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Lallybroch
Schottland, Juni 1769
Der Name des Rotfuchses war Brutus, doch glücklicherweise schien er bisher nicht auf den Charakter des Pferdes hinzuweisen. Es war zu gesetzt, um ein Verschwörer zu sein, stark und zuverlässig - oder wenn nicht zuverlässig, so doch zumindest in sein Schicksal ergeben. Es hatte sie ohne einen Fehltritt durch die sommergrünen Täler und felsigen Schluchten getragen, sie höher und höher hinaufgebracht, auf den guten Straßen, die der englische General Wade fünfzig Jahre zuvor gebaut hatte, und den schlechten Straßen jenseits der Reichweite des Generals. Sie waren durch überwachsene Bachläufe geplanscht und in Höhen gelangt, wo die Straßen zu Rotwildwechseln im Moor dahinschwanden.
Brianna legte die Zügel auf Brutus’ Hals, um ihn nach der letzten Steigung ausruhen zu lassen, und saß still da, während sie das kleine Tal zu ihren Füßen überblickte. Das große, weißgetünchte Bauernhaus stand friedlich inmitten blaßgrüner Hafer- und Gerstenfelder, seine Fenster und Schornsteine waren in grauen Stein gefaßt, der ummauerte Gemüsegarten und die zahlreichen Nebengebäude scharten sich um das Haus wie Küken um eine große, weiße Henne.
Sie hatte es noch nie gesehen, doch sie hatte keinen Zweifel. Sie hatte oft genug gehört, wie ihre Mutter Lallybroch beschrieb. Und außerdem war es meilenweit das einzige größere Haus; in den letzten drei Tagen hatte sie nur winzige, steinerne Bauernkaten gesehen, viele verlassen und zusammengefallen, manche nur noch feuergeschwärzte Ruinen.
Aus einem Schornstein unten stieg Rauch auf; es war jemand zu Hause. Es war fast Mittag; vielleicht waren alle drinnen und aßen?
Sie schluckte; ihr Mund war trocken vor Aufregung und Erwartungsfreude. Wen würde sie zuerst sehen? Ian? Jenny? Und wie würden sie ihr Erscheinen und ihre Erklärungen aufnehmen?
Sie hatte sich entschlossen, einfach die Wahrheit zu sagen, zumindest darüber, wer sie war und was sie hier suchte. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, wie sehr sie ihrem Vater ähnelte; sie würde auf diese Ähnlichkeit zählen müssen, um sie zu überzeugen. Bei den Highlandern, denen sie bis jetzt begegnet war, hatten ihr Aussehen und ihre fremdartige Aussprache Argwohn erregt; vielleicht würden die Murrays ihr nicht glauben. Dann erinnerte sie sich und berührte ihre Rocktasche; nein, sie würden ihr glauben; schließlich hatte sie einen Beweis.
Ein plötzlicher Gedanke durchzuckte sie. Konnte es sein, daß sie jetzt hier waren? Jamie Fraser und ihre Mutter? Die Idee war ihr noch gar nicht gekommen. Sie war so fest davon überzeugt gewesen, daß sie in Amerika waren - aber das mußte ja nicht so sein. Sie wußte nur, daß sie 1776 in Amerika sein würden; wo sie jetzt waren, war nicht zu sagen.
Brutus warf den Kopf hoch und wieherte laut. Hinter ihnen erklang ein antwortendes Wiehern, und Brianna nahm die Zügel auf, als Brutus sich umdrehte. Er hob den Kopf und wieherte erneut, und seine Nüstern weiteten sich interessiert, als ein hübscher Brauner um die Straßenbiegung trabte, der einen hochgewachsenen, in Braun gekleideten Mann trug.
Der Mann hielt sein Pferd einen Augenblick an, gab ihm dann aber sacht die Ferse und kam langsam näher. Sie sah, daß er jung war und trotz seines Hutes tiefgebräunt; er mußte viel Zeit unter freiem Himmel verbringen. Seine Rockschöße waren zerknittert und seine Strümpfe mit Staub und Fuchsschwanzgräsern übersät.
Er näherte sich argwöhnisch und nickte, als er bis auf Sprechweite herangekommen war. Dann sah sie, wie er sich überrascht versteifte, und sie lächelte vor sich hin.
Er hatte gerade gemerkt, daß sie eine Frau war. Die Männerkleider, die sie trug, würden aus der Nähe niemanden täuschen; »jungenhaft« war das letzte Wort, das man benutzen würde, um ihre Figur zu beschreiben. Doch sie erfüllten hinlänglich ihren Zweck - man konnte bequem damit reiten, und aufgrund ihrer Größe sah sie aus der Entfernung wie ein Mann zu Pferd aus.
Der Mann zog seinen Hut und verneigte sich vor ihr; die Überraschung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er war nicht wirklich gutaussehend, doch er hatte ein freundliches, kraftvolles Gesicht mit fedrigen Brauen - die er zur Zeit hochgezogen hatte - und braune Augen unter einer dichten Kappe aus lockigem, schwarzem Haar, das vor Gesundheit glänzte.
»Madame«, sagte er. »Kann ich Euch helfen?«
Sie nahm ebenfalls den Hut ab und lächelte ihn an.
»Das hoffe ich«, sagte sie. »Ist das hier Lallybroch?«
Er nickte, und Argwohn gesellte sich zu seiner Überraschung, als er ihren merkwürdigen Akzent hörte.
»So ist es. Habt Ihr hier zu tun?«
»Ja«, sagte sie fest. »Das habe ich.« Sie richtete sich im Sattel auf und holte tief Luft. »Ich bin Brianna… Fraser.« Es fühlte sich merkwürdig an, es laut zu sagen; sie hatte den Namen noch nie benutzt. Doch es fühlte sich erstaunlich richtig an.
Der Argwohn in seinem Gesicht verblaßte, nicht aber die Verwunderung. Er nickte zurückhaltend.
»Euer Diener, Ma’am. Jamie Fraser Murray«, fügte er formell hinzu und verbeugte sich, »von Broch Tuarach.«
»Der kleine Jamie!« rief sie aus, und ihre Heftigkeit erschreckte ihn. »Du bist der kleine Jamie!«
»So nennt mich meine Familie«, sagte er steif und vermittelte ihr erfolgreich den Eindruck, daß er etwas dagegen hatte, wenn fremde Frauen in unschicklicher Kleidung den Namen leichtfertig in den Mund nahmen.
»Erfreut, dich kennenzulernen«, sagte sie unbeeindruckt. Sie beugte sich im Sattel vor und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin deine Cousine.«
Seine Augenbrauen, die sich während der Begrüßung gesenkt hatten, fuhren wieder hoch. Er sah ihre ausgestreckte Hand an, dann, ungläubig, ihr Gesicht.
»Jamie Fraser ist mein Vater«, sagte sie.
Seine Kinnlade fiel herab, und einen Augenblick lang glotzte er sie einfach nur an. Er betrachtete sie eingehend von Kopf bis Fuß, warf einen genauen Blick auf ihr Gesicht, und dann breitete sich langsam ein Lächeln in dem seinen aus.
»Hol mich der Teufel, wenn er es nicht ist!« sagte er. Er ergriff ihre Hand und drückte sie so fest, daß die Knochen knirschten. »Himmel, du siehst genauso aus wie er!«
Er lachte, und die Freude ließ sein Gesicht verwandelt aussehen.
»Himmel!« sagte er. »Meine Mutter bekommt Zustände!«
 
