34
Lallybroch
Schottland, Juni 1769
Der Name des Rotfuchses war Brutus, doch
glücklicherweise schien er bisher nicht auf den Charakter des
Pferdes hinzuweisen. Es war zu gesetzt, um ein Verschwörer zu sein,
stark und zuverlässig - oder wenn nicht zuverlässig, so doch
zumindest in sein Schicksal ergeben. Es hatte sie ohne einen
Fehltritt durch die sommergrünen Täler und felsigen Schluchten
getragen, sie höher und höher hinaufgebracht, auf den guten
Straßen, die der englische General Wade fünfzig Jahre zuvor gebaut
hatte, und den schlechten Straßen jenseits der Reichweite des
Generals. Sie waren durch überwachsene Bachläufe geplanscht und in
Höhen gelangt, wo die Straßen zu Rotwildwechseln im Moor
dahinschwanden.
Brianna legte die Zügel auf Brutus’ Hals, um ihn
nach der letzten Steigung ausruhen zu lassen, und saß still da,
während sie das kleine Tal zu ihren Füßen überblickte. Das große,
weißgetünchte Bauernhaus stand friedlich inmitten blaßgrüner Hafer-
und Gerstenfelder, seine Fenster und Schornsteine waren in grauen
Stein gefaßt, der ummauerte Gemüsegarten und die zahlreichen
Nebengebäude scharten sich um das Haus wie Küken um eine große,
weiße Henne.
Sie hatte es noch nie gesehen, doch sie hatte
keinen Zweifel. Sie hatte oft genug gehört, wie ihre Mutter
Lallybroch beschrieb. Und außerdem war es meilenweit das einzige
größere Haus; in den letzten drei Tagen hatte sie nur winzige,
steinerne Bauernkaten gesehen, viele verlassen und
zusammengefallen, manche nur noch feuergeschwärzte Ruinen.
Aus einem Schornstein unten stieg Rauch auf; es war
jemand zu Hause. Es war fast Mittag; vielleicht waren alle drinnen
und aßen?
Sie schluckte; ihr Mund war trocken vor Aufregung
und Erwartungsfreude. Wen würde sie zuerst sehen? Ian? Jenny? Und
wie würden sie ihr Erscheinen und ihre Erklärungen aufnehmen?
Sie hatte sich entschlossen, einfach die Wahrheit
zu sagen, zumindest
darüber, wer sie war und was sie hier suchte. Ihre Mutter hatte
ihr gesagt, wie sehr sie ihrem Vater ähnelte; sie würde auf diese
Ähnlichkeit zählen müssen, um sie zu überzeugen. Bei den
Highlandern, denen sie bis jetzt begegnet war, hatten ihr Aussehen
und ihre fremdartige Aussprache Argwohn erregt; vielleicht würden
die Murrays ihr nicht glauben. Dann erinnerte sie sich und berührte
ihre Rocktasche; nein, sie würden ihr glauben; schließlich hatte
sie einen Beweis.
Ein plötzlicher Gedanke durchzuckte sie. Konnte es
sein, daß sie jetzt hier waren? Jamie Fraser und ihre Mutter? Die
Idee war ihr noch gar nicht gekommen. Sie war so fest davon
überzeugt gewesen, daß sie in Amerika waren - aber das mußte ja
nicht so sein. Sie wußte nur, daß sie 1776 in Amerika sein
würden; wo sie jetzt waren, war nicht zu sagen.
Brutus warf den Kopf hoch und wieherte laut. Hinter
ihnen erklang ein antwortendes Wiehern, und Brianna nahm die Zügel
auf, als Brutus sich umdrehte. Er hob den Kopf und wieherte erneut,
und seine Nüstern weiteten sich interessiert, als ein hübscher
Brauner um die Straßenbiegung trabte, der einen hochgewachsenen, in
Braun gekleideten Mann trug.
Der Mann hielt sein Pferd einen Augenblick an, gab
ihm dann aber sacht die Ferse und kam langsam näher. Sie sah, daß
er jung war und trotz seines Hutes tiefgebräunt; er mußte viel Zeit
unter freiem Himmel verbringen. Seine Rockschöße waren zerknittert
und seine Strümpfe mit Staub und Fuchsschwanzgräsern übersät.
Er näherte sich argwöhnisch und nickte, als er bis
auf Sprechweite herangekommen war. Dann sah sie, wie er sich
überrascht versteifte, und sie lächelte vor sich hin.
Er hatte gerade gemerkt, daß sie eine Frau war. Die
Männerkleider, die sie trug, würden aus der Nähe niemanden
täuschen; »jungenhaft« war das letzte Wort, das man benutzen würde,
um ihre Figur zu beschreiben. Doch sie erfüllten hinlänglich ihren
Zweck - man konnte bequem damit reiten, und aufgrund ihrer Größe
sah sie aus der Entfernung wie ein Mann zu Pferd aus.
Der Mann zog seinen Hut und verneigte sich vor ihr;
die Überraschung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er war
nicht wirklich gutaussehend, doch er hatte ein freundliches,
kraftvolles Gesicht mit fedrigen Brauen - die er zur Zeit
hochgezogen hatte - und braune Augen unter einer dichten Kappe aus
lockigem, schwarzem Haar, das vor Gesundheit glänzte.
»Madame«, sagte er. »Kann ich Euch helfen?«
Sie nahm ebenfalls den Hut ab und lächelte ihn
an.
»Das hoffe ich«, sagte sie. »Ist das hier
Lallybroch?«
Er nickte, und Argwohn gesellte sich zu seiner
Überraschung, als er ihren merkwürdigen Akzent hörte.
»So ist es. Habt Ihr hier zu tun?«
»Ja«, sagte sie fest. »Das habe ich.« Sie richtete
sich im Sattel auf und holte tief Luft. »Ich bin Brianna… Fraser.«
Es fühlte sich merkwürdig an, es laut zu sagen; sie hatte den Namen
noch nie benutzt. Doch es fühlte sich erstaunlich richtig an.
Der Argwohn in seinem Gesicht verblaßte, nicht aber
die Verwunderung. Er nickte zurückhaltend.
»Euer Diener, Ma’am. Jamie Fraser Murray«, fügte er
formell hinzu und verbeugte sich, »von Broch Tuarach.«
»Der kleine Jamie!« rief sie aus, und ihre
Heftigkeit erschreckte ihn. »Du bist der kleine Jamie!«
»So nennt mich meine Familie«, sagte er steif und
vermittelte ihr erfolgreich den Eindruck, daß er etwas dagegen
hatte, wenn fremde Frauen in unschicklicher Kleidung den Namen
leichtfertig in den Mund nahmen.
»Erfreut, dich kennenzulernen«, sagte sie
unbeeindruckt. Sie beugte sich im Sattel vor und streckte ihm die
Hand hin. »Ich bin deine Cousine.«
Seine Augenbrauen, die sich während der Begrüßung
gesenkt hatten, fuhren wieder hoch. Er sah ihre ausgestreckte Hand
an, dann, ungläubig, ihr Gesicht.
»Jamie Fraser ist mein Vater«, sagte sie.
Seine Kinnlade fiel herab, und einen Augenblick
lang glotzte er sie einfach nur an. Er betrachtete sie eingehend
von Kopf bis Fuß, warf einen genauen Blick auf ihr Gesicht, und
dann breitete sich langsam ein Lächeln in dem seinen aus.
»Hol mich der Teufel, wenn er es nicht ist!« sagte
er. Er ergriff ihre Hand und drückte sie so fest, daß die Knochen
knirschten. »Himmel, du siehst genauso aus wie er!«
Er lachte, und die Freude ließ sein Gesicht
verwandelt aussehen.
»Himmel!« sagte er. »Meine Mutter bekommt
Zustände!«
Die mächtige Kletterrose, die den Eingang
überwucherte, hatte gerade ausgeschlagen, und Hunderte von
winzigen, grünen Knospen waren in der Entstehung. Brianna blickte
nach oben, während sie dem kleinen Jamie folgte, und ihr Blick fiel
auf den Türsturz.
Fraser 1716 war in das verwitterte Holz
geschnitzt. Der Anblick elektrisierte sie, und sie blieb einen
Augenblick stehen, starrte den
Namen an und spürte den sonnengewärmten Balken unter ihrer
Hand.
»Alles in Ordnung, Cousine?« Jamie hatte sich
umgewandt und sah sie fragend an.
»Bestens.« Sie eilte hinter ihm ins Haus und zog
automatisch den Kopf ein, obwohl es nicht nötig war.
»Wir sind fast alle groß, bis auf Mama und die
kleine Kitty«, sagte Jamie lächelnd, als er sah, wie sie sich
bückte. »Mein Großvater - und deiner - hat das Haus für seine Frau
gebaut, die auch eine sehr große Frau war. Es dürfte das einzige
Haus in den Highlands sein, bei dem du durch die Tür gehen kannst,
ohne den Kopf einzuziehen oder ihn dir zu stoßen.«
…und deiner. Bei seinen beiläufigen Worten
wurde ihr trotz der Kühle im Flur plötzlich warm ums Herz.
Frank Randall war ein Einzelkind gewesen und ihre
Mutter ebenfalls; sie hatte keine nahen Verwandten - nur ein paar
ältere Großtanten in England und ein paar in Australien. Als sie
sich auf den Weg machte, war sie nur davon ausgegangen, ihren Vater
zu finden; daß sie gleichzeitig eine ganze Familie entdecken würde,
war ihr nicht klar gewesen.
Eine Menge von Familie. Als sie den Flur mit
seiner narbigen Wandverkleidung betrat, öffnete sich eine Tür, und
vier kleine Kinder kamen herausgerannt, gefolgt von einer
hochgewachsenen, jungen Frau mit braunen Locken.
»Ah, weg mit euch, schnell weg, ihr kleinen
Fische!« rief sie und lief ihnen mit ausgestreckten Händen
hinterher, die wie Zangen auf- und zuschnappten. »Gleich frißt euch
der böse Krebs, schnapp, schnapp!«
Die Kinder flohen kichernd und kreischend durch den
Flur und blickten mit ängstlichem Entzücken über ihre Schultern
zurück. Eins von ihnen, ein kleiner Junge von vielleicht vier
Jahren, sah Brianna und Jamie im Eingang stehen. Er änderte sofort
seine Richtung, raste durch den Flur wie eine durchgehende
Lokomotive und rief, »Papa, Papa, Papa!«
Ohne Rücksicht auf Verluste warf sich der Junge
gegen Jamies Taille. Letzterer fing ihn geschickt auf und hob den
strahlenden, kleinen Jungen hoch.
»Aber, aber, Matthew«, sagte er streng. »Was für
Manieren bringt dir deine Tante Janet bei? Was soll denn deine neue
Cousine von dir denken, wenn sie dich hier herumsausen sieht wie
ein Huhn, das hinter seinen Körnern her ist?«
Der kleine Junge kicherte noch lauter; die
Ermahnung erschreckte
ihn nicht im mindesten. Er sah Brianna verstohlen an, fing ihren
Blick auf und vergrub sein Gesicht prompt an der Schulter seines
Vaters. Langsam hob er den Kopf und riskierte einen weiteren Blick.
Er riß die Augen auf.
»Pa!« sagte er. »Ist das eine Dame?«
»Natürlich; ich habe dir doch gesagt, sie ist deine
Cousine.«
»Aber sie hat Hosen an!« Matthew starrte sie
schockiert an. »Eine Dame trägt keine Hosen!«
Die junge Frau sah ganz danach aus, als teilte sie
diese Meinung, doch sie unterbrach ihn entschlossen und setzte sich
in Bewegung, um dem Vater den Jungen abzunehmen.
»Ja, und sie hat bestimmt einen guten Grund dafür,
aber man sagt den Leuten so etwas nicht ins Gesicht. Geh und wasch
dich, aye?« Sie stellte ihn auf den Boden und schob ihn sanft an.
Er bewegte sich nicht, sondern machte kehrt, um Brianna
anzuglotzen.
»Wo ist Oma, Matt?« fragte sein Vater.
»Im Wohnzimmer mit Opa und einer Dame und einem
Mann«, antwortete Matthew prompt. »Sie haben zwei Kannen Kaffee
getrunken und ein Tablett mit Scones und einen ganzen Dundee-Kuchen
gegessen, aber Mama sagt, sie bleiben noch, weil sie hoffen, daß
sie hier auch noch zu Abend essen können, und viel Spaß, weil es
heute nur Suppe mit ein bißchen Haxe gibt, und verdammt - oh«, er
hielt sich die Hand vor den Mund und sah seinen Vater schuldbewußt
an, »und verflixt, wenn sie ihnen etwas von der Stachelbeertorte
abgibt, egal, wie lange sie bleiben.«
Jamie sah seinen Sohn scharf an und blickte dann
fragend zu seiner Schwester. »Eine Dame und ein Mann?«
Janet zog ein angewidertes Gesicht.
»Die Meckerziege und ihr Bruder«, sagte er.
Jamie grunzte und sah dabei Brianna an.
»Ich schätze, dann freut sich Mama wohl über eine
Entschuldigung, von ihnen wegzukommen.« Er nickte Matthew zu. »Geh
und hol deine Oma, Junge. Sag ihr, wir haben Besuch, den sie sicher
sehen möchte. Und sag’s anständig, aye?« Er drehte Matthew zur
Rückseite des Hauses um und entließ ihn mit einem sanften Klaps auf
den Po.
