16
Der erste Hauptsatz der
Thermodynamik
Kurz nach der Morgendämmerung wurde ich durch ein
schwaches Ziehen am Kopf geweckt. Ich blinzelte und griff forschend
mit der Hand nach oben. Die Bewegung verschreckte einen großen
Eichelhäher, der dabeigewesen war, mir Haare auszureißen, und er
schoß hysterisch kreischend auf einen nahen Baum.
»Geschieht dir recht, Kumpel«, brummte ich und rieb
mir den Scheitel, doch ich mußte lächeln. Man hatte mir schon so
oft gesagt, daß mein Haar nach dem Aufwachen wie ein Vogelnest
aussah, vielleicht war doch etwas dran.
Die Indianer waren fort. Glücklicherweise war der
Bärenkopf mit ihnen verschwunden. Ich griff vorsichtig an meinen
eigenen Kopf, doch abgesehen von dem leichten Brennen, das auf die
Plünderungsversuche des Eichelhähers zurückzuführen war, schien er
intakt zu sein. Entweder war der Whisky außerordentlich gut
gewesen, oder mein Gefühl der Trunkenheit war mehr den Wirkungen
von Adrenalin und Tabak zuzuschreiben gewesen als dem
Alkohol.
Mein Kamm war in dem kleinen Hirschlederbeutel, in
dem ich meine persönlichen Dinge und jene wenigen Arzneien
aufbewahrte, von denen ich glaubte, daß sie unterwegs nützlich sein
könnten. Ich setzte mich hin, vorsichtig, um Jamie nicht zu wecken.
Er lag nicht weit von mir entfernt mit gekreuzten Händen auf dem
Rücken, so friedlich wie die gemeißelte Skulptur auf einem
Sarkophag.
Allerdings sehr viel farbenfroher. Er lag im
Schatten, und ein Fleck aus Sonnenlicht kroch an ihm entlang und
berührte gerade eben sein Haar. In dem frischen, kühlen Licht sah
er aus wie Adam, den soeben die Hand seines Schöpfers berührt
hatte.
Allerdings entpuppte sich dieser Adam bei näherer
Betrachtung als ziemlich angeschlagen - dieser Schnappschuß mußte
lang nach dem Sündenfall entstanden sein. Er zeigte weder die
zerbrechliche Vollkommenheit eines Kindes, das aus Lehm geboren
war, noch die unverbrauchte Schönheit eines Jünglings, den Gott
liebte, sondern die
Kraft eines reifen Mannes, dessen Gesicht und Körper von Kampf und
Stärke gezeichnet waren, eines Mannes, der dazu gemacht war, nach
der Welt zu greifen und sie sich untertan zu machen.
Ich bewegte mich sehr leise, als ich meinen Beutel
hervorkramte. Ich wollte ihn nicht wecken, da ich selten
Gelegenheit hatte, ihm beim Schlafen zuzusehen. Er schlief wie eine
Katze, allzeit bereit, bei der geringsten Andeutung einer Bedrohung
aufzuspringen, und normalerweise stand er im Morgengrauen auf,
während ich noch an der Oberfläche meiner Träume herumdriftete.
Entweder hatte er letzte Nacht mehr getrunken, als ich dachte, oder
er befand sich im tiefen Schlaf der Heilung.
Der Hornkamm fuhr wohltuend durch mein Haar.
Ausnahmsweise hatte ich keine Eile. Es gab kein Baby, das gefüttert
werden mußte, kein Kind, das geweckt und für die Schule angezogen
werden mußte, keine Arbeit, die getan werden mußte. Keine
Patienten, nach denen ich sehen mußte, kein Papierkram, den es zu
erledigen galt.
Nichts konnte weniger an die sterile Beengtheit
eines Krankenhauses erinnern als dieser Ort, dachte ich. Im Wald
lärmten die ersten Vögel auf der Suche nach Würmern fröhlich vor
sich hin, und eine kühle, sanfte Brise wehte über die Lichtung. Es
roch leicht nach getrocknetem Blut und nach der kalten Asche vom
Feuer der letzten Nacht.
Vielleicht war es der Blutgeruch gewesen, der mich
an das Krankenhaus erinnert hatte. Von dem Augenblick an, in dem
ich zum ersten Mal eine Klinik betreten hatte, hatte ich gewußt,
daß ich dort hingehörte. Und dennoch kam ich mir auch hier in der
Wildnis nicht fehl am Platz vor. Das fand ich merkwürdig.
Meine Haarspitzen strichen mir mit einem angenehm
kitzelnden Gefühl über die nackten Schulterblätter. Die Luft war so
kühl, daß ich in der leichten Brise eine Gänsehaut bekam und meine
Brustwarzen sich zusammenzogen und aufrichteten. Ich hatte es mir
also nicht eingebildet, dachte ich und lächelte vor mich hin. Ich
hatte mich bestimmt nicht selbst ausgezogen, ehe ich mich schlafen
legte.
Ich schob die schwere Leinendecke zurück und sah
die getrockneten Blutspritzer, Schmierspuren auf meinen
Oberschenkeln und meinem Bauch. Ich spürte Feuchtigkeit zwischen
meinen Beinen hervorsickern und fuhr mit dem Finger hindurch.
Milchig, mit einem schweißigen Geruch, der nicht von mir
stammte.
Das reichte, um mir den Traum ins Gedächtnis
zurückzurufen - oder was ich für einen Traum gehalten hatte: der
massige Bär, der über mir aufragte; der Schrecken, der mich
durchfuhr; meine Reglosigkeit, als er mich anstieß und
beschnüffelte; sein heißer Atem auf
meiner Haut, sein weicher Pelz auf meinen Brüsten, seine
Sanftheit, die für ein Tier erstaunlich war.