Die mächtige Kletterrose, die den Eingang überwucherte, hatte gerade ausgeschlagen, und Hunderte von winzigen, grünen Knospen waren in der Entstehung. Brianna blickte nach oben, während sie dem kleinen Jamie folgte, und ihr Blick fiel auf den Türsturz.
Fraser 1716 war in das verwitterte Holz geschnitzt. Der Anblick elektrisierte sie, und sie blieb einen Augenblick stehen, starrte den Namen an und spürte den sonnengewärmten Balken unter ihrer Hand.
»Alles in Ordnung, Cousine?« Jamie hatte sich umgewandt und sah sie fragend an.
»Bestens.« Sie eilte hinter ihm ins Haus und zog automatisch den Kopf ein, obwohl es nicht nötig war.
»Wir sind fast alle groß, bis auf Mama und die kleine Kitty«, sagte Jamie lächelnd, als er sah, wie sie sich bückte. »Mein Großvater - und deiner - hat das Haus für seine Frau gebaut, die auch eine sehr große Frau war. Es dürfte das einzige Haus in den Highlands sein, bei dem du durch die Tür gehen kannst, ohne den Kopf einzuziehen oder ihn dir zu stoßen.«
und deiner. Bei seinen beiläufigen Worten wurde ihr trotz der Kühle im Flur plötzlich warm ums Herz.
Frank Randall war ein Einzelkind gewesen und ihre Mutter ebenfalls; sie hatte keine nahen Verwandten - nur ein paar ältere Großtanten in England und ein paar in Australien. Als sie sich auf den Weg machte, war sie nur davon ausgegangen, ihren Vater zu finden; daß sie gleichzeitig eine ganze Familie entdecken würde, war ihr nicht klar gewesen.
Eine Menge von Familie. Als sie den Flur mit seiner narbigen Wandverkleidung betrat, öffnete sich eine Tür, und vier kleine Kinder kamen herausgerannt, gefolgt von einer hochgewachsenen, jungen Frau mit braunen Locken.
»Ah, weg mit euch, schnell weg, ihr kleinen Fische!« rief sie und lief ihnen mit ausgestreckten Händen hinterher, die wie Zangen auf- und zuschnappten. »Gleich frißt euch der böse Krebs, schnapp, schnapp!«
Die Kinder flohen kichernd und kreischend durch den Flur und blickten mit ängstlichem Entzücken über ihre Schultern zurück. Eins von ihnen, ein kleiner Junge von vielleicht vier Jahren, sah Brianna und Jamie im Eingang stehen. Er änderte sofort seine Richtung, raste durch den Flur wie eine durchgehende Lokomotive und rief, »Papa, Papa, Papa!«
Ohne Rücksicht auf Verluste warf sich der Junge gegen Jamies Taille. Letzterer fing ihn geschickt auf und hob den strahlenden, kleinen Jungen hoch.
»Aber, aber, Matthew«, sagte er streng. »Was für Manieren bringt dir deine Tante Janet bei? Was soll denn deine neue Cousine von dir denken, wenn sie dich hier herumsausen sieht wie ein Huhn, das hinter seinen Körnern her ist?«
Der kleine Junge kicherte noch lauter; die Ermahnung erschreckte ihn nicht im mindesten. Er sah Brianna verstohlen an, fing ihren Blick auf und vergrub sein Gesicht prompt an der Schulter seines Vaters. Langsam hob er den Kopf und riskierte einen weiteren Blick. Er riß die Augen auf.
»Pa!« sagte er. »Ist das eine Dame?«
»Natürlich; ich habe dir doch gesagt, sie ist deine Cousine.«
»Aber sie hat Hosen an!« Matthew starrte sie schockiert an. »Eine Dame trägt keine Hosen!«
Die junge Frau sah ganz danach aus, als teilte sie diese Meinung, doch sie unterbrach ihn entschlossen und setzte sich in Bewegung, um dem Vater den Jungen abzunehmen.
»Ja, und sie hat bestimmt einen guten Grund dafür, aber man sagt den Leuten so etwas nicht ins Gesicht. Geh und wasch dich, aye?« Sie stellte ihn auf den Boden und schob ihn sanft an. Er bewegte sich nicht, sondern machte kehrt, um Brianna anzuglotzen.
»Wo ist Oma, Matt?« fragte sein Vater.
»Im Wohnzimmer mit Opa und einer Dame und einem Mann«, antwortete Matthew prompt. »Sie haben zwei Kannen Kaffee getrunken und ein Tablett mit Scones und einen ganzen Dundee-Kuchen gegessen, aber Mama sagt, sie bleiben noch, weil sie hoffen, daß sie hier auch noch zu Abend essen können, und viel Spaß, weil es heute nur Suppe mit ein bißchen Haxe gibt, und verdammt - oh«, er hielt sich die Hand vor den Mund und sah seinen Vater schuldbewußt an, »und verflixt, wenn sie ihnen etwas von der Stachelbeertorte abgibt, egal, wie lange sie bleiben.«
Jamie sah seinen Sohn scharf an und blickte dann fragend zu seiner Schwester. »Eine Dame und ein Mann?«
Janet zog ein angewidertes Gesicht.
»Die Meckerziege und ihr Bruder«, sagte er.
Jamie grunzte und sah dabei Brianna an.
»Ich schätze, dann freut sich Mama wohl über eine Entschuldigung, von ihnen wegzukommen.« Er nickte Matthew zu. »Geh und hol deine Oma, Junge. Sag ihr, wir haben Besuch, den sie sicher sehen möchte. Und sag’s anständig, aye?« Er drehte Matthew zur Rückseite des Hauses um und entließ ihn mit einem sanften Klaps auf den Po.
Der Junge ging los, allerdings langsam und warf Brianna dabei einen Blick voll gebannter Faszination zu.
Jamie wandte sich lächelnd wieder an Brianna.
»Das war mein Ältester«, sagte er. »Und das« - er wies auf die junge Frau -« ist meine Schwester, Janet Murray. Janet - Mistress Brianna Fraser.«
Brianna wußte nicht, ob sie ihr die Hand anbieten sollte oder nicht und benügte sich statt dessen mit einem Kopfnicken und einem Lächeln. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen«, sagte sie freundlich.
Janet riß die Augen vor Erstaunen weit auf, ob über Briannas Worte oder ihren Akzent, konnte Brianna nicht sagen.
Jamie grinste über die überraschte Reaktion seiner Schwester.
»Du errätst niemals, wer sie ist, Jen«, sagte er. »Nicht in tausend Jahren!«
»Cousine«, murmelte sie und betrachtete ihren Gast unverhohlen von oben bis unten. »Sicher, sie sieht aus wie eine MacKenzie. Aber du sagst, sie heißt Fraser…« Ihre Augen weiteten sich plötzlich.
»Oh, das kann nicht sein«, sagte sie zu Brianna. Ein Lächeln breitete sich über ihr ganzes Gesicht und verstärkte ihre Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. »Das kann nicht sein!«
Das Glucksen ihres Bruders wurde durch das Geräusch einer zufallenden Tür und den Klang leiser Schritte auf den Flurdielen unterbrochen.
»Aye, Jamie? Mattie sagt, wir haben einen Gast…« Die leise, energische Stimme erstarb auf einmal. Brianna blickte auf, und das Herz steckte ihr plötzlich im Hals.
Jenny Murray war sehr klein - gerade einen Meter sechzig groß - und so feinknochig wie ein Spatz. Sie stand da und starrte Brianna mit leicht geöffnetem Mund an. Ihre Augen waren tiefblau wie Enziane und fielen um so mehr auf, als ihr Gesicht papierweiß geworden war.
»O je«, sagte sie leise. »O je.« Brianna lächelte zögernd und nickte ihrer Tante zu - der Freundin ihrer Mutter, der geliebten, einzigen Schwester ihres Vaters. Oh bitte! dachte sie, von einer plötzlichen Sehnsucht erfüllt, die so intensiv war wie sie unerwartet kam. Bitte hab’ mich gern, bitte freu’ dich, daß ich hier bin!
Der kleine Jamie verbeugte sich ausgiebig vor seiner Mutter und strahlte.
»Mama, darf ich dir…«
»Jamie Fraser! Ich wußte, daß er wieder da ist - ich hab’s dir doch gesagt, Jenny Murray!«
Vom Ende des Flurs kam eine Stimme in schrillem vorwurfsvollem Tonfall. Brianna blickte erstaunt auf und sah eine Frau aus dem Schatten auftauchen, die vor Empörung knisterte.
»Amyas Kettrik hat mir gesagt, daß er deinen Bruder in der Nähe von Balriggan hat vorbeireiten sehen! Aber nein, du wolltest es ja nicht glauben, nicht wahr? Jenny - hast mich Dummkopf genannt, hast gesagt, Amyas ist blind und Jamie in Amerika! Lügner seid ihr, alle beide, du und Ian. Versucht, den verschlagenen Feigling in Schutz zu nehmen! Hobart!« rief sie und wandte sich zur Rückseite des Hauses. »Hobart! Komm sofort her!«
»Sei still!« sagte Jenny ungeduldig. »Du bist ein Dummkopf, Laoghaire!« Sie riß die Frau am Ärmel und drängte sie, sich umzudrehen. »Und was das Blindsein angeht, sieh sie dir doch an! Bist du schon so verkalkt, daß du keinen erwachsenen Mann mehr von einem Mädchen in Hosen unterscheiden kannst, zum Kuckuck?« Ihr Blick war immer noch fest auf Brianna gerichtet, ihre Augen von einem spekulativen Leuchten erfüllt.
»Ein Mädchen
Die andere Frau drehte sich um und sah Brianna stirnrunzelnd an. Dann blinzelte sie kurz, während ihre Wut verschwand und ihr rundes Gesicht Überraschung zeigte. Sie schnappte nach Luft und bekreuzigte sich.
»Jesses, Maria und Josef! Wer in Gottes Namen seid Ihr?«
Brianna holte tief Luft, blickte von der einen Frau zur anderen und antwortete. Sie versuchte, ihre Stimme nicht zittern zu lassen.
»Mein Name ist Brianna. Ich bin Jamie Frasers Tochter.«
Beide Frauen rissen die Augen auf. Die Frau namens Laoghaire wurde langsam rot und schien anzuschwellen. Sie öffnete und schloß den Mund auf der vergeblichen Suche nach Worten.
Jenny dagegen trat einen Schritt vor, ergriff Briannas Hände und sah in ihr Gesicht hoch. Ihre Wangen erblühten schwach rot, und plötzlich wirkte sie jung.
»Jamies? Du bist wirklich Jamies Mädchen?« Sie drückte Briannas Hände zwischen den ihren.
»Sagt meine Mutter.«
Brianna spürte das antwortende Lächeln in ihrem eigenen Gesicht. Jennys Hände waren kühl, doch Brianna fühlte sich trotzdem von einer Wärme durchströmt, die sich von ihren Händen bis in ihre Brust ausbreitete. Sie fing den schwachen, würzigen Duft von Gebäck in den Falten von Jennys Kleid auf und etwas Erdigeres und Durchdringenderes, das wohl der Geruch von Schafwolle sein mußte.
»Ach ja?« Laoghaire hatte ihre Stimme und ihre Selbstkontrolle wiedergefunden. Sie trat einen Schritt vor und kniff die Augen zusammen. »Jamie Fraser ist dein Vater, aye? Und wer genau ist deine Mutter?«
Brianna erstarrte.
»Seine Frau«, sagte sie. »Wer denn sonst?«
Laoghaire warf den Kopf zurück und lachte. Es war kein angenehmes Lachen.
»Wer denn sonst?« äffte sie Brianna nach. »Stimmt, wer denn sonst, Kleine? Und welche Frau meinst du?«
Brianna spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und ihre Hände sich in Jennys anspannten, als die Flut der Einsicht sie durchspülte. Du Idiotin, dachte sie. Du riesige Idiotin. Es waren zwanzig Jahre gewesen! Natürlich hatte er wieder geheiratet! Natürlich. Egal, wie sehr er Mama geliebt hatte.
Diesem Gedanken folgte ein anderer, viel schrecklicherer, auf dem Fuße. Hat sie ihn gefunden? Oh, Gott, hat sie ihn mit einer neuen Frau gefunden, und er hat sie fortgeschickt? Oh, Gott, wo ist sie?
Sie wandte sich blindlings um, ohne zu wissen, wo sie hinsollte, was sie tun sollte, einfach nur sicher, daß sie sofort hier weg, ihre Mutter finden mußte.
»Ich nehme an, du möchtest dich hinsetzen, Cousine. Komm ins Wohnzimmer, aye?« Jamies Stimme erklang fest in ihrem Ohr, und sein Arm war um sie gelegt, drehte sie um und schob sie durch eine der Türen, die vom Flur abgingen.
Sie hörte das Durcheinander der Stimmen um sie herum kaum, die Verwirrung der Erklärungen und Vorwürfe, die um sie herum losgingen wie Schnüre mit Silvesterkrachern. Sie erblickte einen kleinen, gepflegten Mann, dessen Gesicht aussah wie das des Weißen Kaninchens, nämlich völlig überrascht, und einen weiteren, viel größeren Mann, der aufstand, als sie ins Zimmer trat, und auf sie zukam, das verwitterte freundliche Gesicht voller Sorgenfalten.
Es war der hochgewachsene Mann, der den Lärm beendete, die Anwesenden zur Ordnung rief und dann dem Stimmengewirr eine Erklärung für ihre Anwesenheit entrang.
»Jamies Tochter?« Er sah sie interessiert an, sah aber viel weniger überrascht aus als alle anderen bis jetzt. »Wie heißt du, a leannan
»Brianna.« Sie war zu aufgewühlt, um ihn anzulächeln, doch es schien ihm nichts auszumachen.
»Brianna.« Er ließ sich auf einem Kniehocker nieder, hieß sie sich ihm gegenüber hinsetzen, und sie sah, daß er ein Holzbein hatte, das steif zu einer Seite hin abgewinkelt war. Er ergriff ihre Hand und lächelte sie an, und das warme Leuchten in seinen sanften, braunen Augen gab ihr zumindest für einen Augenblick das Gefühl, etwas sicherer zu sein.
»Ich bin dein Onkel Ian. Herzlich willkommen.« Unwillkürlich drückte ihre Hand die seine fester und klammerte sich an die Zuflucht, die er ihr anzubieten schien. Er zuckte mit keiner Wimper und zog sie auch nicht zurück, sondern betrachtete Brianna nur sorgfältig und schien belustigt über ihre Kleidung zu sein.
»Hast in der Heide geschlafen, was?« sagte er angesichts des Schmutzes und der Pflanzenflecken auf ihren Kleidern. »Du scheinst weit gereist zu sein, um uns zu besuchen, Nichte.«
»Sie sagt, sie ist deine Nichte«, sage Laoghaire. Sie hatte sich von ihrem Schock erholt und blickte über Ians Schulter, das runde Gesicht vor Abscheu verzogen. »Bestimmt ist sie nur gekommen, um zu sehen, was es hier zu holen gibt.«
»Ich würde nicht von mir auf andere schließen«, sagte Ian nachsichtig. Er drehte sich um und sah sie an. »Oder haben du und Hobard nicht vor einer halben Stunde noch versucht, fünfhundert Pfund aus mir herauszuquetschen?«
Ihre Lippen preßten sich fest zusammen und die Linien, die ihren Mund einklammerten, vertieften sich.
»Das Geld gehört mir«, schnappte sie, »und das weißt du genau! Es ist so vereinbart worden; du warst Zeuge bei dem Vertrag.«
Ian seufzte; offensichtlich war es nicht das erste Mal, daß er heute davon hörte.
»Das stimmt«, sagte er geduldig. »Und du bekommst dein Geld - sobald Jamie in der Lage ist, es dir zu schicken. Er hat es dir versprochen, und er ist ein Ehrenmann. Aber…«
»Ehrenmann, was?« Laoghaire gab ein undamenhaftes Schnauben von sich. »Dann ist es also ehrenhaft, ein Bigamist zu sein? Seine Frau und seine Kinder im Stich zu lassen? Meine Tochter zu entführen und ihr Leben zu ruinieren? Ehrenhaft!« Sie sah Brianna an, ihre Augen glitzernd und hart wie frisch gewalzter Stahl.
»Ich frage dich noch einmal, Mädchen - wie heißt deine Mutter?«
Brianna starrte sie einfach nur überwältigt an. Ihre Halsbinde würgte sie, und ihre Hände fühlten sich eisig an, obwohl Ian sie festhielt.
»Deine Mutter«, wiederholte Laoghaire ungeduldig. »Wer war sie?«
»Es spielt keine Rolle, wer…«, begann Jenny, doch Laoghaire baute sich mit zornrotem Gesicht vor ihr auf.
»Oh, doch, es spielt eine Rolle. Wenn er sie von irgendeiner Armeehure hat oder von einer Schlampe von Dienstmädchen in England - das ist eine Sache. Aber wenn sie…«
»Laoghaire!«
»Schwester!«
»Du altes Schandmaul!«
Brianna beendete das Geschrei, indem sie einfach aufstand. Sie war genausogroß wie die Männer und überragte die Frauen. Laoghaire trat einen Schritt zurück. Alle Gesichter im Zimmer waren auf sie gerichtet, erfüllt von Feindseligkeit, Mitgefühl oder schlichter Neugier.
Mit einer Kaltblütigkeit, die sie nicht fühlte, tastete Brianna nach der Innenseite ihres Rockes, der Geheimtasche, die sie erst vor einer Woche in den Saum genäht hatte. Es kam ihr wie ein Jahrhundert vor.
»Meine Mutter heißt Claire«, sagte sie und ließ die Halskette auf den Tisch fallen.
Es herrschte völliges Schweigen im Raum, nur das gedämpfte Torffeuer, das im Kamin brannte, zischte leise. Das Perlenhalsband lag glänzend da, und die Frühlingssonne, die durchs Fenster schien, ließ die durchbohrten Goldkügelchen wie Funken aufleuchten.
Es war Jenny, die zuerst sprach. Wie eine Schlafwandlerin streckte sie einen ihrer schlanken Finger aus und berührte eine der Perlen. Süßwasserperlen von der Sorte, die man barock nennt wegen ihrer einzigartigen, unregelmäßigen, unverwechselbaren Form.
»O je«, sagte Jenny leise. Sie hob den Kopf und sah Brianna ins Gesicht, und ihre schrägstehenden, blauen Augen schimmerten, als weinte sie. »Ich freue mich so, dich zu sehen - Nichte.«
 
