35
Bon Voyage
Sie fühlte sich unangenehm an das städtische Tierheim von Boston erinnert. Ein großer, dunkler Raum, von dessen Dachsparren es winselnd widerhallte und dessen Luft voller Tiergerüche hing. Das riesige Gebäude auf dem Marktplatz in Inverness beherbergte viele Unternehmen - Essensverkäufer, Viehmakler, Versicherungsagenten, Schiffsausrüster und Rekrutierungsoffiziere der Königlichen Marine, doch es war die in einer Ecke zusammengedrängte Gruppe von Männern, Frauen und Kindern, die der Illusion die größte Kraft verlieh.
Hier und dort standen ein Mann oder eine Frau aufrecht inmitten der Gruppe und drängten sich nach vorn, das Kinn vorgestreckt und die Schultern gerade, um ihre gute Gesundheit und geistige Kraft unter Beweis zu stellen. Doch der größte Teil dieser Menschen, die sich selbst zum Verkauf anboten, betrachtete die Vorbeigehenden argwöhnisch mit pfeilschnellen Blicken, deren Ausdruck zwischen Hoffnung und Angst erstarrt war - und sie allzusehr an die Hunde im Tierheim erinnerte, in das ihr Vater sie mitgenommen hatte, damit sie sich ein Haustier aussuchte.
Es hockten auch mehrere Familien mit Kindern dort, die sich an ihre Mütter klammerten oder ausdruckslos neben ihren Eltern verharrten. Brianna versuchte, den Blick abzuwenden; es waren schon immer die Welpen gewesen, die ihr das Herz gebrochen hatten.
Der kleine Jamie umkreiste die Gruppe langsam und hielt den Hut gegen seine Brust gepreßt, damit er nicht von der Menge zerdrückt wurde. Er hatte die Augen halb geschlossen, während er das Angebot studierte. Ihr Onkel Ian war zum Schiffahrtsbüro gegangen, um ihre Überfahrt nach Amerika zu arrangieren, und hatte es ihrem Vetter überlassen, einen Bediensteten auszusuchen, der sie auf der Reise begleiten sollte. Sie hatte vergeblich eingewandt, daß sie keinen Bediensteten brauchte; schließlich war sie - nach allem, was sie wußten - auch allein von Frankreich nach Schottland gereist und dabei in keinerlei Gefahr gewesen.
Die Männer hatten genickt und gelächelt und alle Zeichen höflicher Aufmerksamkeit an den Tag gelegt - und hier war sie nun und folgte Jamie gehorsam durch die Menschenmenge wie eins von Jennys Schafen. Langsam wurde ihr klar, was genau ihre Mutter gemeint hatte, als sie die Frasers mit »stur wie Felsbrocken« beschrieben hatte.
Trotz des Aufruhrs, der sie umgab, und ihrer Verärgerung über ihre männlichen Verwandten tat ihr Herz bei dem Gedanken an ihre Mutter einen kleinen, aufgeregten Sprung. Erst jetzt, da sie mit Sicherheit wußte, daß es ihrer Mutter gutging, konnte sie sich eingestehen, wie schmerzlich sie sie vermißt hatte. Und ihren Vater - jenen unbekannten Highlander, der für sie so plötzlich und unmittelbar lebendig geworden war, als sie seine Briefe gelesen hatte. Die Tatsache, daß ein Ozean zwischen ihnen lag, schien kaum mehr als eine kleine Unannehmlichkeit zu sein.
Ihr Vetter Jamie unterbrach ihre verträumten Gedanken, indem er ihren Arm ergriff und sich zu ihr hinüberbeugte, um ihr ins Ohr zu rufen.
»Der Kerl da drüben mit der Augenklappe«, sagte er in einem gedämpften Bellton und zeigte mit dem Kinn auf den fraglichen Herrn. »Was hältst du von ihm, Brianna?«
»Ich würde sagen, er sieht aus wie der Würger von Boston«, murmelte sie, dann rief sie lauter in das Ohr ihres Vetters »Er sieht aus wie ein Ochse! Nein!«
»Er ist kräftig, und er sieht ehrlich aus!«
Brianna fand, daß der fragliche Herr zu dumm aussah, um unehrlich zu sein, doch sie sah davon ab, es auszusprechen, und schüttelte nur nachdrücklich den Kopf.