Der Junge ging los, allerdings langsam und warf
Brianna dabei einen Blick voll gebannter Faszination zu.
Jamie wandte sich lächelnd wieder an Brianna.
»Das war mein Ältester«, sagte er. »Und das« - er
wies auf die junge Frau -« ist meine Schwester, Janet Murray. Janet
- Mistress Brianna Fraser.«
Brianna wußte nicht, ob sie ihr die Hand anbieten
sollte oder nicht und benügte sich statt dessen mit einem
Kopfnicken und einem Lächeln. »Ich freue mich sehr, dich
kennenzulernen«, sagte sie freundlich.
Janet riß die Augen vor Erstaunen weit auf, ob über
Briannas Worte oder ihren Akzent, konnte Brianna nicht sagen.
Jamie grinste über die überraschte Reaktion seiner
Schwester.
»Du errätst niemals, wer sie ist, Jen«, sagte er.
»Nicht in tausend Jahren!«
»Cousine«, murmelte sie und betrachtete ihren Gast
unverhohlen von oben bis unten. »Sicher, sie sieht aus wie eine
MacKenzie. Aber du sagst, sie heißt Fraser…« Ihre Augen weiteten
sich plötzlich.
»Oh, das kann nicht sein«, sagte sie zu Brianna.
Ein Lächeln breitete sich über ihr ganzes Gesicht und verstärkte
ihre Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. »Das kann nicht
sein!«
Das Glucksen ihres Bruders wurde durch das Geräusch
einer zufallenden Tür und den Klang leiser Schritte auf den
Flurdielen unterbrochen.
»Aye, Jamie? Mattie sagt, wir haben einen Gast…«
Die leise, energische Stimme erstarb auf einmal. Brianna blickte
auf, und das Herz steckte ihr plötzlich im Hals.
Jenny Murray war sehr klein - gerade einen Meter
sechzig groß - und so feinknochig wie ein Spatz. Sie stand da und
starrte Brianna mit leicht geöffnetem Mund an. Ihre Augen waren
tiefblau wie Enziane und fielen um so mehr auf, als ihr Gesicht
papierweiß geworden war.
»O je«, sagte sie leise. »O je.« Brianna lächelte
zögernd und nickte ihrer Tante zu - der Freundin ihrer Mutter, der
geliebten, einzigen Schwester ihres Vaters. Oh bitte! dachte
sie, von einer plötzlichen Sehnsucht erfüllt, die so intensiv war
wie sie unerwartet kam. Bitte hab’ mich gern, bitte freu’ dich,
daß ich hier bin!
Der kleine Jamie verbeugte sich ausgiebig vor
seiner Mutter und strahlte.
»Mama, darf ich dir…«
»Jamie Fraser! Ich wußte, daß er wieder da ist -
ich hab’s dir doch gesagt, Jenny Murray!«
Vom Ende des Flurs kam eine Stimme in schrillem
vorwurfsvollem Tonfall. Brianna blickte erstaunt auf und sah eine
Frau aus dem Schatten auftauchen, die vor Empörung knisterte.
»Amyas Kettrik hat mir gesagt, daß er deinen
Bruder in der Nähe von Balriggan hat vorbeireiten sehen! Aber nein,
du wolltest es ja
nicht glauben, nicht wahr? Jenny - hast mich Dummkopf genannt,
hast gesagt, Amyas ist blind und Jamie in Amerika! Lügner seid ihr,
alle beide, du und Ian. Versucht, den verschlagenen Feigling in
Schutz zu nehmen! Hobart!« rief sie und wandte sich zur Rückseite
des Hauses. »Hobart! Komm sofort her!«
»Sei still!« sagte Jenny ungeduldig. »Du
bist ein Dummkopf, Laoghaire!« Sie riß die Frau am Ärmel und
drängte sie, sich umzudrehen. »Und was das Blindsein angeht, sieh
sie dir doch an! Bist du schon so verkalkt, daß du keinen
erwachsenen Mann mehr von einem Mädchen in Hosen unterscheiden
kannst, zum Kuckuck?« Ihr Blick war immer noch fest auf Brianna
gerichtet, ihre Augen von einem spekulativen Leuchten
erfüllt.
»Ein Mädchen?«
Die andere Frau drehte sich um und sah Brianna
stirnrunzelnd an. Dann blinzelte sie kurz, während ihre Wut
verschwand und ihr rundes Gesicht Überraschung zeigte. Sie
schnappte nach Luft und bekreuzigte sich.
»Jesses, Maria und Josef! Wer in Gottes Namen seid
Ihr?«
Brianna holte tief Luft, blickte von der einen Frau
zur anderen und antwortete. Sie versuchte, ihre Stimme nicht
zittern zu lassen.
»Mein Name ist Brianna. Ich bin Jamie Frasers
Tochter.«
Beide Frauen rissen die Augen auf. Die Frau namens
Laoghaire wurde langsam rot und schien anzuschwellen. Sie öffnete
und schloß den Mund auf der vergeblichen Suche nach Worten.
Jenny dagegen trat einen Schritt vor, ergriff
Briannas Hände und sah in ihr Gesicht hoch. Ihre Wangen erblühten
schwach rot, und plötzlich wirkte sie jung.
»Jamies? Du bist wirklich Jamies Mädchen?« Sie
drückte Briannas Hände zwischen den ihren.
»Sagt meine Mutter.«
Brianna spürte das antwortende Lächeln in ihrem
eigenen Gesicht. Jennys Hände waren kühl, doch Brianna fühlte sich
trotzdem von einer Wärme durchströmt, die sich von ihren Händen bis
in ihre Brust ausbreitete. Sie fing den schwachen, würzigen Duft
von Gebäck in den Falten von Jennys Kleid auf und etwas Erdigeres
und Durchdringenderes, das wohl der Geruch von Schafwolle sein
mußte.
»Ach ja?« Laoghaire hatte ihre Stimme und ihre
Selbstkontrolle wiedergefunden. Sie trat einen Schritt vor und
kniff die Augen zusammen. »Jamie Fraser ist dein Vater, aye? Und
wer genau ist deine Mutter?«
Brianna erstarrte.
»Seine Frau«, sagte sie. »Wer denn sonst?«
Laoghaire warf den Kopf zurück und lachte. Es war
kein angenehmes Lachen.
»Wer denn sonst?« äffte sie Brianna nach. »Stimmt,
wer denn sonst, Kleine? Und welche Frau meinst du?«
Brianna spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht
wich und ihre Hände sich in Jennys anspannten, als die Flut der
Einsicht sie durchspülte. Du Idiotin, dachte sie. Du riesige
Idiotin. Es waren zwanzig Jahre gewesen! Natürlich hatte er wieder
geheiratet! Natürlich. Egal, wie sehr er Mama geliebt hatte.
Diesem Gedanken folgte ein anderer, viel
schrecklicherer, auf dem Fuße. Hat sie ihn gefunden? Oh, Gott,
hat sie ihn mit einer neuen Frau gefunden, und er hat sie
fortgeschickt? Oh, Gott, wo ist sie?
Sie wandte sich blindlings um, ohne zu wissen, wo
sie hinsollte, was sie tun sollte, einfach nur sicher, daß sie
sofort hier weg, ihre Mutter finden mußte.
»Ich nehme an, du möchtest dich hinsetzen, Cousine.
Komm ins Wohnzimmer, aye?« Jamies Stimme erklang fest in ihrem Ohr,
und sein Arm war um sie gelegt, drehte sie um und schob sie durch
eine der Türen, die vom Flur abgingen.
Sie hörte das Durcheinander der Stimmen um sie
herum kaum, die Verwirrung der Erklärungen und Vorwürfe, die um sie
herum losgingen wie Schnüre mit Silvesterkrachern. Sie erblickte
einen kleinen, gepflegten Mann, dessen Gesicht aussah wie das des
Weißen Kaninchens, nämlich völlig überrascht, und einen weiteren,
viel größeren Mann, der aufstand, als sie ins Zimmer trat, und auf
sie zukam, das verwitterte freundliche Gesicht voller
Sorgenfalten.
Es war der hochgewachsene Mann, der den Lärm
beendete, die Anwesenden zur Ordnung rief und dann dem
Stimmengewirr eine Erklärung für ihre Anwesenheit entrang.
»Jamies Tochter?« Er sah sie interessiert an, sah
aber viel weniger überrascht aus als alle anderen bis jetzt. »Wie
heißt du, a leannan?«
»Brianna.« Sie war zu aufgewühlt, um ihn
anzulächeln, doch es schien ihm nichts auszumachen.
»Brianna.« Er ließ sich auf einem Kniehocker
nieder, hieß sie sich ihm gegenüber hinsetzen, und sie sah, daß er
ein Holzbein hatte, das steif zu einer Seite hin abgewinkelt war.
Er ergriff ihre Hand und lächelte sie an, und das warme Leuchten in
seinen sanften, braunen Augen gab ihr zumindest für einen
Augenblick das Gefühl, etwas sicherer zu sein.
»Ich bin dein Onkel Ian. Herzlich willkommen.«
Unwillkürlich
drückte ihre Hand die seine fester und klammerte sich an die
Zuflucht, die er ihr anzubieten schien. Er zuckte mit keiner Wimper
und zog sie auch nicht zurück, sondern betrachtete Brianna nur
sorgfältig und schien belustigt über ihre Kleidung zu sein.
»Hast in der Heide geschlafen, was?« sagte er
angesichts des Schmutzes und der Pflanzenflecken auf ihren
Kleidern. »Du scheinst weit gereist zu sein, um uns zu besuchen,
Nichte.«
»Sie sagt, sie ist deine Nichte«, sage
Laoghaire. Sie hatte sich von ihrem Schock erholt und blickte über
Ians Schulter, das runde Gesicht vor Abscheu verzogen. »Bestimmt
ist sie nur gekommen, um zu sehen, was es hier zu holen
gibt.«
»Ich würde nicht von mir auf andere schließen«,
sagte Ian nachsichtig. Er drehte sich um und sah sie an. »Oder
haben du und Hobard nicht vor einer halben Stunde noch versucht,
fünfhundert Pfund aus mir herauszuquetschen?«
Ihre Lippen preßten sich fest zusammen und die
Linien, die ihren Mund einklammerten, vertieften sich.
»Das Geld gehört mir«, schnappte sie, »und das
weißt du genau! Es ist so vereinbart worden; du warst Zeuge bei dem
Vertrag.«
Ian seufzte; offensichtlich war es nicht das erste
Mal, daß er heute davon hörte.
»Das stimmt«, sagte er geduldig. »Und du bekommst
dein Geld - sobald Jamie in der Lage ist, es dir zu schicken. Er
hat es dir versprochen, und er ist ein Ehrenmann. Aber…«
»Ehrenmann, was?« Laoghaire gab ein undamenhaftes
Schnauben von sich. »Dann ist es also ehrenhaft, ein Bigamist zu
sein? Seine Frau und seine Kinder im Stich zu lassen? Meine Tochter
zu entführen und ihr Leben zu ruinieren? Ehrenhaft!« Sie sah
Brianna an, ihre Augen glitzernd und hart wie frisch gewalzter
Stahl.
»Ich frage dich noch einmal, Mädchen - wie heißt
deine Mutter?«
Brianna starrte sie einfach nur überwältigt an.
Ihre Halsbinde würgte sie, und ihre Hände fühlten sich eisig an,
obwohl Ian sie festhielt.
»Deine Mutter«, wiederholte Laoghaire ungeduldig.
»Wer war sie?«
»Es spielt keine Rolle, wer…«, begann Jenny, doch
Laoghaire baute sich mit zornrotem Gesicht vor ihr auf.
»Oh, doch, es spielt eine Rolle. Wenn er sie von
irgendeiner Armeehure hat oder von einer Schlampe von Dienstmädchen
in England - das ist eine Sache. Aber wenn sie…«
»Laoghaire!«
»Schwester!«
»Du altes Schandmaul!«
Brianna beendete das Geschrei, indem sie einfach
aufstand. Sie war genausogroß wie die Männer und überragte die
Frauen. Laoghaire trat einen Schritt zurück. Alle Gesichter im
Zimmer waren auf sie gerichtet, erfüllt von Feindseligkeit,
Mitgefühl oder schlichter Neugier.
Mit einer Kaltblütigkeit, die sie nicht fühlte,
tastete Brianna nach der Innenseite ihres Rockes, der Geheimtasche,
die sie erst vor einer Woche in den Saum genäht hatte. Es kam ihr
wie ein Jahrhundert vor.
»Meine Mutter heißt Claire«, sagte sie und ließ die
Halskette auf den Tisch fallen.
Es herrschte völliges Schweigen im Raum, nur das
gedämpfte Torffeuer, das im Kamin brannte, zischte leise. Das
Perlenhalsband lag glänzend da, und die Frühlingssonne, die durchs
Fenster schien, ließ die durchbohrten Goldkügelchen wie Funken
aufleuchten.
Es war Jenny, die zuerst sprach. Wie eine
Schlafwandlerin streckte sie einen ihrer schlanken Finger aus und
berührte eine der Perlen. Süßwasserperlen von der Sorte, die man
barock nennt wegen ihrer einzigartigen, unregelmäßigen,
unverwechselbaren Form.