»Wo ist meine Mutter? Wißt ihr das?« Brianna blickte von Gesicht zu Gesicht, und das Herz schlug ihr heftig in den Ohren. Laoghaire sah sie nicht an; ihr Blick haftete an den Perlen, ihr Gesicht wirkte wie eingefroren.
Jenny und Ian tauschten einen schnellen Blick aus, dann stand Ian auf. Er bewegte sich umständlich, um das Bein unter sich zu schieben.
»Sie ist bei deinem Pa«, sagte er und berührte Briannas Arm. »Mach dir keine Sorgen, Kleine; sie sind beide in Sicherheit.«
Brianna widerstand dem Impuls, vor Erleichterung zusammenzubrechen. Statt dessen atmete sie ganz vorsichtig aus und spürte, wie sich der Knoten der Anspannung in ihrem Bauch langsam löste.
»Danke«, sagte sie. Sie versuchte, Ian zuzulächeln, doch ihr Gesicht fühlte sich schlaff und gummiartig an. In Sicherheit. Und zusammen. Oh, danke! dachte sie in stummer Dankbarkeit.
»Die gehören von Rechts wegen mir.« Laoghaire wies auf die Perlen. Jetzt war sie nicht mehr aufgebracht, sondern voll kalter Selbstkontrolle. Jetzt, wo ihr Gesicht nicht mehr vor Wut verzerrt war, konnte Brianna sehen, daß sie einmal sehr hübsch gewesen und immer noch eine gutaussehende Frau war - hochgewachsen für eine Schottin und von einer gewissen Eleganz der Bewegung. Sie hatte jene Art empfindlicher, heller Hautfarbe, die schnell verwelkt, und sie war um die Hüften dicker geworden, doch ihre Gestalt war immer noch aufrecht und fest, und in ihrem Gesicht war immer noch der Stolz einer Frau zu sehen, die sich der Tatsache bewußt ist, daß sie einmal schön war.
»Nein, das tun sie nicht!« sagte Jenny in einem kurzen Temperamentsausbruch. »Das waren die Juwelen meiner Mutter, die mein Vater Jamie für seine Frau gegeben hat, und…«
»Und seine Frau bin ich«, unterbrach Laoghaire. Dann sah sie Brianna an. Es war ein kalter, abschätzender Blick.
»Ich bin seine Frau«, wiederholte sie. »Ich habe ihn guten Glaubens geheiratet, und er hat mir Bezahlung für das versprochen, was er mir angetan hat.« Sie ließ ihren kalten Blick zu Jenny wandern. »Ich habe seit über einem Jahr keinen Penny mehr gesehen. Soll ich etwa meine Schuhe verkaufen, um meine Tochter zu ernähren - die einzige, die er mir gelassen hat?«
Sie hob das Kinn und sah Brianna an.
»Wenn Ihr seine Tochter seid, dann sind seine Schulden auch die Euren. Sag’s ihr, Hobart.«
Hobart sah etwas verlegen aus.
»Also, Schwester«, sagte er und legte ihr als Beschwichtigungsversuch die Hand auf den Arm. »Ich denke nicht…«
»Nein, das tust du nicht, schon seit deiner Geburt!« Irritiert schüttelte sie ihn ab und streckte die Hand nach den Perlen aus. »Sie gehören mir!«
Es war der reine Reflex; die Perlen lagen fest umklammert in Briannas Hand, noch ehe sie überhaupt den Entschluß gefaßt hatte, sie an sich zu nehmen. Die Goldkügelchen fühlten sich kühl an, doch die Perlen waren warm - das Erkennungsmerkmal einer echten Perle, hatte ihre Mutter ihr gesagt.
»Einen Moment mal.« Die Kraft und Kälte ihrer eigenen Stimme überraschte sie. »Ich weiß nicht, wer Ihr seid, und ich weiß nicht, was zwischen Euch und meinem Vater vorgefallen ist, aber…«
»Ich bin Laoghaire MacKenzie, und Euer Schuft von einem Vater hat vor vier Jahren geheiratet - unter Vortäuschung falscher Tatsachen, möchte ich hinzufügen.« Laoghaires Wut war nicht versiegt, sondern schien untergetaucht zu sein; ihr Gesicht hatte ein verklemmtes, angespanntes Aussehen, doch sie wurde nicht laut, und die rote Farbe war aus ihren rundlichen, vollen Wangen gewichen.
Brianna holte tief Luft und rang um Ruhe.
»Ja? Aber wenn meine Mutter jetzt mit meinem Vater zusammen ist…«
»Er hat mich verlassen.«
Sie sprach die Worte ohne Erregung, doch sie fielen mit dem Gewicht von Steinen in stilles Wasser und verbreiteten endlose Wellen des Schmerzes und Verrates um sich. Jamie hatte den Mund geöffnet, um etwas zu sagen; er schloß ihn wieder und beobachtete Laoghaire.
»Er hat gesagt, er könnte es nicht länger ertragen - in einem Haus mit mir zu leben, mein Bett zu teilen.« Sie sprach ruhig, als rezitierte sie einen Text, den sie auswendig gelernt hatte; ihre Augen fixierten immer noch die Stelle, an der die Perlen gelegen waren.
»Also ist er gegangen. Und dann ist er zurückgekommen - mit der Hexe. Hat sie mir vorgesetzt, ist vor meiner Nase mit ihr ins Bett gegangen.« Langsam hob sie den Blick, bis sie Briannas traf, studierte sie mit stiller Intensität, erforschte die Geheimnisse ihres Gesichtes. Langsam nickte sie.
»Sie war es«, sagte sie mit einer Sicherheit, deren Ruhe etwas unheimlich war. »Sie hat ihn verhext von dem Tag an, an dem sie nach Leoch kam - und mich. Sie hat mich unsichtbar gemacht. Seit dem Tag, an dem sie kam, konnte er mich nicht mehr sehen.«
Brianna spürte, wie ihr trotz des zischenden Torffeuers in der Feuerstelle ein kleiner Schauer über den Rücken lief.
»Und dann war sie fort. Tot, sagte man. Während des Aufstandes umgekommen. Und er kam aus England heim, endlich frei.« Sie schüttelte leicht den Kopf; ihre Augen ruhten immer noch auf Briannas Gesicht, doch Brianna wußte, daß Laoghaire sie nicht länger sah.
»Aber sie war gar nicht tot«, sagte Laoghaire leise. »Und er war nicht frei. Ich wußte es; ich habe es immer gewußt. Man kann eine Hexe nicht mit Stahl umbringen - man muß sie verbrennen.« Laoghaires blaßblaue Augen wanderten zu Jenny.
»Du hast sie gesehen - bei meiner Hochzeit. Ihr Schattenbild, das zwischen mir und ihm stand. Du hast sie gesehen, aber du hast nichts gesagt. Ich habe es erst später erfahren, als du es Maisri, der Seherin, gesagt hast. Du hättest es mir damals schon sagen sollen.« Es war weniger ein Vorwurf als die Feststellung einer Tatsache.
Jennys Gesicht war wieder bleich geworden, irgend etwas - vielleicht Angst - verdunkelte ihre schrägstehenden, blauen Augen. Sie leckte sich die Lippen und setzte zu einer Antwort an, doch Laoghaire hatte Ian ihre Aufmerksamkeit zugewandt.
»Nimm dich lieber in acht, Ian Murray,« sagte sie, ihr Tonfall jetzt sachlich. Sie wies kopfnickend auf Brianna. »Sieh sie dir gut an, Mann. Sieht so eine richtige Frau aus? Größer als die meisten Männer, angezogen wie ein Mann, mit Händen so groß wie Teller, mit denen sie eins deiner Kinder erwürgen kann, wenn es ihr einfällt.«
Ian antwortete nicht, aber sein langes, gutmütiges Gesicht war voller Sorge. Doch Jamies Fäuste ballten sich, und er biß die Zähne fest zusammen. Laoghaire sah es, und ein leises Lächeln berührte ihre Mundwinkel.
»Sie ist das Kind einer Hexe«, sagte sie. »Und ihr wißt es alle!« Sie ließ den Blick durch das Zimmer wandern und ihn herausfordernd auf jedem der verlegenen Gesichter ruhen. »Sie hätten ihre Mutter in Cranesmuir verbrennen sollen, allein wegen des Liebeszaubers, mit dem sie Jamie Fraser belegt hat. Aye, ich sage, hütet euch vor dem, was ihr euch ins Haus geholt habt!«
Brianna ließ ihre Handfläche auf den Tisch knallen und schreckte alle auf.
»Blödsinn«, sagte sie laut. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, und es kümmerte sie nicht. Alle gafften sie mit offenem Mund an, doch ihre ganze Aufmerksamkeit galt Laoghaire MacKenzie.
»Blödsinn«, sagte sie erneut und zeigte mit dem Finger auf die Frau. »Wenn sie sich vor jemandem hüten sollten, dann seid Ihr es, verdammte Mörderin!«
Laoghaires Mund stand weiter offen als der von irgend jemandem sonst, doch es kam kein Ton heraus.
»Ihr habt ihnen nicht alles über Cranesmuir erzählt, oder? Meine Mutter hätte es tun sollen, doch sie hat es nicht getan. Sie dachte, Ihr wärt zu jung gewesen, um zu wissen, was Ihr tut. Das wart Ihr aber nicht, stimmt’s?«
»Was…?« sagte Jenny mit schwacher Stimme.
Jamie warf seinem Vater wilde Blicke zu, der wie vor den Kopf geschlagen dastand und Brianna anstarrte.
»Sie hat versucht, meine Mutter umzubringen.« Brianna hatte Schwierigkeiten, ihre Stimme zu kontrollieren; sie überschlug sich und bebte, doch sie brachte die Worte heraus. »Nicht wahr? Ihr habt ihr gesagt, Geillis Duncan sei krank und habe sie rufen lassen - Ihr habt gewußt, daß sie gehen würde, sie ist zu jedem Kranken gegangen, sie ist Ärztin! Ihr habt gewußt, daß man Geillis Duncan wegen Hexerei festnehmen würde und meine Mutter gleich mit, wenn man sie bei ihr antraf! Ihr habt gedacht, sie würden sie verbrennen, und dann könntet Ihr ihn haben - Jamie Fraser.«
Laoghaire war bleich bis auf die Lippen, ihr Gesicht reglos wie Stein. Selbst ihre Augen waren ohne Leben; sie waren leer und stumpf wie Murmeln.
»Ich konnte ihre Hand auf ihm spüren«, flüsterte sie. »Im Bett. Sie hat zwischen uns gelegen, ihre Hand auf ihm, so daß er steif wurde und im Schlaf nach ihr rief. Sie war eine Hexe. Ich habe es immer gewußt.«
Das Zimmer war still bis auf das Zischen des Feuers und den zarten Gesang eines kleinen Vogels vor dem Fenster. Schließlich rührte sich Hobart MacKenzie und trat vor, um seine Schwester beim Arm zu nehmen.
»Komm mit, a leannan«, sagte er ruhig. »Ich bringe dich jetzt nach Hause.« Er nickte Ian zu, der das Nicken erwiderte und eine kleine Geste machte, die Mitgefühl und Bedauern ausdrückte.
Laoghaire ließ sich widerstandslos von ihrem Bruder wegführen, doch an der Tür blieb sie stehen und drehte sich um. Brianna stand still, sie glaubte nicht, daß sie sich bewegen könnte, selbst wenn sie es versuchte.
»Wenn Ihr Jamie Frasers Tochter seid«, sagte Laoghaire mit kalter, klarer Stimme, »und vielleicht seid Ihr das, so wie Ihr ausseht - dann sollt Ihr das hier wissen. Euer Vater ist ein Lügner und ein Zuhälter, ein Betrüger und ein Kuppler. Ich wünsche Euch viel Freude aneinander.« Dann fügte sie sich Hobart, der sie am Ärmel zog, und die Tür fiel hinter ihr zu.
Die Wut, die sie erfüllt hatte, verebbte plötzlich, und Brianna beugte sich vor und stützte sich auf ihre Handflächen. Sie spürte das Halsband hart und uneben unter ihrer Hand. Ihr Haar hatte sich gelöst, und eine dicke Strähne fiel ihr ins Gesicht.
Ihre Augen waren gegen das Schwindelgefühl geschlossen, das sie zu überwältigen drohte, und sie spürte die Hand, die sie berührte und ihr sanft die Locken aus dem Gesicht strich, mehr als daß sie sie sah.
»Er hat sie weiter geliebt«, flüsterte sie sich selbst genauso wie den anderen zu. »Er hat sie nicht vergessen.«
»Natürlich hat er sie nicht vergessen.« Sie öffnete die Augen und sah Ians langes Gesicht mit seinen gütigen braunen Augen fünfzehn Zentimeter von dem ihren entfernt. Eine breite, von der Arbeit gezeichnete Hand ruhte auf der ihren, warm und fest, eine Hand, die noch größer war als ihre eigene.
»Und wir auch nicht«, sagte er.
 
