4
Das Präteritum schlägt zurück
Da Roger es gewohnt war, sich in Pferdeanhängern
oder in den Herrentoiletten von Kneipen umzuziehen, erschien ihm
die kleine Kabine, die man ihm hinter der Bühne zugeteilt hatte,
geradezu bemerkenswert luxuriös. Sie war sauber, sie hatte
Garderobenhaken, und es schnarchten keine betrunkenen Gäste auf der
Türschwelle. Klar, er war hier in Amerika, sinnierte er, während er
seine Jeans aufknöpfte und sie zu Boden fallen ließ. Ein völlig
anderer Standard, zumindest was den materiellen Komfort
anging.
Er zog sich das Hemd mit den Trompetenärmeln über
den Kopf und fragte sich, an welchen Lebensstandard Brianna gewöhnt
war. Er hatte keine Ahnung von Frauenkleidung - wie teuer mochten
wohl Blue Jeans sein? -, aber er hatte ein bißchen Ahnung von
Autos. Sie fuhr einen funkelnagelneuen blauen Mustang, und er war
ganz spitz darauf, sich ans Steuer zu setzen.
Ganz offensichtlich hatten ihre Eltern sie gut
versorgt - darauf konnte man sich bei Claire Randall verlassen. Er
hoffte nur, daß es nicht so viel war, daß sie glaubte, er
interessiere sich deswegen für sie. Bei dem Gedanken an ihre Eltern
blickte er auf den braunen Briefumschlag: Sollte er ihn Brianna
doch geben?
Pastors Katze war vor Schreck fast an die Decke
gegangen, als sie durch den Bühneneingang gekommen waren und sich
der 78th Fraser Highlanders’ Pipe Band aus Kanada gegenübergesehen
hatten, die mit voller Kraft hinter den Garderoben probte. Sie war
sogar blaß geworden, als er sie dem Major vorgestellt hatte, einem
alten Bekannten von ihm. Nicht daß Bill Livingston so
ehrfurchteinflößend gewesen wäre, es war die Clannadel der Frasers
gewesen, die an seiner Brust steckte.
Je suis prêt, stand darauf. Ich bin
bereit. Nicht einmal ansatzweise bereit, dachte Roger, und
hätte sich in den Hintern treten können, weil er sie
hierhergebracht hatte.
Immerhin hatte sie ihm versichert, es wäre kein
Problem für sie,
allein herumzuschlendern, während er sich umzog und auf seinen
Auftritt vorbereitete.
Und darauf sollte er sich jetzt am besten auch
konzentrieren, dachte er, schloß die Schnallen seines Kilts an
Taille und Hüfte und griff nach den langen Wollstrümpfen. Sein
Auftritt war am frühen Nachmittag, eine Dreiviertelstunde, und dann
noch eine kürzere Soloeinlage beim abendlichen ceilidh. Er
hatte sich die Reihenfolge der Songs grob zurechtgelegt, doch es
kam immer auch auf das Publikum an. Waren viele Frauen da, kamen
die Balladen gut an, überwogen die Männer, wählte er mehr
Kriegerisches - »Killiecrankie« und »Montrose«, »Guns and Drums«.
Zotiges funktionierte am besten, wenn sich das Publikum gut
aufgewärmt hatte - am besten mit dem einen oder anderen Bier.
Er schlug die Strumpfbündchen ordentlich um und
ließ den sgian dhu hineingleiten, so daß er fest an seinem
rechten Unterschenkel lag. Er schnürte seine Stiefel zu, wobei er
sich etwas beeilte. Er hatte vor, Brianna zu suchen, sich ein
bißchen Zeit zum Herumspazieren zu nehmen, ihr etwas zum Essen zu
kaufen, dafür zu sorgen, daß sie beim Konzert einen guten Platz
bekam.
Er schwang sich das Plaid über die Schulter,
befestigte seine Brosche, umgürtete sich mit Dolch und Sporran, und
dann war er soweit. Oder doch nicht ganz. Auf halbem Weg zur Tür
hielt er inne.
