37
Gloriana
Vor seiner Einschiffung auf der Gloriana
hatte Roger seine Kondition für annehmbar gehalten. Im Vergleich
mit den sichtlich unterernährten und verschrumpelten
Menschenexemplaren, aus denen sich der Rest der Besatzung
zusammensetzte, hielt er sich sogar für ziemlich kräftig. Es
dauerte exakt vierzehn Stunden - die Länge eines Arbeitstages -,
ihn von dieser Überzeugung zu kurieren.
Blasen hatte er einkalkuliert, Muskelkater ebenso;
Kisten hochzuheben, Sparren zu stemmen und an Seilen zu ziehen war
für ihn keine neue Arbeit, obwohl er so etwas lange nicht mehr
gemacht hatte.
Woran er nicht gedacht hatte, das war die
durchdringende Müdigkeit, die genauso von der ständigen Kühle der
feuchten Kleider herrührte wie von der Arbeit. Er begrüßte die
schwere Arbeit im Frachtraum, weil sie ihn zeitweise aufwärmte,
auch wenn er wußte, daß der Wärme ein leichtes, konstantes Zittern
folgen würde, sobald er an Deck ging, wo der Wind wieder seine
eisigen Klauen in seine schweißnassen Kleider krallen konnte.
Daß der nasse Hanf ihm die Hände aufrauhte und
zerkratzte, war schmerzhaft, doch damit hatte er gerechnet; am Ende
des ersten Tages waren seine Handflächen schwarz vom Teer, und die
Haut an seinen Fingern platzte auf und blutete an den
aufgeschürften Gelenken. Doch der nagende Hungerschmerz hatte ihn
ziemlich überrascht. Er hätte nie geglaubt, daß man so hungrig sein
könnte, wie er es jetzt war.
Der knorrige Menschenklotz, der an seiner Seite
arbeitete - Duff geheißen - war ähnlich durchnäßt, schien sich aber
durch diesen Zustand nicht weiter beeindrucken zu lassen. Seine
lange, spitze Nase, die wie eine Wieselschnauze aus dem
hochgeschlagenen Kragen seiner zerlumpten Jacke ragte, war an der
Spitze blau angelaufen und tropfte mit der Regelmäßigkeit eines
Stalaktiten, doch seine hellen Augen waren scharf, und der
darunterliegende Mund grinste breit und entblößte ein Gebiß, das
die Farbe des Wassers im Firth hatte.
»Kopf hoch, Mann. Futter in zwei Glockenschlägen.«
Duff stieß ihm kameradschaftlich den Ellbogen zwischen die Rippen
und verschwand flink in einer Luke, aus deren höhlenartigen Tiefen
gotteslästerliche Rufe und lautes Scheppern widerhallten.
Roger fuhr damit fort, das Frachtnetz abzuladen,
und der Gedanke an das Essen machte ihm tatsächlich Mut.
Das Afterdeck war bereits zur Hälfte gefüllt. Die
Wasserfässer waren aufgeladen; Lage um Lage waren die hölzernen
Riesenfässer im Dämmerlicht aufgestapelt, jedes über siebenhundert
Pfund schwer. Doch im Vordeck herrschte immer noch gähnende Leere,
und ein konstanter Zug von Lade- und Kaiarbeitern strömte wie
Ameisen über das Dock und türmte Kisten und Fässer, Rollen und
Bündel zu einem solchen Riesenhaufen auf, daß es unvorstellbar
erschien, diese Masse jemals so zu verstauen, daß sie in das Schiff
paßte.
Es dauerte zwei Tage, bis sie mit dem Verladen
fertig waren: Salzfässer, Stoffballen, riesige Kisten mit
Eisenteilen, die wegen ihres Gewichtes mit Seilschlingen
herabgelassen werden mußten. Hier erwies sich Rogers Größe als
vorteilhaft. Er lehnte sich an einem Ende eines um die Ankerwinde
gewickelten Taues gegen das Gewicht einer Kiste, die am anderen
Ende hing, und ließ sie mit vor Anstrengung vorspringenden Muskeln
so langsam sinken, daß die beiden Männer unten sie annehmen und an
ihren Platz im zunehmend gefüllten Frachtraum lenken konnten.