»Möchtest du nicht noch ein bißchen, Cousine Brianna?« Joan, Jamies Frau, lächelte ihr über den Tisch hinweg zu und hielt den Tortenheber einladend über die krümeligen Reste einer gigantischen Stachelbeertorte.
»Nein, danke. Ich kriege keinen Bissen mehr hinunter«, sagte Brianna, indem sie das Lächeln erwiderte. »Ich platze.«
Das rief bei Matthew und seinem Bruder Henry lautes Kichern hervor, doch ein warnendes Aufblitzen der Augen ihrer Großmutter brachte sie abrupt zum Schweigen. Als sich Brianna allerdings am Tisch umsah, konnte sie sehen, wie in allen Gesichtern unterdrücktes Lachen aufkeimte; von den Erwachsenen bis hin zu den Kleinsten schienen sie alle noch die geringste ihrer Bemerkungen endlos amüsant zu finden.
Es lag weder an ihrer unorthodoxen Bekleidung noch an der bloßen Sensation, einen Fremden zu sehen, dachte sie - selbst wenn sie noch fremder war als die meisten anderen. Da war noch etwas anderes; ein Strom der Freude, der die Familienmitglieder durchlief, unsichtbar, doch so vibrierend wie Elektrizität.
Sie begriff nur langsam, was es war; durch eine Bemerkung, die Ian machte, wurde es deutlich.
»Wir hatten nicht gedacht, daß Jamie jemals Kinder haben würde.« Ians Lächeln von der anderen Seite des Tisches war so warm, daß es Eis zum Schmelzen gebracht hätte. »Aber du hast ihn noch nie gesehen, oder?«
Sie schüttelte den Kopf, schluckte die Reste ihres letzten Bissens hinunter und lächelte mit vollem Mund zurück. Das war es, dachte sie; sie freuten sich nicht so sehr um ihrer selbst willen über sie als vielmehr Jamies wegen. Sie liebten ihn, und sie waren nicht für sich selbst glücklich, sondern für ihn.
Diese Erkenntnis trieb ihr die Tränen in die Augen. Laoghaires Vorwürfe hatten sie erschüttert, wüst wie sie waren, und es war ihr ein großer Trost festzustellen, daß all diese Menschen, die ihn gut kannten, in Jamie Fraser weder einen Lügner, noch einen hinterlistigen Menschen sahen; er war wirklich der Mann, für den ihre Mutter ihn hielt.
Jamie, der angesichts ihres Gefühlsausbruches glaubte, sie hätte sich verschluckt, klopfte ihr hilfsbereit auf den Rücken, und nun verschluckte sie sich wirklich.
»Hast du Onkel Jamie denn geschrieben und ihm gesagt, daß du zu uns kommst?« fragte er und ignorierte ihr Husten und Prusten und ihren roten Kopf.
»Nein«, sagte sie heiser. »Ich weiß nicht, wo er ist.«
Jennys Augenbrauen hoben sich wie Möwenflügel.
»Aye, das hast du schon gesagt; ich hatte es vergessen.«
»Wißt ihr, wo er jetzt ist? Er und meine Mutter?« Brianna beugte sich gespannt vor und strich sich die Krümel aus ihrem Rüschenkragen.
Jenny lächelte und stand vom Tisch auf.
»Aye, das weiß ich - mehr oder weniger. Wenn du genug gegessen hast, kommt mit mir, Liebe. Ich hole dir seinen letzten Brief.«
Brianna erhob sich, um Jenny zu folgen, blieb aber an der Tür abrupt stehen. Sie hatte schon vorher vage von ein paar Bildern Notiz genommen, die an der Wohnzimmerwand hingen, sie aber im Trubel der Gefühle und Ereignisse nicht genauer betrachtet. Doch dieses hier sah sie sich an.
Zwei kleine Jungen mit rotgoldenem Haar, steif und ernst in Kilts und Jacken, weiße Rüschenhemden, die sich leuchtend vor dem dunklen Fell eines Hundes abhoben, der neben ihnen saß und die Zunge in geduldiger Langeweile heraushängen ließ.
Der ältere Junge war groß und hatte feine Gesichtszüge; er saß aufrecht und stolz da, eine Hand ruhte auf dem Kopf des Hundes, die andere schützend auf der Schulter des kleinen Bruders, der zwischen seinen Knien stand.
Doch es war der Jüngere, den Brianna anstarrte. Sein Gesicht war rundlich und stupsnasig, die Wangen durchscheinend und rötlich wie Äpfel. Weit geöffnete blaue Augen, leicht schräggestellt, sahen unter einer Glocke aus leuchtendem Haar hervor, das unnatürlich ordentlich gekämmt war. Seine Pose war formell im klassischen Stil des achtzehnten Jahrhunderts, doch die robuste, stämmige kleine Gestalt hatte etwas, das sie lächeln und den Finger ausstrecken ließ, um sein Gesicht zu berühren.
»Na, du bist ja ein Süßer«, sagte sie leise.
»Jamie war ein süßer Kerl, aber auch ein stures kleines Biest.« Jennys Stimme direkt neben ihr erschreckte sie. »Man konnte ihn schlagen oder auf ihn einreden, es war ganz egal; wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann blieb es auch dort. Komm mit; da ist noch ein Bild, das dir gefallen wird, glaube ich.«
Das zweite Porträt hing über dem Treppenabsatz und wirkte dort durch und durch deplaziert. Von unten konnte sie den vergoldeten Schmuckrahmen sehen, dessen üppige Schnitzereien überhaupt nicht zu der soliden, ein wenig abgewetzten Gemütlichkeit der restlichen Einrichtung des Hauses paßten. Es erinnerte sie an die Bilder in Museen; in dieser unspektakulären Umgebung schien es nichts verloren zu haben.
Als sie Jenny zum Treppenabsatz folgte, verschwand das gleißende Licht, das durch das Fenster fiel, und die Oberfläche des Bildes lag flach und deutlich vor ihr.
Sie schnappte nach Luft und spürte, wie sich die Haare auf ihren Unterarmen unter dem Leinenhemd sträubten.
»Es ist bemerkenswert, aye?« Jenny blickte von dem Gemälde zu Brianna und wieder zurück, und ihre Gesichtszüge trugen einen Ausdruck irgendwo zwischen Stolz und Ehrfurcht.
»Bemerkenswert!« stimmte Brianna zu und schluckte.
»Du siehst, warum wir dich sofort erkannt haben«, fuhr ihre Tante fort und legte liebevoll die Hand auf den geschnitzten Rahmen.
»Ja. Ja, das sehe ich.«
»Es ist meine Mutter, aye? Deine Großmutter, Ellen MacKenzie.«
»Ja«, sagte Brianna. »Ich weiß.« Staubkörnchen, die sie mit ihren Schritten aufgewühlt hatte, wirbelten träge im Nachmittagslicht umher, das vom Fenster kam. Brianna fühlte sich ganz so, als wirbelte sie mit ihnen herum, nicht länger in der Realität verankert.
In zweihundert Jahren hatte sie - werde ich? dachte sie wild - in der Nationalgalerie vor diesem Porträt gestanden und wütend die Wahrheit geleugnet, die es ihr vor Augen hielt.
Jetzt blickte ihr Ellen MacKenzie genau wie damals entgegen; langhalsig und königlich, mit einem Humor in den schräggestellten Augen, der nicht ganz bis an den feinen Mund reichte. Er war zwar nicht unbedingt ein Spiegelbild; Ellens Stirn war hoch, schmaler als Briannas, und ihr Kinn war rundlich, nicht spitz, ihr ganzes Gesicht etwas sanfter und nicht so kühn geschnitten.
Doch die Ähnlichkeit war da, und sie war so stark, daß sie erschreckend war; die breiten Wangenknochen und das dichte, rote Haar waren die gleichen. Und um ihren Hals lag die Halskette, deren Goldkugeln in der Frühlingssonne leuchteten.
»Wer hat es gemalt?« fragte Brianna schließlich, obwohl sie die Antwort nicht wirklich hören mußte. Das Schild neben dem Gemälde im Museum hatte den Künstler als »Unbekannt« angegeben.
Doch nachdem sie unten das Porträt der beiden kleinen Jungen gesehen hatte, wußte Brianna Bescheid. Das Bild war weniger meisterhaft, ein früherer Versuch - doch dieselbe Hand hatte das Haar und die Haut gemalt.
»Meine Mutter«, sagte Jenny, die Stimme von einem sehnsüchtigen Stolz erfüllt. »Sie hatte großes Geschick im Zeichnen und Malen. Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte dieses Talent.«
Brianna spürte, wie sich ihre Finger unbewußt krümmten; die Illusion des Pinsels zwischen ihnen war einen Augenblick lang so intensiv, daß sie hätte schwören können, glattes Holz zu spüren.
Daher also, dachte sie mit einem leisen Erschauern und hörte geradezu das »Klick!« der Erkenntnis, als ein winziges Stück ihrer Vergangenheit seinen Platz einnahm. Daher habe ich es.
Frank Randall hatte im Scherz gemeint, er könnte keine gerade Linie zeichnen; Claire, es sei das einzige, was sie könnte. Doch Brianna hatte die Gabe der Gestaltung von Linien und Kurven, von Licht und Schatten - und jetzt hatte sie auch den Ursprung dieser Gabe gefunden. Was sonst noch? dachte sie plötzlich. Was besaß sie sonst noch, das einst der Frau in dem Bild gehört hatte, dem Jungen mit dem stur geneigten Kopf?
»Ned Gowan hat es mir aus Leoch mitgebracht«, sagte Jenny und berührte den Rahmen mit einer gewissen Ehrfurcht. »Er hat es gerettet, als die Engländer das Schloß geschleift haben, nach dem Aufstand.« Sie lächelte schwach. »Er hat eine Vorliebe für die Familie, unser Ned. Er ist ein Lowlander aus Edinburgh und hat keine eigenen Verwandten, aber er hat die MacKenzies zu seinem Clan gemacht - selbst jetzt, wo es den Clan nicht mehr gibt.«
»Nicht mehr?« platzte Brianna heraus. »Sie sind alle tot?« Der Schrecken in ihrer Stimme brachte Jenny dazu, sie überrascht anzusehen.
»Och, nein. Das habe ich nicht gemeint, Kleine. Aber Leoch steht nicht mehr«, fügte sie in leiserem Ton hinzu. »Und seine letzten Anführer leben nicht mehr - Colum und sein Bruder Dougal… sie sind für die Stuarts gestorben.«
Das hatte sie natürlich gewußt; Claire hatte es ihr erzählt. Was überraschend war, war der plötzliche Anflug unerwarteter Trauer; Bedauern um diese Fremden in ihrer neugefundenen Verwandtschaft. Mühsam schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter, wandte sich um und folgte Jenny die Treppe hinauf.
»War Leoch ein großes Schloß?« fragte sie. Ihre Tante blieb stehen, eine Hand auf dem Geländer.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Jenny blickte zurück auf Ellens Bild, so etwas wie Bedauern im Blick.
»Ich habe es nie gesehen - und jetzt ist es fort.«
 
Wenn man das Schlafzimmer betrat, so war es, als käme man in eine Unterwasserhöhle. Wie alle Zimmer war auch dieses klein und hatte niedrige, von den jahrelangen Torffeuern rauchgeschwärzte Deckenbalken, doch die Wände waren frisch und weiß, und das Zimmer selbst war von einem grünlichen, wogenden Licht erfüllt, das sich durch zwei große Fenster ergoß, gefiltert von den Blättern des schwankenden Rosenstockes.
Hier und dort blinkte ein glänzender Gegenstand auf oder glitzerte im schummrigen Halbdunkel wie ein Fisch in einem Riff; eine bemalte Puppe, die auf dem Teppich vor der Feuerstelle lag, wo eines der Enkelkinder sie vergessen hatte, ein chinesischer Korb, an dessen Deckel eine durchbohrte Münze als Verzierung festgebunden war. Ein Kerzenständer aus Messing auf dem Tisch, ein kleines Gemälde an der Wand, dessen kräftige Farben sich deutlich von dem weißen Putz abhoben.
Jenny ging unverzüglich zu dem großen Kleiderschrank an der Zimmerwand und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ein großes, mit Saffianleder überzogenes Kästchen herunterzuholen, dessen Ecken vom Alter abgestoßen waren. Als sie den Deckel aufklappte, sah Brianna ein metallisches Glitzern und ein kurzes, scharfes Aufblitzen wie von Sonnenlicht auf Edelsteinen.
»Hier ist er.« Jenny brachte ein dickes Bündel aus zusammengefaltetem Papier zum Vorschein, das weitgereist und vielgelesen aussah, und drückte es Brianna in die Hand. Es war versiegelt gewesen; ein fettiger Wachsfleck klebte immer noch am Rand eines Bogens.
»Sie sind in der Kolonie North Carolina, aber sie leben nicht in der Nähe einer Stadt«, erklärte Jenny. »Jamie schreibt abends ein bißchen, wenn er kann, und er behält die Blätter, bis entweder er oder Fergus nach Cross Creek reiten oder ein Reisender vorbeikommt, der den Brief mitnimmt. So ist es angenehm für ihn; das Schreiben fällt ihm nicht leicht - besonders, seit er sich damals die Hand gebrochen hat.«
Bei dieser beiläufigen Bemerkung fuhr Brianna auf, doch das ruhige Gesicht ihrer Tante zeigte keine besondere Regung.
»Setz dich hin, Kleine.« Sie winkte mit der Hand und ließ Brianna die Wahl zwischen Hocker oder Bett.
»Danke«, murmelte Brianna und wählte den Hocker. Also wußte Jenny vielleicht nicht alles über Jamie und Black Jack Randall? Die Vorstellung, daß sie vielleicht Dinge über diesen unbekannten Mann wußte, die nicht einmal seiner geliebten Schwester bekannt waren, hatte etwas Verwirrendes. Um den Gedanken zu verscheuchen, öffnete sie eilig den Brief.
Die hingekritzelten Worte sprangen ihr schwarz und lebhaft ins Gesicht. Sie hatte diese Handschrift schon einmal gesehen - die verkrampften, widerspenstigen Buchstaben mit den großen, geschwungenen Abschlüssen, doch das war auf einem zweihundert Jahre alten Dokument gewesen, dessen Tinte braun und verblichen war, die Handschrift gezähmt durch sorgsame Überlegung und Formalität. Hier hatte er sich frei gefühlt - seine Handschrift rollte in kühnem, sprunghaftem Gekritzel über die Seite, und die Zeilen drehten sich an den Enden betrunken aufwärts. Es war unordentlich, aber trotzdem lesbar.
 
