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Die Beinhäuser
Jamie roch den Rauch schon lange, bevor das Dorf
in Sicht kam. Willie sah, wie er erstarrte, spannte sich ebenfalls
im Sattel an und sah sich argwöhnisch um.
»Was« flüsterte der Junge. »Was ist los?«
»Ich weiß nicht.« Er sprach leise, obwohl es
keinerlei Anzeichen dafür gab, daß ihnen jemand nah genug war, um
sie zu hören. Er schwang sich vom Pferd und übergab Willie die
Zügel, wobei er mit dem Kopf auf einen von Kletterpflanzen
überwucherten Felsvorsprung deutete, dessen Fuß hinter einem
Gebüsch verborgen war.
»Bringt die Pferde hinter den Felsen«, sagte er.
»Dort ist ein Wildwechsel, der zu einem Fichtenhain führt.
Versteckt Euch zwischen den Bäumen, und wartet da auf mich.« Er
zögerte, denn er wollte dem Jungen keine Angst einjagen, doch es
war nicht zu ändern.
»Wenn ich bis Anbruch der Dunkelheit nicht zurück
bin«, sagte er, »brecht sofort auf. Wartet nicht bis zum Morgen;
reitet zu dem kleinen Fluß zurück, den wir gerade überquert haben,
wendet Euch nach links, und folgt dem Fluß, bis Ihr zu einem
Wasserfall kommt - Ihr könnt ihn hören, auch wenn es dunkel ist.
Hinter den Fällen ist eine kleine Höhle; die Indianer benutzen sie
auf der Jagd.«
Ein kleiner weißer Rand umgab die blauen
Regenbogenhäute des Jungen. Jamie faßte ihn fest am Bein, knapp
über dem Knie, um ihm seine Anweisungen einzuprägen, und er spürte,
wie ein Zittern den langen Oberschenkelmuskel durchlief.
»Bleibt dort bis zum Morgen«, sagte er, »und wenn
ich bis dahin nicht zu Euch gestoßen bin, geht heim. Seht zu, daß
Ihr am Morgen die Sonne auf Eurer linken Seite habt und nachmittags
auf Eurer rechten, und gebt Eurem Pferd in zwei Tagen die Zügel;
ich denke, dann seid Ihr unserem Zuhause so nah, daß es den Weg
findet.«
Er holte tief Luft und überlegte, was er sonst noch
sagen sollte, doch es gab nichts.
»Gott sei mit Euch, mein Junge.« Er lächelte Willie
so ermutigend
zu, wie er konnte, schlug dem Pferd auf die Kruppe, damit es sich
in Bewegung setzte, und wandte sich dem Brandgeruch zu.
Er war nicht der normale Geruch von Dorffeuern;
nicht einmal der großen, zeremoniellen Feuer, von denen Ian ihm
erzählt hatte, bei denen sie ganze Bäume in der Feuergrube mitten
im Dorf verbrannten. Diese waren so groß wie Maifeuer, sagte Ian,
und er wußte, wie laut und heiß ein solches Feuer war. Das hier war
viel größer.
Mit großer Vorsicht schlug er einen weiten Bogen
und erreichte schließlich einen Hügel, von dem er, wie er wußte,
das Dorf überblicken konnte. Doch er sah es schon, als er aus dem
Schutz des Waldes heraustrat. Graue Qualmwolken wälzten sich von
den glimmenden Überresten aller Langhäuser des Dorfes in die
Höhe.
Ein dichtes, bräunliches Leichentuch aus Rauch hing
über dem Wald, soweit das Auge reicht. Er holte schnell Luft,
hustete und zog sich hastig eine Falte seines Plaids über Mund und
Nase, während er sich mit der freien Hand bekreuzigte. Es war nicht
das erste Mal, daß er brennendes Fleisch roch, und bei der
Erinnerung an die Scheiterhaufen von Culloden brach ihm der kalte
Schweiß aus.
Der trostlose Anblick, der sich unter ihm
ausbreitete, ließ ihn Böses ahnen, doch er durchforschte den Nebel,
der ihm in den Augen brannte, blinzelnd, aber sorgfältig nach
Lebenszeichen. Nur der wabernde Rauch bewegte sich und glitt,
geisterhaft vom Wind getrieben, zwischen den geschwärzten Häusern
hindurch. Waren es die Cherokee oder die Creek auf einem Raubzug
aus dem Süden gewesen? Oder einer von den verbliebenen
Algonquinstämmen im Norden, die Nanticoke oder Tuteloe?