Dann dieser eine, messerscharfe Moment des
Bewußtseins; erst kalt, dann heiß, als nackte Haut, nicht
Bärenfell, mich berührte, und dann das benommene Zurückgleiten in
trunkenes Träumen, die langsame, kraftvolle Paarung, deren Klimax
in Schlaf überging… während er leise auf schottisch in meinem Ohr
grollte.
Ich blickte nach unten und sah die erdbeerfarbene
Sichel einer Bißspur auf meiner Schulter.
»Kein Wunder, daß du noch schläfst«, sagte
ich vorwurfsvoll. Die Sonne hat seine Wange erreicht und ließ die
Augenbraue in dieser Gesichtshälfte aufflammen wie ein Streichholz.
Er öffnete die Augen nicht, doch ein langsames, seliges Lächeln
breitete sich als Antwort auf seinem Gesicht aus.
Die Indianer hatten uns eine Portion Bärenfleisch
dagelassen, das sie sorgfältig in Ölhaut gewickelt und an die Äste
eines Baumes gehängt hatten, um die Stinktiere oder Waschbären
davon abzuhalten. Nach dem Frühstück und einem hastigen Bad im Bach
orientierte sich Jamie anhand der Sonne und der Berge.
»Dort entlang«, sagte er und nickte zu einem fernen
blauen Gipfel hinüber. »Siehst du die Stelle, wo er mit dem
niedrigen Berg den Paß bildet? Auf der anderen Seite beginnt das
Indianerland; die neue Vertragslinie folgt diesem Bergkamm.«
»Jemand hat tatsächlich eine Landvermessung
da oben durchgeführt?« Ich blickte ungläubig auf die Bergzacken,
die sich aus den mit Morgennebel gefüllten Tälern erhoben. Die
Berge stiegen vor uns auf wie eine endlose Reihe dahintreibender
Luftspiegelungen, erst schwarzgrün, dann blau, dann violett, und
die entferntesten Berge hoben sich schwarz und nadelspitz vom
klaren Himmel ab. »Oh, aye.« Er schwang sich in den Sattel und
wendete sein Pferd, so daß ihm die Sonne über die Schulter fiel.
»Das mußten sie, um mit Sicherheit sagen zu können, welches Land
besiedelt werden darf. Ich habe mich über die Grenze kundig
gemacht, bevor wir Wilmington verlassen haben, und Myers hat
dasselbe gesagt - diesseits des höchsten Bergkammes. Ich habe es
mir allerdings auch nicht nehmen lassen, die Jungs, die gestern mit
uns zu Abend gegessen haben, danach zu fragen, nur um
sicherzugehen, daß sie derselben Meinung sind.« Er grinste zu mir
herab. »Fertig, Sassenach?«
»Fertiger geht’s nicht«, versicherte ich ihm und
wendete mein Pferd, um ihm zu folgen.
Er hatte sein Hemd - oder das, was davon übrig war
- im Bach ausgewaschen. Der fleckige Leinenfetzen war hinter seinem
Sattel zum Trocknen ausgebreitet, also war er halbnackt in seiner
ledernen Reithose und hatte das Plaid lose um die Taille
geschlungen. Die langen Kratzer, die die Bärenkrallen hinterlassen
hatten, hoben sich schwarz von seiner hellen Haut ab, doch ich sah
keine Entzündung, und der Leichtigkeit nach, mit der er sich im
Sattel bewegte, schienen ihn die Wunden nicht zu stören.
Und sonst auch nichts, soweit ich sehen konnte. Die
Andeutung von Wachsamkeit, die ihn immer begleitete, war noch da;
sie war seit seiner Kindheit ein Teil von ihm - doch in der Nacht
war irgendeine Last von ihm gewichen. Ich glaubte, daß es
vielleicht an unserem Zusammentreffen mit den drei Jägern lag -
dieses erste Zusammentreffen mit Wilden war für uns beide sehr
beruhigend gewesen, und Jamie schien nicht länger hinter jedem Baum
tomahawkschwingende Kannibalen zu vermuten.
Oder vielleicht waren es die Bäume selbst - oder
die Berge. Mit jedem Meter, den wir von der Küstenebene
aufgestiegen waren, war ihm leichter ums Herz geworden. Ich konnte
nicht anders, als seine offensichtliche Freude teilen - doch
gleichzeitig verspürte ich wachsende Furcht vor den möglichen
Folgen dieser Freude.
Am späten Vormittag wurde der Wald auf den Abhängen
zu dicht zum Weiterreiten. Als ich an einem fast senkrechten
Felshang hinaufblickte in ein schwindelerregendes Gewirr dunkler,
gold und grün und braun gefleckter Zweige, fand ich, daß die Pferde
sich glücklich schätzen konnten, hier unten bleiben zu dürfen. Wir
ließen sie mit gefesselten Vorderbeinen an einem Bach zurück,
dessen Ufer mit dichtem Gras bewachsen war, und drangen zu Fuß
immer weiter bergauf in den verdammten Urwald vor.
Ragten schwarz die düstern Fichten, ragten
Tannen, wie? dachte ich, während ich über den knorrigen Stamm
eines umgestürzten Baumes kletterte. Longfellow hatte ja keine
Ahnung.
Die Luft war feucht, kühl, und meine Mokassins
versanken geräuschlos in jahrhundertealtem, schwarzem Laubkompost.
Mein Fußabdruck im weichen Schlamm eines Bachufers wirkte so
seltsam und unerwartet wie eine Dinosaurierspur.