Fraser’s Ridge, Montag, 19. September
 
Meine liebste Jenny,
hier sind alle bei bester Gesundheit und guter Dinge und hoffen, daß dieser Brief alle Mitglieder Deines Haushaltes ähnlich zufrieden antrifft.
Dein Sohn grüßt Dich aufs herzlichste und bittet mich, seinen Vater, seine Brüder und seine Schwestern an ihn zu erinnern. Er möchte, daß Du Matthew und Henry sagst, daß er ihnen das beigefügte Objekt schickt, welches der präparierte Schädel eines Tieres ist, das man seiner außergewöhnlichen Stacheln wegen Stachelschwein nennt (es hat keine Ähnlichkeit mit unserem kleinen Igel, denn es ist viel größer und lebt in den Wipfeln der Bäume, wo es sich von zarten Schößlingen ernährt). Sag Matthew und Henry, daß ich nicht weiß, warum seine Zähne orange sind. Zweifellos findet das Tier es dekorativ.
Außerdem findest Du hier ein kleines Geschenk für Dich selbst; das Muster wird mit Hilfe der Stacheln des erwähnten Tiers erzielt, welche die Indianer mit den Säften verschiedener Pflanzen einfärben, bevor sie sie auf die einzigartige Weise verweben, die Du vor Dir siehst.
Claire hat in letzter Zeit großes Interesse an der Unterhaltung - wenn man das Wort für eine Kommunikation benutzen kann, die sich zum großen Teil auf Gestikulieren und das Schneiden von Grimassen beschränkt (sie besteht darauf, daß sie keine Grimassen schneidet, worauf ich ihr antworte, daß ich in der besseren Position bin, dies zu beurteilen, da ich das dazugehörige Gesicht sehen kann und sie nicht) - an der Unterhaltung mit einer alten Indianer frau gezeigt, die in dieser Gegend als Heilerin sehr geschätzt wird und ihr viele solcher Pflanzen gegeben hat. Demzufolge sind ihre Finger im Augenblick lila, was ich höchst dekorativ finde.
 
Dienstag, 20. Sept.
Heute war ich sehr damit beschäftigt, den Pferch zu reparieren und zu verstärken, in dem wir nachts unsere paar Kühe, Schweine etc. halten, um sie vor den Raubzügen der Bären zu schützen, die sehr zahlreich sind. Als ich heute morgen zum Abort ging, habe ich einen großen Pfotenabdruck im Schlamm erspäht, der genausolang war wie mein eigener Fuß. Das Vieh kam mir nervös und verstört vor, was ich ihm kaum zum Vorwurf machen kann.
Ich bitte Dich, mach Dir um uns keine Sorgen. Die Schwarzbären in diesem Land nehmen sich vor den Menschen in acht und hassen es, selbst einem einzelnen Mann gegenüberzutreten. Außerdem ist unser Haus stabil gebaut, und ich habe es Ian verboten, nach Anbruch der Dunkelheit noch unterwegs zu sein, es sei denn, er ist gut bewaffnet.
Was unsere Bewaffnung angeht, so hat sich unsere Situation sehr verbessert. Fergus hat aus High Point ein gutes Gewehr von der neuen Sorte und einige exzellente Messer mitgebracht.
Außerdem einen großen Kochkessel, dessen Erwerb wir mit einer Riesenportion leckerem Eintopf gefeiert haben, der aus Hirschfleisch, wilden Zwiebeln aus dem Wald, getrockneten Bohnen und einigen getrockneten Tomatenfrüchten vom letzten Sommer bestand. Keiner von uns ist nach dem Genuß dieses Eintopfes gestorben oder krank geworden, also hat Claire wahrscheinlich recht, Tomaten sind nicht giftig.
 
Mittwoch, 21. Sept.
Der Bär ist wieder dagewesen. Ich habe heute große Fußspuren und Kratzer in Claires frisch umgegrabenem Garten gefunden. Das Tier mästet sich wohl für seinen Winterschlaf und will sicher in der frischen Erde nach Maden graben.
Ich habe die Sau in unsere Vorratskammer umquartiert, da sie kurz vor dem Ferkeln steht. Weder Claire noch die Sau waren über dieses Arrangement besonders glücklich, doch das Tier ist wertvoll, denn ich habe Mr. Quillan drei Pfund dafür bezahlt.
Heute sind vier Indianer gekommen. Sie gehören zu der Art, die man Tuscarora nennt. Ich bin diesen Männern schon mehrfach begegnet und habe sie sehr freundlich gefunden.
Nachdem die Wilden ihren Entschluß verkündet hatten, unseren Bären zu jagen, habe ich ihnen etwas Tabak und ein Messer geschenkt, worüber sie erfreut schienen.
Sie haben fast den ganzen Morgen unter dem Dachsims des Hauses gesessen, geraucht und sich miteinander unterhalten, doch kurz vor Mittag sind sie zu ihrer Jagd aufgebrochen. Ich erkundigte mich, ob es angesichts der Vorliebe des Bären für unsere Gesellschaft nicht am besten wäre, wenn sich die Jäger in der Nähe verstecken in der Hoffnung, daß das Tier hierher zurückkehrt.
Man hat mich informiert - mit der allerfreundlichsten Herablassung, die man in Worten und Zeichen ausdrücken kann - daß das Aussehen des Bärendungs ohne jeden Zweifel anzeigte, daß er die Gegend verlassen habe und zu einem Vorhaben im Westen aufgebrochen sei.
Da ich nicht vorhatte, mich mit solchen Experten anzulegen, wünschte ich ihnen Glück und habe sie freundlich verabschiedet. Ich konnte sie nicht begleiten, da ich hier noch dringend zu tun habe, doch Ian und Rollo sind mit ihnen gegangen, wie schon öfter.
Ich habe mein neues Gewehr geladen und bereitgestellt, falls unsere Freunde sich in ihrer Einschätzung der Absichten des Bären geirrt haben.
 
Donnerstag, 22. Sept.
Letzte Nacht weckte mich ein fürchterlicher Krach aus dem Schlaf. Es war ein lautes Kratzen, welches in den Holzbalken der Wand widerhallte, begleitet von so lautem Klopfen und Heulen, daß ich in der Überzeugung aus dem Bett fuhr, daß das Haus über unseren Köpfen einstürzen würde.
Die Sau, die die Nähe eines Feindes spürte, schoß durch die Tür der Vorratskammer (ich gebe zu, daß sie nichtsehr stabil gebaut war) und flüchtete sich unter unser Bett, wo sie ohrenbetäubend quiekte. Ich begriff, daß der Bär da war, nahm mein neues Gewehr und rannte nach draußen.
Es war eine mondhelle Nacht, wenn auch bedeckt, und ich konnte meinen Gegner deutlich sehen, eine große, schwarze Gestalt, die, auf den Hinterfüßen stehend, fast so groß zu sein schien wie ich selbst und (in meinen angsterfüllten Augen) etwa dreimal so breit, denn er stand nicht weit von mir entfernt.
Ich feuerte auf ihn, worauf er sich auf alle viere fallen ließ und mit erstaunlicher Geschwindigkeit Schutz im nahen Wald suchte. Er verschwand, bevor ich zu einem weiteren Schuß kam.
Als es Tag wurde, suchte ich den Boden nach Blutspuren ab und fand keine, daher kann ich nicht sagen, ob mein Schuß sein Ziel gefunden hat. Die Seitenwand des Hauses ist mit mehreren langen Kratzern verziert, wie sie von einer scharfen Axt oder einem Meißel stammen können, die sich weiß auf dem Holz abzeichnen.
In der Zwischenzeit haben wir unter großen Schwierigkeiten die Sau (es ist eine hellrosafarbene Sau von beträchtlicher Größe und sturem Temperament, und sie hat keinen Mangel an Zähnen) dazu gebracht, den Platz unter unserem Bett zu verlassen und sich wieder an ihren Zufluchtsort in der Vorratskammer zu begeben. Sie war widerspenstig, konnte schließlich aber dazu bewegt werden, durch eine Kombination aus vor ihr ausgestreuten Maiskörnern und meiner Person in ihrem Rücken, bewaffnet mit einem stabilen Besen.
 
Montag, 26. Sept.
Ian und seine roten Begleiter sind zurückgekehrt, da ihnen ihre Beute im Wald entwischt ist. Ich zeigte ihnen die Kratzer an der Hauswand, worauf sie aufgeregt wurden und sich so schnell unterhielten, daß ich ihren Worten nicht folgen konnte.
Einer der Männer entfernte dann einen großen Zahn von einer Halskette aus ähnlichen Gegenständen und überreichte ihn mir mit großer Zeremonie. Er sagte, der Zahn diene dazu, daß der Bärengeist mich erkennen könne und ich nicht zu Schaden käme. Ich nahm dies Unterpfand mit dem gebotenen Ernst entgegen und sah mich dann verpflichtet, ihnen im Austausch dafür ein Stück Bienenwachs zu schenken, so daß der Höflichkeit Genüge getan war.
Claire wurde herbeigerufen, um uns das Bienenwachs zu bringen, und mit ihrem üblichen Blick für solche Dinge stellte sie fest, daß es einem unserer Gäste nicht gutging, ihm fielen die Augen zu, er hustete und machte einen unruhigen Eindruck. Claire sagt, daß er außerdem hohes Fieber hat, obwohl man das nicht sofort sieht. Da er zu krank ist, um mit seinen Begleitern weiterzureisen, haben wir ihn auf ein Strohlager im Maisspeicher gelegt.
Die Sau hat rücksichtsloserweise in der Vorratskammer geferkelt. Es sind ein Dutzend Ferkel, alle gesund und von lebhaftem Appetit, wofür ich Gott danke. Unser eigener Appetit dagegen läßt im Augenblick zu wünschen übrig, da die Sau jeden heftig attackiert, der die Tür der Vorratskammer öffnet, und wütend brüllt und ihre Zähne fletscht. Ich habe ein Ei zum Abendessen bekommen und wurde informiert, daß ich nichts mehr bekomme, bis mir eine Lösung für das Problem eingefallen ist.
 