Ein Windstoß ließ ihm den Gestank verkohlten
Fleisches mit voller Wucht ins Gesicht schlagen. Er beugte sich
vor, um sich zu übergeben, und versuchte, die Bilder der
verbrannten Katen und ermordeten Familien zu verdrängen, die er
nicht vergessen konnte. Als er sich aufrichtete und sich den Mund
an seinem Ärmel abwischte, hörte er in der Ferne einen Hund
bellen.
Er wandte sich um und stieg schnell den Hügel
hinab, immer auf das Geräusch zu. Sein Herz schlug schneller. Wer
auf Raubzug ging, nahm keine Hunde mit. Wenn es Überlebende des
Massakers gab, dann würden die Hunde ihnen gehören.
Dennoch bewegte er sich so leise wie möglich voran
und wagte es nicht, laut zu rufen. Das Feuer brannte noch keinen
ganzen Tag; die Hälfte der Wände stand noch. Wer auch immer es
angezündet hatte, war zweifellos noch in der Nähe.
Es war ein Hund, der ihn begrüßte; ein großer,
gelblicher Mischling, von dem er wußte, daß er Ians Freund Onakara
gehörte. Da er sich in seinem vertrauten Revier befand, bellte der
Hund nicht und stürzte auch nicht auf ihn zu, sondern blieb mit
angelegten Ohren wie angewurzelt im Schatten einer Kiefer stehen
und knurrte. Er ging langsam auf das Tier zu und streckte ihm die
Faust hin.
»Balach math«, murmelte er ihm zu. »Steh. Wo
sind denn deine Leute?«
Immer noch knurrend streckte der Hund die Schnauze
vor und schnüffelte an der Hand, die ihm hingehalten wurde. Seine
Nüstern zuckten, und er entspannte sich ein wenig und kam näher,
als er Jamie wiedererkannte.
Er spürte eine menschliche Präsenz mehr als daß er
sie sah und blickte beim Aufstehen in das Gesicht des
Hundebesitzers. Onakara hatte sich das Gesicht mit weißen Streifen
bemalt, die ihm vom Haar bis zum Kinn reichten, und die Augen
hinter den weißen Balken waren tot.
»Welcher Feind hat das getan?« fragte Jamie
holperig auf Tuscarora. »Lebt dein Onkel noch?«
Onakara gab keine Antwort, sondern wandte sich um
und ging in den Wald zurück, gefolgt von seinem Hund. Jamie folgte
ihnen, und nach einer halben Stunde erreichten sie eine kleine
Lichtung, auf der die Überlebenden ihr vorläufiges Lager
aufgeschlagen hatten.
Als er durch das Lager schritt, sah er bekannte
Gesichter. Einige ließen erkennen, daß sie seine Gegenwart
wahrnahmen; andere starrten blicklos in eine Ferne, die er nur
allzugut kannte - die Aussicht auf grenzenloses Leid und
Verzweiflung. Viel zu viele fehlten.
Er sah so etwas nicht zum ersten Mal, und die
Geister des Krieges und des Mordens zerrten im Vorübergehen an ihm.
Er hatte einmal in den Highlands eine junge Frau gesehen, die auf
der Schwelle ihres qualmenden Hauses saß, die Leiche ihres Mannes
zu ihren Füßen; sie hatte dasselbe betäubte Aussehen gehabt wie die
junge Indianerin unter der Platane.
Doch allmählich wurde ihm bewußt, daß hier irgend
etwas anders war. Auf der Lichtung standen einzelne Wigwams; an
ihrem Rand waren Bündel aufgehäuft, und an den Bäumen waren Pferde
und Ponies angebunden. Dies war kein überstürzter Exodus von
Menschen, die vor Plünderern um ihr Leben liefen - es war ein
geordneter Rückzug, und sie hatten den Großteil ihrer Habe
ordentlich zusammengepackt und mitgebracht. Was in Gottes Namen
hatte sich heute in Anna Ooka zugetragen?
Nacognaweto befand sich in einem Wigwam auf der
anderen Seite der Lichtung. Onakara hob den Vorhang und wies Jamie
kopfnikkend an, einzutreten.
Bei seinem Eintreten sprang ein plötzlicher Funke
in den Augen des älteren Mannes auf, der aber sofort erstarb, als
Nacognaweto sein Gesicht und die Schatten des vergangenen Schmerzes
darin sah.
