29
Die Beinhäuser
Jamie roch den Rauch schon lange, bevor das Dorf in Sicht kam. Willie sah, wie er erstarrte, spannte sich ebenfalls im Sattel an und sah sich argwöhnisch um.
»Was« flüsterte der Junge. »Was ist los?«
»Ich weiß nicht.« Er sprach leise, obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gab, daß ihnen jemand nah genug war, um sie zu hören. Er schwang sich vom Pferd und übergab Willie die Zügel, wobei er mit dem Kopf auf einen von Kletterpflanzen überwucherten Felsvorsprung deutete, dessen Fuß hinter einem Gebüsch verborgen war.
»Bringt die Pferde hinter den Felsen«, sagte er. »Dort ist ein Wildwechsel, der zu einem Fichtenhain führt. Versteckt Euch zwischen den Bäumen, und wartet da auf mich.« Er zögerte, denn er wollte dem Jungen keine Angst einjagen, doch es war nicht zu ändern.
»Wenn ich bis Anbruch der Dunkelheit nicht zurück bin«, sagte er, »brecht sofort auf. Wartet nicht bis zum Morgen; reitet zu dem kleinen Fluß zurück, den wir gerade überquert haben, wendet Euch nach links, und folgt dem Fluß, bis Ihr zu einem Wasserfall kommt - Ihr könnt ihn hören, auch wenn es dunkel ist. Hinter den Fällen ist eine kleine Höhle; die Indianer benutzen sie auf der Jagd.«
Ein kleiner weißer Rand umgab die blauen Regenbogenhäute des Jungen. Jamie faßte ihn fest am Bein, knapp über dem Knie, um ihm seine Anweisungen einzuprägen, und er spürte, wie ein Zittern den langen Oberschenkelmuskel durchlief.
»Bleibt dort bis zum Morgen«, sagte er, »und wenn ich bis dahin nicht zu Euch gestoßen bin, geht heim. Seht zu, daß Ihr am Morgen die Sonne auf Eurer linken Seite habt und nachmittags auf Eurer rechten, und gebt Eurem Pferd in zwei Tagen die Zügel; ich denke, dann seid Ihr unserem Zuhause so nah, daß es den Weg findet.«
Er holte tief Luft und überlegte, was er sonst noch sagen sollte, doch es gab nichts.
»Gott sei mit Euch, mein Junge.« Er lächelte Willie so ermutigend zu, wie er konnte, schlug dem Pferd auf die Kruppe, damit es sich in Bewegung setzte, und wandte sich dem Brandgeruch zu.
 
Er war nicht der normale Geruch von Dorffeuern; nicht einmal der großen, zeremoniellen Feuer, von denen Ian ihm erzählt hatte, bei denen sie ganze Bäume in der Feuergrube mitten im Dorf verbrannten. Diese waren so groß wie Maifeuer, sagte Ian, und er wußte, wie laut und heiß ein solches Feuer war. Das hier war viel größer.
Mit großer Vorsicht schlug er einen weiten Bogen und erreichte schließlich einen Hügel, von dem er, wie er wußte, das Dorf überblicken konnte. Doch er sah es schon, als er aus dem Schutz des Waldes heraustrat. Graue Qualmwolken wälzten sich von den glimmenden Überresten aller Langhäuser des Dorfes in die Höhe.
Ein dichtes, bräunliches Leichentuch aus Rauch hing über dem Wald, soweit das Auge reicht. Er holte schnell Luft, hustete und zog sich hastig eine Falte seines Plaids über Mund und Nase, während er sich mit der freien Hand bekreuzigte. Es war nicht das erste Mal, daß er brennendes Fleisch roch, und bei der Erinnerung an die Scheiterhaufen von Culloden brach ihm der kalte Schweiß aus.
Der trostlose Anblick, der sich unter ihm ausbreitete, ließ ihn Böses ahnen, doch er durchforschte den Nebel, der ihm in den Augen brannte, blinzelnd, aber sorgfältig nach Lebenszeichen. Nur der wabernde Rauch bewegte sich und glitt, geisterhaft vom Wind getrieben, zwischen den geschwärzten Häusern hindurch. Waren es die Cherokee oder die Creek auf einem Raubzug aus dem Süden gewesen? Oder einer von den verbliebenen Algonquinstämmen im Norden, die Nanticoke oder Tuteloe?
