blick war zurückgekehrt; diesmal nahm er ihn mit bösen Vorahnungen zur Kenntnis - es war nicht mütterliche Konzentration, sondern Kalkulation.
»Ich will ihn sehen.«
Mit großem Bedacht schluckte er seinen restlichen Brandy hinunter.
»Nein«, sagte er entschlossen und stellte das Glas hin. »Selbst wenn dein Zustand es dir erlauben würde, nach Wilmington zu reisen - was er gewiß nicht tut«, fügte er mit einem Seitenblick auf das gefährliche Aussehen ihres Bauches hinzu, »könnte es die schlimmste Wirkung auf dein Kind haben, wenn du einer Exekution beiwohnst. Ich kann es dir vollständig nachfühlen, meine Liebe, aber -«
»Nein, das kannst du nicht. Du weißt ja gar nicht, was ich fühle.« Sie sprach ohne Erregung, aber mit völliger Überzeugung. Er starrte sie einen Moment lang an, dann stand er auf und ging die Karaffe holen.
Sie sah zu, wie die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas aufwirbelte, und wartete, bis er es ergriff, bevor sie fortfuhr.
»Ich will ihm nicht beim Sterben zusehen«, sagte sie.
»Gott sei’s gedankt«, murmelte er und nahm einen Schluck Brandy.
»Ich will mit ihm sprechen.«
Die Flüssigkeit nahm den falschen Weg, und er verschluckte sich und spuckte den Brandy über die Rüschen seines Hemdes.
»Vielleicht solltest du dich hinsetzen«, sagte sie und blinzelte ihn an. »Du siehst nicht besonders gut aus.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wieso nicht.« Doch er setzte sich und griff nach einem Tuch, um sich das Gesicht abzuwischen.
»Nein, ich weiß, was du sagen willst«, sagte sie fest, »also gib dir keine Mühe. Kannst du es arrangieren, daß ich ihn sehen kann, bevor sie ihn nach Wilmington bringen? Und bevor du sagst, nein, mit Sicherheit nicht, frag dich, was ich tun werde, wenn du das sagst.«
Lord John schloß den Mund, den er schon geöffnet hatte, um »Nein, mit Sicherheit nicht« zu sagen, und betrachtete sie einen Augenblick schweigend.
»Ich nehme nicht an, daß du vorhast, mir erneut zu drohen, oder?« fragte er im Konversationston. »Denn wenn es so ist…«
»Natürlich nicht.« Sie besaß so viel Anstand, bei diesen Worten leicht zu erröten.
»Also, dann muß ich gestehen, daß mir nicht ganz klar ist, wie du -«
»Ich werde meiner Tante erzählen, daß Stephen Bonnet der Vater meines Babys ist. Und ich erzähle es Farquard Campbell. Und Gerald Forbes. Und Richter Alderdyce. Und dann gehe ich zum Hauptquartier der Garnison - da muß er ja wohl sein - und erzähle es Sergeant Murchison. Wenn er mich nicht hineinläßt, bitte ich Mr. Campbell um eine schriftliche Verfügung, damit er mir Zutritt verschafft. Ich habe ein Recht darauf, ihn zu sehen.«
Er sah sie scharf an, doch er konnte sehen, daß es keine leere Drohung war. Sie saß so solide und unbeweglich wie eine Marmorstatue da - und genauso empfänglich für seine Überredungskünste.
»Du schreckst nicht davor zurück, einen monströsen Skandal heraufzubeschwören?« Es war eine rhetorische Frage; er versuchte nur, einen Augenblick zum Nachdenken zu gewinnen.
»Nein«, sagte sie ruhig. »Was habe ich zu verlieren?« Sie zog die Augenbrauen in einem halb humorvollen Zucken hoch.
»Ich nehme an, du müßtest unsere Verlobung auflösen. Aber wenn der ganze Bezirk weiß, wer der Vater ist, dann hätte das wohl denselben abschreckenden Effekt auf Männer, die mich heiraten wollen, wie unsere Verlobung.«
»Dein Ruf -«, begann er, obwohl er wußte, daß es hoffnungslos war.
»Ist sowieso nicht besonders. Obwohl, was das angeht, warum sollte es eigentlich schlimmer sein, wenn ich schwanger bin, weil mich ein Pirat vergewaltigt hat, als weil ich liederlich gewesen bin, wie mein Vater das so charmant formuliert hat?« Es lag ein leichter Unterton von Bitterkeit in ihrer Stimme, der ihn davon abhielt, noch mehr zu sagen.
»Wie auch immer, Tante Jocasta wird mich wohl nicht hinauswerfen, nur weil ich einen Skandal auslöse. Ich werde nicht verhungern und das Baby auch nicht. Und ich kann nicht sagen, daß es mich kümmert, ob die Damen MacNeill mich besuchen oder nicht.«
Er hob sein Glas und trank noch einen Schluck, diesmal vorsichtig, während er ein Auge auf sie hatte, um weiteren Schreckmomenten vorzubeugen. Er hätte gern gewußt, was zwischen ihr und ihrem Vater vorgefallen war - war aber nicht mutig genug, um sie zu fragen. Statt dessen stellte er das Glas hin und fragte: »Warum?«
»Warum?«
»Warum glaubst du, daß du mit Bonnet sprechen mußt? Du sagst, ich weiß nicht, was du fühlst, was unleugbar wahr ist.« Er ließ einen Hauch von Ironie in seiner Stimme mitklingen. »Doch was es auch immer ist, es muß sehr dringlich sein, wenn es dich dazu bringt, solch drastische Schritte in Erwägung zu ziehen.«
Ein Lächeln keimte langsam auf ihren Lippen auf und breitete sich bis zu ihren Augen aus.
»Ich mag es wirklich, wie du dich ausdrückst«, sagte sie.
»Ich bin außerordentlich geschmeichelt. Wenn du es allerdings erwägen könntest, meine Frage zu beantworten…«
Sie seufzte so tief, daß die Kerzenflamme flackerte. Sie stand schwerfällig auf und fingerte an ihrem Rocksaum herum. Offensichtlich hatte sie eine Tasche hineingenäht, denn sie zog ein kleines Blatt Papier heraus, das zusammengefaltet und vom vielen Anfassen zerfleddert war.
»Lies das«, sagte sie und gab es ihm. Sie wandte sich ab und ging zum anderen Ende des Zimmers, wo ihre Farben und ihre Staffelei in einer Ecke am Kamin standen.
Beim Anblick der schwarzen Lettern durchfuhr ihn ein kleiner, vertrauter Ruck. Er hatte Jamie Frasers Handschrift erst einmal gesehen, doch einmal war genug; es war eine einmalige Schrift.
 
Tochter -
Ich kann nicht sagen, ob ich Dich wiedersehen werde. Ich hoffe von ganzem Herzen, daß es so sein wird und daß alles zwischen uns wieder in Ordnung kommt, doch dies muß in Gottes Hand ruhen. Ich schreibe jetzt für den Fall, daß Er es anders will.