Wir erreichten den Gipfel eines Berges und sahen
einen weiteren vor uns, und dahinter noch einen. Mir war
schleierhaft, wonach wir suchten oder woran wir erkennen würden,
wenn wir es gefunden hatten. Jamie legte in seinem unermüdlichen
Bergwandererschritt Meilen zurück und sah sich dabei alles an. Ich
trottete hinter ihm her, genoß
die Aussicht, hielt dann und wann an, um eine faszinierende
Pflanze oder Wurzel zu sammeln, und verstaute meine Schätze in der
Tasche an meinem Gürtel.
Als wir über einen Kamm wanderten, fanden wir ihn
von einem Heidegestrüpp versperrt: einem Berglorbeergebüsch, das
aus der Entfernung zwischen den dunklen Koniferen wie eine helle,
kahle Stelle aussah, sich aber aus der Nähe als undurchdringliches
Dickicht erwies, dessen biegsame Zweige wie bei einem Korb
ineinander verflochten waren.
Wir kehrten um und wandten uns bergab, ließen die
hohen, duftenden Tannen hinter uns, überquerten Hänge mit wildem,
sonnengebleichtem Lieschgras und tauchten schließlich an einem
bewaldeten Steilufer, das einen kleinen, namenlosen Fluß
überblickte, wieder in das wohltuende Grün der Eichen und
Hickorybäume ein.
Es war kühl im plötzlichen Schatten der Bäume, und
ich seufzte vor Erleichterung und schob mir das Haar aus dem
Nacken, damit ein Luftzug an mich kam. Jamie, der mich hörte,
drehte sich lächelnd um und hielt einen losen Ast zur Seite, so daß
ich ihm folgen konnte.
Wir redeten nicht viel; abgesehen davon, daß wir
unseren Atem zum Klettern brauchten, schien der Berg selbst sich
das Reden zu verbitten. Er war voll geheimer, grüner Winkel und
schien ein lebendiger Abkömmling der alten, schottischen Berge zu
sein, zwar dicht bewaldet und doppelt so hoch wie die kahlen,
schwarzen, elterlichen Hügel, doch in seiner Aura lag dieselbe
Mahnung zur Stille, dasselbe Versprechen der Verzauberung.
Der Boden war hier mit einer dreißig Zentimeter
tiefen Laubschicht bedeckt, die weich und schwammig unter den Füßen
federte, und die Zwischenräume zwischen den Bäumen schienen eine
Illusion zu sein, als könnte man plötzlich in eine andere Dimension
der Realität befördert werden, wenn man zwischen diesen hohen, mit
Flechten bewachsenen Stämmen hindurchschritt.
Jamies Haar flammte in den gelegentlich
eindringenden Sonnenstrahlen auf wie eine Fackel, der ich durch die
Schatten des Waldes folgen konnte. Es war im Lauf der Jahre zu
einem tiefen, satten Rotbraun nachgedunkelt, doch das tagelange
Reiten und Wandern in der Sonne hatten es wieder ausbleichen
lassen. Er hatte das Band verloren, das seine Haare zusammenhielt;
er blieb stehen und strich sich die dichten, feuchten Locken aus
dem Gesicht, so daß ich plötzlich den weißen Streifen über der
einen Schläfe sah. Normalerweise war er unter dem dunkleren Rot
verborgen und nur selten zu sehen -
eine Hinterlassenschaft der Schußwunde, die er sich in der Höhle
von Abandawe zugezogen hatte.
Trotz der Wärme erschauerte ich leicht bei dem
Gedanken daran. Ich hätte es wirklich vorgezogen, Haiti und seine
barbarischen Geheimnisse ganz zu vergessen, doch hatte ich nicht
viel Hoffnung. Manchmal, wenn ich im Begriff war einzuschlafen,
hörte ich den Höhlenwind und das nagende Echo des Gedankens, der
ihm folgte: Wo noch?
Wir kletterten einen dicht mit Moos und Flechten
bewachsenen Granitvorsprung hoch, der von ständig fließendem Wasser
befeuchtet wurde, und folgten dann dem Bett eines bergabfließenden
Wildwassers, strichen das hohe Gras zur Seite, das an unseren
Beinen zog, und wichen den tiefhängenden Zweigen des Berglorbeers
und den dickblättrigen Rhododendren aus.
Wunder taten sich zu meinen Füßen auf, kleine
Orchideen und leuchtendbunte Pilze schimmerten zitternd und
glänzend wie Geleefrüchte auf umgestürzten Baumstämmen. Libellen
hingen über dem Wasser, unbewegliche Juwelen in der Luft, bis sie
im Dunst verschwanden.
Ich war benebelt von all dem Überfluß, all der
Schönheit. Jamies Gesicht trug den traumverblüfften Ausdruck eines
Mannes, der weiß, daß er schläft, aber nicht aufwachen will.
Paradoxerweise wurde mir um so mulmiger, je besser es mir ging; ich
war extrem glücklich - und von extremer Angst erfüllt. Dies war der
richtige Ort für ihn, und sicherlich spürte er das genauso wie
ich.
Am frühen Nachmittag hielten wir an, um Rast zu
machen und aus einer kleinen Quelle am Rand einer Lichtung zu
trinken. Der Boden unter den Ahornbäumen war mit einem dichten
Teppich aus dunkelgrünen Blättern bedeckt, zwischen denen es
plötzlich rot aufblitzte.
»Wilde Erdbeeren!« sagte ich entzückt.
Die Beeren waren dunkelrot und winzig, ungefähr so
groß wie mein Daumengelenk. Gemessen an den Richtlinien des
modernen Gartenbaus wären sie zu herb gewesen, fast bitter, aber zu
einer Mahlzeit aus halbgarem Bärenfleisch und steinharten
Maiskuchen waren sie einfach köstlich - süße Nadelstiche auf meiner
Zunge.