Ein Windstoß ließ ihm den Gestank verkohlten Fleisches mit voller Wucht ins Gesicht schlagen. Er beugte sich vor, um sich zu übergeben, und versuchte, die Bilder der verbrannten Katen und ermordeten Familien zu verdrängen, die er nicht vergessen konnte. Als er sich aufrichtete und sich den Mund an seinem Ärmel abwischte, hörte er in der Ferne einen Hund bellen.
Er wandte sich um und stieg schnell den Hügel hinab, immer auf das Geräusch zu. Sein Herz schlug schneller. Wer auf Raubzug ging, nahm keine Hunde mit. Wenn es Überlebende des Massakers gab, dann würden die Hunde ihnen gehören.
Dennoch bewegte er sich so leise wie möglich voran und wagte es nicht, laut zu rufen. Das Feuer brannte noch keinen ganzen Tag; die Hälfte der Wände stand noch. Wer auch immer es angezündet hatte, war zweifellos noch in der Nähe.
Es war ein Hund, der ihn begrüßte; ein großer, gelblicher Mischling, von dem er wußte, daß er Ians Freund Onakara gehörte. Da er sich in seinem vertrauten Revier befand, bellte der Hund nicht und stürzte auch nicht auf ihn zu, sondern blieb mit angelegten Ohren wie angewurzelt im Schatten einer Kiefer stehen und knurrte. Er ging langsam auf das Tier zu und streckte ihm die Faust hin.
»Balach math«, murmelte er ihm zu. »Steh. Wo sind denn deine Leute?«
Immer noch knurrend streckte der Hund die Schnauze vor und schnüffelte an der Hand, die ihm hingehalten wurde. Seine Nüstern zuckten, und er entspannte sich ein wenig und kam näher, als er Jamie wiedererkannte.
Er spürte eine menschliche Präsenz mehr als daß er sie sah und blickte beim Aufstehen in das Gesicht des Hundebesitzers. Onakara hatte sich das Gesicht mit weißen Streifen bemalt, die ihm vom Haar bis zum Kinn reichten, und die Augen hinter den weißen Balken waren tot.
»Welcher Feind hat das getan?« fragte Jamie holperig auf Tuscarora. »Lebt dein Onkel noch?«
Onakara gab keine Antwort, sondern wandte sich um und ging in den Wald zurück, gefolgt von seinem Hund. Jamie folgte ihnen, und nach einer halben Stunde erreichten sie eine kleine Lichtung, auf der die Überlebenden ihr vorläufiges Lager aufgeschlagen hatten.
Als er durch das Lager schritt, sah er bekannte Gesichter. Einige ließen erkennen, daß sie seine Gegenwart wahrnahmen; andere starrten blicklos in eine Ferne, die er nur allzugut kannte - die Aussicht auf grenzenloses Leid und Verzweiflung. Viel zu viele fehlten.
Er sah so etwas nicht zum ersten Mal, und die Geister des Krieges und des Mordens zerrten im Vorübergehen an ihm. Er hatte einmal in den Highlands eine junge Frau gesehen, die auf der Schwelle ihres qualmenden Hauses saß, die Leiche ihres Mannes zu ihren Füßen; sie hatte dasselbe betäubte Aussehen gehabt wie die junge Indianerin unter der Platane.
Doch allmählich wurde ihm bewußt, daß hier irgend etwas anders war. Auf der Lichtung standen einzelne Wigwams; an ihrem Rand waren Bündel aufgehäuft, und an den Bäumen waren Pferde und Ponies angebunden. Dies war kein überstürzter Exodus von Menschen, die vor Plünderern um ihr Leben liefen - es war ein geordneter Rückzug, und sie hatten den Großteil ihrer Habe ordentlich zusammengepackt und mitgebracht. Was in Gottes Namen hatte sich heute in Anna Ooka zugetragen?
Nacognaweto befand sich in einem Wigwam auf der anderen Seite der Lichtung. Onakara hob den Vorhang und wies Jamie kopfnikkend an, einzutreten.
Bei seinem Eintreten sprang ein plötzlicher Funke in den Augen des älteren Mannes auf, der aber sofort erstarb, als Nacognaweto sein Gesicht und die Schatten des vergangenen Schmerzes darin sah.