Du hast mich einmal gefragt, ob es recht ist, aus Rache für das große Unrecht zu töten, das Dir angetan wurde. Ich sage Dir, Du darfst es nicht. Um Deiner Seele willen, um Deines Lebens willen mußt Du die Gnade der Vergebung finden. Die Freiheit ist schwer zu erringen, doch sie ist niemals die Frucht eines Mordes.
Hab’ keine Angst, daß er der Vergeltung entkommt. Ein solcher Mann trägt die Saat seiner eigenen Zerstörung in sich. Wenn er nicht von meiner Hand stirbt, dann durch die eines anderen. Doch es darf nicht Deine Hand sein, die ihn fällt.
Hör auf mich, um der Liebe willen, die ich für Dich empfinde.
 
Unter den Text des Briefes hatte er geschrieben Dein Dir höchst zugeneigter und Dich liebender Vater, James Fraser. Das war durchgestrichen, und darunter stand einfach nur Pa.
»Ich habe ihm nicht einmal auf Wiedersehen gesagt.«
Lord John blickte erschrocken auf. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und starrte auf die halbfertige Landschaft auf der Staffelei, als wäre sie ein Fenster.
Er überquerte den Teppich und stellte sich neben sie. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, und es wurde jetzt kalt im Zimmer. Sie wandte sich ihm zu und umklammerte ihre Ellbogen zum Schutz gegen die Kälte.
»Ich will frei sein«, sagte sie leise. »Ob Roger zurückkommt oder nicht. Egal, was geschieht.«
Das Kind war unruhig; er konnte sehen, wie es unter ihren verschränkten Armen trat und zappelte wie eine Katze im Sack. Er holte tief Luft und fühlte sich kalt und sorgenvoll.
»Du bist sicher, daß du Bonnet sehen willst?«
Sie warf ihm einen weiteren dieser langen, blauen Blicke zu.
»Ich muß eine Möglichkeit finden, ihm zu vergeben, sagt Pa. Seit ihrer Abreise habe ich es dauernd versucht, aber ich kann es nicht. Vielleicht kann ich es, wenn ich ihn sehe. Ich muß es versuchen.«
»Gut.« Er atmete in einem langen Seufzer aus und ließ kapitulierend die Schultern hängen.
Ein kleines Licht - Erleichterung? - erschien in ihren Augen, und er versuchte, das Lächeln zu erwidern.
»Du wirst es tun?«
»Ja. Weiß Gott, wie, aber ich werde es tun.«
Er löschte alle Kerzen bis auf eine, die er behielt, damit sie ihnen den Weg zum Bett beleuchtete. Er reichte ihr den Arm, und sie gingen schweigend durch den leeren Flur, und die menschenleere Stille umhüllte sie mit ihrem Frieden. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und ließ sie vorgehen.
»Brianna.«
Sie drehte sich fragend auf der Treppe über ihm um. Er stand zögernd da und wußte nicht, wie er sie um das bitten sollte, was er sich plötzlich so sehr wünschte. Er streckte die Hand aus und hielt sie leicht in der Schwebe.
»Darf ich…?«
Wortlos nahm sie seine Hand und preßte sie gegen ihren Bauch. Er war warm und sehr fest. Einen Augenblick standen sie bewegungslos, während sie seine Hand mit der ihren umschloß. Dann kam es, ein kleiner Stoß gegen seine Hand, bei dem ihn Aufregung durchfuhr.
»Mein Gott«, sagte er mit leisem Entzücken. »Da ist wirklich jemand.«
Ihr Blick traf den seinen voll reuiger Belustigung.
»Ja«, sagte sie. »Ich weiß.«
 
Es war längst dunkel, als sie neben dem Hauptquartier der Garnison vorfuhren. Es war ein kleines, wenig einnehmendes Gebäude, das im Vergleich mit dem Lagerhaus, das dahinter aufragte, zwergenhaft wirkte, und Brianna sah es schräg an.
»Sie haben ihn da drin?« Ihre Hände fühlten sich kalt an, obwohl sie unter ihrem Umhang eingemummt waren.
»Nein.« Lord John sah sich um, als er abstieg, um die Pferde anzubinden. In dem Fenster brannte ein Licht, doch der kleine, ungepflasterte Hof war leer und verlassen. Es waren keine Häuser oder Läden in der Nähe, und die Arbeiter aus dem Lagerhaus waren schon lange zu ihren Abendmahlzeiten und ihren Betten heimgegangen.
Er streckte ihr beide Hände entgegen, um ihr herunterzuhelfen; von einem Wagen abzusteigen war leichter, als aus einer Kutsche herauszukommen, aber immer noch alles andere als einfach.
»Er ist im Keller unter dem Lagerhaus«, erklärte er ihr mit gedämpfter Stimme. »Ich habe den wachhabenden Soldaten bestochen, damit er uns hineinläßt.«
»Nicht uns«, sagte sie mit ebenso gedämpfter, aber deshalb nicht weniger fester Stimme als er. »Mich. Ich gehe allein zu ihm.«
Sie sah, wie sich seine Lippen einen Moment fest zusammenpreßten und sich dann entspannten, als er nickte.
»Der Privatgefreite Hodgepile versichert mir, daß er in Ketten liegt, oder ich würde einen solchen Vorschlag nicht gutheißen. So aber…« Er zuckte etwas gereizt mit den Achseln und ergriff ihren Arm, um sie über den zerfurchten Boden zu führen.
»Hodgepile?«
»Privatgefreiter Arvin Hodgepile. Warum? Ein Bekannter?«
Sie schüttelte den Kopf und hielt mit der freien Hand ihre Röcke zur Seite.
»Nein. Ich habe den Namen schon einmal gehört, aber -«
Die Tür des Gebäudes öffnete sich, und Licht ergoß sich auf den Hof.
»Ihr seid es, nicht wahr, Mylord?« Ein Soldat blickte argwöhnisch hinaus. Hodgepile war schlank, hatte ein schmales Gesicht, und seine Glieder waren so steif wie die einer Marionette. Er fuhr erschrocken auf, als er sie sah.
»Oh! Ich wußte nicht -«
»Das braucht Ihr auch nicht.« Lord Johns Stimme war kühl. »Zeigt uns bitte den Weg.«
Mit einem nervösen Blick auf Briannas vorgewölbten Kugelbauch holte der Privatgefreite eine Laterne heraus und führte sie zu einem kleinen Seiteneingang des Lagerhauses.