»O je«, sagte Jenny leise. Sie hob den Kopf und sah
Brianna ins Gesicht, und ihre schrägstehenden, blauen Augen
schimmerten, als weinte sie. »Ich freue mich so, dich zu sehen -
Nichte.«
»Wo ist meine Mutter? Wißt ihr das?« Brianna
blickte von Gesicht zu Gesicht, und das Herz schlug ihr heftig in
den Ohren. Laoghaire sah sie nicht an; ihr Blick haftete an den
Perlen, ihr Gesicht wirkte wie eingefroren.
Jenny und Ian tauschten einen schnellen Blick aus,
dann stand Ian auf. Er bewegte sich umständlich, um das Bein unter
sich zu schieben.
»Sie ist bei deinem Pa«, sagte er und berührte
Briannas Arm. »Mach dir keine Sorgen, Kleine; sie sind beide in
Sicherheit.«
Brianna widerstand dem Impuls, vor Erleichterung
zusammenzubrechen. Statt dessen atmete sie ganz vorsichtig aus und
spürte, wie sich der Knoten der Anspannung in ihrem Bauch langsam
löste.
»Danke«, sagte sie. Sie versuchte, Ian zuzulächeln,
doch ihr Gesicht fühlte sich schlaff und gummiartig an. In
Sicherheit. Und zusammen. Oh, danke! dachte sie in stummer
Dankbarkeit.
»Die gehören von Rechts wegen mir.« Laoghaire wies
auf die Perlen. Jetzt war sie nicht mehr aufgebracht, sondern voll
kalter Selbstkontrolle. Jetzt, wo ihr Gesicht nicht mehr vor Wut
verzerrt war, konnte Brianna sehen, daß sie einmal sehr hübsch
gewesen und
immer noch eine gutaussehende Frau war - hochgewachsen für eine
Schottin und von einer gewissen Eleganz der Bewegung. Sie hatte
jene Art empfindlicher, heller Hautfarbe, die schnell verwelkt, und
sie war um die Hüften dicker geworden, doch ihre Gestalt war immer
noch aufrecht und fest, und in ihrem Gesicht war immer noch der
Stolz einer Frau zu sehen, die sich der Tatsache bewußt ist, daß
sie einmal schön war.
»Nein, das tun sie nicht!« sagte Jenny in einem
kurzen Temperamentsausbruch. »Das waren die Juwelen meiner Mutter,
die mein Vater Jamie für seine Frau gegeben hat, und…«
»Und seine Frau bin ich«, unterbrach Laoghaire.
Dann sah sie Brianna an. Es war ein kalter, abschätzender
Blick.
»Ich bin seine Frau«, wiederholte sie. »Ich habe
ihn guten Glaubens geheiratet, und er hat mir Bezahlung für das
versprochen, was er mir angetan hat.« Sie ließ ihren kalten Blick
zu Jenny wandern. »Ich habe seit über einem Jahr keinen Penny mehr
gesehen. Soll ich etwa meine Schuhe verkaufen, um meine Tochter zu
ernähren - die einzige, die er mir gelassen hat?«
Sie hob das Kinn und sah Brianna an.
»Wenn Ihr seine Tochter seid, dann sind seine
Schulden auch die Euren. Sag’s ihr, Hobart.«
Hobart sah etwas verlegen aus.
»Also, Schwester«, sagte er und legte ihr als
Beschwichtigungsversuch die Hand auf den Arm. »Ich denke
nicht…«
»Nein, das tust du nicht, schon seit deiner
Geburt!« Irritiert schüttelte sie ihn ab und streckte die Hand nach
den Perlen aus. »Sie gehören mir!«
Es war der reine Reflex; die Perlen lagen fest
umklammert in Briannas Hand, noch ehe sie überhaupt den Entschluß
gefaßt hatte, sie an sich zu nehmen. Die Goldkügelchen fühlten sich
kühl an, doch die Perlen waren warm - das Erkennungsmerkmal einer
echten Perle, hatte ihre Mutter ihr gesagt.
»Einen Moment mal.« Die Kraft und Kälte ihrer
eigenen Stimme überraschte sie. »Ich weiß nicht, wer Ihr seid, und
ich weiß nicht, was zwischen Euch und meinem Vater vorgefallen ist,
aber…«
»Ich bin Laoghaire MacKenzie, und Euer Schuft von
einem Vater hat vor vier Jahren geheiratet - unter Vortäuschung
falscher Tatsachen, möchte ich hinzufügen.« Laoghaires Wut war
nicht versiegt, sondern schien untergetaucht zu sein; ihr Gesicht
hatte ein verklemmtes, angespanntes Aussehen, doch sie wurde nicht
laut, und die rote Farbe war aus ihren rundlichen, vollen Wangen
gewichen.
Brianna holte tief Luft und rang um Ruhe.
»Ja? Aber wenn meine Mutter jetzt mit meinem Vater
zusammen ist…«
»Er hat mich verlassen.«
Sie sprach die Worte ohne Erregung, doch sie fielen
mit dem Gewicht von Steinen in stilles Wasser und verbreiteten
endlose Wellen des Schmerzes und Verrates um sich. Jamie hatte den
Mund geöffnet, um etwas zu sagen; er schloß ihn wieder und
beobachtete Laoghaire.
»Er hat gesagt, er könnte es nicht länger ertragen
- in einem Haus mit mir zu leben, mein Bett zu teilen.« Sie sprach
ruhig, als rezitierte sie einen Text, den sie auswendig gelernt
hatte; ihre Augen fixierten immer noch die Stelle, an der die
Perlen gelegen waren.
»Also ist er gegangen. Und dann ist er
zurückgekommen - mit der Hexe. Hat sie mir vorgesetzt, ist vor
meiner Nase mit ihr ins Bett gegangen.« Langsam hob sie den Blick,
bis sie Briannas traf, studierte sie mit stiller Intensität,
erforschte die Geheimnisse ihres Gesichtes. Langsam nickte
sie.
»Sie war es«, sagte sie mit einer Sicherheit, deren
Ruhe etwas unheimlich war. »Sie hat ihn verhext von dem Tag an, an
dem sie nach Leoch kam - und mich. Sie hat mich unsichtbar gemacht.
Seit dem Tag, an dem sie kam, konnte er mich nicht mehr
sehen.«
Brianna spürte, wie ihr trotz des zischenden
Torffeuers in der Feuerstelle ein kleiner Schauer über den Rücken
lief.
»Und dann war sie fort. Tot, sagte man. Während des
Aufstandes umgekommen. Und er kam aus England heim, endlich frei.«
Sie schüttelte leicht den Kopf; ihre Augen ruhten immer noch auf
Briannas Gesicht, doch Brianna wußte, daß Laoghaire sie nicht
länger sah.
»Aber sie war gar nicht tot«, sagte Laoghaire
leise. »Und er war nicht frei. Ich wußte es; ich habe es immer
gewußt. Man kann eine Hexe nicht mit Stahl umbringen - man muß sie
verbrennen.« Laoghaires blaßblaue Augen wanderten zu Jenny.
»Du hast sie gesehen - bei meiner Hochzeit. Ihr
Schattenbild, das zwischen mir und ihm stand. Du hast sie gesehen,
aber du hast nichts gesagt. Ich habe es erst später erfahren, als
du es Maisri, der Seherin, gesagt hast. Du hättest es mir damals
schon sagen sollen.« Es war weniger ein Vorwurf als die
Feststellung einer Tatsache.
Jennys Gesicht war wieder bleich geworden, irgend
etwas - vielleicht Angst - verdunkelte ihre schrägstehenden, blauen
Augen. Sie leckte sich die Lippen und setzte zu einer Antwort an,
doch Laoghaire hatte Ian ihre Aufmerksamkeit zugewandt.
»Nimm dich lieber in acht, Ian Murray,« sagte sie,
ihr Tonfall jetzt
sachlich. Sie wies kopfnickend auf Brianna. »Sieh sie dir gut an,
Mann. Sieht so eine richtige Frau aus? Größer als die meisten
Männer, angezogen wie ein Mann, mit Händen so groß wie Teller, mit
denen sie eins deiner Kinder erwürgen kann, wenn es ihr
einfällt.«
Ian antwortete nicht, aber sein langes, gutmütiges
Gesicht war voller Sorge. Doch Jamies Fäuste ballten sich, und er
biß die Zähne fest zusammen. Laoghaire sah es, und ein leises
Lächeln berührte ihre Mundwinkel.
»Sie ist das Kind einer Hexe«, sagte sie. »Und ihr
wißt es alle!« Sie ließ den Blick durch das Zimmer wandern und ihn
herausfordernd auf jedem der verlegenen Gesichter ruhen. »Sie
hätten ihre Mutter in Cranesmuir verbrennen sollen, allein wegen
des Liebeszaubers, mit dem sie Jamie Fraser belegt hat. Aye, ich
sage, hütet euch vor dem, was ihr euch ins Haus geholt habt!«
Brianna ließ ihre Handfläche auf den Tisch knallen
und schreckte alle auf.
»Blödsinn«, sagte sie laut. Sie spürte, wie ihr das
Blut ins Gesicht stieg, und es kümmerte sie nicht. Alle gafften sie
mit offenem Mund an, doch ihre ganze Aufmerksamkeit galt Laoghaire
MacKenzie.
»Blödsinn«, sagte sie erneut und zeigte mit dem
Finger auf die Frau. »Wenn sie sich vor jemandem hüten sollten,
dann seid Ihr es, verdammte Mörderin!«
Laoghaires Mund stand weiter offen als der von
irgend jemandem sonst, doch es kam kein Ton heraus.
»Ihr habt ihnen nicht alles über Cranesmuir
erzählt, oder? Meine Mutter hätte es tun sollen, doch sie hat es
nicht getan. Sie dachte, Ihr wärt zu jung gewesen, um zu wissen,
was Ihr tut. Das wart Ihr aber nicht, stimmt’s?«
»Was…?« sagte Jenny mit schwacher Stimme.
Jamie warf seinem Vater wilde Blicke zu, der wie
vor den Kopf geschlagen dastand und Brianna anstarrte.
»Sie hat versucht, meine Mutter umzubringen.«
Brianna hatte Schwierigkeiten, ihre Stimme zu kontrollieren; sie
überschlug sich und bebte, doch sie brachte die Worte heraus.
»Nicht wahr? Ihr habt ihr gesagt, Geillis Duncan sei krank und habe
sie rufen lassen - Ihr habt gewußt, daß sie gehen würde, sie ist zu
jedem Kranken gegangen, sie ist Ärztin! Ihr habt gewußt, daß man
Geillis Duncan wegen Hexerei festnehmen würde und meine Mutter
gleich mit, wenn man sie bei ihr antraf! Ihr habt gedacht, sie
würden sie verbrennen, und dann könntet Ihr ihn haben - Jamie
Fraser.«
Laoghaire war bleich bis auf die Lippen, ihr
Gesicht reglos wie Stein. Selbst ihre Augen waren ohne Leben; sie
waren leer und stumpf wie Murmeln.
»Ich konnte ihre Hand auf ihm spüren«, flüsterte
sie. »Im Bett. Sie hat zwischen uns gelegen, ihre Hand auf ihm, so
daß er steif wurde und im Schlaf nach ihr rief. Sie war eine
Hexe. Ich habe es immer gewußt.«
Das Zimmer war still bis auf das Zischen des Feuers
und den zarten Gesang eines kleinen Vogels vor dem Fenster.
Schließlich rührte sich Hobart MacKenzie und trat vor, um seine
Schwester beim Arm zu nehmen.
»Komm mit, a leannan«, sagte er ruhig. »Ich
bringe dich jetzt nach Hause.« Er nickte Ian zu, der das Nicken
erwiderte und eine kleine Geste machte, die Mitgefühl und Bedauern
ausdrückte.
Laoghaire ließ sich widerstandslos von ihrem Bruder
wegführen, doch an der Tür blieb sie stehen und drehte sich um.
Brianna stand still, sie glaubte nicht, daß sie sich bewegen
könnte, selbst wenn sie es versuchte.
»Wenn Ihr Jamie Frasers Tochter seid«, sagte
Laoghaire mit kalter, klarer Stimme, »und vielleicht seid Ihr das,
so wie Ihr ausseht - dann sollt Ihr das hier wissen. Euer Vater ist
ein Lügner und ein Zuhälter, ein Betrüger und ein Kuppler. Ich
wünsche Euch viel Freude aneinander.« Dann fügte sie sich Hobart,
der sie am Ärmel zog, und die Tür fiel hinter ihr zu.
Die Wut, die sie erfüllt hatte, verebbte plötzlich,
und Brianna beugte sich vor und stützte sich auf ihre Handflächen.
Sie spürte das Halsband hart und uneben unter ihrer Hand. Ihr Haar
hatte sich gelöst, und eine dicke Strähne fiel ihr ins
Gesicht.
Ihre Augen waren gegen das Schwindelgefühl
geschlossen, das sie zu überwältigen drohte, und sie spürte die
Hand, die sie berührte und ihr sanft die Locken aus dem Gesicht
strich, mehr als daß sie sie sah.
»Er hat sie weiter geliebt«, flüsterte sie sich
selbst genauso wie den anderen zu. »Er hat sie nicht
vergessen.«
»Natürlich hat er sie nicht vergessen.« Sie öffnete
die Augen und sah Ians langes Gesicht mit seinen gütigen braunen
Augen fünfzehn Zentimeter von dem ihren entfernt. Eine breite, von
der Arbeit gezeichnete Hand ruhte auf der ihren, warm und fest,
eine Hand, die noch größer war als ihre eigene.