Die Passagiere kamen am Nachmittag an Bord, eine
löcherige Reihe von Emigranten, die mit Taschen, Bündeln,
eingesperrten Hühnern und Kindern beladen waren. Sie waren die
Fracht für das Zwischendeck - ein Raum, der durch die Errichtung
eines Schotts quer über das Vordeck hinweg geschaffen worden war -,
und auf ihre Weise waren sie für den Kapitän genauso einträglich
wie die festeren Güter im Afterdeck.
»Zwangsarbeiter und Schuldner«, hatte Duff ihm
erzählt, während er die Neuankömmlinge mit erfahrenem Blick
musterte. »Bringen lebend auf’ner Plantage pro Stück fünfzehn
Pfund, Kinder drei oder vier. Säuglinge gibt’s gratis mit der
Mutter.«
Der Seemann hustete, ein tiefes, rasselndes
Geräusch wie beim Anlassen eines alten Motors, und spuckte einen
Schleimklecks aus, der knapp die Reling verfehlte. Er schüttelte
den Kopf, während er die dahinschlurfende Menschenreihe
betrachtete.
»Ein paar davon können manchmal für die Reise
zahlen, aber bei denen da sind es nicht viele. Sie haben bestimmt
genug Probleme gehabt,
pro Familie die zwei Pfund für den Reiseproviant
aufzutreiben.«
»Dann verpflegt der Kapitän sie nicht?«
»Oh, aye.« Duff ließ es erneut in seiner Brust
rumpeln, hustete und spuckte aus. »Gegen Bezahlung.« Er grinste
Roger an, wischte sich den Mund ab und wies mit einem Ruck seines
Kopfes auf das Fallreep. »Geh und hilf ihnen, Junge. Wir wollen
doch nicht, daß der Profit des Kapitäns ins Wasser fällt,
oder?«
Weil es ihn überraschte, wie dick gepolstert sich
das kleine Mädchen anfühlte, das er an Bord schwang, schaute Roger
näher hin und sah, daß der stämmige Körperbau bei vielen der Frauen
nur ein Trugbild war, das dadurch hervorgerufen wurde, daß sie
mehrere Kleiderschichten trugen; anscheinend alles, was sie auf der
Welt besaßen, abgesehen von kleinen Bündeln mit ihrer persönlichen
Habe, Lebensmittelkisten für die Reise - und den schmächtigen
Kindern, für die sie diesen verzweifelten Schritt taten.
Roger hockte sich hin und lächelte ein
widerstrebendes Kleinkind an, das am Rock seiner Mutter hing. Es
war nicht älter als zwei, trug noch ein Kittelchen, hatte weiche,
wilde, blonde Locken, und sein dicker, kleiner Mund war in
ängstlicher Ablehnung sämtlicher Vorgänge um ihn herum
verzogen.
»Komm schon, Mann«, sagte Roger leise und streckte
ihm einladend die Hand hin. Es kostete ihn keine Mühe mehr, seinen
Akzent in Schach zu halten; sein übliches, gepflegtes Oxbridge
hatte sich zu dem sanfteren Highlanddialekt verschliffen, mit dem
er aufgewachsen war und den er jetzt benutzte, ohne bewußt darüber
nachzudenken. »Deine Mama kann dich jetzt nicht hochheben; komm mit
mir.«
Der Kleine schniefte voller Mißtrauen und sah ihn
finster an, gestattete ihm aber, die kleinen Schmutzfinger von den
Rockschößen seiner Mutter abzupellen. Roger trug den kleinen Jungen
über das Deck, gefolgt von der schweigenden Frau. Sie blickte zu
ihm hoch, als er ihr die Leiter herunterhalf, ihre Augen gebannt
auf die seinen gerichtet; ihr Gesicht verschwand in der Dunkelheit
wie ein weißer Stein, den man in einen Brunnen wirft, und er wandte
sich mit dem beklommenen Gefühl ab, als hätte er jemanden dem
Ertrinken überlassen.
Als er sich wieder seiner Arbeit zuwandte, sah er
eine junge Frau, die gerade über dem Kai auftauchte. Sie war das,
was man ein Prachtmädchen nannte - nicht schön, aber lebhaft und
hübsch gebaut, und sie hatte etwas an sich, das die Blicke auf sich
zog.
Vielleicht war es nur ihre Haltung; aufrecht wie
ein Lilienstengel
inmitten der gekrümmten und durchhängenden Rücken um sie herum.