»Du bist nicht auf sie, die heilt, getroffen, oder
die Frau, in deren Langhaus ich gelebt habe?«
Da Jamie mit der Sitte der Indianer vertraut war,
nach der es sich nicht gehörte, den Namen eines Menschen
auszusprechen, wußte er, daß er sich auf Gabrielle und die alte
Nayawenne beziehen mußte. Er schüttelte den Kopf und war sich
bewußt, daß er mit dieser Geste wohl den letzten Hoffnungsfunken
zerstörte, den der andere Mann noch gehegt hatte. Es war kein
Trost, doch er zog die Brandyflasche aus seinem Gürtel und bot sie
als stumme Entschuldigung dafür an, daß er keine guten Nachrichten
überbringen konnte.
Nacognaweto nahm sie an und rief mit einer Geste
eine Frau herbei, die in einem der Bündel an der Lederwand
herumkramte und einen Kürbisbecher zum Vorschein brachte. Der
Indianer schenkte eine Alkoholmenge ein, die ausreichte, um einen
Schotten flachzulegen, und trank einen großen Schluck, bevor er
Jamie den Becher reichte.
Er nippte aus Höflichkeit daran und gab Nacognaweto
den Becher zurück. Es war unhöflich, sofort zum Grund seines
Besuches zu kommen, doch er hatte keine Zeit für Palaver, und er
konnte sehen, daß dem anderen Mann ebenfalls nicht der Sinn danach
stand.
»Was ist geschehen?« fragte er ohne
Umschweife.
»Krankheit«, antwortete Nacognaweto leise. Seine
Augen glänzten feucht und tränten vom Aroma des Brandys. »Wir sind
verflucht.«
Zwischen weiteren Brandyschlucken kam die
Geschichte mit Unterbrechungen ans Licht. Im Dorf waren die Masern
ausgebrochen und hatten es wie eine Feuersbrunst durchfegt.
Innerhalb einer Woche war ein Viertel der Dorfbewohner tot; jetzt
war kaum noch ein Viertel am Leben.
Als die Krankheit ausgebrochen war, hatte Nayawenne
über den Opfern gesungen. Als immer mehr erkrankten, war sie in den
Wald gegangen auf der Suche nach… Jamie beherrschte die
Tuscarorasprache nicht genügend, um die Worte zu verstehen. Einem
Zauber, dachte er - irgendeiner Pflanze? Oder vielleicht ersuchte
sie um eine Vision, die ihnen sagte, was sie tun sollten, wie sie
das Böse wiedergutmachen konnten, das die Krankheit über sie
gebracht hatte, oder
den Namen des Feindes preisgab, der sie verflucht hatte. Gabrielle
und Berthe waren mit ihr gegangen, weil sie alt war und nicht
allein gehen sollte - und keine der drei Frauen war
zurückgekehrt.
Nacognaweto schwankte ganz sacht im Sitzen und
umklammerte den Kürbisbecher mit den Händen. Die Frau beugte sich
über ihn und versuchte, ihm den Becher wegzunehmen, doch er
schüttelte sie achselzuckend ab, und sie ließ ihn in Ruhe.
Sie hatten nach den Frauen gesucht, aber keine Spur
von ihnen gefunden. Vielleicht hatten Räuber sie gefangen,
vielleicht waren sie auch erkrankt und im Wald gestorben. Doch das
Dorf war ohne Shaman, ohne Fürsprecher, und die Götter
hatten ihnen kein Gehör geschenkt.
»Wir sind verflucht.«
Nacognawetos Worte kamen gedehnt, und der Becher
neigte sich gefährlich in seinen Händen. Die Frau kniete sich
hinter ihn und legte ihm ihre Hände auf die Schultern, um ihn zu
stützen.
»Wir haben die Toten in den Häusern zurückgelassen
und sie angezündet«, sagte sie zu Jamie. Auch ihre Augen waren
schwarz vor Traurigkeit, doch etwas Leben nistete noch darin.
»Jetzt gehen wir nach Norden, nach Oglanethaka.« Ihre Hände
spannten sich auf Nacognawetos Schultern an, und sie nickte Jamie
zu. »Geh jetzt.«
Er ging, und der Schmerz, den das Lager verströmte,
haftete ihm an wie Rauch, der sich durch Kleider und Haare frißt.
Und als er das Lager verließ, sprang die Selbstsucht wie ein
kleiner, grüner Sprößling in seinem verkohlten Herzen auf,
Erleichterung, daß der Schmerz - für dieses Mal - nicht der seine
war. Seine Frau lebte noch. Seine Kinder waren in Sicherheit.
Er blickte zum Himmel auf und sah, wie sich der
dumpfe Glanz der sinkenden Sonne in dem rauchigen Leichentuch
widerspiegelte. Er verlängerte seine Schritte und wechselte in die
raumgreifende Gangart des Bergläufers. Er hatte nicht viel Zeit;
die Nacht kam schnell.