Jamie zuckte stoisch mit den Achseln und nahm seine Betrachtung der potentiellen Leibeigenen wieder auf. Er umkreiste diejenigen, die ihn besonders interessierten, und betrachtete sie eingehend auf eine Weise, die ihr wahrscheinlich extrem unhöflich vorgekommen wäre, hätten sich nicht diverse andere potentielle Arbeitgeber genauso verhalten.
»Pastetchen! Heiße Pastetchen!« Ein schrilles Kreischen durchschnitt den tosenden Lärm in der Halle, und als Brianna sich umdrehte, sah sie eine alte Frau, die sich unerschütterlich mit den Ellbogen ihren Weg bahnte. Ein dampfendes Tablett hing ihr um den Hals, und sie hatte einen Holzschieber in der Hand.
Der himmlische Duft von frischem, heißem Teig und würzigem Fleisch durchschnitt die anderen, beißenden Gerüche in der Halle. Er war genauso auffällig wie die Rufe der Frau. Das Frühstück war schon lange her, und Brianna grub in ihrer Tasche nach, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief.
Ian hatte ihren Geldbeutel mitgenommen, um ihre Überfahrt zu bezahlen, doch sie hatte ein paar lose Münzen; sie hielt eine davon hoch und schwenkte sie hin und her. Die Pastetenverkäuferin sah das Silber aufblitzen, wechselte unverzüglich den Kurs und lavierte durch die schnatternde Menge. Vor Brianna drehte sie bei und streckte die Hand in die Höhe, um die Münze zu ergattern.
»Himmel hilf, eine Riesin!« sagte sie und entblößte grinsend ihre kräftigen, gelben Zähne, während sie den Kopf zurücklegte, um Brianna anzusehen. »Am besten nimmste zwei, Kleine. Eine reicht niemals für’n langes Luder wie dich!«
Köpfe wandten sich um, und Gesichter grinsten zu ihr hoch. Sie überragte die meisten Männer in ihrer Nähe um einen halben Kopf. Etwas verlegen über die Aufmerksamkeit, die sie erregte, warf Brianna dem nächstbesten Übeltäter einen kalten Blick zu. Dies schien den jungen Mann extrem zu amüsieren; er stolperte rückwärts gegen seinen Freund, faßte sich an die Brust und tat so, als sei er überwältigt.
»Mein Gott!« sagte er. »Sie hat mich angesehen! Mir bleibt das Herz stehen!«
»Och, tu dich weg«, spottete sein Freund und zog ihn hoch. »Sie hat mich angesehen; wer würde denn dich ansehen, wenn es auch anders geht?«
»Gar nicht wahr«, protestierte sein Freund. »Ich war’s - stimmt’s nicht, Süße?« Er schmachtete sie mit Kuhaugen an und sah dabei so lächerlich aus, daß sie gemeinsam mit der umstehenden Menge lachte.
»Und was würd’ste mit ihr anfangen, wenn du sie hättest, häh? Sie würde Kleinholz aus dir machen. Und jetzt ab mit dir, Junge«, sagte die Pastetenverkäuferin und knallte dem jungen Mann beiläufig ihren Holzschieber über den Hintern. »Vielleicht hast du ja nichts zu tun, aber ich schon. Und die junge Frau verhungert noch, wenn du nicht aufhörst, dich zum Narren zu machen, und sie etwas zu essen kaufen läßt, aye?«
»Sie sieht mir ganz wohlgenährt aus, Oma.« Briannas Verehrer ignorierte sowohl die Beleidigung als auch die Ermahnung und begaffte sie schamlos. »Und was den Rest angeht - hol mir’ne Leiter, Bobby, ich hab’ keine Höhenangst.«
Unter tobendem Gelächter wurde der junge Mann von seinen Freunden fortgezerrt. Er machte laute Kußgeräusche über seine Schulter hinweg, während er widerstrebend von dannen zog. Brianna nahm ihr Restgeld in Kupfermünzen entgegen und zog sich in eine Ecke zurück, um ihre beiden heißen Rindfleischpasteten zu essen. Ihr Gesicht war immer noch rot vom Lachen und vor Befangenheit.