Oder ihr Gesicht, in dem Anspannung und Unsicherheit zu sehen
waren, das aber dennoch vor Neugier leuchtete. Sie war eine
Wagemutige, dachte er und sein Herz - das vom Anblick der vielen
niedergeschlagenen Gesichter unter den Emigranten bedrückt war -
wurde bei ihrem Anblick leichter.
Sie zögerte beim Anblick des Schiffes und der
Menschenmenge, die es umgab. Ein hochgewachsener, blonder, junger
Mann begleitete sie, ein Baby auf dem Arm. Er berührte beruhigend
ihre Schulter und als sie zu ihm aufblickte, erleuchtete ihrerseits
ein Lächeln ihr Gesicht, als entzündete sich ein Streichholz.
Während er sie beobachtete, spürte Roger einen leichten Stich von
etwas, das hätte Neid sein können.
»Hey, MacKenzie!« Der Ruf des Bootsmanns riß ihn
aus seinen Gedanken. Der Bootsmann deutete mit seinem Kopf nach
hinten. »Da wartet noch Fracht - und die spaziert nicht von alleine
an Bord!«
Als sie erst einmal eingeschifft und auf See
waren, verlief die Reise einige Wochen lang störungsfrei. Das
stürmische Wetter, das ihren Exodus aus Schottland begleitet hatte,
flaute zu gutem Wind und rollendem Seegang ab, und als unmittelbare
Wirkung wurde zwar die Mehrheit der Passagiere seekrank, doch auch
dieses Problem ließ mit der Zeit nach. Der Gestank von Erbrochenem
aus dem Zwischendeck legte sich und schwand zu einem Unterton in
der Symphonie des Gestanks an Bord der Gloriana dahin.
Roger war mit einem ausgeprägten Geruchssinn zur
Welt gekommen, ein Attribut, das er auf engem Raum als deutlichen
Nachteil empfand. Doch auch die schärfste Nase gewöhnte sich mit
der Zeit an alles, und innerhalb eines Tages nahm er nur noch die
allerungewohntesten Gerüche wahr.
Glücklicherweise litt er nicht selbst an der
Seekrankheit, obwohl seine Erfahrungen unter den Heringsfischern
ihn gelehrt hatten, das Wetter ernstzunehmen, ihn das beunruhigende
Bewußtsein des Seemannes gelehrt hatte, daß sein Leben davon
abhängen konnte, ob heute die Sonne schien.
Seine neuen Schiffskameraden waren nicht
freundlich, doch sie waren ihm auch nicht feindlich gesinnt. Ob es
sein »Teuchter«-Akzent von den Inseln war - denn die meisten
Matrosen auf der Gloriana sprachen Englisch und kamen aus
Dingwall oder Peterhead -, die seltsamen Ausdrücke, die er manchmal
benutzte, oder einfach nur seine Körpergröße, sie betrachteten ihn
aus einem gewissen, wachsamen
Abstand. Keine offene Abneigung - seine Größe verhinderte das -,
aber doch Abstand.
Ihre Kühle beunruhigte Roger nicht. Er war ganz
zufrieden damit, seinen Gedanken überlassen zu sein, seinen
Verstand weit abschweifen lassen zu können, während sein Körper die
tägliche Runde der Dienste an Bord erledigte. Es gab genug, worüber
er nachdenken konnte.
Er hatte sich nicht nach dem Ruf der
Gloriana oder ihres Kapitäns erkundigt, bevor er sich
verdingte; er wäre mit Kapitän Ahab gesegelt unter der einen
Bedingung, daß der Herr nach North Carolina unterwegs war. Doch aus
den Gesprächen der Besatzung schloß er, daß Bonnet als guter
Kapitän bekannt war; hart, aber fair, und ein Mann, dessen Reisen
immer Gewinn abwarfen. Für die Seeleute, von denen viele gegen eine
Gewinnbeteiligung statt eines Lohns mitfuhren, war letzteres ganz
klar ein mehr als ausreichender Ausgleich für eventuelle kleine
Defekte in seinem Charakter oder Verhalten.
Nicht, daß Roger irgendwelche offenen Beweise für
solche Defekte gesehen hätte. Doch ihm fiel auf, daß Bonnet immer
dastand, als habe man einen unsichtbaren Kreis um ihn herum
gezogen, einen Kreis, den nur wenige zu betreten wagten. Nur der
Erste Maat und der Bootsmann sprachen direkt mit dem Kapitän; die
Besatzungsmitglieder hielten die Köpfe gesenkt, wenn er vorbeiging.