Ich sammelte eine Handvoll nach der anderen in
meinem Umhang, ohne mich an den Flecken zu stören - was war schon
ein bißchen Erdbeersaft zwischen den Flecken von Kiefernpech, Ruß,
Laub und schlichtem Dreck? Als ich fertig war, klebten meine Finger
und rochen durchdringend nach Saft, mein Magen war angenehm voll,
und von dem herb-sauren Geschmack der Beeren fühlte sich mein Mund
ganz rauh an. Dennoch konnte ich nicht widerstehen und nahm mir
eine letzte Beere.
Jamie lehnte sich mit dem Rücken an eine Platane,
die Augen vor der blendenden Nachmittagssonne halb geschlossen. Die
kleine Lichtung hielt das Licht wie eine Schale, hell und
klar.
»Was hältst du von diesem Ort, Sassenach?« fragte
er.
»Ich finde ihn wunderschön. Du nicht?«
Er nickte und sah zwischen den Bäumen hinab, wo
sich eine Wiese voll Timotheusgras bergab senkte und in einer Reihe
von Weiden, die in der Entfernung den Fluß säumte, wieder
anstieg.
»Ich überlege«, sagte Jamie ein wenig verlegen.
»Hier im Wald ist die Quelle. Die Wiese da unten -« Er deutete mit
einer Handbewegung auf die Erlen, die den Bergkamm von dem
grasbewachsenen Hang abschirmten. »Sie würde fürs erste für etwas
Vieh reichen, und dann könnte man das Land am Fluß roden und
bebauen. Die Steigung hier ist gut zur Entwässerung. Und hier,
siehst du…« Hingerissen von seinen Visionen, stand er auf und
zeigte mit dem Finger darauf.
Ich sah genau hin - mir erschien die Stelle kaum
anders als die steilen, bewaldeten Abhänge und grasbewachsenen
Kuppen, die wir in den letzten paar Tagen durchwandert hatten. Doch
unter Jamies erfahrenem Blick erhoben sich Häuser und
Vorratsschuppen und Felder wie Zauberpilze im Schatten der
Bäume.
Er leuchtete förmlich vor Glück. Mir lag das Herz
bleischwer in der Brust.
»Du meinst also, wir sollten uns hier ansiedeln?
Auf das Angebot des Gouverneurs eingehen?«
Er sah mich an und hielt abrupt in seinen
Spekulationen inne.
»Das könnten wir«, sagte er. »Wenn-«
Er brach ab und warf mir einen Seitenblick zu.
Sonnenverbrannt, wie er war, konnte ich nicht erkennen, ob er nun
von der Sonne oder aus Schüchternheit errötete.
»Glaubst du an Vorzeichen, Sassenach?«
»Was für Vorzeichen?« fragte ich vorsichtig.
Statt einer Antwort bückte er sich, pflückte einen
Trieb vom Boden und ließ ihn in meine Hand fallen - dunkelgrüne
Blätter wie kleine, runde chinesische Fächer, eine reinweiße Blüte
auf einem schlanken Stiel, und an einem anderen eine halbreife
Beere mit purpurroter Spitze.
»Das. Es gehört zu uns, verstehst du?« sagte
er.
»Uns?«
»Zu den Frasers, meine ich«, erklärte er. Mit
seinem großen,
stumpfen Finger stupste er die Beere sanft an. »Erdbeeren sind
immer das Emblem des Clans gewesen - das ist es, was der Name am
Anfang bedeutet hat, als ein Monsieur Fréselière mit König William
aus Frankreich herüberkam - und zum Lohn für seine Mühen ein Stück
Land in den schottischen Bergen in Besitz nahm.«
König William. William der Eroberer. Die Frasers
waren vielleicht nicht der älteste der Highlandclans, doch sie
waren dennoch von bedeutender Abstammung.
»Krieger seit eh und je, stimmt’s?«
»Und auch Bauern.« Der Zweifel in seinen Augen wich
einem Lächeln.
Ich sagte nicht, was ich dachte, doch ich wußte
sehr gut, daß ihm derselbe Gedanke durch den Kopf gehen mußte. Vom
Clan der Frasers waren nur noch verstreute Fragmente geblieben,
jene, die durch Flucht, List oder Glück überlebt hatten. Die Clans
waren auf dem Schlachtfeld von Culloden zerschlagen worden, ihre
Oberhäupter in der Schlacht umgekommen oder von der Justiz
ermordet.
Und doch stand er hier, hochgewachsen und aufrecht,
den dunklen Stahl eines Highlanddolches an seiner Seite. Krieger
und Bauer zugleich. Und wenn er auch nicht den Boden Schottlands
unter den Füßen hatte, so atmete er doch in Freiheit - und es war
Bergwind, der in seinem kupferroten Haar spielte.
Ich lächelte ihn an und unterdrückte mein
wachsendes Unwohlsein.
»Fréselière, was? Mr. Erdbeere? Dann hat er sie
also angebaut - oder hat er sie nur gern gegessen?«
»Vielleicht eins von beidem, vielleicht beides«,
sagte er trocken, »oder vielleicht war er auch einfach nur ein
Rotschopf, aye?«
Ich lachte, und er hockte sich neben mich und löste
die Brosche, die sein Plaid festhielt.
»Es ist eine besondere Pflanze«, sagte er und
berührte den Zweig in meiner offenen Hand. »Blüten, Früchte und
Blätter gleichzeitig. Die weißen Blüten stehen für die Ehre, die
roten Früchte für Mut - und die grünen Blätter für
Beständigkeit.«
Es schnürte mir die Kehle zu, als ich ihn
ansah.