Seit sie eine schlaksige Siebtklässlerin gewesen war, die all ihre Klassenkameraden überragte, war sie sich ihrer Größe nicht mehr so bewußt gewesen. Bei ihren hochgewachsenen Vettern hatte sie sich wohlgefühlt, doch es stimmte; hier stach sie hervor wie ein verletzter Daumen, obwohl sie Jennys Drängen nachgegeben und ihr Männergewand gegen ein Kleid ihrer Cousine Janet eingetauscht hatte, das hastig geändert und am Saum ausgelassen worden war.
Ihr Gefühl der Befangenheit wurde dadurch nicht besser, daß es zu dem Kleid keine Unterwäsche gab außer dem langen Hemd. Niemand schien etwas dabei zu finden, doch sie war sich des ungewohnten Gefühls der Luftigkeit in ihren unteren Gefilden genauso bewußt wie des merkwürdigen Gefühls, das ihre nackten Oberschenkel erzeugten, wenn sie beim Gehen aneinanderstreiften, denn ihre Seidenstrümpfe endeten knapp über dem Knie in einem Strumpfband.
Ihre Verlegenheit und das luftige Gefühl waren vergessen, als sie in die erste heiße Pastete biß. Es war ein dickes, halbmondförmiges, heißes Küchlein, gefüllt mit Hacksteak und Talg und mit Zwiebeln gewürzt. Eine Explosion aus heißem, schmackhaftem Saft und lockerem Pastetenteig erfüllte ihren Mund, und sie schloß selig die Augen.
»Das Essen war entweder furchtbar schlecht oder furchtbar gut«, hatte Claire gesagt, als sie ihre Abenteuer in der Vergangenheit beschrieb. »Das liegt daran, daß man nichts frischhalten kann; alles, was man ißt, ist entweder gepökelt oder in Schmalz konserviert, wenn es nicht halb ranzig ist - oder es stammt frisch von der Keule oder aus dem Garten, in welchem Fall es absolut phantastisch sein kann.«
Die Pastete war absolut phantastisch, entschied Brianna, auch wenn ihr pausenlos Krümel in den Ausschnitt fielen. Sie strich sich möglichst unauffällig über den Busen, doch die Menge hatte ihre Aufmerksamkeit verlagert - jetzt sah ihr niemand mehr zu.
Oder fast niemand. Ein schmaler, blonder Mann in einem schäbigen Rock war neben ihr aufgetaucht und machte kleine, nervöse Bewegungen, als wollte er sie am Ärmel zupfen, hätte aber nicht ganz den Mut dazu. Unsicher, ob er ein Bettler oder ein weiterer unverfrorener Freier war, sah sie ihn argwöhnisch von oben herab an.
»Ja?«
»Ihr - Ihr braucht einen Diener, Ma’am?«
Sie gab ihre Zurückhaltung auf, denn ihr wurde klar, daß er aus der Menge der Zwangsarbeiter gekommen sein mußte.
»Oh. Tja, ich würde nicht sagen, daß ich wirklich einen brauche, aber es sieht so aus, als würde ich trotzdem einen bekommen.« Sie blickte zu Jamie herüber, der gerade ein untersetztes Individuum mit Käferbrauen und den Schultern eines Dorfschmiedes befragte. Sie blickte wieder auf den kurzen Mann vor ihr; mit Jamies Maß gemessen machte er nicht viel her, doch mit ihrem…
»Seid Ihr interessiert?« fragte sie.
Der Ausdruck abgehärmter Nervosität wich nicht aus seinem Gesicht, doch in seinen Augen erschien ein flüchtiges Hoffnungsleuchten.
»Es - ich - also - nicht ich, nein. Aber könnt Ihr - vielleicht darüber nachdenken - würdet Ihr meine Tochter nehmen?« sagte er schließlich. »Bitte!«
»Eure Tochter?« Erschrocken blickte Brianna zu ihm herab und vergaß die halbgegessene Pastete.
»Ich bitte Euch, Ma’am!« Zu ihrer Überraschung standen Tränen in den Augen des Mannes. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr ich Euch anflehe oder wie dankbar ich Euch wäre!«
»Aber - äh...« Brianna strich sich die Krümel aus dem Mundwinkel und fühlte sich furchtbar verlegen.