Samstag, 1. Oktober
Große Überraschung heute. Zwei Gäste sind…
 
»Es ist wohl eine sehr wilde Gegend.«
Erschrocken sah Brianna auf. Jenny deutete kopfnickend auf den Brief, den Blick fest auf Brianna gerichtet.
»Wilde und Bären und Stachelschweine und das alles. Es ist nur eine kleine Kate, in der sie wohnen, hat Jamie mir gesagt. Und ganz allein, hoch in den Bergen. Es muß ziemlich wild sein.« Sie sah Brianna ein wenig ängstlich an. »Willst du immer noch gehen?«
Brianna wurde plötzlich klar, daß Jenny Angst hatte, sie würde nicht gehen; daß der Gedanke an die lange Reise und die Wildnis an deren Ende ihr angst machen würde. Eine Wildnis, die plötzlich Wirklichkeit wurde durch die hingekritzelten, schwarzen Worte auf dem Blatt, das sie in der Hand hielt - doch nicht annähernd so wirklich wie der Mann, der sie geschrieben hatte.
»Ich gehe«, versicherte sie ihrer Tante. »So schnell ich kann.«
Jennys Gesicht entspannte sich.
»Oh, gut«, sagte sie. Sie streckte die Hand aus und zeigte Brianna eine kleine Lederbörse, die mit einem Quadrat aus Stachelschweinstacheln verziert war, eingefärbt in Rot- und Schwarztönen, während hier und dort zum Kontrast ein paar Stacheln in ihrem natürlichen Grau belassen waren.
»Das ist das Geschenk, das er mir geschickt hat.«
Brianna nahm es in die Hand und bestaunte das komplizierte Muster und das weiche, helle Hirschleder.
»Es ist wunderschön.«
»Aye, das stimmt.« Jenny wandte sich ab und beschäftigte sich überflüssigerweise damit, den Zierat zurechtzurücken, der auf dem Bücherregal stand. Brianna hatte ihre Aufmerksamkeit gerade wieder dem Brief zugewandt, als Jenny abrupt zu sprechen begann.
»Bleibst du noch ein bißchen?«
Erschrocken sah Brianna auf.
»Bleiben?«
»Nur ein oder zwei Tage.« Jenny drehte sich um, und das Licht vom Fenster, das hinter ihr leuchtete wie ein Heiligenschein, tauchte ihr Gesicht in den Schatten.
»Ich weiß, daß du aufbrechen willst«, sagte sie. »Aber ich würde mich so gern ein wenig mit dir unterhalten.«
Brianna sah sie verwundert an, konnte aber nichts an den bleichen, ebenmäßigen Gesichtszügen und den schrägen Augen ablesen, die den ihren so ähnlich waren.
»Ja«, sagte sie langsam. »Natürlich bleibe ich.«
Ein Lächeln berührte Jennys Mundwinkel. Ihr Haar war tiefschwarz mit weißen Streifen wie das Gefieder einer Elster.
»Das ist gut«, sagte sie leise. Das Lächeln breitete sich langsam aus, während sie ihre Nichte ansah.
»Herr im Himmel, du bist wie mein Bruder.«
 
Als sie allein war, wandte sich Brianna wieder dem Brief zu, las noch einmal langsam den Anfang und ließ den Raum um sie herum verblassen, verschwinden, als Jamie Fraser in ihren Händen lebendig wurde, seine Stimme so lebendig in ihrem inneren Ohr, daß er hätte vor ihr stehen können, das rote Haar glänzend in der Sonne, die durch das Fenster schien.
 
Samstag, 1. Oktober
Große Überraschung heute. Zwei Gäste sind aus Cross Creek gekommen. Du erinnerst dich vielleicht, daß ich Dir von Lord John Grey erzählt habe, den ich aus Ardsmuir kenne. Ich habe Dir nicht erzählt, daß ich ihn zwischenzeitlich auf Jamaika getroffen hatte, wo er der Gouverneur der Krone war.
Er ist vielleicht der letzte Mensch, den man in dieser entlegenen Gegend erwarten würde. So weit entfernt von allen Spuren der Zivilisation, ganz zu schweigen von den luxuriösen Amtsgebäuden und dem Prunk und Pomp, den er gewohnt ist. Jedenfalls waren wir höchst erstaunt über sein Erscheinen, obwohl wir ihn sofort herzlich empfangen haben.
Leider muß ich sagen, daß es ein trauriges Ereignis ist, welches ihn hergeführt hat. Seine Frau, die mit ihrem Sohn aus England unterwegs war, hat sich unterwegs eine fiebrige Erkrankung zugezogen und ist noch auf See daran gestorben. Aus Angst, daß sich die Miasmen der Tropen für den Jungen genauso tödlich wie für seine Mutter erweisen könnten, beschloß Lord John, daß der Junge nach Virginia gehen sollte, wo Lord Johns Familie beachtlichen Landbesitz hat, und er entschloß sich, ihn selbst dorthin zu begleiten, da er sehen konnte, daß der Junge vom Verlust seiner Mutter schwer getroffen war.
Ich drückte ihm mein Erstaunen wie auch meine Zufriedenheit darüber aus, daß sie sich zu dem Umweg entschlossen haben, der nötig war, um diesen entlegenen Ort aufzusuchen, doch Lord John will nichts davon hören und sagt, es sei sein Wunsch, daß der Junge etwas von den verschiedenen Kolonien sieht, damit er den Reichtum und die Vielfalt dieses Landes schätzen lernt. Der Junge kann es nicht abwarten, den Indianern zu begegnen - und erinnert mich in dieser Beziehung an Ian vor nicht allzulanger Zeit.
Er ist ein hübscher Junge, hochgewachsen und wohlgeformt für sein Alter, welches, so glaube ich, ungefähr zwölf ist. Er trauert immer noch um den Tod seiner Mutter, doch er ist ein angenehmer Gesprächspartner und hat gute Manieren, denn schließlich ist er ein Graf (Lord John ist sein Stiefvater, glaube ich; sein Vater ist der Graf von Ellesmere gewesen). Sein Name ist William.
 
Brianna drehte das Blatt um und erwartete eine Fortsetzung, doch die Passage endete abrupt an dieser Stelle. Es gab eine Unterbrechung von mehreren Tagen, bevor der Brief am vierten Oktober weiterging.
 
Donnerstag, 4. Oktober
Der Indianer im Maisspeicher ist heute morgen gestorben, obwohl Claire alles versucht hat, um ihn zu retten. Sein Gesicht, sein Körper und seine Gliedmaßen waren völlig mit einem schlimmen Ausschlag überzogen, was ihm ein höchst grauenvolles und gesprenkeltes Aussehen gab.
Claire glaubt, daß er die Masern hatte, und ist sehr in Sorge, da dies eine heimtückische Seuche ist, die ansteckend ist und sich schnell ausbreitet. Sie hat niemanden in die Nähe der Leiche gelassen außer sich selbst - sie sagt, sie ist durch irgendeinen Zauber davor sicher -, doch wir haben uns alle gegen Mittag versammelt, worauf ich eine passende Bibelstelle gelesen habe und wir ein Gebet für seinen Seelenfrieden gesprochen haben - denn ich vertraue darauf, daß selbst ungetaufte Wilde ihre Ruhe in Gottes Gnade finden können.
Wir sind uns allerdings nicht sicher, wohin wir mit den irdischen Überresten seiner armen Seele sollen. Normalerweise würde ich Ian losschicken, damit er seine Freunde holt und sie ihm das bei den Indianern übliche Begräbnis zuteil werden lassen können.
Doch Claire sagt, das dürfen wir nicht, denn die Leiche könnte die Seuche unter dem Volk des Mannes verbreiten, eine Katastrophe, die er sicher nicht gern über seine Freunde bringen würde. Sie ist dafür, daß wir die Leiche selbst beerdigen oder verbrennen, und doch zögere ich, dies zu tun, da die Begleiter des Mannes es mißverstehen könnten - wenn sie glauben, daß wir so versucht haben, eine Mittäterschaft an seinem Tod zu vertuschen.
Ich habe unseren Gästen nichts von diesem Problem erzählt. Falls Gefahr zu drohen scheint, muß ich sie fortschicken. Dennoch widerstrebt es mir, auf ihre Gesellschaft zu verzichten, so abgeschieden ist unsere Lage. Für den Augenblick haben wir die Leiche in eine kleine, trockene Höhle in dem Abhang über dem Haus gelegt, in der ich vorhatte, einen Stall oder einen Lagerraum zu bauen.
Ich muß Dich um Verzeihung bitten, daß ich meine Seele so erleichtere, auf Kosten Deines eigenen Friedens. Ich glaube, daß am Ende alles gut wird, doch ich gestehe, daß ich mir im Augenblick ein paar Sorgen mache. Sollte es so aussehen, daß Gefahr droht - entweder von den Indianern oder der Krankheit, dann werde ich diesen Brief unverzüglich unseren Gästen mitgeben, damit er Dich auch sicher erreicht.
Wenn alles gut ist, schreibe ich schnell und sage es Dir.
 
In Liebe, Dein Bruder,
Jamie Fraser
 
Briannas Mund fühlte sich trocken an und sie schluckte, um den Speichel herbeizuzwingen. Der Brief hatte noch zwei Seiten; sie klebten einen Augenblick lang zusammen und widerstanden ihren Bemühungen, sie zu trennen, doch dann gaben sie nach.
 
Postscriptum. 20. Oktober
Wir sind alle in Sicherheit, obwohl unsere Rettung eine sehr traurige Angelegenheit ist; ich werde Dir später davon erzählen, da mir im Moment der Sinn nicht sehr danach steht.
Ian hatte die Masern, genau wie Lord John, doch sie sind beide wieder gesund, und Claire bittet mich, Dir zu sagen, daß es Ian ausgezeichnet geht. Du brauchst Dich um ihn nicht zu ängstigen. Er schreibt Dir selbst, damit Du siehst, daß es wahr ist.
 
- J.
 
Auf dem letzten Blatt stand eine andere Handschrift, diesmal ordentlich und sorgsam zu einer ebenmäßigen Schräglage ausgebildet, obwohl hier und dort ein Klecks die Seite entstellte, vielleicht, weil der Schreiber krank war, vielleicht auch, weil sein Schreibwerkzeug beschädigt war.
 
Liebe Mama -
Ich bin krank gewesen, aber es geht mir wieder gut. Ich hatte Fieber mit ganz merkwürdigen Träumen voll seltsamer Dinge. Ein großer Wolf ist gekommen und hat mit einer Männerstimme zu mir gesprochen, doch Tante Claire sagt, das muß Rollo gewesen sein, der die ganze Zeit bei mir war, als ich krank war, er ist ein sehr lieber Hund und beißt nicht sehr oft.
Die Masern sind in kleinen Pocken unter meiner Haut ausgebrochen und haben fürchterlich gejuckt. Ich hätte glauben können, ich hätte mich in einen Ameisenhaufen gesetzt oder wäre in ein Hornissennest spaziert. Mein Kopf fühlte sich doppelt so groß an wie sonst, und ich habe heftig geniest.
Heute habe ich drei Eier und Porridge zum Frühstück gegessen, und ich bin zweimal allein zum Abort gegangen, also geht es mir ganz gut, obwohl ich zuerst dachte, ich wäre von der Krankheit blind geworden - ich konnte nur gleißendes Licht sehen, als ich hinausgegangen bin, doch Tante Claire hat gesagt, das wird bald besser, und so war es auch.
Ich schreibe später mehr - Fergus wartet darauf, daß er den Brief mitnehmen kann.
 
Dein sehr gehorsamer und ergebener Sohn,
Ian Murray
 
P. S. Der Stachelschweinschädel ist für Henry und Matthew, ich hoffe, er gefällt ihnen.
 
Brianna blieb noch eine Zeitlang auf dem Hocker sitzen, die weißgetünchte Wand kühl in ihrem Rücken. Sie glättete die Seiten des Briefes und starrte abwesend auf das Bücherregal. Robinson Crusoe fiel ihr ins Auge, als sich das Licht in dem goldenen Titel auf dem Bücherrücken fing.
Eine wilde Gegend, hatte Jenny gesagt. Und eine gefährliche Gegend, wo das Leben von einem Pulsschlag zum nächsten vom komischen Problem eines Schweins in der Vorratskammer in die unmittelbare Bedrohung durch einen gewaltsamen Tod umschlagen konnte.
»Und ich hatte gedacht, das hier wäre primitiv«, murmelte sie mit einem Blick auf das Torffeuer in der Feuerstelle.
 