»Volltreffer«, sagte ich.
Er umfing meine Hand mit der seinen und preßte
meine Finger um den winzigen Stengel.
»Und die Frucht hat die Form eines Herzens«, sagte
er leise und beugte sich zu mir, um mich zu küssen.
Die Tränen waren dicht unter der Oberfläche;
immerhin hatte ich eine gute Entschuldigung für die eine, die jetzt
hervorquoll. Er tupfte
sie mir ab, stand dann auf, öffnete seinen Gürtel und ließ das
Plaid zu Boden fallen. Dann zog er sich Hemd und Hose aus und
lächelte mich an, nackt.
»Hier ist niemand«, sagte er. »Niemand außer
uns.«
Ich hätte gesagt, daß das kein Grund war, doch ich
spürte, was er wirklich meinte. Tagelang waren wir von Weite und
Gefahren umgeben gewesen, und die Wildnis war nicht weiter von uns
entfernt gewesen, als der blasse Lichtkreis unseres Feuers reichte.
Doch hier waren nur wir beide, wir gehörten zu diesem Ort, und am
hellichten Tag gab es keinen Grund, die Wildnis auf Abstand zu
halten.
»In alter Zeit haben die Menschen das getan, um die
Felder fruchtbar zu machen«, sagte er und reichte mir die Hand zum
Aufstehen.
»Ich sehe keine Felder.« Und war mir auch nicht
sicher, ob ich nicht hoffte, daß ich nie welche sehen würde.
Dennoch streifte ich mein Wildlederhemd ab und zog den Knoten
meines improvisierten Büstenhalters auf. Er betrachtete mich
anerkennend.
»Nun, ich werde ohne Zweifel zuerst ein paar Bäume
fällen müssen, aber das kann warten, aye?«
Wir machten uns ein Bett aus Plaid und Umhängen und
legten uns nackt darauf, Haut an Haut, umgeben von gelben Gräsern
und dem Duft von Balsam und wilden Erdbeeren.
Wir berührten uns lange, oder vielleicht waren es
auch nur Augenblicke, die wir zusammen im Garten der irdischen
Freuden verbrachten. Ich verdrängte die Gedanken, die mich während
des ganzen Aufstiegs geplagt hatten, und wollte nur noch seine
Freude teilen, so lange sie anhielt. Ich umschloß ihn fest und er
atmete tief ein und preßte sich an meine Hand.
»Und was wäre das Paradies ohne eine Schlange?«
murmelte ich, während meine Finger auf und ab strichen.
Seine Augen zogen sich zu blauen Dreiecken
zusammen.
»Und wirst du mit mir speisen, mo chridhe?
Von der Frucht vom Baum der Erkenntnis?«
Ich ließ meine Zungenspitze herausgleiten und zog
sie ihm als Antwort über die Unterlippe. Er erschauerte unter
meinen Fingern, obwohl die Luft warm und süß war.
»Je suis prêt«, sagte ich. »Monsieur
Fréselière.«
Er neigte den Kopf, und sein Mund saugte sich an
meiner Brustwarze fest, die so geschwollen war wie eine der
kleinen, reifen Beeren.
»Madame Fréselière«, flüsterte er zurück.
»Je suis à votre service.«
Und dann teilten wir uns die Früchte und die
Blüten, und die grünen Blätter, die alles bedeckten.
Wir lagen ineinander verschlungen und schläfrig da
und regten uns nur, um vorwitzige Insekten fortzuwedeln, bis die
ersten Schatten unsere Füße berührten. Jamie stand leise auf und
deckte mich mit einem Umhang zu - er dachte, daß ich schlief. Ich
hörte das verstohlene Rascheln, als er sich anzog und dann durch
das Gras schritt.
Ich rollte mich auf die andere Seite und sah ihn
ein kleines Stück entfernt am Waldrand stehen und über das Land
blicken, das zum Fluß hin abfiel.
Er hatte sich nur das zerknitterte, blutbefleckte
Plaid um die Taille geschlungen, das Haar fiel ihm ungebändigt auf
die Schultern - er sah aus wie der wilde Highlander, der er war.
Was ich für sein Verderben gehalten hatte - seine Familie, sein
Clan -, war seine Stärke. Und was ich für meine Stärke gehalten
hatte - meine Einsamkeit, mein Mangel an Bindungen -, war meine
Schwäche.
Da er Nähe erfahren hatte, im Guten wie im
Schlechten, hatte er die Kraft, sie aufzugeben, jeden
Sicherheitsgedanken hinter sich zu lassen und allein aufzubrechen.
Und ich - die ich einmal so stolz auf meine Selbstgenügsamkeit
gewesen war -, konnte die Vorstellung, wieder einsam zu sein, nicht
ertragen.
Ich hatte mich entschlossen, nichts zu sagen, nur
für den Augenblick zu leben, zu akzeptieren, was auch immer kam.
Doch der Augenblick war gekommen, und ich konnte ihn nicht
akzeptieren. Ich sah, wie er den Kopf hob und seinen Entschluß
faßte, und im selben Augenblick sah ich seinen Namen in kalten
Stein gemeißelt. Schrecken und Verzweiflung überfluteten
mich.
Als hätte er das Echo meines stummen Schreis
gehört, wandte er mir den Kopf zu. Was auch immer er in meinem
Gesicht sah, es brachte ihn rasch zu mir.
»Was ist, Sassenach?«
Es hatte keinen Zweck zu lügen; nicht, wenn er mich
sehen konnte.
»Ich habe Angst«, platzte ich heraus.