»Sie ist ein kräftiges Mädchen trotz ihrer Erscheinung, und sehr willig! Sie wird mit Freuden jeden Dienst für Euch erledigen, Ma’am, wenn Ihr ihren Vertrag übernehmt!«
»Aber warum sollte - also, wo ist das Problem?« sagte sie, und Neugier und Mitleid mit seinem offensichtlichen Unbehagen überwanden ihre Verlegenheit. Sie ergriff seinen Arm und zog ihn in den Schutz einer Ecke, wo der Lärm etwas schwächer war.
»Also, warum seid Ihr so wild darauf, daß ich Eure Tochter einstelle?«
Sie konnte sehen, wie sich seine Halsmuskeln bewegten, als er krampfhaft schluckte.
»Es gibt da einen Mann. Er - er will sie. Nicht als Dienstmädchen. Als seine - als seine - Konkubine.« Die Worte kamen als heiseres Flüstern, und ein tiefes Rot verfärbte sein Gesicht.
»Mmpfm«, sagte Brianna und entdeckte plötzlich, wie praktisch dieser zweideutige Ausdruck war. »Ich verstehe. Aber Ihr müßt Eure Tochter doch nicht zu ihm schicken, oder?«
»Ich habe keine Wahl.« Seine Qualen waren unübersehbar. »Mr. Ransom - der Makler - hat ihren Vertrag gekauft.« Er fuhr mit dem Kopf zurück und wies auf einen zäh aussehenden Herrn mit einer Zopfperücke, der sich gerade mit Jamie unterhielt. »Er kann ihn überschreiben, auf wen er will - und er wird sie ohne Zögern diesem… diesem…« Die Verzweiflung überwältigte ihn, und die Worte blieben ihm im Hals stecken.
»Hier, nehmt das.« Hastig löste sie das große Halstuch von ihrem Mieder und gab es ihm. So sah sie zwar nicht mehr ganz schicklich aus, doch dies schien ein Notfall zu sein.
Jedenfalls war es für ihn eindeutig einer. Er tupfte sich blindlings über das Gesicht, bevor er das Tuch sinken ließ und ihre freie Hand zwischen die seinen nahm.
»Er ist ein Viehhändler; er ist zum Viehmarkt gegangen, um seine Tiere zu verkaufen. Wenn er damit fertig ist, kommt er mit dem Geld für ihren Vertrag zurück und nimmt sie in sein Haus in Aberdeen mit. Als ich gehört habe, wie er das zu Ransom sagte, wurde ich furchtbar verzweifelt. Ich habe zum Herrn dringend um ihre Erlösung gebetet. Und dann…« Er schluckte.
»Dann habe ich Euch gesehen - und Ihr saht so stolz und edel und freundlich aus - und ich dachte, vielleicht sind meine Gebete erhört worden. Oh, Ma’am, ich bitte Euch, ignoriert das Flehen eines Vaters nicht. Nehmt sie!«
»Aber ich fahre nach Amerika! Ihr würdet sie nie…« Sie biß sich auf die Lippe. »Ich meine, Ihr würdet sie - sehr lange nicht mehr wiedersehen.«
Jetzt wurde der verzweifelte Vater vollständig weiß. Er schloß die Augen und schien leicht zu schwanken und in die Knie zu gehen.
»Die Kolonien?« flüsterte er. Dann öffnete er die Augen wieder und biß die Zähne zusammen.
»Mir ist lieber, sie verläßt mich für immer und geht in die Wildnis, als daß sie vor meinen Augen entehrt wird.«
Brianna hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Sie blickte hilflos über den Kopf des Mannes hinweg auf das Meer der auf- und abwippenden Köpfe.
»Äh… Eure Tochter… welche…?«
Das Flackern der Hoffnung in seinen Augen wurde zu einer offenen Flamme von erschreckender Intensität.
»Gott segne Euch, meine Dame! Ich bringe sie sofort zu Euch!«
Er drückte ihr heftig die Hand und schoß dann in die Menge. Sie blieb zurück und starrte ihm nach. Im nächsten Augenblick zuckte sie hilflos mit den Achseln und bückte sich, um ihr am Boden liegendes Halstuch aufzuheben. Wie war das nur gekommen? Und was in Gottes Namen würde ihr Onkel und ihr Vetter sagen, wenn sie…
»Das ist Elizabeth«, verkündete eine atemlose Stimme. »Tu, was sich bei einer Dame gehört, Lizzie.«
Brianna sah nach unten und stellte fest, daß ihr die Entscheidung abgenommen war.