Also doch nicht so primitiv, dachte sie, als sie Ian über den Scheunenhof und an den Nebengebäuden vorbei aufs freie Feld folgte. Alles war gut in Schuß und ordentlich, die Trockenmauern und Gebäude in gutem Zustand, wenn auch ein bißchen schäbig. Die Hühner waren sorgsam in ihren eigenen Hof gesperrt, und eine Wolke aus Fliegen, die hinter der Scheune schwebte, zeigte die geziemende Position eines Misthaufens in ausreichender Entfernung vom Haus an.
Der einzige Unterschied, den sie zwischen diesem Bauernhof und einem modernen hatte sehen können, war das Fehlen vor sich hinrostender Geräte; eine Schaufel lehnte an der Scheune, und in einem Verschlag standen zwei oder drei zerbeulte Pflugscharen, doch es gab keinen klapprigen Traktor, kein Kabelgewirr und keine verstreuten Metallteile.
Die Tiere waren gesund, wenn auch etwas zierlicher als ihre modernen Gegenstücke. Ein lautes »Bäääh!« verriet die Anwesenheit einer kleinen Herde gutgenährter Schafe auf einer Koppel am Hang. Die Tiere trabten neugierig an den Zaun, als sie vorbeikamen; ihre Wollrücken wackelten und ihre gelben Augen glänzten erwartungsvoll.
»Verwöhnte Biester«, sagte Ian, lächelte aber dabei. »Ihr glaubt auch, jeder der hier heraufkommt, kommt euch füttern, was? Die gehören meiner Frau«, fügte er, an Brianna gewandt, hinzu. »Sie gibt ihnen die ganzen Abfälle aus dem Gemüsegarten, bis man meint, sie müßten platzen.«
Der Hammel, ein majestätisches Geschöpf mit großen, gewundenen Hörnern, streckte seinen Kopf über den Zaun und gab ein gebieterisches »Beheheh!« von sich, das seine getreue Herde unverzüglich aufgriff.
»Verdrück dich, Hughie«, sagte Ian im Tonfall nachsichtiger Verachtung. »Noch bist du keine Hammelkeule, aber der Tag wird kommen, aye?« Er verabschiedete den Hammel mit einer Handbewegung und wandte sich mit schwingendem Kilt hügelwärts.
Brianna fiel einen Schritt zurück und beobachtete ihn fasziniert beim Gehen. Ian trug seinen Kilt mit einer Aura, die für sie völlig neu war; nicht als Kostüm oder Uniform - er war sich des Kleidungsstückes bewußt, doch eher so, als wäre es ein Teil seines Körpers denn ein Bekleidungsgegenstand.
Dennoch wußte sie, daß es alles andere als alltäglich für ihn war, ihn zu tragen; Jenny hatte die Augen weit aufgerissen, als er zum Frühstück heruntergekommen war; dann hatte sie den Kopf gesenkt und ihr Lächeln in ihrer Tasse versteckt. Der kleine Jamie hatte mit einer schwarzen Augenbraue in Richtung seines Vaters gezuckt, sich einen verständnislosen Blick eingefangen und sich mit einem leichten Achselzucken und einem jener leisen, unterirdischen Geräusche, die man bei schottischen Männern so häufig hört, seinem Würstchen gewidmet.
Der Stoff des Plaids war alt - sie konnte sehen, daß er in den Kniffen verblichen und am Saum verschlissen war -,doch er war sorgsam aufbewahrt worden. Nach Culloden hatten sie ihn wahrscheinlich versteckt, zusammen mit ihren Pistolen und Schwertern, den Dudelsäcken und ihren Melodien - all den Symbolen ihres unterworfenen Stolzes.
Nein, nicht ganz unterworfen, dachte sie und spürte ein merkwürdiges, leichtes Ziehen im Herzen. Sie dachte an Roger Wakefield, wie er unter dem grauen Himmel auf dem Schlachtfeld von Culloden neben ihr hockte, sein Gesicht hager und dunkel, die Augen vom Wissen um die Toten ringsum überschattet.
»Schotten haben ein langes Gedächtnis«, hatte er gesagt, »und sie sind kein sehr nachsichtiges Volk. Da draußen steht ein Clanstein, auf dem der Name MacKenzie steht, und darunter liegt eine Menge meiner Verwandten.« Dann hatte er gelächelt, doch es war nicht im Scherz gewesen. »Ich nehme das nicht so persönlich wie manch anderer, aber ich habe es auch nicht vergessen.«
Nein, nicht unterworfen. Nicht in tausend Jahren voll Zwist und Verrat, und nicht jetzt. Besiegt, verstreut, aber immer noch lebendig. Wie Ian, verstümmelt, aber aufrecht. Wie ihr Vater, vertrieben, aber immer noch ein Highlander.
Mit einiger Anstrengung schob sie den Gedanken an Roger von sich und beeilte sich, um mit Ians langen, hinkenden Schritten mitzuhalten.
 