Hodgepile war nicht nur schlank, sondern auch klein, hielt sich aber zum Ausgleich gerader, als es üblich war. Er geht, als hätte man ihm einen Ladestock in den Hintern geschoben. Ja, dachte sie, und beobachtete ihn interessiert, während er vor ihnen her marschierte. Er mußte der Mann sein, den Ronnie Sinclair ihrer Mutter beschrieben hatte. Wie viele Hodgepiles konnte es schließlich geben? Vielleicht konnte sie mit ihm reden, wenn sie fertig war mit - ihre Gedanken kamen abrupt zum Halten, als Hodgepile die Lagerhaustür aufschloß.
Die Aprilnacht war kühl und frisch, doch die Luft im Inneren roch durchdringend nach Pech und Terpentin. Brianna fand sie zum Ersticken. Sie konnte geradezu spüren, wie die kleinen Harzmoleküle in der Luft schwebten und sich an ihre Haut klebten. Die plötzliche Illusion, in einem Block aus sich verhärtendem Bernstein gefangen zu sein, war so erdrückend, daß sie sich abrupt in Bewegung setzte und Lord John fast hinter sich herzog.
Das Lagerhaus war fast komplett gefüllt, eine Unmenge an Raum, die mit klobigen Umrissen bestückt war. In den entferntesten Ecken schwitzten Pechfässer klebriges Schwarz aus, während die Holzregale neben den riesigen Flügeltüren des Fronteingangs mit Fässerbergen beladen waren; Brandy und Rum, der bald die Rampen hinunter und zum Dock gerollt werden würde, zu den Schiffen, die unten im Fluß warteten.
Der Schatten des Privatgefreiten Hodgepile wurde abwechselnd länger und schrumpfte dann wieder zusammen, während er die Reihen der aufgetürmten Fässer und Kisten passierte, seine Schritte durch die Sägemehlschicht auf dem Boden gedämpft.
»… müssen mit Feuer vorsichtig sein…« Seine hohe, dünne Stimme schwebte zu ihr zurück, und sie sah, wie sein Marionettenschatten eine verkümmerte Hand schwenkte. »Ihr paßt doch auf, wo Ihr die Laterne hinstellt, nicht wahr? Obwohl es unten nicht gefährlich sein dürfte, überhaupt nicht gefährlich…«
Das Lagerhaus setzte sich über dem Fluß fort, um die Ladearbeiten zu erleichtern, und der vordere Teil des Fußbodens bestand aus Holz; die hintere Hälfte des Gebäudes hatte einen Boden aus Backsteinen. Brianna hörte, wie sich der Widerhall ihrer Schritte veränderte, als sie die Grenze überschritten. Hodgepile blieb bei einer Falltür stehen, die in die Ziegel eingelassen war.
»Ihr werdet nicht lange bleiben, Mylord?«
»Nicht länger als nötig«, gab Lord John kurz angebunden zurück. Er nahm die Laterne und wartete schweigend, während Hodgepile die Tür hochhievte und sie anlehnte. Briannas Herz klopfte heftig, sie konnte jeden einzelnen Schlag wie einen Hieb gegen ihre Brust spüren.
Eine rote Ziegeltreppe führte hinunter in die Dunkelheit. Hodgepile holte den Ring mit seinen Schlüsseln hervor und zählte sie in der Insel aus Laternenlicht durch, um sicherzugehen, daß er den richtigen hatte, bevor er hinabstieg. Er blinzelte Brianna skeptisch an, dann winkte er ihnen, ihm zu folgen.
»Gut, daß sie die Treppe breit genug für Rumfässer gemacht haben«, murmelte sie Lord John zu und hielt seinen Arm fest, während sie sich Schritt für Schritt hinabließ.
Ihr war sofort klar, wieso Hodgepile sich hier unten keine Sorgen um ein Feuer machte; die Luft war so feucht, daß sie nicht überrascht gewesen wäre, Pilze aus den Wänden sprießen zu sehen. Irgendwo hörte man Wasser tropfen, und das Licht der Laterne wurde von feuchten Ziegeln zurückgeworfen. Küchenschaben zerstoben in Panik vor dem Licht, und die Luft roch nach Moder und Schimmel.
Sie erinnerte sich kurz an die Penizillinzucht ihrer Mutter, weniger kurz an ihre Mutter, und es schnürte ihr die Kehle zu. Dann war sie da, und sie konnte nicht länger verhindern, daß ihr zu Bewußtsein kam, was sie hier eigentlich machte.
Hodgepile kämpfte mit dem Schlüssel, und die Panik, die sie den ganzen Tag unterdrückt hatte, überflutete sie. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, was sie tun sollte. Was wollte sie hier eigentlich?
Lord John drückte ihr zur Ermutigung den Arm. Sie atmete die feuchtkalte Luft in einem tiefen Zug ein, duckte sich und trat ein.
Er saß auf einer Bank am anderen Ende der Zelle, den Blick auf die Tür gerichtet. Er hatte eindeutig jemanden erwartet - er hatte die Schritte vor der Tür gehört -, doch sie war es nicht. Er fuhr erschrokken zusammen, und seine grünen Augen blitzten kurz auf, als das Licht über ihn hinwegstrich.
Sie lehnte sich an die Holztür und studierte ihn schweigend.
Er kam ihr kleiner vor, als sie ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht lag es nur daran, daß sie jetzt so viel umfangreicher war?
»Wißt Ihr, wer ich bin?« Es war eine winzige Zelle mit einer niedrigen Decke ohne Hall. Ihre Stimme klang leise, aber klar.
Er legte den Kopf zur Seite und überlegte.
»Ich hatte nicht das Gefühl, daß du besonders wild darauf warst, mir deinen Namen zu sagen, Schätzchen.«
»Nennt mich nicht so!« Ihr Wutausbruch überraschte sie, und sie würgte ihn herunter und ballte hinter ihrem Rücken die Hände zu Fäusten. Wenn sie hierher gekommen war, um Vergebung zu üben, dann war das kein guter Anfang.
Er zuckte mit den Achseln, freundlich, aber kühl.
»Wie Ihr wünscht. Nein, ich weiß nicht, wer Ihr seid. Ich kenne Euer Gesicht - und ein paar andere Stellen« - seine Zähne glänzten kurz zwischen den blonden Bartstoppeln hervor -, »aber nicht Euren Namen. Ich schätze aber, daß Ihr ihn mir sagen wollt?«
»Ihr erkennt mich also?«
Er atmete durch gespitzte Lippen ein und aus und betrachtete sie sorgfältig. Er sah ziemlich mitgenommen aus, doch das hatte seiner Selbstsicherheit nicht geschadet.
»Oh, das tue ich in der Tat.« Er machte einen belustigten Eindruck, und sie hätte am liebsten den Raum durchquert und ihn fest geohrfeigt. Statt dessen holte sie tief Luft. Das war ein Fehler - sie konnte ihn riechen.
Ohne Vorwarnung kam ihr plötzlich und heftig die Galle hoch. Ihr war bis jetzt nicht schlecht gewesen, doch sein Gestank kehrte ihr Inneres nach außen. Sie hatte kaum genug Zeit, um sich abzuwenden, bevor die Flut aus Galle und halbverdautem Essen hochgeschossen kam und auf den feuchten Ziegelboden klatschte.