»O je«, murmelte sie beim Anblick des ordentlichen Scheitels in der Mitte des kleinen Kopfes, der sich tief vor ihr verneigte. »Eine Welpe.«
Der Kopf kam wieder hoch und sie sah sich einem schmalen, ausgehungert aussehenden Gesicht gegenüber, in dem angstvolle, graue Augen den Großteil des vorhandenen Platzes einnahmen.
»Eure Dienerin, Ma’am«, sagte der kleine, blaßlippige Mund. Oder zumindest sah es so aus, als hätte sie das gesagt; das Mädchen sprach so leise, daß sie bei all dem Lärm nicht zu hören war.
»Sie wird Euch eine gute Dienerin sein, Ma’am, wirklich!»Die eifrige Stimme des Vaters war besser verständlich. Sie sah ihn an; es bestand eine starke Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter, beide hatten das gleiche feine, blonde Haar, die gleichen schmalen, verschreckten Gesichter. Sie waren beinahe gleich groß, doch das Mädchen war so schmal, daß sie wie der Schatten ihres Vaters wirkte.
»Äh…hallo.« Sie lächelte das Mädchen an und versuchte, einen beruhigenden Eindruck zu machen. Das Mädchen legte angstvoll den Kopf zurück und sah zu ihr hinauf. Sie schluckte sichtbar und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Ah…wie alt bist du, Lizzie? Darf ich dich Lizzie nennen?»
Der kleine Kopf nickte auf einem Hals, der aussah wie der Stengel eines Wildpilzes; lang, farblos und grenzenlos zerbrechlich. Das Mädchen flüsterte etwas, das Brianna nicht hörte; sie sah den Vater an, der bereitwillig antwortete.
»Vierzehn, Ma’am. Aber sie kann außerordentlich gut kochen und nähen, ist sehr sauber, und Ihr werdet keine gehorsamere und willigere Seele finden!«
Er stand hinter seiner Tochter, hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt, und sein Griff war so fest, daß seine Fingerknöchel weiß durchschienen. Sein Blick traf Briannas. Seine Augen waren blaßblau und flehend. Seine Lippen bewegten sich - tonlos, doch sie hörte ihn deutlich.
»Bitte«, sagte er.
Hinter ihm konnte Brianna ihren Onkel sehen, der in die Halle gekommen war. Er sprach mit Jamie, der glatthaarige und der Lockenkopf in leiser Unterhaltung einander zugeneigt. Eine Sekunde noch, dann würden sie sie suchen.
Sie holte tief Luft und richtete sich zu voller Größe auf. Also gut, und wenn man es bei Licht betrachtete, dachte sie, dann war sie genausosehr eine Fraser wie ihr Vetter. Sollten sie doch herausfinden, wie stur ein Felsbrocken wirklich sein konnte. Sie lächelte das Mädchen an, streckte ihr die Hand hin und bot ihr die zweite, unangetastete Pastete an.
»Abgemacht, Lizzie. Willst du es mit einem Bissen besiegeln?«
 
»Sie hat mein Essen verspeist«, sagte Brianna mit aller Selbstsicherheit, die sie aufbringen konnte. »Sie gehört zu mir.«
Zu ihrer großen Überraschung setzte diese Feststellung dem Streit endlich ein Ende. Ihr Vetter sah zwar so aus, als wollte er seine Strafpredigt noch fortsetzen, doch ihr Onkel legte seine Hand auf Jamies Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ians überraschter Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine Art belustigten Respekt.
»Hat sie das?« Er sah Lizzie an, die hinter Brianna kauerte, und seine Lippen zuckten. »Mmpfm. Tja, dann kann man wohl nichts mehr sagen, oder?«
Der kleine Jamie war sich in diesem Punkt mit seinem Vater offensichtlich nicht einig; ihm fiel alles mögliche ein, was er sagen konnte.
»Aber so ein junges Mädchen - sie ist doch völlig unbrauchbar!« Er schwenkte verächtlich die Hand in Lizzies Richtung und runzelte die Stirn. »Sie ist ja nicht einmal groß genug, um das Gepäck zu tragen, ganz zu schweigen von…«
»Ich bin groß genug, um mein Gepäck selbst zu tragen, danke«, warf Brianna ein. Sie runzelte die Augenbrauen und zahlte ihrem Vetter den finsteren Blick mit gleicher Münze zurück. Dabei richtete sie sich auf, um ihre Größe zu betonen.