Roger erinnerte sich an die kühlen, grünen Leopardenaugen, die ihn
von oben bis unten betrachtet hatten; kein Wunder, daß niemand
deren Aufmerksamkeit erregen wollte.
Doch die Passagiere interessierten ihn mehr als die
Besatzung oder der Kapitän. Normalerweise war von ihnen nicht viel
zu sehen, doch zweimal täglich durften sie kurz an Deck kommen, um
ein wenig Luft zu schnappen, ihre Nachttöpfe über die Reling zu
entleeren - denn die Schiffslatrinen waren so vielen Benutzern auch
nicht annähernd gewachsen - und die kleinen Wasserrationen nach
unten zu tragen, die jeder Familie sorgsam zugeteilt wurden. Roger
freute sich auf ihr kurzes Auftauchen und versuchte, es so
einzurichten, daß er so oft wie möglich an jenem Ende des Decks
beschäftigt war, an dem sie ihren kurzen Freigang abhielten.
Sein Interesse war sowohl beruflicher als auch
persönlicher Natur; ihre Anwesenheit weckte seinen
Historikerinstinkt, und ihre einfachen Gespräche trösteten ihn in
seiner Einsamkeit. Hier war die Saat des neuen Landes, das Erbe des
alten. Was diese armen Emigranten wußten, was ihnen lieb und teuer
war, das war es, was überdauern und überliefert werden würde.
Wenn man das schottische Kulturgut mit der Hand
verlas, dachte er, dann würden solche Dinge wie das Rezept gegen
Warzen wahrscheinlich nicht darin auftauchen, das eine ältere Frau
gerade ihrer geduldigen Schwiegertochter vorpredigte (»Ich hab’s
dir doch gesagt, Katie Mac, und warum du einfach so meine schöne,
getrocknete Kröte dagelassen hast, obwohl du Platz für all den
Unfug hattest, auf dem wir Tag und Nacht rumhocken und den wir uns
unterm Hintern vorziehen…«), doch auch das würde bleiben, zusammen
mit den Folksongs und den Gebeten, mit den gewebten Wollstoffen und
den keltischen Mustern ihrer Kunst.
Er sah seine eigene Hand an; er erinnerte sich
lebhaft daran, wie Mrs. Graham einmal eine große Warze an seinem
Mittelfinger mit einer Substanz eingerieben hatte, von der sie
sagte, daß es getrocknete Kröte war. Er grinste und rieb
sich mit dem Daumen über die Stelle. Mußte funktioniert haben; er
hatte nie wieder eine bekommen.
»Sir«, sagte eine leise Stimme neben ihm. »Sir,
dürfen wir hingehen und das Eisen anfassen?«
Er blickte herab und lächelte das kleine Mädchen
an, das zwei noch kleinere Brüder an den Händen hielt.
»Aye, a leannan«, sagte er. »Geht nur; gebt
aber auf die Männer acht.«
Sie nickte, und die drei trippelten davon. Sie
blickten ängstlich um sich, um sicherzugehen, daß sie niemandem im
Weg waren, bevor sie hochkrabbelten, um das Hufeisen zu berühren,
das als Glücksbringer an den Mast genagelt war. Eisen bedeutete
Schutz und Heilung; die Mütter schickten oft ihre kranken Kinder,
damit sie es berührten.
Sie hätten das Eisen innerlich nötiger gehabt,
dachte Roger, wenn er den Ausschlag auf den teigigen, weißen
Gesichtern sah und ihren schrillen Klagen über juckende
Eiterbeulen, wackelnde Zähne und Fieber zuhörte. Er nahm seine
Arbeit wieder auf und teilte schöpflöffelweise Wasser in die Eimer
und Schüsseln aus, die ihm die Emigranten hinhielten. Sie lebten
von Hafermehl, alle miteinander - und ab und zu von ein paar
getrockneten Erbsen und etwas Schiffszwieback. Das stellte die
ganze »Verpflegung« dar, die man ihnen für die Überfahrt zur
Verfügung stellte.