Sie lehnte sich mit der Stirn an die Wand, während kalte und heiße Wellen sie überliefen. Schließlich wischte sie sich den Mund ab und drehte sich um.
Er saß immer noch da und beobachtete sie. Sie hatte die Laterne auf den Boden gestellt. Sie warf ein gelbes Flackern an die Decke und meißelte sein Gesicht aus den Schatten in seinem Rücken. Er hätte eine Bestie sein können, angekettet in ihrer Höhle; in seinen blaßgrünen Augen war nur Argwohn zu sehen.
»Mein Name ist Brianna Fraser.«
Er nickte und wiederholte ihn.
»Brianna Fraser. Sicher, ein hübscher Name.« Er lächelte kurz mit zusammengepreßten Lippen. »Und?«
»Meine Eltern sind James und Claire Fraser. Sie haben Euch das Leben gerettet, und Ihr habt sie ausgeraubt.«
»Ja.«
Er sagte es vollkommen beiläufig, und sie starrte ihn an. Er starrte zurück.
Sie fühlte einen wilden Drang zu lachen, so unerwartet, wie der Übelkeitsanfall gewesen war. Was hatte sie erwartet? Reue? Entschuldigungen? Von einem Mann, der sich Dinge nahm, weil er sie haben wollte?
»Wenn Ihr in der Hoffnung gekommen seid, die Juwelen zurückzubekommen, so fürchte ich, daß ihr zu lange gewartet habt«, sagte er freundlich. »Ich habe den ersten verkauft, um mir ein Schiff zu kaufen, und die anderen beiden sind mir gestohlen worden. Vielleicht findet Ihr das gerecht; für mich selbst wäre es ein schwacher Trost.«
Sie schluckte und schmeckte Galle.
»Gestohlen? Wann denn?«
Mach dir keine Gedanken um den Mann, der ihn hat, hatte Roger gesagt. Wahrscheinlich hat er ihn selbst gestohlen.
Bonnet rutschte auf der Holzbank herum und zuckte mit den Achseln.
»Vor ungefähr vier Monaten. Wieso?«
»Nur so.« Also hatte Roger es geschafft; er hatte sie - die Steine, die für sie beide die sichere Rückreise hätten bedeuten können. Ironie des Schicksals.
»Ich erinnere mich, daß da auch noch ein Schmuckstück war - ein Ring, nicht wahr? Aber den habt Ihr ja wieder.« Er lächelte, und diesmal zeigte er seine Zähne.
»Ich habe dafür bezahlt.« Eine Hand wanderte automatisch zu ihrem Bauch, der unter dem Umhang rund und hart geworden war wie ein Basketball.
Sein Blick verweilte mit einem Anflug von Neugier auf ihrem Gesicht.
»Haben wir denn noch etwas auszuhandeln, Süße?«
Sie holte tief Luft - diesmal durch den Mund.
»Man hat mir gesagt, daß Ihr hängen werdet.«
»Das hat man mir auch gesagt.« Er rutschte wieder auf der harten Holzbank hin und her. Er reckte seinen Kopf zur Seite, um seine Halsmuskeln zu entspannen, und warf einen Blick zu ihr hinauf. »Ihr seid aber nicht aus Mitleid hier, schätze ich.«
»Nein«, sagte sie nachdenklich. »Um ehrlich zu sein, werde ich sehr viel besser schlafen, wenn Ihr erst tot seid.«
Er starte sie einen Moment lang an und brach dann in Gelächter aus. Er lachte so heftig, daß es ihm die Tränen in die Augen trieb; er wischte sie achtlos weg, indem er den Kopf verdrehte, um sein Gesicht an seiner hochgezogenen Schulter abzuwischen, dann richtete er sich auf, die Spuren des Lachens immer noch im Gesicht.
»Was wollt Ihr dann von mir?«
Sie öffnete den Mund, um zu antworten, und ganz plötzlich löste sich die Verbindung zwischen ihnen auf. Sie hatte sich nicht bewegt, fühlte sich aber, als hätte sie mit einem Schritt einen unüberwindlichen Abgrund überquert. Jetzt stand sie sicher auf der anderen Seite, allein. Herrlich allein. Er konnte sie nicht mehr berühren.
»Nichts«, sagte sie, ihre Stimme klar in ihren Ohren. »Ich will nicht das Geringste von Euch. Ich bin gekommen, um Euch etwas zu geben.«
Sie öffnete ihren Umhang und fuhr mit den Händen über die Rundung ihres Bauches. Der kleine Bewohner räkelte und wälzte sich, seine Berührung eine blinde Liebkosung von Hand und Bauch, intim und fern zugleich.
»Von Euch«, sagte sie.
Er blickte auf ihren Kugelbauch und dann zu ihr.
»Es haben schon ganz andere Huren versucht, mir ihre Brut aufzuhalsen«, sagte er. Doch er sprach ohne Heftigkeit, und sie meinte, eine neue Ruhe hinter dem Argwohn in seinen Augen zu sehen.
»Haltet Ihr mich für eine Hure?« Es war ihr egal, ob er es tat oder nicht, obwohl sie es bezweifelte. »Ich habe keinen Grund zu lügen. Ich habe Euch schon gesagt, daß ich nichts von Euch will.«
Sie zog den Umhang wieder zusammen und bedeckte sich. Dann richtete sie sich auf und spürte, wie bei der Bewegung der Schmerz in ihrem Rücken nachließ. Es war geschehen. Sie konnte gehen.
»Ihr werdet sterben«, sagte sie zu ihm, und obwohl sie nicht aus Mitleid gekommen war, stellte sie überrascht fest, daß sie es empfand. »Wenn es Euch das Sterben erleichtert zu wissen, daß etwas von Euch auf der Erde zurückbleibt - dann sollt Ihr dieses Wissen gerne haben. Aber ich bin jetzt mit Euch fertig.«
Sie drehte sich um, um die Laterne aufzuheben, und sah zu ihrer Überraschung die Tür einen Spaltbreit offenstehen. Ihr blieb keine Zeit, auf Lord John wütend zu sein, weil er gelauscht hatte, weil die Tür jetzt vollständig aufschwang.
»Tja, war ja’ne elegante Rede, Ma’am«, sagte Sergeant Murchison besonnen. Dann lächelte er breit und brachte den Kolben seiner Muskete auf eine Höhe mit ihrem Bauch. »Aber ich kann nicht sagen, daß ich schon ganz mit Euch fertig bin.«
Sie trat schnell einen Schritt zurück und schwang ihm aus reinem Abwehrmechanismus heraus die Laterne an den Kopf. Er duckte sich mit einem Aufschrei, und ein eiserner Griff umklammerte ihr Handgelenk, bevor sie die Laterne erneut gegen ihn schleudern konnte.