Er registrierte dies mit einer hochgezogenen Augenbraue, gab aber nicht auf.
»Eine Frau sollte nicht allein reisen…«
»Ich werde nicht allein sein. Ich habe Lizzie.«
»…und schon gar nicht an einen Ort wie Amerika! Also, es ist…«
»Man könnte meinen, es wäre das Ende der Welt, wenn man dich reden hört, und dabei hast du es noch nie selbst gesehen!« sagte Brianna ungeduldig. »Ich bin in Amerika geboren, Himmel noch mal!«
Onkel und Vetter starrten sie mit dem gleichen schockierten Gesichtsausdruck an. Sie ergriff die Gelegenheit, um ihren Vorsprung auszubauen.
»Es ist mein Geld, mein Dienstmädchen und meine Reise. Ich habe ihr mein Wort gegeben, und ich halte es auch!«
Ian rieb sich mit dem Knöchel über die Oberlippe und unterdrückte ein Grinsen. Er schüttelte den Kopf.
»Man sagt, nur besonders kluge Kinder wissen, wer ihr Vater ist, aber ich glaube nicht, daß man irgendwelchen Zweifel daran haben kann, wer deiner ist, Kleine. Deine lange Nase und die roten Locken hättest du überall herhaben können, aber deine Sturheit hast du von keinem anderen als Jamie Fraser.«
Verlegene Röte stieg ihr in die Wangen, doch Brianna spürte ein seltsames Aufflackern von etwas, das Vergnügen sein mußte.
Der kleine Jamie hatte zwar in dem Streit Federn gelassen, doch er machte einen letzten Versuch.
»Es gehört sich nicht für eine Frau, ihre Meinung so offen zu sagen, schon gar nicht, wenn sich ihre Begleiter um sie kümmern können«, sagte er steif.
»Du meinst, Frauen sollten keine eigene Meinung haben?« fragte Brianna honigsüß.
»Ja, das meine ich!«
Ian warf seinem Sohn einen langen Blick zu.
»Und du bist, wie lange, acht Jahre verheiratet?« Er schüttelte den Kopf. »Aye, na ja, deine Joan ist sehr taktvoll.« Ohne Jamies tiefschwarzen Blick zu beachten, wandte er sich wieder an Lizzie.
»Also gut. Geh und verabschiede dich von deinem Vater, Kleine. Ich kümmere mich um deine Papiere.« Er sah zu, wie Lizzie davonhuschte, die schmalen Schultern zum Schutz vor der Menge hochgezogen. Er schüttelte ein wenig skeptisch den Kopf und wandte sich wieder an Brianna.
»Na ja, vielleicht ist sie eine angenehmere Begleitung für dich als ein männlicher Bediensteter, Kleine, aber in einer Sache hat dein Vetter recht - sie kann dich nicht beschützen. Es wird eher so sein, daß du auf sie aufpaßt.«
Brianna richtete sich auf und streckte das Kinn vor. Der plötzlichen Leere zum Trotz, die sie befiel, brachte sie soviel Selbstbewußtsein auf, wie sie nur konnte.
»Ich komme schon klar«, sagte sie.
 
Sie hielt die Finger fest gekrümmt und klammerte sich an den Stein in ihrer Handfläche. Wenigstens etwas, woran sie sich festhalten konnte, als der Moray Firth sich weitete und in die offene See überging und Schottlands schützendes Ufer auf beiden Seiten zurückwich.
Wie kam es nur, daß sie so starke Gefühle für ein Land empfand, das sie kaum kannte? Lizzie, die in Schottland geboren und aufgewachsen war, hatte keinen Blick für das schwindende Land übriggehabt, sondern war sofort unter Deck gegangen, um ihnen einen Platz zu sichern und die wenigen Besitztümer, die sie dabeihatten, zu verstauen.
Brianna hatte sich selbst nie als Schottin betrachtet - hatte bis vor kurzem keine Ahnung gehabt, daß sie Schottin war -, und doch hatten der Abschied von ihrer Mutter oder der Tod ihres Vaters sie kaum mehr erschüttert als dieser Abschied von Menschen und einer Gegend, die sie gerade erst kennengelernt hatte.