»Du bist nicht auf sie, die heilt, getroffen, oder die Frau, in deren Langhaus ich gelebt habe?«
Da Jamie mit der Sitte der Indianer vertraut war, nach der es sich nicht gehörte, den Namen eines Menschen auszusprechen, wußte er, daß er sich auf Gabrielle und die alte Nayawenne beziehen mußte. Er schüttelte den Kopf und war sich bewußt, daß er mit dieser Geste wohl den letzten Hoffnungsfunken zerstörte, den der andere Mann noch gehegt hatte. Es war kein Trost, doch er zog die Brandyflasche aus seinem Gürtel und bot sie als stumme Entschuldigung dafür an, daß er keine guten Nachrichten überbringen konnte.
Nacognaweto nahm sie an und rief mit einer Geste eine Frau herbei, die in einem der Bündel an der Lederwand herumkramte und einen Kürbisbecher zum Vorschein brachte. Der Indianer schenkte eine Alkoholmenge ein, die ausreichte, um einen Schotten flachzulegen, und trank einen großen Schluck, bevor er Jamie den Becher reichte.
Er nippte aus Höflichkeit daran und gab Nacognaweto den Becher zurück. Es war unhöflich, sofort zum Grund seines Besuches zu kommen, doch er hatte keine Zeit für Palaver, und er konnte sehen, daß dem anderen Mann ebenfalls nicht der Sinn danach stand.
»Was ist geschehen?« fragte er ohne Umschweife.
»Krankheit«, antwortete Nacognaweto leise. Seine Augen glänzten feucht und tränten vom Aroma des Brandys. »Wir sind verflucht.«
Zwischen weiteren Brandyschlucken kam die Geschichte mit Unterbrechungen ans Licht. Im Dorf waren die Masern ausgebrochen und hatten es wie eine Feuersbrunst durchfegt. Innerhalb einer Woche war ein Viertel der Dorfbewohner tot; jetzt war kaum noch ein Viertel am Leben.
Als die Krankheit ausgebrochen war, hatte Nayawenne über den Opfern gesungen. Als immer mehr erkrankten, war sie in den Wald gegangen auf der Suche nach… Jamie beherrschte die Tuscarorasprache nicht genügend, um die Worte zu verstehen. Einem Zauber, dachte er - irgendeiner Pflanze? Oder vielleicht ersuchte sie um eine Vision, die ihnen sagte, was sie tun sollten, wie sie das Böse wiedergutmachen konnten, das die Krankheit über sie gebracht hatte, oder den Namen des Feindes preisgab, der sie verflucht hatte. Gabrielle und Berthe waren mit ihr gegangen, weil sie alt war und nicht allein gehen sollte - und keine der drei Frauen war zurückgekehrt.
Nacognaweto schwankte ganz sacht im Sitzen und umklammerte den Kürbisbecher mit den Händen. Die Frau beugte sich über ihn und versuchte, ihm den Becher wegzunehmen, doch er schüttelte sie achselzuckend ab, und sie ließ ihn in Ruhe.
Sie hatten nach den Frauen gesucht, aber keine Spur von ihnen gefunden. Vielleicht hatten Räuber sie gefangen, vielleicht waren sie auch erkrankt und im Wald gestorben. Doch das Dorf war ohne Shaman, ohne Fürsprecher, und die Götter hatten ihnen kein Gehör geschenkt.
»Wir sind verflucht.«
Nacognawetos Worte kamen gedehnt, und der Becher neigte sich gefährlich in seinen Händen. Die Frau kniete sich hinter ihn und legte ihm ihre Hände auf die Schultern, um ihn zu stützen.
»Wir haben die Toten in den Häusern zurückgelassen und sie angezündet«, sagte sie zu Jamie. Auch ihre Augen waren schwarz vor Traurigkeit, doch etwas Leben nistete noch darin. »Jetzt gehen wir nach Norden, nach Oglanethaka.« Ihre Hände spannten sich auf Nacognawetos Schultern an, und sie nickte Jamie zu. »Geh jetzt.«
Er ging, und der Schmerz, den das Lager verströmte, haftete ihm an wie Rauch, der sich durch Kleider und Haare frißt. Und als er das Lager verließ, sprang die Selbstsucht wie ein kleiner, grüner Sprößling in seinem verkohlten Herzen auf, Erleichterung, daß der Schmerz - für dieses Mal - nicht der seine war. Seine Frau lebte noch. Seine Kinder waren in Sicherheit.
Er blickte zum Himmel auf und sah, wie sich der dumpfe Glanz der sinkenden Sonne in dem rauchigen Leichentuch widerspiegelte. Er verlängerte seine Schritte und wechselte in die raumgreifende Gangart des Bergläufers. Er hatte nicht viel Zeit; die Nacht kam schnell.
Der Ruf Der Trommel
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