»Himmel, das war knapp! Du bist schnell, Mädchen, wenn auch nicht ganz so schnell wie der gute Sergeant.« Bonnet nahm ihr die Laterne ab und ließ ihr Handgelenk los.
»Ihr seid überhaupt nicht angekettet«, sagte sie überflüssigerweise und starrte ihn an. Dann holte ihr Verstand auf, und sie wirbelte herum und stürzte zur Tür. Murchison schob seine Muskete vor sie und versperrte ihr den Weg, doch nicht, bevor sie den dunklen Korridor vor der Tür gesehen hatte - und die schwach erleuchtete Gestalt, die draußen mit dem Gesicht nach unten auf den Ziegeln ausgebreitet lag.
»Ihr habt ihn umgebracht«, flüsterte sie. Ihre Lippen waren taub vor Schreck, und eine Furcht, die tiefer ging als die Übelkeit, fuhr ihr in die Knochen. »Oh, Gott. Ihr habt ihn umgebracht.«
»Wen umgebracht?« Bonnet hielt die Laterne hoch und blickte auf das buttergelbe, hingegossene Haar, das mit Blut befleckt war. »Wer zum Teufel ist das?«
»Eine Vorwitznase«, schnappte Murchison. »Beeilung, Mann! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich hab’ mich um Hodgepile gekümmert, und die Lunten brennen.«
»Wartet!« Bonnet blickte stirnrunzelnd von Murchison zu Brianna.
»Wir haben keine Zeit, habe ich gesagt.« Der Sergeant hob seine Muskete und überprüfte die Zündung. »Keine Sorge, niemand wird sie finden.«
Brianna konnte den Schwefelgeruch des Schießpulvers in der Zündung riechen. Der Sergeant hob den Gewehrschaft an seine Schulter und wandte sich ihr zu, doch es war zu eng; ihr Bauch war im Weg, und er hatte keinen Platz, um den langen Lauf zu heben.
Der Sergeant grunzte verärgert, drehte das Gewehr um und erhob es, um sie mit dem Kolben niederzuknüppeln.
Ihre Hand umklammerte den Lauf, bevor ihr klar war, daß sie danach gegriffen hatte. Alles schien sich sehr langsam zu bewegen, während Murchison und Bonnet erstarrt dastanden. Sie selbst fühlte sich völlig abwesend, so als stünde sie als Zuschauerin daneben.
Sie pflückte Murchison die Muskete aus der Hand, als wäre sie ein Strohhalm, ließ sie hochschwingen und dann herabsausen. Die Vibration des Rückstoßes übertrug sich durch ihre Arme in ihren Körper, und ihr ganzer Körper war plötzlich geladen, als hätte jemand einen Schalter herumgeworfen und einen weißglühenden Stromstoß durch sie pulsieren lassen.
Sie sah ganz deutlich das Gesicht des Mannes mit herunterhängender Kinnlade vor sich in der Luft hängen, sah, wie sein Blick vor Erstaunen über Grauen in bewußtlose Stumpfheit überging, so langsam, daß sie die Veränderung verfolgen konnte. Hatte Zeit, um die kräftigen Farben in seinem Gesicht zu sehen. Eine dunkelrote Lippe verfing sich in einem gelben Zahn, halb zu einem verächtlichen Grinsen hochgezogen. Winzige Blüten in leuchtendem Rot, die sich in einem eleganten Bogen auf seiner Schläfe entfalteten, japanische Wasserblumen, die auf dem Feld einer frischen, blauen Prellung erblühten.
Sie war völlig ruhig, nicht mehr als ein Kanal für jene Urenergie, die die Männer Mütterlichkeit nennen, weil sie ihre zärtliche Seite mit Schwäche verwechseln. Sie sah ihre eigenen Hände, ihre nackten Knöchel, ihre vorstehenden Sehnen, spürte, wie die Kraft an ihren Beinen hoch- und zurücklief, durch Handgelenke und Arme und Schultern, holte wieder Schwung, so langsam, es kam ihr so langsam vor, und doch fiel der Mann immer noch, hatte den Boden immer noch nicht ganz erreicht, als der Gewehrkolben erneut zuschlug.
Eine Stimme rief ihren Namen. Dumpf durchdrang sie das kristallene Summen, das sie umgab.
»Aufhören, in Gottes Namen! Mensch - Brianna - aufhören!«
Es waren Hände auf ihren Schultern, zerrten an ihr, schüttelten sie. Sie entwand sich ihrem Griff und drehte sich um, das Gewehr immer noch in der Hand.
»Rührt mich nicht an«, sagte sie, und er trat schnell einen Schritt zurück, die Augen voller Überraschung und Argwohn - und vielleicht einem Hauch von Furcht? Angst vor ihr? Warum sollte jemand Angst vor ihr haben? dachte sie dumpf. Er sagte etwas; sie sah, wie sich sein Mund bewegte, doch sie konnte den Sinn der Worte nicht erfassen, sie waren nur Lärm. Der Strom in ihr ließ nach, und ihr wurde schwindelig.
Dann paßte die Zeit sich der Wirklichkeit wieder an und begann, normal weiterzulaufen. Ihre Muskeln zitterten, denn ihre Fasern hatten sich in Wackelpudding verwandelt. Sie stellte den fleckigen Gewehrkolben auf den Boden, um sich darauf zu stützen.
»Was habt Ihr gesagt?«
Ungeduld flackerte über sein Gesicht.
»Ich habe gesagt, wir haben keine Zeit zu verlieren. Habt Ihr nicht gehört, wie der Mann gesagt hat, daß die Lunten brennen?«
»Was für Lunten? Wieso?« Sie sah seinen Blick zu der Tür in ihrem Rücken schnellen. Bevor er sich bewegen konnte, trat sie zurück in den Türdurchgang und hob den Gewehrlauf. Er wich instinktiv vor ihr zurück und stieß mit den Rückseiten seiner Beine an die Bank. Er fiel nach hinten und stieß an die Ketten, die an der Wand befestigt waren; leere Handeisen klirrten gegen den Backstein.
Der Schock begann, sich über sie zu stehlen, doch die Erinnerung an den weißglühenden Strom brannte immer noch in ihrem Rückgrat und hielt sie aufrecht.
»Ihr habt doch wohl nicht vor, mich umzubringen?« Er versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht; er konnte die Panik nicht ganz aus seinem Blick verbannen. Sie hatte gesagt, daß sie besser schlafen würde, wenn er tot war.
Die Freiheit ist schwer zu erringen, doch sie ist niemals die Frucht eines Mordes. Jetzt hatte sie ihre schwer erkämpfte Freiheit, und sie würde sie ihm nicht zurückgeben.