Die uralte olivfarbige Unterhose stammte aus
Militärbeständen, zirka Zweiter Weltkrieg, eins der wenigen
Erinnerungsstücke an seinen Vater, die Roger besaß. Normalerweise
trug er selten Unterhosen, doch manchmal benutzte er sie unter
seinem Kilt als Verteidigungsmaßnahme gegen die erstaunliche
Unverfrorenheit mancher Zuhörerinnen. Andere Musiker hatten ihn
gewarnt, doch er hätte ihnen nicht geglaubt, hätte er es nicht am
eigenen Leib erfahren. Deutsche waren am schlimmsten, aber er war
auch schon auf einige Amerikanerinnen getroffen, die sich fast
genausoviel herausnahmen, wenn er in ihre Nähe geriet.
Er glaubte nicht, daß solche Vorsichtsmaßnahmen
hier nötig waren; das Publikum machte einen zivilisierten Eindruck,
und er hatte gesehen, daß die Bühne außer Reichweite war. Und wenn
er nicht auf der Bühne stand, würde Brianna bei ihm sein, und falls
sie vorhatte, sich etwas herauszunehmen… Er warf die Unterhose
wieder in die Tasche, oben auf den braunen Umschlag.
»Drück mir die Daumen, Paps«, flüsterte er und ging
sie suchen.
»Wahnsinn!« Sie ging um ihn herum und machte Stielaugen. »Roger,
du bist eine Wucht!« Sie lächelte ein wenig schief. »Meine Mutter
hat immer gesagt, daß Männer in Kilts unwiderstehlich sind. Da
hatte sie wohl recht.«
Er sah, wie sie schluckte, und hätte sie am
liebsten für ihre Tapferkeit umarmt, doch sie hatte sich schon
abgewandt und zeigte auf die Imbißbuden.
»Hast du Hunger? Ich habe mich umgesehen, während
du dich umgezogen hast. Wir können wählen zwischen
Tintenfischspießchen, Baja Fischtacos, polnischen Hot Dogs -«
Er nahm sie am Arm und drehte sie zu sich um.
»Hey«, sagte er leise, »es tut mir leid. Ich hätte
dich nicht hergebracht, wenn ich geahnt hätte, daß es so ein Schock
für dich sein würde.«
»Schon in Ordnung.« Diesmal war ihr Lächeln
überzeugender. »Es ist - ich bin froh, daß du mich mitgenommen
hast.«
»Wirklich?«
»Ja. Wirklich. Es ist -« Sie deutete hilflos auf
das karierte Getümmel um sie herum. »Es ist so - schottisch.«
Fast hätte er gelacht: Nichts hätte Schottland
weniger ähneln können als diese Mischung aus Touristennepp und
dreistem Verkauf von pseudotraditionellem Ramsch. Gleichzeitig
hatte sie recht, es war typisch schottisch, ein Beispiel für
das uralte Überlebenstalent der Schotten - die Fähigkeit, sich
allen Verhältnissen anzupassen und daraus Profit zu schlagen.
Diesmal umarmte er sie wirklich. Ihr Haar roch
sauber und nach frischem Gras, und er spürte ihr Herz unter ihrem
weißen T-Shirt schlagen.
»Du bist auch Schottin, weißt du?« flüsterte er ihr
ins Ohr und ließ sie wieder los. Ihre Augen leuchteten immer noch,
aber jetzt lag ein anderer Ausdruck darin, dachte er.
»Da hast du wohl recht«, sagte sie und lächelte
wieder, diesmal von Herzen. »Das heißt aber nicht, daß ich Haggis
essen muß, oder? Ich habe da drüben welchen gesehen und mir
gedacht, ich versuche es lieber mit einem
Tintenfischspießchen.«
Er hatte gedacht, sie hätte einen Witz gemacht,
aber das stimmte nicht. Der Veranstaltungsort hatte sich voll und
ganz auf »folkloristische Veranstaltungen« verlegt, wie es einer
der Standbetreiber nannte.
»Polkatanzende Polen, Jodler aus der Schweiz -
Mensch, die hatten mindestens zehn Millionen Kuckucksuhren dabei!