»Und wir auch nicht«, sagte er.
»Möchtest du nicht noch ein bißchen, Cousine
Brianna?« Joan, Jamies Frau, lächelte ihr über den Tisch hinweg zu
und hielt den Tortenheber
einladend über die krümeligen Reste einer gigantischen
Stachelbeertorte.
»Nein, danke. Ich kriege keinen Bissen mehr
hinunter«, sagte Brianna, indem sie das Lächeln erwiderte. »Ich
platze.«
Das rief bei Matthew und seinem Bruder Henry lautes
Kichern hervor, doch ein warnendes Aufblitzen der Augen ihrer
Großmutter brachte sie abrupt zum Schweigen. Als sich Brianna
allerdings am Tisch umsah, konnte sie sehen, wie in allen
Gesichtern unterdrücktes Lachen aufkeimte; von den Erwachsenen bis
hin zu den Kleinsten schienen sie alle noch die geringste ihrer
Bemerkungen endlos amüsant zu finden.
Es lag weder an ihrer unorthodoxen Bekleidung noch
an der bloßen Sensation, einen Fremden zu sehen, dachte sie -
selbst wenn sie noch fremder war als die meisten anderen. Da war
noch etwas anderes; ein Strom der Freude, der die
Familienmitglieder durchlief, unsichtbar, doch so vibrierend wie
Elektrizität.
Sie begriff nur langsam, was es war; durch eine
Bemerkung, die Ian machte, wurde es deutlich.
»Wir hatten nicht gedacht, daß Jamie jemals Kinder
haben würde.« Ians Lächeln von der anderen Seite des Tisches war so
warm, daß es Eis zum Schmelzen gebracht hätte. »Aber du hast ihn
noch nie gesehen, oder?«
Sie schüttelte den Kopf, schluckte die Reste ihres
letzten Bissens hinunter und lächelte mit vollem Mund zurück. Das
war es, dachte sie; sie freuten sich nicht so sehr um ihrer selbst
willen über sie als vielmehr Jamies wegen. Sie liebten ihn, und sie
waren nicht für sich selbst glücklich, sondern für ihn.
Diese Erkenntnis trieb ihr die Tränen in die Augen.
Laoghaires Vorwürfe hatten sie erschüttert, wüst wie sie waren, und
es war ihr ein großer Trost festzustellen, daß all diese Menschen,
die ihn gut kannten, in Jamie Fraser weder einen Lügner, noch einen
hinterlistigen Menschen sahen; er war wirklich der Mann, für den
ihre Mutter ihn hielt.
Jamie, der angesichts ihres Gefühlsausbruches
glaubte, sie hätte sich verschluckt, klopfte ihr hilfsbereit auf
den Rücken, und nun verschluckte sie sich wirklich.
»Hast du Onkel Jamie denn geschrieben und ihm
gesagt, daß du zu uns kommst?« fragte er und ignorierte ihr Husten
und Prusten und ihren roten Kopf.
»Nein«, sagte sie heiser. »Ich weiß nicht, wo er
ist.«
Jennys Augenbrauen hoben sich wie
Möwenflügel.
»Aye, das hast du schon gesagt; ich hatte es
vergessen.«
»Wißt ihr, wo er jetzt ist? Er und meine Mutter?«
Brianna beugte sich gespannt vor und strich sich die Krümel aus
ihrem Rüschenkragen.
Jenny lächelte und stand vom Tisch auf.
»Aye, das weiß ich - mehr oder weniger. Wenn du
genug gegessen hast, kommt mit mir, Liebe. Ich hole dir seinen
letzten Brief.«
Brianna erhob sich, um Jenny zu folgen, blieb aber
an der Tür abrupt stehen. Sie hatte schon vorher vage von ein paar
Bildern Notiz genommen, die an der Wohnzimmerwand hingen, sie aber
im Trubel der Gefühle und Ereignisse nicht genauer betrachtet. Doch
dieses hier sah sie sich an.
Zwei kleine Jungen mit rotgoldenem Haar, steif und
ernst in Kilts und Jacken, weiße Rüschenhemden, die sich leuchtend
vor dem dunklen Fell eines Hundes abhoben, der neben ihnen saß und
die Zunge in geduldiger Langeweile heraushängen ließ.
Der ältere Junge war groß und hatte feine
Gesichtszüge; er saß aufrecht und stolz da, eine Hand ruhte auf dem
Kopf des Hundes, die andere schützend auf der Schulter des kleinen
Bruders, der zwischen seinen Knien stand.
Doch es war der Jüngere, den Brianna anstarrte.
Sein Gesicht war rundlich und stupsnasig, die Wangen durchscheinend
und rötlich wie Äpfel. Weit geöffnete blaue Augen, leicht
schräggestellt, sahen unter einer Glocke aus leuchtendem Haar
hervor, das unnatürlich ordentlich gekämmt war. Seine Pose war
formell im klassischen Stil des achtzehnten Jahrhunderts, doch die
robuste, stämmige kleine Gestalt hatte etwas, das sie lächeln und
den Finger ausstrecken ließ, um sein Gesicht zu berühren.
»Na, du bist ja ein Süßer«, sagte sie leise.
»Jamie war ein süßer Kerl, aber auch ein stures
kleines Biest.« Jennys Stimme direkt neben ihr erschreckte sie.
»Man konnte ihn schlagen oder auf ihn einreden, es war ganz egal;
wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann blieb es auch
dort. Komm mit; da ist noch ein Bild, das dir gefallen wird, glaube
ich.«
Das zweite Porträt hing über dem Treppenabsatz und
wirkte dort durch und durch deplaziert. Von unten konnte sie den
vergoldeten Schmuckrahmen sehen, dessen üppige Schnitzereien
überhaupt nicht zu der soliden, ein wenig abgewetzten Gemütlichkeit
der restlichen Einrichtung des Hauses paßten. Es erinnerte sie an
die Bilder in Museen; in dieser unspektakulären Umgebung schien es
nichts verloren zu haben.
Als sie Jenny zum Treppenabsatz folgte, verschwand
das gleißende Licht, das durch das Fenster fiel, und die Oberfläche
des Bildes lag flach und deutlich vor ihr.
Sie schnappte nach Luft und spürte, wie sich die
Haare auf ihren Unterarmen unter dem Leinenhemd sträubten.
»Es ist bemerkenswert, aye?« Jenny blickte von dem
Gemälde zu Brianna und wieder zurück, und ihre Gesichtszüge trugen
einen Ausdruck irgendwo zwischen Stolz und Ehrfurcht.
»Bemerkenswert!« stimmte Brianna zu und
schluckte.
»Du siehst, warum wir dich sofort erkannt haben«,
fuhr ihre Tante fort und legte liebevoll die Hand auf den
geschnitzten Rahmen.
»Ja. Ja, das sehe ich.«
»Es ist meine Mutter, aye? Deine Großmutter, Ellen
MacKenzie.«
»Ja«, sagte Brianna. »Ich weiß.« Staubkörnchen, die
sie mit ihren Schritten aufgewühlt hatte, wirbelten träge im
Nachmittagslicht umher, das vom Fenster kam. Brianna fühlte sich
ganz so, als wirbelte sie mit ihnen herum, nicht länger in der
Realität verankert.
In zweihundert Jahren hatte sie - werde ich?
dachte sie wild - in der Nationalgalerie vor diesem Porträt
gestanden und wütend die Wahrheit geleugnet, die es ihr vor Augen
hielt.
Jetzt blickte ihr Ellen MacKenzie genau wie damals
entgegen; langhalsig und königlich, mit einem Humor in den
schräggestellten Augen, der nicht ganz bis an den feinen Mund
reichte. Er war zwar nicht unbedingt ein Spiegelbild; Ellens Stirn
war hoch, schmaler als Briannas, und ihr Kinn war rundlich, nicht
spitz, ihr ganzes Gesicht etwas sanfter und nicht so kühn
geschnitten.
Doch die Ähnlichkeit war da, und sie war so stark,
daß sie erschreckend war; die breiten Wangenknochen und das dichte,
rote Haar waren die gleichen. Und um ihren Hals lag die Halskette,
deren Goldkugeln in der Frühlingssonne leuchteten.
»Wer hat es gemalt?« fragte Brianna schließlich,
obwohl sie die Antwort nicht wirklich hören mußte. Das Schild neben
dem Gemälde im Museum hatte den Künstler als »Unbekannt«
angegeben.
Doch nachdem sie unten das Porträt der beiden
kleinen Jungen gesehen hatte, wußte Brianna Bescheid. Das Bild war
weniger meisterhaft, ein früherer Versuch - doch dieselbe Hand
hatte das Haar und die Haut gemalt.
»Meine Mutter«, sagte Jenny, die Stimme von einem
sehnsüchtigen Stolz erfüllt. »Sie hatte großes Geschick im Zeichnen
und Malen. Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte dieses
Talent.«
Brianna spürte, wie sich ihre Finger unbewußt
krümmten; die Illusion
des Pinsels zwischen ihnen war einen Augenblick lang so intensiv,
daß sie hätte schwören können, glattes Holz zu spüren.
Daher also, dachte sie mit einem leisen
Erschauern und hörte geradezu das »Klick!« der Erkenntnis, als ein
winziges Stück ihrer Vergangenheit seinen Platz einnahm. Daher
habe ich es.
Frank Randall hatte im Scherz gemeint, er könnte
keine gerade Linie zeichnen; Claire, es sei das einzige, was sie
könnte. Doch Brianna hatte die Gabe der Gestaltung von Linien und
Kurven, von Licht und Schatten - und jetzt hatte sie auch den
Ursprung dieser Gabe gefunden. Was sonst noch? dachte sie
plötzlich. Was besaß sie sonst noch, das einst der Frau in dem Bild
gehört hatte, dem Jungen mit dem stur geneigten Kopf?
»Ned Gowan hat es mir aus Leoch mitgebracht«, sagte
Jenny und berührte den Rahmen mit einer gewissen Ehrfurcht. »Er hat
es gerettet, als die Engländer das Schloß geschleift haben, nach
dem Aufstand.« Sie lächelte schwach. »Er hat eine Vorliebe für die
Familie, unser Ned. Er ist ein Lowlander aus Edinburgh und hat
keine eigenen Verwandten, aber er hat die MacKenzies zu seinem Clan
gemacht - selbst jetzt, wo es den Clan nicht mehr gibt.«
»Nicht mehr?« platzte Brianna heraus. »Sie sind
alle tot?« Der Schrecken in ihrer Stimme brachte Jenny dazu, sie
überrascht anzusehen.
»Och, nein. Das habe ich nicht gemeint, Kleine.
Aber Leoch steht nicht mehr«, fügte sie in leiserem Ton hinzu. »Und
seine letzten Anführer leben nicht mehr - Colum und sein Bruder
Dougal… sie sind für die Stuarts gestorben.«
Das hatte sie natürlich gewußt; Claire hatte es ihr
erzählt. Was überraschend war, war der plötzliche Anflug
unerwarteter Trauer; Bedauern um diese Fremden in ihrer
neugefundenen Verwandtschaft. Mühsam schluckte sie den Kloß in
ihrem Hals hinunter, wandte sich um und folgte Jenny die Treppe
hinauf.
»War Leoch ein großes Schloß?« fragte sie. Ihre
Tante blieb stehen, eine Hand auf dem Geländer.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Jenny blickte
zurück auf Ellens Bild, so etwas wie Bedauern im Blick.
»Ich habe es nie gesehen - und jetzt ist es
fort.«
Wenn man das Schlafzimmer betrat, so war es, als
käme man in eine Unterwasserhöhle. Wie alle Zimmer war auch dieses
klein und hatte niedrige, von den jahrelangen Torffeuern
rauchgeschwärzte Deckenbalken, doch die Wände waren frisch und
weiß, und das Zimmer
selbst war von einem grünlichen, wogenden Licht erfüllt, das sich
durch zwei große Fenster ergoß, gefiltert von den Blättern des
schwankenden Rosenstockes.
Hier und dort blinkte ein glänzender Gegenstand auf
oder glitzerte im schummrigen Halbdunkel wie ein Fisch in einem
Riff; eine bemalte Puppe, die auf dem Teppich vor der Feuerstelle
lag, wo eines der Enkelkinder sie vergessen hatte, ein chinesischer
Korb, an dessen Deckel eine durchbohrte Münze als Verzierung
festgebunden war. Ein Kerzenständer aus Messing auf dem Tisch, ein
kleines Gemälde an der Wand, dessen kräftige Farben sich deutlich
von dem weißen Putz abhoben.
Jenny ging unverzüglich zu dem großen
Kleiderschrank an der Zimmerwand und stellte sich auf die
Zehenspitzen, um ein großes, mit Saffianleder überzogenes Kästchen
herunterzuholen, dessen Ecken vom Alter abgestoßen waren. Als sie
den Deckel aufklappte, sah Brianna ein metallisches Glitzern und
ein kurzes, scharfes Aufblitzen wie von Sonnenlicht auf
Edelsteinen.
»Hier ist er.« Jenny brachte ein dickes Bündel aus
zusammengefaltetem Papier zum Vorschein, das weitgereist und
vielgelesen aussah, und drückte es Brianna in die Hand. Es war
versiegelt gewesen; ein fettiger Wachsfleck klebte immer noch am
Rand eines Bogens.