»Nein«, sagte sie und umfaßte das Gewehr fester, den Kolben fest in ihre Schulter geschmiegt. »Aber bei Gott, ich werde Euch in die Knie schießen und Euch hierlassen, wenn Ihr mir nicht auf der Stelle sagt, was zum Teufel hier vor sich geht!«
Er verlagerte sein Gewicht; sein kräftiger Körper schwebte in der Hocke, die blassen Augen auf sie gerichtet, abschätzend. Sie blockierte den kompletten Durchgang, ihre massige Gestalt füllte ihn von einer Wand bis zur anderen aus. Sie sah den Zweifel in seiner Haltung, die Anspannung seiner Schultern, als er daran dachte, sie zu überrennen, und spannte den Gewehrhahn mit einem einzigen, lauten Klick!
Er stand zwei Meter von der Mündung entfernt; zu weit weg, um es ihr mit einem Satz zu entreißen. Eine Bewegung, ein Zug ihres Fingers am Abzug. Sie konnte ihn nicht verfehlen, und er wußte es.
Seine Schultern sackten zusammen.
»Das Lagerhaus da oben ist mit Schießpulver und Lunten präpariert«, sagte er, seine Stimme schnell und scharf, begierig, es hinter sich zu bringen. »Ich kann nicht sagen, wie lange noch, aber es geht gleich mit einem allmächtigen Knall hoch. Um Himmels willen, laßt mich hier heraus!«
»Warum?« Ihre Hände hielten das Gewehr, verschwitzt, aber ruhig. Das Baby bewegte sich und erinnerte sie daran, daß auch sie keine Zeit zu verlieren hatte. Doch sie würde eine Minute riskieren, um es zu erfahren. Sie mußte es um John Greys willen wissen, dessen Körper leblos hinter ihr auf dem Boden lag. »Ihr habt gerade einen wunderbaren Mann umgebracht, und ich will wissen, warum
Er machte eine frustrierte Geste.
»Die Schmuggelei!« sagte er. »Wir waren Partner, der Sergeant und ich. Ich habe ihm billige Schmuggelware besorgt, er hat sie mit dem Siegel der Krone versehen. Er stahl lizensierte Ware, ich habe sie für einen guten Preis verkauft und den Erlös mit ihm geteilt.«
»Weiter.«
Er tänzelte fast vor Ungeduld.
»Ein Soldat - Hodgepile - war uns auf der Spur und hat herumgefragt. Murchison konnte nicht sagen, ob er es weitererzählt hatte, aber es war nicht klug, es darauf ankommen zu lassen, nicht, nachdem man mich festgenommen hatte. Der Sergeant hat den letzten Alkohol aus dem Lagerhaus geholt, ihn durch Terpentinfässer ersetzt und die Lunten gelegt. Alles fliegt in die Luft, niemand kann sagen, daß da etwas anderes als Brandy gebrannt hat - keine Spur von einem Diebstahl. Das ist es, das ist alles. Jetzt laßt mich gehen!«
»Gut.« Sie senkte die Muskete ein paar Zentimeter, entspannte sie aber noch nicht. »Was ist mit ihm?« Sie wies kopfnickend auf den am Boden liegenden Sergeant, der zu prusten und zu murmeln begann.
Er sah sie verständnislos an.
»Was ist mit ihm?«
»Nehmt Ihr ihn nicht mit?«
»Nein.« Er stahl sich auf die eine Seite, hielt Ausschau nach einem Weg an ihr vorbei. »Um des lieben Himmels willen, Frau, laßt mich und rettet Euch selbst! Da oben sind zwölf Zentner Pech und Terpentin. Es wird hochgehen wie eine Bombe!«
»Aber er lebt noch! Wir können ihn doch nicht hierlassen!«
Bonnet warf ihr einen völlig entnervten Blick zu und durchquerte dann mit zwei Schritten den Raum. Er bückte sich, riß dem Sergeant den Dolch aus dem Gürtel und zog ihn fest über seine fette Kehle, genau über der ledernen Halsbinde. Blut spritzte wie Gischt auf Bonnets Hemd und sprühte gegen die Wand.
»So«, sagte er und richtete sich auf. »Jetzt lebt er nicht mehr. Laßt ihn.«
Er ließ den Dolch fallen, schob sie zur Seite und sprang mit einem Satz hinaus in den Korridor. Sie konnte hören, wie sich seine Schritte entfernten, schnell und schallend auf dem Backstein.
Der Schock der Aktion und Reaktion ließ sie am ganzen Leib erzittern, und sie stand eine Sekunde lang still, während sie auf John Greys Körper hinabstarrte. Trauer erfaßte sie, und ihr Bauch ballte sich fest zusammen. Sie fühlte keinen Schmerz, doch jede Faser in ihr hatte sich zusammengezogen; ihr Bauch wölbte sich vor, als hätte sie einen Basketball verschluckt. Sie fühlte sich atemlos, zu keiner Bewegung fähig.
Nein, dachte sie eindeutig an das Kind in ihr gerichtet. Ich habe keine Wehen, absolut, ganz bestimmt nicht. Ich lasse es nicht zu. Bleib, wo du bist. Ich habe jetzt keine Zeit.
Sie trat zwei Schritte in den Korridor hinaus, dann blieb sie stehen. Nein, sie mußte zumindest nachsehen, sichergehen. Sie drehte sich zurück und kniete sich neben John Greys Körper. Er hatte tot ausgesehen, als sie ihn anfangs dort liegen gesehen hatte, und das war immer noch so; er hatte sich weder bewegt noch auch nur gezuckt, seit sie seinen Körper entdeckt hatte.
Sie beugte sich vor, konnte aber kaum über ihren Kugelbauch hinüberreichen. Sie ergriff seinen Arm und zog an ihm, versuchte, ihn umzudrehen. Er war zwar ein kleiner, feinknochiger Mann, doch er war trotzdem schwer. Sein Körper kippte nach oben, rollte schlaff mit baumelndem Kopf auf sie zu, und ihr sank erneut das Herz, als sie seine halb geschlossenen Augen und seinen offenstehenden Mund sah. Doch sie griff unter seine Kinnlade und suchte hektisch nach einer Pulsstelle.
Wo zum Teufel war es? Sie hatte schon öfter gesehen, wie ihre Mutter das in Notfällen machte; schneller zu finden als ein Puls im Handgelenk, hatte sie gesagt. Sie konnte keinen finden. Wie lange noch, wie lange würden die Lunten brennen?
Sie wischte sich mit einer Falte ihres Umhangs über ihr klammes Gesicht und versuchte nachzudenken. Sie blickte hinter sich und schätzte die Entfernung zur Treppe ab. Himmel, konnte sie es riskieren, selbst wenn sie es allein tat? Die Vorstellung, in dem Moment oben im Lagerhaus aufzutauchen, wenn dort alles in die Luft ging - Sie warf einen Blick nach oben, bückte sich dann über ihre Aufgabe und versuchte es noch einmal. Sie drückte seinen Kopf weit nach hinten. Sie konnte die verdammte Vene unter seiner Haut sehen - da mußte der Puls doch sein, oder?