Und doch hatte er noch keine Beschwerden gehört;
das Wasser war sauber, der Zwieback nicht verschimmelt, und wenn
die Körnerration auch nicht großzügig war, so war sie doch auch
nicht knauserig bemessen. Die Besatzung wurde besser verpflegt,
aber auch nur mit Fleisch und Stärke, und gelegentlich gab es zur
Abwechslung eine Zwiebel. Er fuhr sich versuchsweise mit der Zunge
über seine Zähne,
wie er es alle paar Tage tat. Er hatte jetzt fast immer einen
schwachen Eisengeschmack im Mund; sein Zahnfleisch begann zu
bluten, weil es ihm an frischem Gemüse mangelte.
Doch seine Zähne waren fest verwurzelt, und es gab
keine Anzeichen für geschwollene Knöchel oder blaue Flecken unter
den Nägeln, wie sie einige der anderen Besatzungsmitglieder an den
Tag legten. Er hatte es während seiner wochenlangen Wartezeit
nachgeschlagen; ein normaler Erwachsener sollte bei guter
Gesundheit in der Lage sein, drei bis sechs Monate andauernden
Vitaminmangel zu ertragen, bevor er ernsthafte Symptome zeigte.
Wenn das gute Wetter anhielt, würden sie in nur zweien drüben
sein.
»Morgen wird das Wetter gut, aye?« Die Tatsache,
daß da offensichtlich jemand seine Gedanken las, holte ihn zurück.
Er blickte herab und sah, daß es die hübsche, braunhaarige Frau
war, die er auf dem Kai in Inverness bewundert hatte. Morag nannten
ihre Freunde sie.
»Ich hoffe es«, sagte er und lächelte zurück, als
er ihren Eimer ergriff. »Warum?«
Sie nickte und wies mit ihrem kleinen, spitzen Kinn
über seine Schulter hinweg. »Der neue Mond liegt in den Armen des
alten; wenn das an Land schönes Wetter bedeutet, dann ist es doch
auf See bestimmt auch so, oder?«
Er blickte sich um und sah die bleiche, klare
Rundung des Silbermondes, der einen glühenden Kreis umfaßte. Er
schwebte hoch oben und perfekt im endlosen, blaßlila Abendhimmel,
und die indigofarbene See verschluckte sein Spiegelbild.
»Vertu deine Zeit nicht mit Quatschen, Mädchen -
mach schon und frag ihn!« Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um
zu hören, wie eine Frau in mittleren Jahren, die hinter Morag
stand, dieser ins Ohr zischte. Morag starrte sie wütend an.
»Willst du wohl still sein?« zischte sie zurück.
»Nein, ich hab’ gesagt, ich tu’s nicht!«
»Du bist ein Sturkopf, Morag«, erklärte die ältere
Frau und trat unerschrocken vor, »und wenn du ihn nicht fragst,
dann tu ich es für dich!«
Die gute Frau legte ihre breite Hand auf Rogers Arm
und lächelte ihn charmant an.
»Wie heißt du denn, Junge?«
»MacKenzie, Ma’am«, sagte Roger respektvoll und
verkniff sich ein Lächeln.
»Ah, MacKenzie, wirklich? Na siehst du, Morag.
Wahrscheinlich
ist er auch noch mit deinem Mann verwandt und tut dir deswegen
gern den Gefallen!« Die Frau wandte sich triumphierend an das
Mädchen und schwang sich dann wieder herum, um Roger eine volle
Breitseite ihrer Persönlichkeit zu verpassen.
»Sie stillt ein Baby und stirbt dabei vor Durst.
Eine Frau muß viel trinken, wenn sie stillt, oder ihre Milch
versiegt; das weiß jeder. Aber das dumme Gör kann sich nicht
durchringen, dich um etwas mehr Wasser zu bitten. Das würde ihr
hier doch keiner mißgönnen - oder?« fragte sie rhetorisch, indem
sie sich umwandte und die anderen Frauen in der Schlange
herausfordernd ansah. Wie zu erwarten war, wackelten ihre Köpfe von
rechts nach links wie Uhrmacherspielzeuge.
Es wurde schon dunkel, doch Morags Gesicht rötete
sich sichtlich. Sie preßte die Lippen fest zusammen und nahm den
randvollen Wassereimer mit einem kurzen Kopfnicken in
Empfang.
»Ich dank’ Euch, Mr. MacKenzie«, murmelte sie. Sie
blickte nicht auf, bis sie die Luke erreichte - doch dann hielt sie
inne und sah sich nach ihm um, und ihr Lächeln war so voller
Dankbarkeit, daß er spürte, wie ihm warm wurde trotz des scharfen
Abendwindes, der ihm durch Hemd und Jacke blies.