Spanier, Italiener, japanische Kirschblütenfeste - unglaublich, wie
viele Kameras
die Japse haben, einfach unglaublich.« Der Mann schüttelte
gedankenverloren den Kopf und schob zwei Pappteller mit Hamburgern
und Fritten herüber.
»Wie auch immer, alle zwei Wochen ist hier was
anderes los. Da kommt keine Langeweile auf. Wir verkaufen natürlich
einfach weiter, egal, welche Sorte Essen.« Der Mann warf einen
interessierten Blick auf Rogers Kilt.
»Und, sind Sie Schotte oder tragen Sie nur gern’nen
Faltenrock?«
Roger, der schon einige Dutzend Variationen dieser
Hänselei gehört hatte, blickte den Mann ausdruckslos an.
»Nun, wie mein alter Großvater immer gesagt hat«,
begann er, wobei er immer stärker ins Schottische verfiel, »wenn du
dein’ Kilt anziehst, Jungchen, kannste auch sicher sein, daß du’n
Mann bist.«
Der Mann krümmte sich vor Lachen, und Brianna
verdrehte die Augen.
»Kiltwitze«, murmelte sie. »Lieber Himmel, wenn du
jetzt auch noch anfängst, Kiltwitze zu erzählen, fahre ich los und
lasse dich hier sitzen, das schwöre ich.«
Roger grinste sie an.
»Och, das würd’ste doch nicht tun, oder? Einfach
weggehn und’nen Mann verlassen, nur weil er dir sagen will, was er
unterm Kilt trägt?«
Ihre Augen verengten sich zu blauen
Dreiecken.
»Na, ich wette, unter diesem Kilt ist gar
nichts«, sagte sie und deutete auf Rogers Sporran. »Und da unten
funktionierrrt bestimmt alles perrrfekt, oder?«
Roger verschluckte sich an seinen Pommes
frites.
»Eigentlich käme jetzt ›Gib mir mal die Hand, dann
zeig’ ich’s dir‹«, fiel der Standbesitzer ein. »Mann, habe ich den
Spruch diese Woche schon oft gehört.«
»Wenn er das jetzt sagt«, warf Brianna finster ein,
»fahre ich weg und lasse ihn auf diesem Berg hocken. Von mir aus
kann er hierbleiben und sich von Tintenfisch ernähren.«
Roger trank einen Schluck Coca Cola und hielt
wohlweislich den Mund.
Sie hatten Zeit genug, durch die Budengassen zu
wandern. Hier wurde alles mögliche verkauft, von Tartankrawatten
über irische Flöten, Silberschmuck, schottische Clan-Landkarten,
Butterscotch und Shortbread, Highlanderfigurinen aus Blei, Bücher,
Schallplatten bis hin zu allen erdenklichen Gegenständen, die sich
mit einem Clansymbol oder -motto bedrucken ließen.
Roger zog nur gelegentlich neugierige Blicke auf
sich. Seine Tracht war zwar von besserer Qualität als die vieler
anderer, fiel hier aber ansonsten nicht auf. Das Publikum bestand
zum Großteil aus Touristen, die Shorts und Jeans trugen und deren
Kleidung nur hier und dort in Karomuster ausbrach.
»Wieso MacKenzie?« fragte Brianna und blieb bei
einer Bude mit Clan-Schlüsselanhängern stehen. Sie nahm einen der
Silberanhänger in die Hand, auf der Luceo non uro stand. Das
lateinische Motto schlang sich um eine Abbildung, die aussah wie
ein Vulkan. »Hat sich Wakefield nicht schottisch genug angehört?
Oder hast du gedacht, deine Kollegen in Oxford sehen es nicht gern,
wenn du - das hier machst?« Sie deutete auf das Schauspiel um sie
herum.
Roger zuckte mit den Achseln.