»Sie sind in der Kolonie North Carolina, aber sie
leben nicht in der Nähe einer Stadt«, erklärte Jenny. »Jamie
schreibt abends ein bißchen, wenn er kann, und er behält die
Blätter, bis entweder er oder Fergus nach Cross Creek reiten oder
ein Reisender vorbeikommt, der den Brief mitnimmt. So ist es
angenehm für ihn; das Schreiben fällt ihm nicht leicht - besonders,
seit er sich damals die Hand gebrochen hat.«
Bei dieser beiläufigen Bemerkung fuhr Brianna auf,
doch das ruhige Gesicht ihrer Tante zeigte keine besondere
Regung.
»Setz dich hin, Kleine.« Sie winkte mit der Hand
und ließ Brianna die Wahl zwischen Hocker oder Bett.
»Danke«, murmelte Brianna und wählte den Hocker.
Also wußte Jenny vielleicht nicht alles über Jamie und Black Jack
Randall? Die Vorstellung, daß sie vielleicht Dinge über diesen
unbekannten Mann wußte, die nicht einmal seiner geliebten Schwester
bekannt waren, hatte etwas Verwirrendes. Um den Gedanken zu
verscheuchen, öffnete sie eilig den Brief.
Die hingekritzelten Worte sprangen ihr schwarz und
lebhaft ins Gesicht. Sie hatte diese Handschrift schon einmal
gesehen - die verkrampften, widerspenstigen Buchstaben mit den
großen, geschwungenen
Abschlüssen, doch das war auf einem zweihundert Jahre alten
Dokument gewesen, dessen Tinte braun und verblichen war, die
Handschrift gezähmt durch sorgsame Überlegung und Formalität. Hier
hatte er sich frei gefühlt - seine Handschrift rollte in kühnem,
sprunghaftem Gekritzel über die Seite, und die Zeilen drehten sich
an den Enden betrunken aufwärts. Es war unordentlich, aber trotzdem
lesbar.
Fraser’s Ridge, Montag, 19. September
Meine liebste Jenny,
hier sind alle bei bester Gesundheit und guter
Dinge und hoffen, daß dieser Brief alle Mitglieder Deines
Haushaltes ähnlich zufrieden antrifft.
Dein Sohn grüßt Dich aufs herzlichste und bittet
mich, seinen Vater, seine Brüder und seine Schwestern an ihn zu
erinnern. Er möchte, daß Du Matthew und Henry sagst, daß er ihnen
das beigefügte Objekt schickt, welches der präparierte Schädel
eines Tieres ist, das man seiner außergewöhnlichen Stacheln wegen
Stachelschwein nennt (es hat keine Ähnlichkeit mit unserem kleinen
Igel, denn es ist viel größer und lebt in den Wipfeln der Bäume, wo
es sich von zarten Schößlingen ernährt). Sag Matthew und Henry, daß
ich nicht weiß, warum seine Zähne orange sind. Zweifellos findet
das Tier es dekorativ.
Außerdem findest Du hier ein kleines Geschenk
für Dich selbst; das Muster wird mit Hilfe der Stacheln des
erwähnten Tiers erzielt, welche die Indianer mit den Säften
verschiedener Pflanzen einfärben, bevor sie sie auf die
einzigartige Weise verweben, die Du vor Dir siehst.
Claire hat in letzter Zeit großes Interesse an
der Unterhaltung - wenn man das Wort für eine Kommunikation
benutzen kann, die sich zum großen Teil auf Gestikulieren und das
Schneiden von Grimassen beschränkt (sie besteht darauf, daß sie
keine Grimassen schneidet, worauf ich ihr antworte, daß ich in
der besseren Position bin, dies zu beurteilen, da ich das
dazugehörige Gesicht sehen kann und sie nicht) - an der
Unterhaltung mit einer alten Indianer frau gezeigt, die in dieser
Gegend als Heilerin sehr geschätzt wird und ihr viele solcher
Pflanzen gegeben hat. Demzufolge sind ihre Finger im Augenblick
lila, was ich höchst dekorativ finde.
Dienstag, 20. Sept.
Heute war ich sehr damit beschäftigt, den
Pferch zu reparieren und zu verstärken, in dem wir nachts unsere
paar Kühe, Schweine etc. halten,
um sie vor den Raubzügen der Bären zu schützen, die sehr zahlreich
sind. Als ich heute morgen zum Abort ging, habe ich einen großen
Pfotenabdruck im Schlamm erspäht, der genausolang war wie mein
eigener Fuß. Das Vieh kam mir nervös und verstört vor, was ich ihm
kaum zum Vorwurf machen kann.
Ich bitte Dich, mach Dir um uns keine Sorgen.
Die Schwarzbären in diesem Land nehmen sich vor den Menschen in
acht und hassen es, selbst einem einzelnen Mann gegenüberzutreten.
Außerdem ist unser Haus stabil gebaut, und ich habe es Ian
verboten, nach Anbruch der Dunkelheit noch unterwegs zu sein, es
sei denn, er ist gut bewaffnet.
Was unsere Bewaffnung angeht, so hat sich unsere
Situation sehr verbessert. Fergus hat aus High Point ein gutes
Gewehr von der neuen Sorte und einige exzellente Messer
mitgebracht.
Außerdem einen großen Kochkessel, dessen Erwerb
wir mit einer Riesenportion leckerem Eintopf gefeiert haben, der
aus Hirschfleisch, wilden Zwiebeln aus dem Wald, getrockneten
Bohnen und einigen getrockneten Tomatenfrüchten vom letzten Sommer
bestand. Keiner von uns ist nach dem Genuß dieses Eintopfes
gestorben oder krank geworden, also hat Claire wahrscheinlich
recht, Tomaten sind nicht giftig.
Mittwoch, 21. Sept.
Der Bär ist wieder dagewesen. Ich habe heute
große Fußspuren und Kratzer in Claires frisch umgegrabenem Garten
gefunden. Das Tier mästet sich wohl für seinen Winterschlaf und
will sicher in der frischen Erde nach Maden graben.
Ich habe die Sau in unsere Vorratskammer
umquartiert, da sie kurz vor dem Ferkeln steht. Weder Claire noch
die Sau waren über dieses Arrangement besonders glücklich, doch das
Tier ist wertvoll, denn ich habe Mr. Quillan drei Pfund dafür
bezahlt.
Heute sind vier Indianer gekommen. Sie gehören
zu der Art, die man Tuscarora nennt. Ich bin diesen Männern schon
mehrfach begegnet und habe sie sehr freundlich gefunden.
Nachdem die Wilden ihren Entschluß verkündet
hatten, unseren Bären zu jagen, habe ich ihnen etwas Tabak und ein
Messer geschenkt, worüber sie erfreut schienen.
Sie haben fast den ganzen Morgen unter dem
Dachsims des Hauses gesessen, geraucht und sich miteinander
unterhalten, doch kurz vor Mittag sind sie zu ihrer Jagd
aufgebrochen. Ich erkundigte mich, ob es angesichts der Vorliebe
des Bären für unsere Gesellschaft nicht
am besten wäre, wenn sich die Jäger in der Nähe verstecken in der
Hoffnung, daß das Tier hierher zurückkehrt.
Man hat mich informiert - mit der
allerfreundlichsten Herablassung, die man in Worten und Zeichen
ausdrücken kann - daß das Aussehen des Bärendungs ohne jeden
Zweifel anzeigte, daß er die Gegend verlassen habe und zu einem
Vorhaben im Westen aufgebrochen sei.
Da ich nicht vorhatte, mich mit solchen Experten
anzulegen, wünschte ich ihnen Glück und habe sie freundlich
verabschiedet. Ich konnte sie nicht begleiten, da ich hier noch
dringend zu tun habe, doch Ian und Rollo sind mit ihnen gegangen,
wie schon öfter.
Ich habe mein neues Gewehr geladen und
bereitgestellt, falls unsere Freunde sich in ihrer Einschätzung der
Absichten des Bären geirrt haben.
Donnerstag, 22. Sept.
Letzte Nacht weckte mich ein fürchterlicher
Krach aus dem Schlaf. Es war ein lautes Kratzen, welches in den
Holzbalken der Wand widerhallte, begleitet von so lautem Klopfen
und Heulen, daß ich in der Überzeugung aus dem Bett fuhr, daß das
Haus über unseren Köpfen einstürzen würde.
Die Sau, die die Nähe eines Feindes spürte,
schoß durch die Tür der Vorratskammer (ich gebe zu, daß sie
nichtsehr stabil gebaut war) und flüchtete sich unter unser Bett,
wo sie ohrenbetäubend quiekte. Ich begriff, daß der Bär da war,
nahm mein neues Gewehr und rannte nach draußen.
Es war eine mondhelle Nacht, wenn auch bedeckt,
und ich konnte meinen Gegner deutlich sehen, eine große, schwarze
Gestalt, die, auf den Hinterfüßen stehend, fast so groß zu sein
schien wie ich selbst und (in meinen angsterfüllten Augen) etwa
dreimal so breit, denn er stand nicht weit von mir
entfernt.
Ich feuerte auf ihn, worauf er sich auf alle
viere fallen ließ und mit erstaunlicher Geschwindigkeit Schutz im
nahen Wald suchte. Er verschwand, bevor ich zu einem weiteren Schuß
kam.
Als es Tag wurde, suchte ich den Boden nach
Blutspuren ab und fand keine, daher kann ich nicht sagen, ob mein
Schuß sein Ziel gefunden hat. Die Seitenwand des Hauses ist mit
mehreren langen Kratzern verziert, wie sie von einer scharfen Axt
oder einem Meißel stammen können, die sich weiß auf dem Holz
abzeichnen.
In der Zwischenzeit haben wir unter großen
Schwierigkeiten die Sau (es ist eine hellrosafarbene Sau von
beträchtlicher Größe und sturem Temperament, und sie hat keinen
Mangel an Zähnen) dazu gebracht,
den Platz unter unserem Bett zu verlassen und sich wieder an ihren
Zufluchtsort in der Vorratskammer zu begeben. Sie war
widerspenstig, konnte schließlich aber dazu bewegt werden, durch
eine Kombination aus vor ihr ausgestreuten Maiskörnern und meiner
Person in ihrem Rücken, bewaffnet mit einem stabilen
Besen.
Montag, 26. Sept.
Ian und seine roten Begleiter sind
zurückgekehrt, da ihnen ihre Beute im Wald entwischt ist. Ich
zeigte ihnen die Kratzer an der Hauswand, worauf sie aufgeregt
wurden und sich so schnell unterhielten, daß ich ihren Worten nicht
folgen konnte.
Einer der Männer entfernte dann einen großen
Zahn von einer Halskette aus ähnlichen Gegenständen und überreichte
ihn mir mit großer Zeremonie. Er sagte, der Zahn diene dazu, daß
der Bärengeist mich erkennen könne und ich nicht zu Schaden käme.
Ich nahm dies Unterpfand mit dem gebotenen Ernst entgegen und sah
mich dann verpflichtet, ihnen im Austausch dafür ein Stück
Bienenwachs zu schenken, so daß der Höflichkeit Genüge getan
war.
Claire wurde herbeigerufen, um uns das
Bienenwachs zu bringen, und mit ihrem üblichen Blick für solche
Dinge stellte sie fest, daß es einem unserer Gäste nicht gutging,
ihm fielen die Augen zu, er hustete und machte einen unruhigen
Eindruck. Claire sagt, daß er außerdem hohes Fieber hat, obwohl man
das nicht sofort sieht. Da er zu krank ist, um mit seinen
Begleitern weiterzureisen, haben wir ihn auf ein Strohlager im
Maisspeicher gelegt.
Die Sau hat rücksichtsloserweise in der
Vorratskammer geferkelt. Es sind ein Dutzend Ferkel, alle gesund
und von lebhaftem Appetit, wofür ich Gott danke. Unser eigener
Appetit dagegen läßt im Augenblick zu wünschen übrig, da die Sau
jeden heftig attackiert, der die Tür der Vorratskammer öffnet, und
wütend brüllt und ihre Zähne fletscht. Ich habe ein Ei zum
Abendessen bekommen und wurde informiert, daß ich nichts mehr
bekomme, bis mir eine Lösung für das Problem eingefallen
ist.
Samstag, 1. Oktober
Große Überraschung heute. Zwei Gäste
sind…
»Es ist wohl eine sehr wilde Gegend.«
Erschrocken sah Brianna auf. Jenny deutete
kopfnickend auf den Brief, den Blick fest auf Brianna
gerichtet.
»Wilde und Bären und Stachelschweine und das alles.
Es ist nur
eine kleine Kate, in der sie wohnen, hat Jamie mir gesagt. Und
ganz allein, hoch in den Bergen. Es muß ziemlich wild sein.« Sie
sah Brianna ein wenig ängstlich an. »Willst du immer noch
gehen?«
Brianna wurde plötzlich klar, daß Jenny Angst
hatte, sie würde nicht gehen; daß der Gedanke an die lange Reise
und die Wildnis an deren Ende ihr angst machen würde. Eine Wildnis,
die plötzlich Wirklichkeit wurde durch die hingekritzelten,
schwarzen Worte auf dem Blatt, das sie in der Hand hielt - doch
nicht annähernd so wirklich wie der Mann, der sie geschrieben
hatte.