Er sah sich schnell nach einer Gefahr um, und seine
Hand griff nach seinem Messer, doch ich legte ihm die Hand auf den
Arm und unterbrach ihn.
»Nicht das. Jamie - halt mich fest. Bitte.«
Er umarmte mich und wickelte den Umhang um mich.
Ich zitterte, obwohl es immer noch warm war.«
»Ist ja gut, a nighean donn«, murmelte er.
»Ich bin hier. Was hat dir denn dann angst gemacht?«
»Du«, sagte ich und klammerte mich an ihn. Sein
Herz schlug genau unter meinem Ohr, stark und regelmäßig. »Dieser
Ort. Es macht
mir angst, daß du hierher willst, mir vorzustellen, daß wir
hierher ziehen -«
»Angst?« fragte er. »Wovor, Sassenach?« Seine Arme
hielten mich fester. »Als wir geheiratet haben, habe ich doch
versprochen, dafür zu sorgen, daß du immer zu essen hast, oder?« Er
zog mich näher an sich heran und lehnte meinen Kopf an seine
Schulter.
»An diesem Tag habe ich dir drei Dinge gegeben«,
sagte er leise. »Meinen Namen, meine Familie und den Schutz meines
Körpers. Diese Dinge wirst du immer haben, Sassenach - so lange wir
beide leben. Wo wir auch sind. Ich werde dich nicht hungern oder
frieren lassen; ich werde nicht zulassen, daß dir etwas zustößt,
niemals.«
»Vor diesen Dingen habe ich keine Angst«, platzte
ich heraus. »Ich habe Angst, daß du sterben wirst, und das kann ich
nicht ertragen, Jamie, ich will, daß du nie stirbst!«
Er fuhr überrascht zurück und blickte mir ins
Gesicht.
»Hm, ich werde mir alle Mühe geben, dir den
Gefallen zu tun, Sassenach«, sagte er, »aber du weißt, daß ich
nicht der einzige bin, der in dieser Sache mitzureden hat.« Sein
Gesicht war ernst, doch einer seiner Mundwinkel zuckte.
Dieser Anblick gab mir den Rest.
»Lach nicht!« sagte ich wütend. »Wage es bloß nicht
zu lachen!«
»Och, ich lach’ doch gar nicht«, versicherte er mir
und versuchte, ein ernstes Gesicht aufzusetzen.
»Doch!« Ich boxte ihn in die Brust. Jetzt lachte er
wirklich. Ich boxte ihn noch einmal, fester, und ehe ich mich
versah, hämmerte ich mit aller Kraft auf ihn ein. Durch das Plaid
klang es wie gedämpfte Trommelschläge. Er griff nach meiner Hand,
doch ich senkte den Kopf und biß ihn in den Daumen. Er schrie auf
und zog die Hand zurück.
Einen Moment lang untersuchte er meine
Zahnabdrücke, dann sah er mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Seine Augen glitzerten immer noch amüsiert, doch immerhin hatte der
Schuft aufgehört zu lachen.
»Sassenach, du hast mich dutzendmal so gut wie tot
gesehen und hast nicht mit der Wimper gezuckt. Warum zum Kuckuck
regst du dich jetzt so auf, obwohl ich nicht einmal krank
bin?«
»Nicht mit der Wimper gezuckt?« Ich starrte ihn in
wütendem Erstaunen an. »Du meinst, es hat mir nichts
ausgemacht?«
Er rieb sich mit dem Finger über seine Oberlippe
und betrachtete mich mit einiger Belustigung.
»Oh. Hm. Natürlich hatte ich das Gefühl, daß du dir
Sorgen
machst. Aber ich muß zugeben, daß ich es noch nie aus diesem
Blickwinkel betrachtet habe.«
»Natürlich nicht. Und wenn du es getan hättest,
liefe es doch auf dasselbe heraus. Du - du - Schotte!« Es war die
schlimmste Beschimpfung, die mir einfiel. Da ich keine Worte mehr
fand, drehte ich mich um und stapfte davon.
Unglücklicherweise hat Stapfen eine relativ geringe
Wirkung, wenn man es barfuß auf einer Wiese tut. Ich trat auf etwas
Scharfes, schrie leise auf und hinkte noch ein paar Schritte, bevor
ich stehenbleiben mußte.
Ich war auf eine Klette getreten; ein halbes
Dutzend Stacheln steckte in meiner nackten Fußsohle, und
Blutstropfen quollen aus den kleinen Einstichen. Leise fluchend und
unsicher auf einem Bein balancierend, versuchte ich, sie
herauszuziehen.
Ich wankte und fiel fast hin. Eine starke Hand
ergriff mich unter dem Ellbogen und stützte mich. Ich biß die Zähne
zusammen und riß den Rest der Klettenstacheln heraus. Ich entzog
ihm meinen Ellbogen, machte auf dem Absatz kehrt und ging - sehr
viel vorsichtiger - zu der Stelle zurück, wo ich meine Kleider
liegengelassen hatte.
Ich warf den Umhang ab und begann, mich so
würdevoll wie möglich anzuziehen. Jamie stand mit verschränkten
Armen da und sah mir kommentarlos zu.
»Als Gott Adam aus dem Paradies geworfen hat, hat
Eva ihn immerhin begleitet«, sagte ich zu meinen Fingern, während
ich das Zugband meiner Hosen festzog.
»Aye, das ist wahr«, stimmte er nach einer
vorsichtigen Pause zu. Er warf mir einen Seitenblick zu, um zu
sehen, ob ich vorhatte, erneut auf ihn einzuschlagen.