Vielleicht ließ sie sich auch nur von den Emotionen der anderen Passagiere anstecken. Viele standen genau wie sie an der Reling, und einige weinten ganz offen. Oder die Furcht vor der langen Reise, die ihr bevorstand. Doch sie wußte sehr gut, daß es keins von diesen Dingen war.
»Das war’s dann wohl.« Es war Lizzie, die schließlich doch neben ihr auftauchte, um den letzten Anblick des Festlandes verschwinden zu sehen. Ihr schmales, blasses Gesicht war ausdruckslos, doch Brianna verwechselte den fehlenden Ausdruck nicht mit dem Fehlen von Gefühlen.
»Ja, wir sind unterwegs.« Aus einem Impuls heraus streckte Brianna die Hand aus und zog das Mädchen an sich, so daß sie vor ihr an der Reling stand, gleichermaßen vor dem auffrischenden Wind und den Stößen der Passagiere und Seeleute geschützt. Lizzie war einen guten Kopf kürzer als Brianna und so zart gebaut wie die schlanken, rußfarbenen Seeschwalben, die die Masten umkreisten und über ihren Köpfen kreischten.
Um diese Jahreszeit ging die Sonne nicht wirklich unter, sondern sie hing tief über den schwarzen Hügeln, und die Luft über dem Firth war sehr kalt geworden. Das Mädchen war dünn angezogen; sie zitterte und drückte sich ganz unbefangen an Brianna, um sich zu wärmen. Brianna hatte von Jenny ein blaues Arisaid bekommen; sie schlang die Arme und die Enden des Schultertuches um das jüngere Mädchen und fand in der Umarmung ebensoviel Trost wie sie spendete.
»Es wird alles gut«, sagte sie zu sich selbst genauso wie zu Lizzie.
Der hellblonde Kopf wackelte kurz unter ihrem Kinn; sie konnte nicht sagen, ob es ein Nicken war oder ob Lizzie nur versuchte, ihre Augen von den vom Wind zerzausten Haarsträhnen zu befreien. Auch aus ihrem eigenen Zopf hatten sich verfilzte Löckchen gelöst und flatterten in der steifen, salzigen Brise wie ein Echo des Sogs der riesigen Segel über ihr. Trotz ihrer Zweifel frischten ihre Lebensgeister mit dem Wind auf. Sie hatte schon so manchen Abschied überstanden; sie würde auch diesen ertragen. Das war es, was diesen Abschied so schwer machte, dachte sie. Sie hatte bereits ihren Vater, ihre Mutter, ihren Liebsten, ihr Zuhause und ihre Freunde verloren. Sie war allein, weil es nicht anders ging und weil sie sich so entschieden hatte. Doch so unerwartet in Lallybroch wieder ein Zuhause und eine Familie zu finden, hatte sie überrumpelt. Sie hätte beinahe alles gegeben, um zu bleiben - nur noch ein bißchen.
Doch sie hatte Versprechungen einzulösen und Verluste wiedergutzumachen. Dann konnte sie heimkehren. Nach Schottland. Und zu Roger.
Sie bewegte ihren Arm und spürte sein schmales Silberband warm auf ihrem Handgelenk unter dem Schultertuch, das Metall von ihrer Haut erwärmt. Un peu… beaucoup… Ihre andere Hand, mit der sie das Tuch zusammenhielt, war dem Wind ausgesetzt und feucht von der Gischt. Wenn sie nicht so kalt gewesen wäre, hätte sie vielleicht die plötzliche Wärme des Tropfens nicht bemerkt, der ihr auf den Handrücken fiel.
Lizzie stand stocksteif da und hatte die Arme fest um sich selbst geschlungen. Ihre Ohren waren groß und durchsichtig, ihr feines, dünnes Haar lag glatt an ihrem Schädel. Ihre Ohren standen ab wie die eines Mäuschens, zart und zerbrechlich im sanften, gedämpften Licht der niedrigen Nachtsonne.
Brianna hob die Hand und wischte die Tränen weg, die sie ertasten konnte. Ihre Augen waren trocken und ihre Zähne fest zusammengebissen, als sie über Lizzies Kopf hinweg zum Festland hinübersah, doch das kalte Gesicht und die zitternden Lippen, die sie mit der Hand spürte, hätten genausogut ihre eigenen sein können.
Sie standen noch eine Zeitlang schweigend da, bis das Land vollständig verschwunden war.
Der Ruf Der Trommel
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