»Ich gehe«, versicherte sie ihrer Tante. »So
schnell ich kann.«
Jennys Gesicht entspannte sich.
»Oh, gut«, sagte sie. Sie streckte die Hand aus und
zeigte Brianna eine kleine Lederbörse, die mit einem Quadrat aus
Stachelschweinstacheln verziert war, eingefärbt in Rot- und
Schwarztönen, während hier und dort zum Kontrast ein paar Stacheln
in ihrem natürlichen Grau belassen waren.
»Das ist das Geschenk, das er mir geschickt
hat.«
Brianna nahm es in die Hand und bestaunte das
komplizierte Muster und das weiche, helle Hirschleder.
»Es ist wunderschön.«
»Aye, das stimmt.« Jenny wandte sich ab und
beschäftigte sich überflüssigerweise damit, den Zierat
zurechtzurücken, der auf dem Bücherregal stand. Brianna hatte ihre
Aufmerksamkeit gerade wieder dem Brief zugewandt, als Jenny abrupt
zu sprechen begann.
»Bleibst du noch ein bißchen?«
Erschrocken sah Brianna auf.
»Bleiben?«
»Nur ein oder zwei Tage.« Jenny drehte sich um, und
das Licht vom Fenster, das hinter ihr leuchtete wie ein
Heiligenschein, tauchte ihr Gesicht in den Schatten.
»Ich weiß, daß du aufbrechen willst«, sagte sie.
»Aber ich würde mich so gern ein wenig mit dir unterhalten.«
Brianna sah sie verwundert an, konnte aber nichts
an den bleichen, ebenmäßigen Gesichtszügen und den schrägen Augen
ablesen, die den ihren so ähnlich waren.
»Ja«, sagte sie langsam. »Natürlich bleibe
ich.«
Ein Lächeln berührte Jennys Mundwinkel. Ihr Haar
war tiefschwarz mit weißen Streifen wie das Gefieder einer
Elster.
»Das ist gut«, sagte sie leise. Das Lächeln
breitete sich langsam aus, während sie ihre Nichte ansah.
»Herr im Himmel, du bist wie mein Bruder.«
Als sie allein war, wandte sich Brianna wieder dem
Brief zu, las noch einmal langsam den Anfang und ließ den Raum um
sie herum verblassen, verschwinden, als Jamie Fraser in ihren
Händen lebendig wurde, seine Stimme so lebendig in ihrem inneren
Ohr, daß er hätte vor ihr stehen können, das rote Haar glänzend in
der Sonne, die durch das Fenster schien.
Samstag, 1. Oktober
Große Überraschung heute. Zwei Gäste sind aus
Cross Creek gekommen. Du erinnerst dich vielleicht, daß ich Dir von
Lord John Grey erzählt habe, den ich aus Ardsmuir kenne. Ich habe
Dir nicht erzählt, daß ich ihn zwischenzeitlich auf Jamaika
getroffen hatte, wo er der Gouverneur der Krone war.
Er ist vielleicht der letzte Mensch, den man in
dieser entlegenen Gegend erwarten würde. So weit entfernt von allen
Spuren der Zivilisation, ganz zu schweigen von den luxuriösen
Amtsgebäuden und dem Prunk und Pomp, den er gewohnt ist. Jedenfalls
waren wir höchst erstaunt über sein Erscheinen, obwohl wir ihn
sofort herzlich empfangen haben.
Leider muß ich sagen, daß es ein trauriges
Ereignis ist, welches ihn hergeführt hat. Seine Frau, die mit ihrem
Sohn aus England unterwegs war, hat sich unterwegs eine fiebrige
Erkrankung zugezogen und ist noch auf See daran gestorben. Aus
Angst, daß sich die Miasmen der Tropen für den Jungen genauso
tödlich wie für seine Mutter erweisen könnten, beschloß Lord John,
daß der Junge nach Virginia gehen sollte, wo Lord Johns Familie
beachtlichen Landbesitz hat, und er entschloß sich, ihn selbst
dorthin zu begleiten, da er sehen konnte, daß der Junge vom Verlust
seiner Mutter schwer getroffen war.
Ich drückte ihm mein Erstaunen wie auch meine
Zufriedenheit darüber aus, daß sie sich zu dem Umweg entschlossen
haben, der nötig war, um diesen entlegenen Ort aufzusuchen, doch
Lord John will nichts davon hören und sagt, es sei sein Wunsch, daß
der Junge etwas von den verschiedenen Kolonien sieht, damit er den
Reichtum und die Vielfalt dieses Landes schätzen lernt. Der Junge
kann es nicht abwarten, den Indianern zu begegnen - und erinnert
mich in dieser Beziehung an Ian vor nicht allzulanger
Zeit.
Er ist ein hübscher Junge, hochgewachsen und
wohlgeformt für sein Alter, welches, so glaube ich, ungefähr zwölf
ist. Er trauert immer noch um den Tod seiner Mutter, doch er ist
ein angenehmer Gesprächspartner und hat gute Manieren, denn
schließlich ist er ein
Graf (Lord John ist sein Stiefvater, glaube ich; sein Vater ist
der Graf von Ellesmere gewesen). Sein Name ist William.
Brianna drehte das Blatt um und erwartete eine
Fortsetzung, doch die Passage endete abrupt an dieser Stelle. Es
gab eine Unterbrechung von mehreren Tagen, bevor der Brief am
vierten Oktober weiterging.
Donnerstag, 4. Oktober
Der Indianer im Maisspeicher ist heute morgen
gestorben, obwohl Claire alles versucht hat, um ihn zu retten. Sein
Gesicht, sein Körper und seine Gliedmaßen waren völlig mit einem
schlimmen Ausschlag überzogen, was ihm ein höchst grauenvolles und
gesprenkeltes Aussehen gab.
Claire glaubt, daß er die Masern hatte, und ist
sehr in Sorge, da dies eine heimtückische Seuche ist, die
ansteckend ist und sich schnell ausbreitet. Sie hat niemanden in
die Nähe der Leiche gelassen außer sich selbst - sie sagt, sie ist
durch irgendeinen Zauber davor sicher -, doch wir haben uns alle
gegen Mittag versammelt, worauf ich eine passende Bibelstelle
gelesen habe und wir ein Gebet für seinen Seelenfrieden gesprochen
haben - denn ich vertraue darauf, daß selbst ungetaufte Wilde ihre
Ruhe in Gottes Gnade finden können.
Wir sind uns allerdings nicht sicher, wohin wir
mit den irdischen Überresten seiner armen Seele sollen.
Normalerweise würde ich Ian losschicken, damit er seine Freunde
holt und sie ihm das bei den Indianern übliche Begräbnis zuteil
werden lassen können.
Doch Claire sagt, das dürfen wir nicht, denn die
Leiche könnte die Seuche unter dem Volk des Mannes verbreiten, eine
Katastrophe, die er sicher nicht gern über seine Freunde bringen
würde. Sie ist dafür, daß wir die Leiche selbst beerdigen oder
verbrennen, und doch zögere ich, dies zu tun, da die Begleiter des
Mannes es mißverstehen könnten - wenn sie glauben, daß wir so
versucht haben, eine Mittäterschaft an seinem Tod zu
vertuschen.
Ich habe unseren Gästen nichts von diesem
Problem erzählt. Falls Gefahr zu drohen scheint, muß ich sie
fortschicken. Dennoch widerstrebt es mir, auf ihre Gesellschaft zu
verzichten, so abgeschieden ist unsere Lage. Für den Augenblick
haben wir die Leiche in eine kleine, trockene Höhle in dem Abhang
über dem Haus gelegt, in der ich vorhatte, einen Stall oder einen
Lagerraum zu bauen.
Ich muß Dich um Verzeihung bitten, daß ich meine
Seele so erleichtere, auf Kosten Deines eigenen Friedens. Ich
glaube, daß am Ende alles gut wird, doch ich gestehe, daß ich mir
im Augenblick ein
paar Sorgen mache. Sollte es so aussehen, daß Gefahr droht -
entweder von den Indianern oder der Krankheit, dann werde ich
diesen Brief unverzüglich unseren Gästen mitgeben, damit er Dich
auch sicher erreicht.
Wenn alles gut ist, schreibe ich schnell und
sage es Dir.
In Liebe, Dein Bruder,
Jamie Fraser
Jamie Fraser
Briannas Mund fühlte sich trocken an und sie
schluckte, um den Speichel herbeizuzwingen. Der Brief hatte noch
zwei Seiten; sie klebten einen Augenblick lang zusammen und
widerstanden ihren Bemühungen, sie zu trennen, doch dann gaben sie
nach.
Postscriptum. 20. Oktober
Wir sind alle in Sicherheit, obwohl unsere
Rettung eine sehr traurige Angelegenheit ist; ich werde Dir später
davon erzählen, da mir im Moment der Sinn nicht sehr danach
steht.
Ian hatte die Masern, genau wie Lord John, doch
sie sind beide wieder gesund, und Claire bittet mich, Dir zu sagen,
daß es Ian ausgezeichnet geht. Du brauchst Dich um ihn nicht zu
ängstigen. Er schreibt Dir selbst, damit Du siehst, daß es wahr
ist.
- J.
Auf dem letzten Blatt stand eine andere
Handschrift, diesmal ordentlich und sorgsam zu einer ebenmäßigen
Schräglage ausgebildet, obwohl hier und dort ein Klecks die Seite
entstellte, vielleicht, weil der Schreiber krank war, vielleicht
auch, weil sein Schreibwerkzeug beschädigt war.
Liebe Mama -
Ich bin krank gewesen, aber es geht mir wieder
gut. Ich hatte Fieber mit ganz merkwürdigen Träumen voll seltsamer
Dinge. Ein großer Wolf ist gekommen und hat mit einer Männerstimme
zu mir gesprochen, doch Tante Claire sagt, das muß Rollo gewesen
sein, der die ganze Zeit bei mir war, als ich krank war, er ist ein
sehr lieber Hund und beißt nicht sehr oft.
Die Masern sind in kleinen Pocken unter meiner
Haut ausgebrochen und haben fürchterlich gejuckt. Ich hätte glauben
können, ich hätte mich in einen Ameisenhaufen gesetzt oder wäre in
ein Hornissennest
spaziert. Mein Kopf fühlte sich doppelt so groß an wie sonst, und
ich habe heftig geniest.
Heute habe ich drei Eier und Porridge zum
Frühstück gegessen, und ich bin zweimal allein zum Abort gegangen,
also geht es mir ganz gut, obwohl ich zuerst dachte, ich wäre von
der Krankheit blind geworden - ich konnte nur gleißendes Licht
sehen, als ich hinausgegangen bin, doch Tante Claire hat gesagt,
das wird bald besser, und so war es auch.
Ich schreibe später mehr - Fergus wartet darauf,
daß er den Brief mitnehmen kann.
Dein sehr gehorsamer und ergebener
Sohn,
Ian Murray
Ian Murray
P. S. Der Stachelschweinschädel ist für Henry
und Matthew, ich hoffe, er gefällt ihnen.
Brianna blieb noch eine Zeitlang auf dem Hocker
sitzen, die weißgetünchte Wand kühl in ihrem Rücken. Sie glättete
die Seiten des Briefes und starrte abwesend auf das Bücherregal.
Robinson Crusoe fiel ihr ins Auge, als sich das Licht in dem
goldenen Titel auf dem Bücherrücken fing.
Eine wilde Gegend, hatte Jenny gesagt. Und eine
gefährliche Gegend, wo das Leben von einem Pulsschlag zum nächsten
vom komischen Problem eines Schweins in der Vorratskammer in die
unmittelbare Bedrohung durch einen gewaltsamen Tod umschlagen
konnte.
»Und ich hatte gedacht, das hier wäre
primitiv«, murmelte sie mit einem Blick auf das Torffeuer in der
Feuerstelle.
Also doch nicht so primitiv, dachte sie, als sie
Ian über den Scheunenhof und an den Nebengebäuden vorbei aufs freie
Feld folgte. Alles war gut in Schuß und ordentlich, die
Trockenmauern und Gebäude in gutem Zustand, wenn auch ein bißchen
schäbig. Die Hühner waren sorgsam in ihren eigenen Hof gesperrt,
und eine Wolke aus Fliegen, die hinter der Scheune schwebte, zeigte
die geziemende Position eines Misthaufens in ausreichender
Entfernung vom Haus an.
Der einzige Unterschied, den sie zwischen diesem
Bauernhof und einem modernen hatte sehen können, war das Fehlen vor
sich hinrostender Geräte; eine Schaufel lehnte an der Scheune, und
in einem Verschlag standen zwei oder drei zerbeulte Pflugscharen,
doch es gab
keinen klapprigen Traktor, kein Kabelgewirr und keine verstreuten
Metallteile.
Die Tiere waren gesund, wenn auch etwas zierlicher
als ihre modernen Gegenstücke. Ein lautes »Bäääh!« verriet die
Anwesenheit einer kleinen Herde gutgenährter Schafe auf einer
Koppel am Hang. Die Tiere trabten neugierig an den Zaun, als sie
vorbeikamen; ihre Wollrücken wackelten und ihre gelben Augen
glänzten erwartungsvoll.