Sein hageres Gesicht hatte vor Freude aufgeleuchtet, als sie ihn gebeten hatte, ihr Lallybroch zu zeigen. Sie hatten abgesprochen, daß Jamie sie in einer Woche nach Inverness bringen und dafür sorgen würde, daß sie einen Platz auf einem Schiff in die Kolonien fand, und sie hatte vor, diese Zeit auszunutzen.
Sie wanderten - eiligen Schrittes trotz Ians Bein - durch die Felder zu den niedrigen Hügeln, die das Tal im Norden begrenzten und zu dem Paß in den schwarzen Felsen hin anstiegen. Es war wunderschön hier, dachte sie. Die blaßgrünen Hafer- und Gerstenfelder wogten im wechselnden Licht, Wolkenschatten jagten durch die Frühlingssonne, getrieben vom Wind, der die sprießenden Grasstengel niederbeugte.
Ein Feld lag in langen, dunklen Furchen aus nackter, aufgehäufter Erde da. Am Rand des Feldes lag ein großer Haufen grober Steine ordentlich aufgestapelt.
»Ist das ein Grabhügel?« fragte sie Ian und senkte ehrfurchtsvoll die Stimme. Solche Hügel dienten dem Gedenken der Toten, hatte ihre Mutter ihr gesagt - manche seit uralter Zeit -,und jeder Besucher fügte im Vorübergehen einen neuen Stein hinzu.
Er sah sie überrascht an, folgte ihrer Blickrichtung und grinste.
»Ah, nein, Kleine. Das sind die Steine, die im Frühling beim Pflügen zum Vorschein gekommen sind. Jedes Jahr holen wir sie aus dem Boden, und jedes Jahr kommen neue. Hol mich der Teufel, wenn ich weiß, woher sie kommen«, fügte er hinzu und schüttelte resigniert den Kopf. »Ich schätze, die Steinfeen kommen des Nachts und säen sie aus.«
Sie wußte nicht, ob das ein Witz war oder nicht. Unsicher, ob sie lachen sollte, stellte sie statt dessen eine Frage.
»Was werdet ihr hier pflanzen?«
»Oh, es ist schon gepflanzt.« Ian beschattete seine Augen und blinzelte voller Stolz über das langgezogene Feld hinweg. »Das ist unser Erdäpfelfeld. Ende des Monats sind die neuen Ranken da.«
»Erdäpfel - oh, Kartoffeln!« Sie betrachtete das Feld mit neuerwachtem Interesse. »Mama hat mir davon erzählt.«
»Aye, es war Claires Idee - und zwar eine gute. Die Kartoffeln haben uns schon mehr als einmal vor dem Verhungern gerettet.« Er lächelte kurz, sagte aber nichts mehr und schritt weiter auf die wilden Hügel jenseits der Felder zu.
Es war ein langer Weg. Der Tag war windig, aber warm, und Brianna schwitzte, als sie endlich mitten auf dem groben Pfad in der Heide anhielten. Der enge Pfad schien unentschlossen zwischen einem steilen Berghang und einem noch steiler abfallenden Felsvorsprung zu schweben, der in einem plätschernden Bächlein endete.
Ian blieb stehen, wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und bedeutete ihr, sich zwischen die aufgehäuften Granitbrocken zu setzen. Von diesem Aussichtspunkt aus lag das Tal unter ihnen, der Hof sah klein und deplaziert aus, seine Felder eine schwache Einmischung der Zivilisation in die umliegende Wildnis aus Felsgipfeln und Heide.
Er holte eine Steingutflasche aus dem Sack, den er bei sich trug, und entkorkte sie mit den Zähnen.
»Daran ist auch deine Mutter schuld«, sagte er grinsend und gab ihr die Flasche. »Daß ich meine Zähne noch habe, meine ich.« Er fuhr sich nachdenklich mit der Zungenspitze über die Schneidezähne und schüttelte den Kopf.
»Hat es wirklich mit dem Grünzeug, deine Mutter, aber ich kann mich nicht beschweren, was? Die meisten Männer in meinem Alter essen jetzt nur noch Porridge.«
»Sie hat immer gesagt, ich müßte mein Gemüse aufessen, als ich klein war. Und nach jeder Mahlzeit Zähne putzen.« Brianna nahm ihm die Flasche ab und kippte den Inhalt in ihren Mund; das Ale war kräftig und bitter, aber angenehm kühl nach dem langen Weg.
»Als du klein warst, was?« Belustigt musterte Ian sie der Länge nach. »So ein Prachtmädchen habe ich noch nicht oft gesehen. Ich würde sagen, deine Mutter hat ihre Sache gut gemacht, aye?«
Sie lächelte und gab ihm die Flasche zurück.
»Zumindest war sie so klug, einen großen Mann zu heiraten«, sagte sie sarkastisch.
Ian lachte und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er sah sie liebevoll an, und Wärme lag in seinen braunen Augen.
»Ah, es ist eine Freude, dich anzusehen, Schätzchen. Du bist ihm sehr ähnlich, das ist wahr. Himmel, was würde ich darum geben, dabeizusein, wenn Jamie dich sieht!«
Sie blickte zu Boden und biß sich auf die Lippen. Der Boden war dicht mit Farnen bestanden und ihr Weg hügelaufwärts war deutlich daran zu verfolgen, daß sie die grünen Farnwedel, die den Pfad überwuchert hatten, zertreten und zur Seite gedrückt hatten.
»Ich weiß nicht, ob er Bescheid weiß oder nicht,« platzte sie heraus. »Über mich.« Sie sah zu ihm auf. »Er hat euch nichts gesagt.«
Ian lehnte sich ein wenig zurück und runzelte die Stirn.
»Nein, das stimmt«, sagte er langsam. »Aber ich denke, er hatte wohl keine Zeit, davon zu sprechen, selbst wenn er es wußte. Er ist nicht lange geblieben, das letzte Mal, als er hier war mit Claire. Und dann war es ein solches Durcheinander, mit allem, was passiert ist…« Er hielt inne, spitzte die Lippen und sah sie an.
»Deine Tante macht sich deswegen große Sorgen«, sagte er. »Sie meint, du machst ihr vielleicht Vorwürfe.«
»Vorwürfe?« Sie starrte ihn verwundert an.
»Wegen Laoghaire.« Seine braunen Augen fixierten die ihren gebannt.
Ein leiser Schauer überkam Brianna bei dem Gedanken an diese blassen Augen, kalt wie Murmeln, und die haßerfüllten Worte der Frau. Sie hatte sie als schlichte Bosheit abgetan, doch der »Zuhälter« und der »Betrüger« klangen ihr noch unangenehm in den Ohren.
»Was hat denn Tante Jenny mit Laoghaire zu tun gehabt?«
Ian seufzte und strich sich eine dichte Strähne seines braunen Haars zurück, die ihm ins Gesicht gefallen war.
»Sie hat dafür gesorgt, daß Jamie die Frau geheiratet hat. Sie hat es wirklich gut gemeint«, sagte er warnend. »Wir haben Claire schließlich die ganzen Jahre lang für tot gehalten.«
Sein Tonfall war fragend, doch Brianna nickte nur, den Blick auf den Boden gerichtet, und zog den Stoff über ihrem Knie glatt. Dies waren gefährliche Gefilde; besser, nichts zu sagen, wenn es möglich war. Einen Moment später fuhr Ian for.
»Das war, als er aus England heimgekommen war - er hat dort nach dem Aufstand ein paar Jahre als Gefangener gelebt…«
»Ich weiß.«
Ians Augenbrauen fuhren überrascht in die Höhe, doch er sagte nichts und schüttelte nur den Kopf.
»Aye, gut. Als er zurückkam war er - verändert. Na ja, das ist verständlich, aye?« Er lächelte kurz und senkte dann den Blick, während seine Finger den Stoff seines Kilts in Falten legten.
»Es war, als redete man mit einem Geist«, sagte er leise. »Er sah einen an und lächelte und antwortete - aber eigentlich war er nicht da.« Er holte tief Luft, und sie sah die Falten zwischen seinen Augen, tief eingegraben vor Konzentration.
»Vorher - nach Culloden - da war es anders. Er war schwer verletzt - und er hatte Claire verloren…« Er sah sie kurz an, doch sie schwieg immer noch, und er sprach weiter.
»Das war eine furchtbare Zeit. Viele Menschen sind damals gestorben; im Kampf, durch Krankheiten oder vor Hunger. Die englischen Soldaten sind mordend und brandschatzend durchs Land gezogen. In so einer Zeit kann man ans Sterben nicht einmal denken, weil man viel zu sehr damit beschäftigt ist, zu überleben und seine Familie am Leben zu erhalten.«
Ein schwaches Lächeln umspielte Ians Lippen, und seine persönliche Belustigung tauchte den Kummer der Erinnerung in ein seltsames Licht.
»Jamie hat sich versteckt«, sagte er und wies mit einer abrupten Geste auf den Berghang über ihnen. »Da. Hinter dem großen Ginsterbusch auf halbem Weg zum Gipfel ist eine kleine Höhle. Ich wollte sie dir zeigen, deshalb habe ich dich hergebracht.«
Ihr Blick folgte seinem Finger den mit Heide und Felsbrocken übersäten Hang hinauf, auf dem Unmengen winziger Blumen wuchsen. Sie sah keine Spur von einer Höhle, doch der Ginsterbusch mit seinen flammendgelben Blüten war unübersehbar und leuchtete wie eine Fackel.
»Einmal bin ich heraufgekommen, um ihm etwas zu essen zu bringen, als er Fieber hatte. Ich habe ihm gesagt, er müßte mit mir zum Haus herunterkommen, weil Jenny Angst hatte, er würde hier oben ganz allein sterben. Er hat seine Augen aufgemacht, die vor Fieber glänzten, und seine Stimme war so heiser, daß ich ihn kaum hören konnte. Er sagte, Jenny sollte sich keine Sorgen machen; es sähe zwar so aus, als hätte sich alle Welt vorgenommen, ihn umzubringen, doch er hätte nicht vor, es ihnen leicht zu machen. Dann hat er seine Augen wieder zugemacht und ist eingeschlafen.«
Ian sah sie voll Ironie an. »Ich war mir nicht sicher, ob er wirklich das letzte Wort behalten würde, wenn es darum ging, ob er sterben würde oder nicht. Also bin ich über Nacht bei ihm geblieben. Aber er hatte recht; er ist ziemlich stur, weißt du?« In seinem Tonfall lag der leise Anflug einer Entschuldigung.
Brianna nickte, doch der Kloß in ihrem Hals hinderte sie am Sprechen. Statt dessen stand sie auf und ging den Berg hinauf. Ian protestierte nicht, sondern blieb auf seinem Felsen sitzen und beobachtete sie.
Es war ein steiler Aufstieg, und kleine, dornige Pflanzen verfingen sich in ihren Strümpfen. Als sie sich der Höhle näherte, mußte sie auf allen vieren aufwärts klettern, um auf dem steilen Granithang das Gleichgewicht zu behalten.
Der Höhleneingang war kaum mehr als eine Spalte im Felsen, deren Öffnung sich nach unten hin zu einem kleinen Dreieck verbreiterte. Sie kniete sich hin und steckte Kopf und Schultern hinein.
Die Kühle traf sie unvermittelt; sie spürte, wie die Feuchtigkeit auf ihren Wangen kondensierte. Es dauerte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch es sickerte genug Licht an ihren Schultern vorbei in die Höhle, daß sie etwas sehen konnte.
Sie war vielleicht zweieinhalb Meter lang und zwei Meter breit, eine halbdunkle Höhlung, deren Boden aus Erde bestand und deren Decke so niedrig war, daß man nur in der Nähe des Eingangs aufrecht stehen konnte. Wenn man sich längere Zeit darin aufhielt, mußte man sich vorkommen, als wäre man eingemauert.
Sie zog schnell den Kopf heraus und atmete die frische Frühlingsluft in tiefen Zügen ein. Ihr Herz klopfte heftig.
Sieben Jahre! Sieben Jahre hier gelebt zu haben, in Schmutz und Kälte und nagendem Hunger. Ich würde es keine sieben Tage aushalten, dachte sie.
Wirklich nicht? fragte ein anderer Teil ihres Verstandes. Und da war es wieder, das winzige Klicken des Wiedererkennens, das sie verspürt hatte, als sie Ellens Porträt betrachtet und dabei das Gefühl hatte, daß sich ihre Finger um einen unsichtbaren Pinsel schlossen.
Sie drehte sich langsam um und setzte sich mit dem Rücken zur Höhle hin. Es war sehr still hier auf dem Berghang, doch still in der Art der Berge und Wälder, eine Stille, die alles andere als lautlos war, sondern sich aus permanenten Einzelgeräuschen zusammensetzte.
In dem Ginsterbusch neben ihr erklang das leise Summen der Bienen, die die gelben Blüten abarbeiteten und mit Pollen bestäubt waren. Weit unten rauschte der Bach, ein tiefer Ton, der wie ein Echo das Rauschen des Windes aufgriff, der hier oben an die Blätter rührte, in den Zweigen klapperte und über die schroffen Felsen hinwegseufzte.
Sie saß still und lauschte und glaubte zu wissen, was Jamie Fraser hier gefunden hatte.
Er war hier allein, aber nicht einsam gewesen. Er hatte nicht gelitten, sondern durchgehalten, eine grimmige Verwandtschaft mit den Felsen und dem Himmel entdeckt. Und einen rauhen Frieden gefunden, der stärker war als die körperlichen Unannehmlichkeiten, und statt dessen die Wunden der Seele heilte.
Möglicherweise hatte er die Höhle nicht als Kerker, sondern als Zufluchtsort empfunden; aus ihren Felsen Kraft gezogen wie Antaeus aus der Erde. Dieser Ort war genauso ein Teil von ihm, der hier geboren war, wie er Teil von ihr war, die ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Ian saß immer noch geduldig unten; er hatte die Hände über den Knien gefaltet und blickte über das Tal. Sie streckte die Hand aus und brach vorsichtig einen Ginsterzweig ab, wobei sie sich vor den Stacheln in acht nahm. Sie legte ihn in den Höhleneingang, beschwerte ihn mit einem kleinen Stein und machte sich dann vorsichtig auf den Rückweg nach unten.
Ian mußte gehört haben, wie sie näher kam, doch er wandte sich nicht um. Sie setzte sich neben ihn.
»Ist es jetzt ungefährlich für dich, das anzuziehen?« fragte sie und wies kopfnickend auf seinen Kilt.
»Oh, aye«, sagte er. Er blickte nach unten und rieb mit seinen Fingern über den weichen, abgetragenen Wollstoff. »Es ist schon ein paar Jahre her, seit die Soldaten das letzte Mal hier waren. Was gibt es hier schließlich noch?« Er deutete auf das Tal unter ihnen.
»Sie haben alles mitgenommen, was sie an Wertvollem finden konnten. Was sie nicht tragen konnten, haben sie zerstört. Es ist nicht viel übrig außer dem Land, oder? Und ich glaube nicht, daß sie sich dafür besonders interessiert haben.« Sie konnte sehen, daß ihm irgend etwas Sorgen bereitete; sein Gesicht konnte die Gefühle seines Besitzers nicht verbergen.
Sie beobachtete ihn einen Augenblick lang und sagte dann: »Du bist immer noch hier. Du und Jenny.«
Seine Hand kam zur Ruhe und legte sich auf das Plaid. Er hatte die Augenlider gesenkt und sein gutmütiges, verwittertes Gesicht der Sonne zugewandt.
»Aye, das stimmt«, sagte er schließlich. Er öffnete die Augen wieder und sah sie an. »Und du auch. Wir haben uns letzte Nacht ein bißchen unterhalten, deine Tante und ich. Wenn du Jamie siehst und ihr euch gut versteht - dann frag ihn doch bitte, was wir tun sollen?«
»Tun? In welcher Hinsicht?«
»Mit Lallybroch.« Er schwenkte den Arm und wies auf das Tal und das Haus. Er wandte sich ihr mit einem sorgenvollen Blick zu.
»Du weißt vielleicht - vielleicht auch nicht -,daß dein Vater vor Culloden einen Schenkungsbrief geschrieben hat, um das Gut auf den kleinen Jamie zu überschreiben, falls alles mißlang und er umkam oder als Verräter verurteilt wurde. Aber das war, bevor du geboren wurdest; bevor er wußte, daß er selbst ein Kind haben würde.«
»Ja, das wußte ich.« Plötzlich erkannte sie, worauf er hinauswollte. Sie legte ihm die Hand auf den Arm, und bei ihrer Berührung schrak er auf.
»Ich bin nicht deswegen gekommen, Onkel Ian«, sagte sie leise. »Lallybroch gehört mir nicht - und ich will es nicht. Ich will nur meinen Vater sehen und meine Mutter.«
Ians Gesicht entspannte sich, und er legte die Hand auf seinem Arm über die ihre. Einen Augenblick lang sagte er nichts; dann drückte er sanft ihre Hand und ließ sie los.
»Aye, gut. Aber du sagst es ihm trotzdem; falls er es möchte…«
»Er möchte es nicht«, unterbrach sie ihn bestimmt.
Ein schwaches Lächeln nistete verborgen in Ians Augen.
»Dafür, daß du ihm noch nie begegnet bist, weißt du ja sehr gut, was er möchte.«
Sie lächelte ihn an, die Frühlingssonne warm auf ihren Schultern.
»Vielleicht tue ich das.«
»Aye, deine Mutter hat dir sicher von ihm erzählt. Und sie hat ihn gekannt, Sassenach oder nicht. Aber sie ist auch immer… etwas Besonderes gewesen, deine Mutter.«
»Ja.« Sie zögerte einen Augenblick, denn sie wollte mehr über Laoghaire hören, war sich aber nicht sicher, wie sie ihre Frage formulieren sollte. Ehe sie sich etwas überlegen konnte, stand er auf, strich seinen Kilt glatt, machte sich auf den Weg und zwang sie damit, aufzustehen und ihm zu folgen.
»Was ist ein Schattenbild, Onkel Ian?« fragte sie seinen Hinterkopf. Mit den Schwierigkeiten des Abstiegs beschäftigt, drehte er sich nicht um, doch sie sah, wie er leicht stolperte, als sein Holzbein in den lockeren Boden einsank. Am Fuß des Hügels wartete er auf seinen Stock gestützt auf sie.
»Du denkst an das, was Laoghaire gesagt hat?« fragte er. Ohne ihr Nicken abzuwarten, wandte er sich um und humpelte am Fuß des Hügels entlang zu dem kleinen Bach, der durch die Felsen herabgeflossen kam.
»Ein Schattenbild ist, wenn man einen Menschen sieht, obwohl dieser weit weg ist«, sagte er. »Manchmal ist es jemand, der in der Ferne gestorben ist. Es bringt Unglück, ein solches Bild zu sehen, aber noch größeres Unglück, seinem eigenen zu begegnen - wenn das passiert, dann stirbt man.«
Es war die absolute Nüchternheit seines Tonfalls, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte.
»Ich hoffe, es passiert mir nicht«, sagte sie. »Aber sie hat gesagt, Laoghaire…« Sie stolperte über den Namen.
»L’hiery«, verbesserte Ian. »Aye, stimmt. Es war bei ihrer Hochzeit mit Jamie, als Jenny das Bild deiner Mutter gesehen hat, das ist wahr. Da wußte sie, daß sie kein gutes Paar waren, aber es war zu spät, um es rückgängig zu machen.«
Er kniete sich umständlich auf sein gesundes Knie und spritzte sich Wasser aus dem Bach ins Gesicht. Brianna tat es ihm gleich und trank mehrere Hände voll kaltem, nach Torf schmeckendem Wasser. Da sie kein Handtuch hatte, zog sie sich den Hemdschoß aus dem Hosenbund und wischte sich das Gesicht ab. Sie erhaschte Ians schockierten Blick angesichts ihres nackten Bauches, und ließ abrupt den Hemdschoß fallen, wobei ihre Wangen rot anliefen.
»Du wolltest mir erzählen, warum mein Vater sie geheiratet hat«, sagte sie, um ihre Verlegenheit zu verbergen.
Ians Wangen hatten rote Flecken bekommen, und er wandte sich hastig ab und redete, um seine Verwirrung zu überspielen.
»Aye. Es war so, wie ich gesagt habe - als Jamie aus England kam, war es, als sei sein Lebensfunke verloschen, und es gab hier nichts, womit man ihn hätte wieder anfachen können. Ich weiß nicht genau, was in England geschehen ist, doch irgend etwas Schreckliches hat sich dort zugetragen, so wahr ich lebe.«
Er zuckte mit den Achseln, und seine Wangen nahmen wieder die normale, sonnenverbrannte Bräune an.
»Nach Culloden war er tief verletzt, doch wir hatten hier immer noch unseren eigenen Kampf auszufechten, und das hat ihn am Leben erhalten. Als er aus England zurückkam - da gab es hier nichts mehr für ihn.« Er sprach leise, die Augen zu Boden gerichtet, weil er auf dem felsigen Untergrund darauf achten mußte, wohin er trat.
»Also hat Jenny ihn mit Laoghaire verkuppelt.« Er sah sie mit leuchtenden Augen an.
»Du bist vielleicht alt genug, es zu wissen, auch wenn du noch nicht verheiratet bist. Was eine Frau für einen Mann tun kann - oder er für sie, nehme ich an. Ihn zu heilen, meine ich. Die Leere in ihm zu füllen.« Er berührte geistesabwesend sein verstümmeltes Bein. »Jamie hat Laoghaire aus Mitleid geheiratet, glaube ich - und wenn sie ihn wirklich gebraucht hätte - aye, na ja.« Er zuckte erneut die Achseln und lächelte sie an.
»Es hat keinen Zweck, darüber zu sinnieren, was hätte geschehen können oder sollen, nicht wahr? Aber er war schon einige Zeit vor der Rückkehr deiner Mutter aus Laoghaires Haus ausgezogen, das solltest du wissen.«
Brianna spürte einen schwachen Sog der Erleichterung. »Oh. Das ist gut zu wissen. Und meine Mutter - als sie zurückkam…«
»Er war sehr glücklich, sie zu sehen«, sagte Ian schlicht. Diesmal erhellte das Lächeln sein ganzes Gesicht wie Sonnenschein. »Und ich auch.«
Der Ruf Der Trommel
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