Einen Augenblick lang war sie sich nicht sicher, ob sie ihn spürte; es hätte einfach nur das Hämmern ihres eigenen Herzens sein können, das in ihren Fingerspitzen schlug. Doch nein, es war - ein anderer Rhythmus, schwach und flatternd. Er mochte fast tot sein, aber nicht ganz.
»Knapp vorbei«, murmelte sie, »ist auch daneben.« Sie hatte zu viel Angst, um übermäßig erleichtert zu sein; jetzt mußte sie ihn hinausschaffen. Sie kämpfte sich hoch und langte hinunter, um seine Arme zu ergreifen und ihn hinter sich herzuziehen. Doch dann hielt sie inne, denn die Erinnerung an etwas, das sie kurz zuvor gesehen hatte, durchdrang ihre Panik.
Sie wandte sich um und schleppte sich hastig in die Zelle zurück. Ohne das rot durchtränkte Bündel auf dem Boden anzusehen, schnappte sie nach der Laterne und trug sie in den Korridor zurück. Sie hielt sie hoch und erleuchtete die niedrige Backsteindecke. Ja, sie hatte recht gehabt!
Die Ziegel schwangen sich in gewölbten Buhnen empor und formten Arkaden auf beiden Seiten der Korridore. Alkoven und Zellen, Lagerraum. Über diesen Buhnen verliefen solide, zwanzig Zentimeter dicke Kiefernbalken. Darüber dicke Planken - und über den Planken eine Lage aus Ziegeln, die den Boden des Lagerhauses bildete.
Hochgehen wie eine Bombe, hatte Bonnet gesagt, aber hatte er recht? Terpentin war brennbar, Pech ebenfalls; ja, es würde wahrscheinlich explodieren, wenn es unter Druck in Brand geriet, aber nicht wie eine Bombe, nein. Lunten. Lunten im Plural. Lange Lunten offenbar, und wahrscheinlich führten sie zu kleinen Schießpulverdepots, das war der einzige Sprengstoff, den Murchison haben konnte; es gab noch keine hochexplosiven Stoffe.
Also würde das Schießpulver an mehreren Stellen explodieren und die umstehenden Fässer in Brand setzen. Doch die Fässer würden langsam brennen; sie hatte Sinclair einmal dabei zugesehen, wie er solche Fässer herstellte; die Dauben waren anderthalb Zentimeter dick und wasserdicht. Ihr fiel der Geruch beim Durchschreiten des Lagerhauses ein; ja, wahrscheinlich hatte Murchison bei ein paar Fässern die Stöpsel gezogen und das Terpentin auslaufen lassen, um dem Feuer nachzuhelfen.
Also würden die Fässer zwar brennen, doch sie würden wahrscheinlich nicht explodieren - oder wenn, dann nicht alle gleichzeitig. Das Atmen fiel ihr etwas leichter, während sie diese Überlegungen anstellte. Keine Bombe; vielleicht eine Serie von Feuerwerkskörpern.
Also. Sie holte tief Luft - so tief sie es mit Osbert im Weg konnte. Sie legte die Hand auf ihren Bauch und spürte, wie ihr dahinrasender Herzschlag sich zu verlangsamen begann.
Selbst wenn einige Fässer explodierten, würde sich der Druck der Explosion nach außen und nach oben richten, durch die dünnen Holzwände und das Dach. Nur ein kleiner Teil des Druckes würde nach unten abgeleitet werden. Und dieser - sie langte hinauf und drückte mit der Hand gegen einen Balken, um sich seiner Haltbarkeit zu versichern.
Sie setzte sich ganz plötzlich auf den Boden, und ihre Röcke blähten sich um sie herum.
»Ich glaube, es wird gutgehen«, flüsterte sie, ohne zu wissen, ob sie John, das Baby oder sich selbst meinte.
Vor Erleichterung zitternd saß sie einen Augenblick zusammengesunken da, wälzte sich dann umständlich auf die Knie und begann, mit zittrigen Fingern Erste Hilfe zu leisten.
Sie mühte sich immer noch damit ab, einen Streifen vom Saum ihres Unterrockes abzureißen, als sie die Schritte hörte. Sie näherten sich schnell, rannten fast. Sie drehte sich abrupt zur Treppe, doch nein - die Schritte kamen aus der anderen Richtung, hinter ihr.
Sie wirbelte herum und sah Stephen Bonnets Gestalt aus der Dunkelheit aufragen.
»Lauft weg!« schrie er sie an. »Um des lieben Himmels willen, warum seid Ihr noch nicht fort?«
»Weil es hier sicher ist«, sagte sie. Sie hatte die Muskete neben Greys Körper auf den Boden gelegt; sie bückte sich und ergriff sie, hob sie an ihre Schulter. »Geht.«
Er starrte sie mit halbgeöffnetem Mund aus dem Dämmerlicht an.
»Sicher? Was für eine Idiotin! Habt Ihr nicht gehört -«
»Ich habe es gehört, aber Ihr irrt Euch. Es wird nicht explodieren. Und selbst wenn, wäre es hier unten noch sicher.«
»Unsinn! Lieber Himmel! Selbst wenn der Keller nicht in die Luft fliegt, was geschieht, wenn das Feuer durch den Boden kommt?«
»Das geht nicht, er ist aus Stein.« Sie ruckte mit dem Kinn nach oben, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Hier hinten ja - vorne am Fluß ist er aus Holz, genau wie oben am Kai. Er wird abbrennen und einstürzen. Und was geschieht dann hier hinten, häh? Wird Euch nicht viel nützen, daß die Decke hält, wenn der Rauch angewälzt kommt, um Euch zu ersticken!«
Sie spürte, wie sich eine Welle der Übelkeit in ihrem Inneren regte.
»Er ist offen? Der Keller ist nicht versiegelt? Das andere Ende des Korridors ist offen?« Noch bevor sie den Satz beendete, war ihr klar, daß er natürlich offen war - er war in diese Richtung gerannt, zum Fluß, nicht zur Treppe.
»Ja! Jetzt kommt!« Er machte einen Satz nach vorn und griff nach ihrem Arm, doch sie fuhr zurück bis an die Wand, die Gewehrmündung auf ihn gerichtet.
»Ich gehe nicht ohne ihn.« Sie leckte sich die trockenen Lippen und wies kopfnickend auf den Boden.
»Der Mann ist tot!«
»Das ist er nicht! Hebt ihn auf!«
Eine außergewöhnliche Mischung von Gefühlen überzog Bonnets Gesicht; Wut und Erstaunen waren die stärksten unter ihnen.
»Hebt ihn auf!« wiederholte sie laut. Er stand bewegungslos da und starrte sie an. Dann hockte er sich ganz langsam hin, nahm John Greys schlaffe Gestalt in die Arme, schob seine Schulter unter Greys Bauch und hievte ihn hoch.