»Äh - du hast nicht zufällig ein paar von diesen
Pflanzen gegessen, die du heute morgen gepflückt hast, oder,
Sassenach? Nein, habe ich auch nicht gedacht«, fügte er hastig
hinzu, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »War nur so ein Gedanke.
Myers sagt, von manchen Sachen hier bekommt man heftige
Alpträume.«
»Ich habe keine Alpträume«, sagte ich mit mehr
Nachdruck, als nötig gewesen wäre, wenn ich die Wahrheit gesagt
hätte. Ich hatte Alpträume im Wachen, die allerdings nicht von der
Einnahme halluzinogener Pflanzensubstanzen herrührten.
Er seufzte.
»Hast du vor, mir geradeheraus zu sagen, wovon du
redest, Sassenach, oder möchtest du, daß ich erst ein bißchen
leide?«
Ich starrte ihn wütend an, wie üblich hin- und
hergerissen zwischen
dem Drang zu lachen und dem Drang, mit einem stumpfen Gegenstand
auf ihn einzuschlagen. Dann besiegte eine Welle der Verzweiflung
das Lachen und die Wut. Schicksalsergeben ließ ich die Schultern
sinken.
»Ich rede von dir«, sagte ich.
»Von mir? Warum?«
»Weil du ein verdammter Highlander bist und es dir
nur um Ehre und Mut und Treue geht, und ich weiß, daß du nichts
daran ändern kannst, das würde ich auch gar nicht wollen, nur -
nur, verdammt, es wird dich nach Schottland führen und dich
umbringen, und ich kann nichts dagegen tun!«
Er sah mich mit ungläubigem Blick an.
»Schottland?« sagte er, als hätte ich etwas völlig
Verrücktes gesagt.
»Schottland! Wo dein verdammtes Grab ist!«
Er fuhr sich langsam mit der Hand durch die Haare
und sah mich von oben herab an.
»Oh«, sagte er schließlich. »Ich verstehe schon. Du
meinst, wenn ich nach Schottland fahre, muß ich dort sterben, weil
ich dort begraben werde. Ist es so?«
Ich nickte, zu aufgeregt zum Sprechen.
»Mmpf. Und warum genau meinst du, daß ich nach
Schottland fahre?« fragte er vorsichtig.
Ich starrte ihn entnervt an und deutete auf die
Wildnis um uns herum.
»Wo zum Teufel willst du denn sonst Siedler für
dieses Land herbekommen? Natürlich fährst du nach
Schottland.«
Jetzt sah er mich seinerseits entnervt an.
»Wie um Himmels willen meinst du, daß ich das tun
soll, Sassenach? Ich hätte es vielleicht tun können, als ich die
Edelsteine noch hatte, aber jetzt? Ich habe gerade mal zehn Pfund,
und die sind geliehen. Soll ich vielleicht wie ein Vogel nach
Schottland fliegen? Und die Leute auf dem Rückweg hinter mir
herführen, indem ich über das Wasser wandle?«
»Dir fällt schon etwas ein«, sagte ich elend. »Wie
immer.«
Er warf mir einen seltsamen Blick zu, dann wandte
er sich ab und schwieg einige Augenblicke, bevor er
antwortete.
»Mir ist nicht klar gewesen, daß du mich für den
Allmächtigen hältst, Sassenach«, sagte er schließlich.
»Das tue ich auch nicht«, sagte ich. »Für Moses
vielleicht.« Die Worte waren scherzhaft, doch keiner von uns machte
Witze.
Er entfernte sich ein Stück, die Hände auf dem
Rücken verschränkt.
»Paß auf die Kletten auf«, rief ich hinter ihm her,
als ich ihn auf den Ort meines Mißgeschicks zusteuern sah. Er
änderte seinen Kurs, sagte aber nichts. Den Kopf nachdenklich
gesenkt, ging er auf der Lichtung auf und ab. Schließlich kam er
zurück und stellte sich vor mich.
»Ich kann es nicht allein«, sagte er leise. »Da
hast du recht. Aber ich glaube nicht, daß ich mir meine Siedler in
Schottland suchen muß.«
»Sondern?«
»Meine Männer - die Männer, die mit mir in Ardsmuir
waren«, sagte er. »Sie sind schon hier.«
»Aber du hast doch keine Ahnung, wo sie sind«,
protestierte ich. »Und außerdem sind sie vor Jahren deportiert
worden! Sie werden sich längst irgendwo niedergelassen haben;
verdammt, sie werden kaum ihre Zelte abbrechen und mit dir ans Ende
der Welt kommen wollen.«
Er lächelte, etwas ironisch.
»Du hast es auch getan, Sassenach.«
Ich holte tief Luft. Die bohrende Furcht, die mein
Herz wochenlang belastet hatte, hatte nachgelassen. Doch jetzt, da
ich von dieser Sorge befreit war, konnte ich mich mit der
überwältigenden Schwierigkeit der Aufgabe befassen, die er sich
gestellt hatte - Männer aufzuspüren, die über drei Kolonien
verstreut waren, sie zu überreden, sich ihm anzuschließen, und
gleichzeitig genug Kapital aufzutreiben, um die Rodung des Landes
und seine Bepflanzung zu finanzieren. Ganz zu schweigen von dem
enormen Arbeitsaufwand, der dazu gehörte, dieser jungfräulichen
Wildnis eine kleine Niederlassung abzuringen.
»Mir fällt schon etwas ein«, sagte er und lächelte
leise, als er Zweifel und Unsicherheit über mein Gesicht huschen
sah. »Wie immer, aye?«
Mein Atem entwich in einem langen Seufzer.
»Wie immer«, sagte ich. »Jamie - bist du sicher?
Deine Tante Jocasta -«
Er tat die Möglichkeit mit einer Handbewegung
ab.