Mit Bedauern sah er zu, wie die Emigranten nach der
Wasserausteilung unter Deck stiegen und die Luke für die Dauer der
Nachtwachen über ihnen dichtgemacht wurde. Er wußte, daß sie sich
Geschichten erzählten und sangen, um sich die Zeit zu vertreiben,
und er hätte viel darum gegeben, ihnen zuzuhören. Nicht nur aus
Neugier, sondern auch aus Sehnsucht - es war weder Mitleid mit
ihrer Armut, das ihn bewegte, noch der Gedanke an ihre unsichere
Zukunft; es war der Neid um das Zusammengehörigkeitsgefühl, das
unter ihnen herrschte.
Doch der Kapitän, die Besatzung, die Passagiere,
selbst das ach so wichtige Wetter nahmen nur ein Fragment von
Rogers Gedanken ein. Seine Gedanken, Tag und Nacht, naß oder
trocken, hungrig oder satt, galten Brianna.
Als das Signal zum Abendessen kam, ging er in die
Messe hinunter und aß, ohne großartig darauf zu achten, was auf
seinem Brettchen lag. Er hatte die zweite Wache; nach dem Essen
ging er zu seiner Hängematte und zog es vor, allein zu sein und
seine Ruhe zu haben, anstatt auf dem Vordeck Gesellschaft zu
suchen.
Natürlich war an Alleinsein nicht zu denken.
Während er sanft in seiner Hängematte schaukelte, spürte er jedes
Zucken und jede Drehung seines Nebenmannes, spürte die verschwitzte
Hitze des schlafenden
Körpers neben ihm klamm durch das dichte Baumwollnetz. Jeder Mann
nannte einen halben Meter Platz zum Schlafen sein eigen, und Roger
war sich der Tatsache unangenehm bewußt, daß seine Schultern dieses
Maß auf jeder Seite um gute fünf Zentimeter überschritten, wenn er
auf dem Rücken lag.
Nachdem zwei Nächte lang die Stöße und brummigen
Beschimpfungen seiner Schiffskameraden seinen Schlaf gestört
hatten, hatte er die Plätze getauscht und war neben dem Schott zu
liegen gekommen, wo er nur einem Kameraden Unannehmlichkeiten
bereiten konnte. Er lernte es, auf einer Seite zu liegen, das
Gesicht ein paar Zentimeter von der hölzernen Trennwand entfernt,
mit dem Rücken zu seinen Kameraden, lernte es, sich auf die
Geräusche des Schiffes zu konzentrieren und den Lärm der Männer um
ihn herum zu ignorieren.
Ein Schiff war eine sehr musikalische Angelegenheit
- der Gesang der Taue und Trossen im Wind, das Ächzen der hölzernen
Winkel bei jedem Heben und Senken, das leise Klopfen und Murmeln
auf der anderen Seite des Schotts in den dunklen Tiefen des
Passagierraums im Zwischendeck. Er starrte auf das dunkle Holz, das
von den Schatten der Laterne erleuchtet wurde, die über ihm hin-
und herschwang, und begann, sich Brianna ins Gedächtnis zu rufen,
die Linien ihres Gesichtes, ihres Haars und ihres Körpers, alles
wurde in der Dunkelheit lebendig. Zu lebendig.
Er konnte sich ihr Gesicht ohne Probleme
vorstellen. Was dahinterlag, war schon schwieriger.
Auch an Ruhe war nicht zu denken. Als sie durch die
Steine gegangen war, hatte sie all seinen Seelenfrieden mit sich
genommen. Sein Dasein war eine Mischung aus Furcht und Wut, gewürzt
mit dem Schmerz des Verrats, als riebe man ihm Pfeffer in seine
Wunden. Dieselben Fragen gingen ihm wieder und wieder unbeantwortet
durch den Kopf wie eine Schlange, die ihrem eigenen Schwanz
hinterherjagt.
Warum war sie gegangen?
Was machte sie nur?
Warum hatte sie ihm nichts gesagt?
Es war sein Bemühen, eine Antwort auf die erste
Frage zu finden, das ihn wieder und wieder darüber nachdenken ließ,
als würde ihm diese Antwort den Schlüssel zu dem gesamten Rätsel
namens Brianna liefern.