»Dann kommt jetzt«, sagte er und verschwand in der Dunkelheit, ohne sie noch einmal anzusehen. Sie zögerte eine Sekunde lang, ergriff dann die Laterne und folgte ihm.
Nach zwanzig Metern roch sie Rauch. Der gemauerte Korridor verlief nicht gerade, er verzweigte und wand sich, damit man in die unzähligen Kellerräume gelangen konnte. Doch er führte beständig abwärts auf das Flußufer zu. Während sie den vielen Windungen hinunter folgten, verdichtete sich der Rauchgeruch; eine übelriechende Dunstschicht trieb träge um sie herum, unübersehbar im Licht der Laterne.
Brianna hielt die Luft an und versuchte, nicht zu atmen. Trotz Greys Gewicht bewegte sich Bonnet schnell. Sie konnte kaum mithalten, da sie mit dem Gewehr und der Laterne bepackt war, doch sie hatte im Augenblick nicht vor, einen dieser Gegenstände zurückzulassen. Ihr Bauch zog sich wieder zusammen, noch einer dieser atemlosen Momente.
»Noch nicht, habe ich gesagt!« knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Sie hatte einen Augenblick stehenbleiben müssen; Bonnet war vor ihr ihm Dunst verschwunden. Offenbar hatte er aber das Nachlassen des Laternenlichts bemerkt - sie hörte ihn irgendwo vor sich rufen.
»Mensch! Brianna!«
»Ich komme!« rief sie und beeilte sich, so gut es ging. Sie watschelte und gab es auf, den Anschein von Eleganz erwecken zu wollen. Der Rauch war viel dichter und irgendwo konnte sie ein leises Knistern hören - über ihr? Vor ihnen?
Sie atmete tief durch, obwohl es so qualmte. Sie holte stoßweise Luft und roch Wasser. Feuchtigkeit und Schlamm, totes Laub und frische Luft schnitten wie ein Messer durch den rauchigen Dunst.
Ein schwaches Glühen leuchtete durch den Rauch. Es nahm zu, als sie darauf zueilten, und ließ das Licht ihrer Laterne verblassen. Dann ragte ein dunkles Rechteck vor ihnen auf. Bonnet machte eine Wendung, ergriff ihren Arm und zog sie an die Luft hinaus.
Sie begriff, daß sie unter dem Kai waren; dunkles Wasser plätscherte vor ihnen und Licht tanzte darauf. Spiegelungen, das Licht kam von oben und das Knistern der Flammen ebenfalls. Bonnet blieb weder stehen, noch ließ er ihren Arm los; er zog sie zur Seite in das hohe, naßkalte Gras und auf das schlammige Ufer. Nach ein paar Schritten ließ er sie los, doch sie folgte ihm. Sie holte japsend Luft, glitt rutschend aus und stolperte über ihre durchnäßten Rocksäume.
Schließlich blieb er im Schatten der Bäume stehen. Er bückte sich und ließ Greys Körper zu Boden gleiten. Er blieb einen Augenblick vornübergebeugt stehen, und seine Brust hob und senkte sich, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Brianna stellte fest, daß sie beide Männer deutlich sehen konnte, jede Knospe an den Zweigen des Baumes sehen konnte. Sie drehte sich um, blickte zurück und sah, daß das Lagerhaus erleuchtet war wie eine Kürbislaterne und die Flammen durch Risse in den Holzwänden schlugen. Die riesigen Türflügel waren offengelassen worden; während sie hinsah, schob der heiße Luftzug einen davon auf, und kleine Feuerzungen begannen, über das Dock zu kriechen, täuschend klein und verspielt.
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter, wirbelte herum und sah in Bonnets Gesicht.
»Ein Schiff wartet auf mich«, sagte er. »Ein kleines Stück flußaufwärts. Wollt Ihr vielleicht mitkommen?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hielt nach wie vor das Gewehr im Arm, doch sie brauchte es nicht länger. Er stellte keine Bedrohung mehr für sie dar.
Er ging immer noch nicht, sondern verharrte und starrte sie an, die Stirn leicht gerunzelt. Sein Gesicht war verhärmt, und das Feuer höhlte es aus und füllte es mit Schatten. Die Wasseroberfläche stand jetzt in Flammen, und kleine Feuerzungen flackerten auf dem dunklen Wasser auf, als sich ein Terpentinfilm darauf ausbreitete.
»Ist es wahr?« sagte er abrupt. Er bat nicht um Erlaubnis, sondern legte ihr beide Hände auf den Bauch. Bei Bonnets Berührung zog er sich erneut zusammen, rundete sich erneut in einem atemberaubenden, schmerzlosen Ziehen, und ein erstaunter Ausdruck überzog das Gesicht des Mannes.
Sie fuhr vor seiner Berührung zurück, zog ihren Umhang zusammen und nickte, unfähig zu sprechen.
Er ergriff sie am Kinn und sah ihr ins Gesicht - versuchte er vielleicht abzuschätzen, ob sie die Wahrheit sprach? Dann ließ er sie los, steckte sich einen Finger in den Mund und tastete in seiner Wangenhöhle herum.
Er nahm ihre Hand und legte ihr etwas Hartes, Festes in die Handfläche.
»Dann ist das für seinen Unterhalt«, sagte er und grinste sie an. »Paß gut auf ihn auf, Schätzchen!«
Und dann war er fort, schritt langbeinig das Ufer hinauf, vom flakkernden Licht wie ein Dämon umrissen. Das ins Wasser strömende Terpentin hatte Feuer gefangen, und aufgewühlte Schwaden aus scharlachrotem Licht schossen himmelwärts, schwimmende Feuersäulen, die das Ufer taghell erleuchteten.
Sie erhob die Muskete halb, den Finger am Abzug. Er war nicht mehr als zwanzig Meter von ihr entfernt, ein perfekter Schuß. Nicht von deiner Hand. Sie senkte das Gewehr und ließ ihn ziehen.
Das Lagerhaus stand jetzt völlig in Flammen; die Hitze schlug ihr gegen die Wangen und blies ihr das Haar aus dem Gesicht.
»Ich habe ein Schiff flußaufwärts«, hatte er gesagt. Sie blinzelte in die Feuersbrunst. Das Feuer füllte fast den ganzen Fluß aus, ein riesiger, schwimmender Film, der von Ufer zu Ufer in einem feurigen Garten voller Flammenknospen erblühte. Nichts konnte diese blendende Mauer aus Licht durchdringen.
Ihre andere Faust umschloß immer noch den Gegenstand, den er ihr gegeben hatte. Sie öffnete die Hand und sah auf den feuchten, schwarzen Diamanten hinab, der in ihrer Handfläche glitzerte. Das Feuer glühte rot und blutig in seinen Facetten auf.
Der Ruf Der Trommel
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