»Nein«, sagte er. »Niemals.«
Ich zögerte immer noch, denn ich hatte ein
schlechtes Gewissen.
»Du würdest nicht - es ist nicht nur meinetwegen?
Was ich über die Sklavenhaltung gesagt habe?«
»Nein«, sagte er. Er hielt inne, und ich sah die
beiden verkrümmten Finger seiner rechten Hand zucken. Er sah es
auch und hörte abrupt mit der Bewegung auf.
»Ich habe wie ein Sklave gelebt, Claire«, sagte er
leise mit gesenktem Kopf. »Ich könnte nicht in dem Bewußtsein
leben, daß es einen Menschen auf der Welt gäbe, der mir gegenüber
das empfände, was ich gegenüber jenen empfunden habe, die glaubten,
mich zu besitzen.«
Ich streckte die Hand aus und bedeckte seine
verkrüppelte Hand mit der meinen. Tränen liefen mir über die
Wangen, warm und wohltuend wie Sommerregen.
»Du verläßt mich nicht?« fragte ich schließlich.
»Du stirbst nicht?«
Er schüttelte den Kopf und drückte mir fest die
Hand.
»Du bist mein Mut, wie ich dein Gewissen bin«,
flüsterte er. »Du bist mein Herz - und ich dein Mitgefühl. Keiner
von uns beiden ist ohne den anderen vollständig. Weißt du das
nicht, Sassenach?«
»Doch, das weiß ich«, sagte ich, und meine Stimme
zitterte. »Deshalb habe ich ja solche Angst. Ich will nicht wieder
ein halber Mensch sein, ich kann es nicht ertragen.«
Er strich mir mit dem Daumen eine Locke von der
feuchten Wange und nahm mich in die Arme, so nah, daß ich spüren
konnte, wie sich seine Brust beim Atmen hob und senkte. Er war so
wirklich, so lebendig, sein rotes Haar gewelltes Gold auf bloßer
Haut. Und doch hatte ich ihn schon einmal so festgehalten - und ihn
verloren.
Seine Hand berührte meine Wange, warm trotz der
Feuchtigkeit meiner Haut.
»Aber verstehst du nicht, wie belanglos der Gedanke
an den Tod für uns beide ist, Claire?« flüsterte er.
Meine Hände ballten sich auf seiner Brust zu
Fäusten. Nein, ich fand den Gedanken nicht belanglos.
»Die ganze Zeit nach unserem Abschied, nach
Culloden - damals war ich doch tot, oder?«
»Das habe ich gedacht. Darum habe ich - oh.« Ich
atmete tief und zittrig ein, und er nickte.
»In zweihundert Jahren werde ich mit absoluter
Sicherheit tot sein, Sassenach«, sagte er. Er lächelte schief. »Ob
es Indianer sind, wilde Tiere, eine Seuche, die Galgenschlinge oder
auch nur ein gesegnetes hohes Alter - ich werde tot sein.«
»Ja.«
»Und während du dort warst - in deiner eigenen Zeit
-, da war ich tot, oder nicht?«
Ich nickte wortlos. Selbst jetzt noch konnte ich
hinter mir den Abgrund der Verzweiflung sehen, in den mich diese
Trennung gestürzt hatte und aus dem ich mich unter großen Schmerzen
herausgearbeitet hatte.
Jetzt stand ich wieder mit ihm auf dem Gipfel des
Lebens und wollte nicht an den Abstieg denken. Er bückte sich,
pflückte einen Grashalm und breitete die weichen, grünen Grannen
zwischen seinen Fingern aus.
»›Der Mensch ist wie das Gras im Felde‹«, zitierte
er leise und strich mit dem schlanken Stiel über meine
Fingerknöchel, die an seiner Brust ruhten. »›Heute erblüht es;
morgen welkt es dahin und wird in den Ofen geworfen‹.«
Er hob das seidige, grüne Büschel an die Lippen und
küßte es, dann berührte er sanft meinen Mund damit.
»Ich war tot, Sassenach - und doch habe ich dich
die ganze Zeit geliebt.«
Ich schloß die Augen und fühlte, wie das Gras meine
Lippen kitzelte, so sachte wie die Berührung von Sonne und
Luft.
»Ich liebe dich auch«, flüsterte ich. »Ich werde
dich immer lieben.« Der Grashalm fiel zu Boden. Die Augen immer
noch geschlossen, spürte ich, wie er sich zu mir herüberbeugte und
sein Mund sich auf den meinen legte, warm wie die Sonne, leicht wie
die Luft.
»Solange mein Körper lebt und der deine - sind wir
eins«, flüsterte er. Seine Finger strichen über meine Haare und
mein Kinn, über Hals und Brust, und ich atmete seinen Atem und
spürte ihn lebendig unter meiner Hand. Dann lag mein Kopf an seinen
Schultern, seine Stärke schützte mich, und seine Worte klangen tief
und sanft in seiner Brust.
»Und wenn mein Körper aufhört zu sein, ist meine
Seele immer noch dein, Claire - ich schwöre bei meiner Hoffnung auf
den Himmel, wir werden nicht getrennt.«
Der Wind bewegte die Blätter der Kastanien, und
rings um uns stiegen die schweren Düfte später Sommerrosen auf;
Kiefern und Gras und Erdbeeren, sonnengewärmter Stein und kühles
Wasser, und der scharfe Geruch seines Körpers neben meinem.
»Nichts geht verloren, Sassenach; es verändert sich
nur.«
»Das ist der erste Hauptsatz der Thermodynamik«,
sagte ich und wischte mir die Nase.
»Nein«, sagte er. »Das ist Zuversicht.«