Ja, er war einsam gewesen. Wußte verdammt gut, wie
es sich anfühlte, wenn man niemanden auf der Welt hatte, der zu
einem gehörte oder zu dem man gehörte. Aber das war doch wohl einer
der Gründe,
warum sie einander die Hände entgegengestreckt hatten - er und
Brianna.
Claire wußte es auch, dachte er plötzlich. Sie war
verwaist gewesen, hatte ihren Onkel verloren - zu diesem Zeitpunkt
war sie natürlich schon verheiratet gewesen. Aber sie war während
des Krieges von ihrem Mann getrennt gewesen… ja, sie wußte einiges
über das Alleinsein. Und deshalb war es ihr wichtig gewesen,
Brianna nicht allein zurückzulassen, sicherzugehen, daß jemand ihre
Tochter liebte.
Nun, er hatte versucht, sie von ganzem Herzen zu
lieben - versuchte es immer noch, dachte er grimmig und drehte sich
in seiner Hängematte. Tagsüber unterdrückten die Anforderungen der
Arbeit die zunehmenden Bedürfnisse seines Körpers. Nachts aber… war
sie viel zu lebendig, die Brianna seiner Erinnerungen.
Er hatte nicht gezögert; von dem Moment an, in dem
er es begriffen hatte, hatte er gewußt, daß er ihr folgen mußte.
Doch manchmal war er sich nicht sicher, ob er gekommen war, um sie
zu retten oder um ihr etwas anzutun - egal, was, solange es die
Dinge zwischen ihnen ein- für allemal ins reine brachte. Er hatte
gesagt, er würde warten - doch er hatte lange genug gewartet.
Doch das Schlimmste war nicht die Einsamkeit,
dachte er und warf sich erneut unruhig herum, sondern der Zweifel.
Zweifel an ihren Gefühlen und an den seinen. Panik, daß er sie
nicht wirklich kannte.
Zum ersten Mal seit seiner Reise durch die Steine
begriff er, was sie gemeint hatte, als sie ihn zurückgewiesen hatte
und erkannte die Klugheit hinter ihrem Zögern. Doch war es
Klugheit und nicht einfach Angst?
Wenn sie nicht durch die Steine gegangen wäre -
hätte sie sich ihm schließlich doch mit ganzem Herzen zugewandt?
Oder sich abgewandt, weil sie stets auf der Suche nach etwas
anderem war?
Es war blindes Vertrauen - sein Herz über einen
Abgrund zu werfen und darauf zu bauen, daß jemand anders es
auffangen würde. Seines befand sich immer noch im Flug über das
Nichts, und die Landung war unsicher. Doch es flog noch.
Die Geräusche auf der anderen Seite des Schotts
waren verstummt, doch jetzt begannen sie wieder, auf jene
heimliche, rhythmische Art, die ihm durch und durch vertraut war.
Sie waren wieder dabei, wer auch immer sie waren.
Sie machten es fast die ganze Nacht, wenn die
anderen eingeschlafen waren. Zuerst hatten ihm die Geräusche nur
seine Isolation zu Bewußtsein gebracht, allein mit Briannas
brennendem Geist. Es schien keine Möglichkeit wirklicher,
menschlicher Wärme zu geben, keine
Vereinigung der Herzen oder Gedanken, nur die animalischen
Tröstungen eines Körpers, an den man sich in der Dunkelheit
klammern konnte. Gab es für einen Menschen wirklich mehr als
das?
Doch dann begann er, etwas anderes in den
Geräuschen zu hören, halb aufgeschnappte Worte der Zärtlichkeit,
leise, flüchtige Geräusche der Bestätigung, die ihn irgendwie nicht
zum Voyeur machten, sondern ihn an ihrer Vereinigung teilhaben
ließen.
Er konnte es natürlich nicht genau sagen. Es hätte
jedes der Paare sein können oder eine zufällige Paarung der Lust -
und doch ordnete er ihnen Gesichter zu, diesem unbekannten Paar;
vor seinem inneren Auge sah er den hochgewachsenen, blonden jungen
Mann, das braunhaarige Mädchen mit dem offenen Gesicht, sah sie
sich anblicken, wie sie es auf dem Kai getan hatten, und hätte
seine Seele verkauft, um einmal solche Gewißheit zu spüren.