»Verwöhnte Biester«, sagte Ian, lächelte aber
dabei. »Ihr glaubt auch, jeder der hier heraufkommt, kommt euch
füttern, was? Die gehören meiner Frau«, fügte er, an Brianna
gewandt, hinzu. »Sie gibt ihnen die ganzen Abfälle aus dem
Gemüsegarten, bis man meint, sie müßten platzen.«
Der Hammel, ein majestätisches Geschöpf mit großen,
gewundenen Hörnern, streckte seinen Kopf über den Zaun und gab ein
gebieterisches »Beheheh!« von sich, das seine getreue Herde
unverzüglich aufgriff.
»Verdrück dich, Hughie«, sagte Ian im Tonfall
nachsichtiger Verachtung. »Noch bist du keine Hammelkeule, aber der
Tag wird kommen, aye?« Er verabschiedete den Hammel mit einer
Handbewegung und wandte sich mit schwingendem Kilt
hügelwärts.
Brianna fiel einen Schritt zurück und beobachtete
ihn fasziniert beim Gehen. Ian trug seinen Kilt mit einer Aura, die
für sie völlig neu war; nicht als Kostüm oder Uniform - er war sich
des Kleidungsstückes bewußt, doch eher so, als wäre es ein Teil
seines Körpers denn ein Bekleidungsgegenstand.
Dennoch wußte sie, daß es alles andere als
alltäglich für ihn war, ihn zu tragen; Jenny hatte die Augen weit
aufgerissen, als er zum Frühstück heruntergekommen war; dann hatte
sie den Kopf gesenkt und ihr Lächeln in ihrer Tasse versteckt. Der
kleine Jamie hatte mit einer schwarzen Augenbraue in Richtung
seines Vaters gezuckt, sich einen verständnislosen Blick
eingefangen und sich mit einem leichten Achselzucken und einem
jener leisen, unterirdischen Geräusche, die man bei schottischen
Männern so häufig hört, seinem Würstchen gewidmet.
Der Stoff des Plaids war alt - sie konnte sehen,
daß er in den Kniffen verblichen und am Saum verschlissen war
-,doch er war sorgsam aufbewahrt worden. Nach Culloden hatten sie
ihn wahrscheinlich versteckt, zusammen mit ihren Pistolen und
Schwertern, den Dudelsäcken und ihren Melodien - all den Symbolen
ihres unterworfenen Stolzes.
Nein, nicht ganz unterworfen, dachte sie und spürte
ein merkwürdiges, leichtes Ziehen im Herzen. Sie dachte an Roger
Wakefield, wie er unter dem grauen Himmel auf dem Schlachtfeld von
Culloden neben ihr hockte, sein Gesicht hager und dunkel, die Augen
vom Wissen um die Toten ringsum überschattet.
»Schotten haben ein langes Gedächtnis«, hatte er
gesagt, »und sie sind kein sehr nachsichtiges Volk. Da draußen
steht ein Clanstein, auf dem der Name MacKenzie steht, und darunter
liegt eine Menge meiner Verwandten.« Dann hatte er gelächelt, doch
es war nicht im Scherz gewesen. »Ich nehme das nicht so persönlich
wie manch anderer, aber ich habe es auch nicht vergessen.«
Nein, nicht unterworfen. Nicht in tausend Jahren
voll Zwist und Verrat, und nicht jetzt. Besiegt, verstreut, aber
immer noch lebendig. Wie Ian, verstümmelt, aber aufrecht. Wie ihr
Vater, vertrieben, aber immer noch ein Highlander.
Mit einiger Anstrengung schob sie den Gedanken an
Roger von sich und beeilte sich, um mit Ians langen, hinkenden
Schritten mitzuhalten.
Sein hageres Gesicht hatte vor Freude
aufgeleuchtet, als sie ihn gebeten hatte, ihr Lallybroch zu zeigen.
Sie hatten abgesprochen, daß Jamie sie in einer Woche nach
Inverness bringen und dafür sorgen würde, daß sie einen Platz auf
einem Schiff in die Kolonien fand, und sie hatte vor, diese Zeit
auszunutzen.
Sie wanderten - eiligen Schrittes trotz Ians Bein -
durch die Felder zu den niedrigen Hügeln, die das Tal im Norden
begrenzten und zu dem Paß in den schwarzen Felsen hin anstiegen. Es
war wunderschön hier, dachte sie. Die blaßgrünen Hafer- und
Gerstenfelder wogten im wechselnden Licht, Wolkenschatten jagten
durch die Frühlingssonne, getrieben vom Wind, der die sprießenden
Grasstengel niederbeugte.
Ein Feld lag in langen, dunklen Furchen aus
nackter, aufgehäufter Erde da. Am Rand des Feldes lag ein großer
Haufen grober Steine ordentlich aufgestapelt.
»Ist das ein Grabhügel?« fragte sie Ian und senkte
ehrfurchtsvoll die Stimme. Solche Hügel dienten dem Gedenken der
Toten, hatte ihre Mutter ihr gesagt - manche seit uralter Zeit
-,und jeder Besucher fügte im Vorübergehen einen neuen Stein
hinzu.
Er sah sie überrascht an, folgte ihrer
Blickrichtung und grinste.
»Ah, nein, Kleine. Das sind die Steine, die im
Frühling beim Pflügen zum Vorschein gekommen sind. Jedes Jahr holen
wir sie aus dem Boden, und jedes Jahr kommen neue. Hol mich der
Teufel, wenn ich
weiß, woher sie kommen«, fügte er hinzu und schüttelte resigniert
den Kopf. »Ich schätze, die Steinfeen kommen des Nachts und säen
sie aus.«
Sie wußte nicht, ob das ein Witz war oder nicht.
Unsicher, ob sie lachen sollte, stellte sie statt dessen eine
Frage.
»Was werdet ihr hier pflanzen?«
»Oh, es ist schon gepflanzt.« Ian beschattete seine
Augen und blinzelte voller Stolz über das langgezogene Feld hinweg.
»Das ist unser Erdäpfelfeld. Ende des Monats sind die neuen Ranken
da.«
»Erdäpfel - oh, Kartoffeln!« Sie betrachtete das
Feld mit neuerwachtem Interesse. »Mama hat mir davon
erzählt.«
»Aye, es war Claires Idee - und zwar eine gute. Die
Kartoffeln haben uns schon mehr als einmal vor dem Verhungern
gerettet.« Er lächelte kurz, sagte aber nichts mehr und schritt
weiter auf die wilden Hügel jenseits der Felder zu.
Es war ein langer Weg. Der Tag war windig, aber
warm, und Brianna schwitzte, als sie endlich mitten auf dem groben
Pfad in der Heide anhielten. Der enge Pfad schien unentschlossen
zwischen einem steilen Berghang und einem noch steiler abfallenden
Felsvorsprung zu schweben, der in einem plätschernden Bächlein
endete.
Ian blieb stehen, wischte sich mit dem Ärmel über
die Stirn und bedeutete ihr, sich zwischen die aufgehäuften
Granitbrocken zu setzen. Von diesem Aussichtspunkt aus lag das Tal
unter ihnen, der Hof sah klein und deplaziert aus, seine Felder
eine schwache Einmischung der Zivilisation in die umliegende
Wildnis aus Felsgipfeln und Heide.
Er holte eine Steingutflasche aus dem Sack, den er
bei sich trug, und entkorkte sie mit den Zähnen.
»Daran ist auch deine Mutter schuld«, sagte er
grinsend und gab ihr die Flasche. »Daß ich meine Zähne noch habe,
meine ich.« Er fuhr sich nachdenklich mit der Zungenspitze über die
Schneidezähne und schüttelte den Kopf.
»Hat es wirklich mit dem Grünzeug, deine Mutter,
aber ich kann mich nicht beschweren, was? Die meisten Männer in
meinem Alter essen jetzt nur noch Porridge.«
»Sie hat immer gesagt, ich müßte mein Gemüse
aufessen, als ich klein war. Und nach jeder Mahlzeit Zähne putzen.«
Brianna nahm ihm die Flasche ab und kippte den Inhalt in ihren
Mund; das Ale war kräftig und bitter, aber angenehm kühl nach dem
langen Weg.
»Als du klein warst, was?« Belustigt musterte Ian
sie der Länge nach. »So ein Prachtmädchen habe ich noch nicht oft
gesehen. Ich würde sagen, deine Mutter hat ihre Sache gut gemacht,
aye?«
Sie lächelte und gab ihm die Flasche zurück.
»Zumindest war sie so klug, einen großen Mann zu
heiraten«, sagte sie sarkastisch.
Ian lachte und wischte sich mit dem Handrücken über
den Mund. Er sah sie liebevoll an, und Wärme lag in seinen braunen
Augen.
»Ah, es ist eine Freude, dich anzusehen,
Schätzchen. Du bist ihm sehr ähnlich, das ist wahr. Himmel, was
würde ich darum geben, dabeizusein, wenn Jamie dich sieht!«
Sie blickte zu Boden und biß sich auf die Lippen.
Der Boden war dicht mit Farnen bestanden und ihr Weg hügelaufwärts
war deutlich daran zu verfolgen, daß sie die grünen Farnwedel, die
den Pfad überwuchert hatten, zertreten und zur Seite gedrückt
hatten.
»Ich weiß nicht, ob er Bescheid weiß oder nicht,«
platzte sie heraus. »Über mich.« Sie sah zu ihm auf. »Er hat euch
nichts gesagt.«
Ian lehnte sich ein wenig zurück und runzelte die
Stirn.
»Nein, das stimmt«, sagte er langsam. »Aber ich
denke, er hatte wohl keine Zeit, davon zu sprechen, selbst wenn er
es wußte. Er ist nicht lange geblieben, das letzte Mal, als er hier
war mit Claire. Und dann war es ein solches Durcheinander, mit
allem, was passiert ist…« Er hielt inne, spitzte die Lippen und sah
sie an.
»Deine Tante macht sich deswegen große Sorgen«,
sagte er. »Sie meint, du machst ihr vielleicht Vorwürfe.«
»Vorwürfe?« Sie starrte ihn verwundert an.
»Wegen Laoghaire.« Seine braunen Augen fixierten
die ihren gebannt.
Ein leiser Schauer überkam Brianna bei dem Gedanken
an diese blassen Augen, kalt wie Murmeln, und die haßerfüllten
Worte der Frau. Sie hatte sie als schlichte Bosheit abgetan, doch
der »Zuhälter« und der »Betrüger« klangen ihr noch unangenehm in
den Ohren.
»Was hat denn Tante Jenny mit Laoghaire zu tun
gehabt?«
Ian seufzte und strich sich eine dichte Strähne
seines braunen Haars zurück, die ihm ins Gesicht gefallen
war.
»Sie hat dafür gesorgt, daß Jamie die Frau
geheiratet hat. Sie hat es wirklich gut gemeint«, sagte er warnend.
»Wir haben Claire schließlich die ganzen Jahre lang für tot
gehalten.«
Sein Tonfall war fragend, doch Brianna nickte nur,
den Blick auf den Boden gerichtet, und zog den Stoff über ihrem
Knie glatt. Dies waren gefährliche Gefilde; besser, nichts zu
sagen, wenn es möglich war. Einen Moment später fuhr Ian for.
»Das war, als er aus England heimgekommen war - er
hat dort nach dem Aufstand ein paar Jahre als Gefangener
gelebt…«
»Ich weiß.«
Ians Augenbrauen fuhren überrascht in die Höhe,
doch er sagte nichts und schüttelte nur den Kopf.
»Aye, gut. Als er zurückkam war er - verändert. Na
ja, das ist verständlich, aye?« Er lächelte kurz und senkte dann
den Blick, während seine Finger den Stoff seines Kilts in Falten
legten.
»Es war, als redete man mit einem Geist«, sagte er
leise. »Er sah einen an und lächelte und antwortete - aber
eigentlich war er nicht da.« Er holte tief Luft, und sie sah die
Falten zwischen seinen Augen, tief eingegraben vor
Konzentration.
»Vorher - nach Culloden - da war es anders. Er war
schwer verletzt - und er hatte Claire verloren…« Er sah sie kurz
an, doch sie schwieg immer noch, und er sprach weiter.
»Das war eine furchtbare Zeit. Viele Menschen sind
damals gestorben; im Kampf, durch Krankheiten oder vor Hunger. Die
englischen Soldaten sind mordend und brandschatzend durchs Land
gezogen. In so einer Zeit kann man ans Sterben nicht einmal denken,
weil man viel zu sehr damit beschäftigt ist, zu überleben und seine
Familie am Leben zu erhalten.«
Ein schwaches Lächeln umspielte Ians Lippen, und
seine persönliche Belustigung tauchte den Kummer der Erinnerung in
ein seltsames Licht.
»Jamie hat sich versteckt«, sagte er und wies mit
einer abrupten Geste auf den Berghang über ihnen. »Da. Hinter dem
großen Ginsterbusch auf halbem Weg zum Gipfel ist eine kleine
Höhle. Ich wollte sie dir zeigen, deshalb habe ich dich
hergebracht.«
Ihr Blick folgte seinem Finger den mit Heide und
Felsbrocken übersäten Hang hinauf, auf dem Unmengen winziger Blumen
wuchsen. Sie sah keine Spur von einer Höhle, doch der Ginsterbusch
mit seinen flammendgelben Blüten war unübersehbar und leuchtete wie
eine Fackel.
»Einmal bin ich heraufgekommen, um ihm etwas zu
essen zu bringen, als er Fieber hatte. Ich habe ihm gesagt, er
müßte mit mir zum Haus herunterkommen, weil Jenny Angst hatte, er
würde hier oben ganz allein sterben. Er hat seine Augen aufgemacht,
die vor Fieber glänzten, und seine Stimme war so heiser, daß ich
ihn kaum hören konnte. Er sagte, Jenny sollte sich keine Sorgen
machen; es sähe zwar so aus, als hätte sich alle Welt vorgenommen,
ihn umzubringen, doch er hätte nicht vor, es ihnen leicht zu
machen. Dann hat er seine Augen wieder zugemacht und ist
eingeschlafen.«
Ian sah sie voll Ironie an. »Ich war mir nicht
sicher, ob er wirklich
das letzte Wort behalten würde, wenn es darum ging, ob er sterben
würde oder nicht. Also bin ich über Nacht bei ihm geblieben. Aber
er hatte recht; er ist ziemlich stur, weißt du?« In seinem Tonfall
lag der leise Anflug einer Entschuldigung.
Brianna nickte, doch der Kloß in ihrem Hals
hinderte sie am Sprechen. Statt dessen stand sie auf und ging den
Berg hinauf. Ian protestierte nicht, sondern blieb auf seinem
Felsen sitzen und beobachtete sie.
Es war ein steiler Aufstieg, und kleine, dornige
Pflanzen verfingen sich in ihren Strümpfen. Als sie sich der Höhle
näherte, mußte sie auf allen vieren aufwärts klettern, um auf dem
steilen Granithang das Gleichgewicht zu behalten.
Der Höhleneingang war kaum mehr als eine Spalte im
Felsen, deren Öffnung sich nach unten hin zu einem kleinen Dreieck
verbreiterte. Sie kniete sich hin und steckte Kopf und Schultern
hinein.
Die Kühle traf sie unvermittelt; sie spürte, wie
die Feuchtigkeit auf ihren Wangen kondensierte. Es dauerte einen
Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten,
doch es sickerte genug Licht an ihren Schultern vorbei in die
Höhle, daß sie etwas sehen konnte.
Sie war vielleicht zweieinhalb Meter lang und zwei
Meter breit, eine halbdunkle Höhlung, deren Boden aus Erde bestand
und deren Decke so niedrig war, daß man nur in der Nähe des
Eingangs aufrecht stehen konnte. Wenn man sich längere Zeit darin
aufhielt, mußte man sich vorkommen, als wäre man eingemauert.
Sie zog schnell den Kopf heraus und atmete die
frische Frühlingsluft in tiefen Zügen ein. Ihr Herz klopfte
heftig.
Sieben Jahre! Sieben Jahre hier gelebt zu haben, in
Schmutz und Kälte und nagendem Hunger. Ich würde es keine sieben
Tage aushalten, dachte sie.
Wirklich nicht? fragte ein anderer Teil
ihres Verstandes. Und da war es wieder, das winzige Klicken des
Wiedererkennens, das sie verspürt hatte, als sie Ellens Porträt
betrachtet und dabei das Gefühl hatte, daß sich ihre Finger um
einen unsichtbaren Pinsel schlossen.
Sie drehte sich langsam um und setzte sich mit dem
Rücken zur Höhle hin. Es war sehr still hier auf dem Berghang, doch
still in der Art der Berge und Wälder, eine Stille, die alles
andere als lautlos war, sondern sich aus permanenten
Einzelgeräuschen zusammensetzte.
In dem Ginsterbusch neben ihr erklang das leise
Summen der Bienen, die die gelben Blüten abarbeiteten und mit
Pollen bestäubt waren. Weit unten rauschte der Bach, ein tiefer
Ton, der wie ein Echo
das Rauschen des Windes aufgriff, der hier oben an die Blätter
rührte, in den Zweigen klapperte und über die schroffen Felsen
hinwegseufzte.
Sie saß still und lauschte und glaubte zu wissen,
was Jamie Fraser hier gefunden hatte.
Er war hier allein, aber nicht einsam gewesen. Er
hatte nicht gelitten, sondern durchgehalten, eine grimmige
Verwandtschaft mit den Felsen und dem Himmel entdeckt. Und einen
rauhen Frieden gefunden, der stärker war als die körperlichen
Unannehmlichkeiten, und statt dessen die Wunden der Seele
heilte.
Möglicherweise hatte er die Höhle nicht als Kerker,
sondern als Zufluchtsort empfunden; aus ihren Felsen Kraft gezogen
wie Antaeus aus der Erde. Dieser Ort war genauso ein Teil von ihm,
der hier geboren war, wie er Teil von ihr war, die ihn noch nie
zuvor gesehen hatte.
Ian saß immer noch geduldig unten; er hatte die
Hände über den Knien gefaltet und blickte über das Tal. Sie
streckte die Hand aus und brach vorsichtig einen Ginsterzweig ab,
wobei sie sich vor den Stacheln in acht nahm. Sie legte ihn in den
Höhleneingang, beschwerte ihn mit einem kleinen Stein und machte
sich dann vorsichtig auf den Rückweg nach unten.
Ian mußte gehört haben, wie sie näher kam, doch er
wandte sich nicht um. Sie setzte sich neben ihn.
»Ist es jetzt ungefährlich für dich, das
anzuziehen?« fragte sie und wies kopfnickend auf seinen Kilt.
»Oh, aye«, sagte er. Er blickte nach unten und rieb
mit seinen Fingern über den weichen, abgetragenen Wollstoff. »Es
ist schon ein paar Jahre her, seit die Soldaten das letzte Mal hier
waren. Was gibt es hier schließlich noch?« Er deutete auf das Tal
unter ihnen.
»Sie haben alles mitgenommen, was sie an Wertvollem
finden konnten. Was sie nicht tragen konnten, haben sie zerstört.
Es ist nicht viel übrig außer dem Land, oder? Und ich glaube nicht,
daß sie sich dafür besonders interessiert haben.« Sie konnte sehen,
daß ihm irgend etwas Sorgen bereitete; sein Gesicht konnte die
Gefühle seines Besitzers nicht verbergen.
Sie beobachtete ihn einen Augenblick lang und sagte
dann: »Du bist immer noch hier. Du und Jenny.«
Seine Hand kam zur Ruhe und legte sich auf das
Plaid. Er hatte die Augenlider gesenkt und sein gutmütiges,
verwittertes Gesicht der Sonne zugewandt.
»Aye, das stimmt«, sagte er schließlich. Er öffnete
die Augen wieder
und sah sie an. »Und du auch. Wir haben uns letzte Nacht ein
bißchen unterhalten, deine Tante und ich. Wenn du Jamie siehst und
ihr euch gut versteht - dann frag ihn doch bitte, was wir tun
sollen?«
»Tun? In welcher Hinsicht?«
»Mit Lallybroch.« Er schwenkte den Arm und wies auf
das Tal und das Haus. Er wandte sich ihr mit einem sorgenvollen
Blick zu.
»Du weißt vielleicht - vielleicht auch nicht -,daß
dein Vater vor Culloden einen Schenkungsbrief geschrieben hat, um
das Gut auf den kleinen Jamie zu überschreiben, falls alles mißlang
und er umkam oder als Verräter verurteilt wurde. Aber das war,
bevor du geboren wurdest; bevor er wußte, daß er selbst ein Kind
haben würde.«
»Ja, das wußte ich.« Plötzlich erkannte sie, worauf
er hinauswollte. Sie legte ihm die Hand auf den Arm, und bei ihrer
Berührung schrak er auf.
»Ich bin nicht deswegen gekommen, Onkel Ian«, sagte
sie leise. »Lallybroch gehört mir nicht - und ich will es nicht.
Ich will nur meinen Vater sehen und meine Mutter.«
Ians Gesicht entspannte sich, und er legte die Hand
auf seinem Arm über die ihre. Einen Augenblick lang sagte er
nichts; dann drückte er sanft ihre Hand und ließ sie los.
»Aye, gut. Aber du sagst es ihm trotzdem; falls er
es möchte…«
»Er möchte es nicht«, unterbrach sie ihn
bestimmt.
Ein schwaches Lächeln nistete verborgen in Ians
Augen.
»Dafür, daß du ihm noch nie begegnet bist, weißt du
ja sehr gut, was er möchte.«
Sie lächelte ihn an, die Frühlingssonne warm auf
ihren Schultern.
»Vielleicht tue ich das.«
»Aye, deine Mutter hat dir sicher von ihm erzählt.
Und sie hat ihn gekannt, Sassenach oder nicht. Aber sie ist auch
immer… etwas Besonderes gewesen, deine Mutter.«
»Ja.« Sie zögerte einen Augenblick, denn sie wollte
mehr über Laoghaire hören, war sich aber nicht sicher, wie sie ihre
Frage formulieren sollte. Ehe sie sich etwas überlegen konnte,
stand er auf, strich seinen Kilt glatt, machte sich auf den Weg und
zwang sie damit, aufzustehen und ihm zu folgen.
»Was ist ein Schattenbild, Onkel Ian?« fragte sie
seinen Hinterkopf. Mit den Schwierigkeiten des Abstiegs
beschäftigt, drehte er sich nicht um, doch sie sah, wie er leicht
stolperte, als sein Holzbein in den lockeren Boden einsank. Am Fuß
des Hügels wartete er auf seinen Stock gestützt auf sie.
»Du denkst an das, was Laoghaire gesagt hat?«
fragte er. Ohne ihr
Nicken abzuwarten, wandte er sich um und humpelte am Fuß des
Hügels entlang zu dem kleinen Bach, der durch die Felsen
herabgeflossen kam.
»Ein Schattenbild ist, wenn man einen Menschen
sieht, obwohl dieser weit weg ist«, sagte er. »Manchmal ist es
jemand, der in der Ferne gestorben ist. Es bringt Unglück, ein
solches Bild zu sehen, aber noch größeres Unglück, seinem eigenen
zu begegnen - wenn das passiert, dann stirbt man.«
Es war die absolute Nüchternheit seines Tonfalls,
die ihr einen Schauer über den Rücken jagte.
»Ich hoffe, es passiert mir nicht«, sagte sie.
»Aber sie hat gesagt, Laoghaire…« Sie stolperte über den
Namen.
»L’hiery«, verbesserte Ian. »Aye, stimmt. Es war
bei ihrer Hochzeit mit Jamie, als Jenny das Bild deiner Mutter
gesehen hat, das ist wahr. Da wußte sie, daß sie kein gutes Paar
waren, aber es war zu spät, um es rückgängig zu machen.«
Er kniete sich umständlich auf sein gesundes Knie
und spritzte sich Wasser aus dem Bach ins Gesicht. Brianna tat es
ihm gleich und trank mehrere Hände voll kaltem, nach Torf
schmeckendem Wasser. Da sie kein Handtuch hatte, zog sie sich den
Hemdschoß aus dem Hosenbund und wischte sich das Gesicht ab. Sie
erhaschte Ians schockierten Blick angesichts ihres nackten Bauches,
und ließ abrupt den Hemdschoß fallen, wobei ihre Wangen rot
anliefen.
»Du wolltest mir erzählen, warum mein Vater sie
geheiratet hat«, sagte sie, um ihre Verlegenheit zu
verbergen.
Ians Wangen hatten rote Flecken bekommen, und er
wandte sich hastig ab und redete, um seine Verwirrung zu
überspielen.
»Aye. Es war so, wie ich gesagt habe - als Jamie
aus England kam, war es, als sei sein Lebensfunke verloschen, und
es gab hier nichts, womit man ihn hätte wieder anfachen können. Ich
weiß nicht genau, was in England geschehen ist, doch irgend etwas
Schreckliches hat sich dort zugetragen, so wahr ich lebe.«
Er zuckte mit den Achseln, und seine Wangen nahmen
wieder die normale, sonnenverbrannte Bräune an.
»Nach Culloden war er tief verletzt, doch wir
hatten hier immer noch unseren eigenen Kampf auszufechten, und das
hat ihn am Leben erhalten. Als er aus England zurückkam - da gab es
hier nichts mehr für ihn.« Er sprach leise, die Augen zu Boden
gerichtet, weil er auf dem felsigen Untergrund darauf achten mußte,
wohin er trat.
»Also hat Jenny ihn mit Laoghaire verkuppelt.« Er
sah sie mit leuchtenden Augen an.
»Du bist vielleicht alt genug, es zu wissen, auch
wenn du noch nicht verheiratet bist. Was eine Frau für einen Mann
tun kann - oder er für sie, nehme ich an. Ihn zu heilen, meine ich.
Die Leere in ihm zu füllen.« Er berührte geistesabwesend sein
verstümmeltes Bein. »Jamie hat Laoghaire aus Mitleid geheiratet,
glaube ich - und wenn sie ihn wirklich gebraucht hätte - aye, na
ja.« Er zuckte erneut die Achseln und lächelte sie an.
»Es hat keinen Zweck, darüber zu sinnieren, was
hätte geschehen können oder sollen, nicht wahr? Aber er war schon
einige Zeit vor der Rückkehr deiner Mutter aus Laoghaires Haus
ausgezogen, das solltest du wissen.«
Brianna spürte einen schwachen Sog der
Erleichterung. »Oh. Das ist gut zu wissen. Und meine Mutter - als
sie zurückkam…«
»Er war sehr glücklich, sie zu sehen«, sagte Ian
schlicht. Diesmal erhellte das Lächeln sein ganzes Gesicht wie
Sonnenschein. »Und ich auch.«