»Zum Teil. Aber es ist auch mein Nachname. Meine
Eltern sind beide im Krieg umgekommen, und mein Großonkel hat mich
adoptiert. Er hat mir seinen eigenen Namen gegeben - aber
eigentlich heiße ich Roger Jeremiah MacKenzie.«
»Jeremiah?« Sie lachte nicht laut heraus, doch ihre
Nasenspitze lief rot an, als müßte sie sich Mühe geben, es nicht zu
tun. »Wie der Prophet im Alten Testament?«
»Lach nicht«, sagte er und nahm ihren Arm. »Ich
heiße nach meinem Vater - sie haben ihn Jerry gerufen. Meine Mutter
hat mich Jemmy genannt, als ich noch klein war. Alter Familienname.
Es hätte schlimmer kommen können - sie hätten mich Ambrose oder
Conan nennen können.«
Das Lachen sprudelte aus ihr heraus.
»Conan?«
»Vollkommen anständiger keltischer Name, bevor die
Fantasy-Meute ihn mit Beschlag belegt hat. Jedenfalls scheinen sie
einen Grund gehabt zu haben, als sie sich Jeremiah ausgesucht
haben.«
»Und zwar?«
Sie kehrten um und gingen langsam zur Bühne zurück,
auf der eine Gruppe kleiner Mädchen einen Highlandtanz tanzte. Sie
bewegten sich völlig synchron, jede gestärkte Rockfalte und jedes
Schleifchen an seinem Platz.
»Ach, das ist eine von den Geschichten, die Pa -
der Reverend, ich habe ihn immer Pa genannt - gern erzählt hat,
wenn er mit mir den Stammbaum durchging und mir erklärte, wer wer
war.«
Ambrose MacKenzie, das ist dein Urgroßvater,
Roger. Er war wahrscheinlich Schiffsbauer in Dingwall. Und hier ist
Mary Oliphant - ich habe deine Urgroßmutter Mary Oliphant gekannt,
habe ich dir das
schon erzählt? Sie wurde siebenundneunzig, war echt auf Draht, bis
zum letzten Atemzug - tolle Frau.
Sie war sechsmal verheiratet - alle eines
natürlichen Todes gestorben, hat sie mir versichert -, aber ich
habe nur Jeremiah MacKenzie eingetragen, weil er dein Vorfahr ist.
Der einzige, mit dem sie Kinder hatte, hat mich immer
gewundert.
Ich hab’ sie mal darauf angesprochen, und sie
hat ein Auge zugekniffen und mir zugenickt und gesagt: »Is
fhearr an giomach na’bhi gun fear tighe.« Ein altes gälisches
Sprichwort - »Lieber mit’nem Hummer verheiratet als gar nicht.« Sie
meinte, man könnte zwar so manchen heiraten, aber Jeremiah war der
einzige Mann, der genug hermachte, um ihn jede Nacht zu sich ins
Bett zu lassen.
»Ich frage mich, was sie den anderen gesagt hat«,
meinte Brianna gedankenverloren.
»Na ja, sie hat nicht gesagt, daß sie nicht ab und
zu auch mit ihnen geschlafen hat«, erklärte Roger. »Aber nicht jede
Nacht.«
»Einmal reicht, um schwanger zu werden«, sagte
Brianna. »Das hat meine Mutter zumindest in der Schule erzählt,
beim Sexualkundeunterricht. Und dann hat sie Bilder von Spermien an
die Tafel gemalt, die alle lechzend auf ein riesiges Ei
zuflitzten.« Sie war wieder rot geworden, offensichtlich aber vor
Belustigung.
Arm in Arm standen sie da, und er spürte ihre
Körperwärme durch das dünne T-Shirt. Eine Bewegung unter seinem
Kilt brachte ihn auf den Gedanken, daß es ein Fehler gewesen war,
die Unterhose nicht anzuziehen.
»Vergessen wir mal die Frage, ob Spermien lechzen
können - was habt ihr denn sonst so fürs Leben gelernt?«
»Alles mögliche«, erklärte sie. »Jungen und Mädchen
wurden getrennt unterrichtet. In der Mädchenklasse haben wir ›Die
Geheimnisse des Lebens‹ und ›Zehn Tips, wie man nein zu einem
Jungen sagt‹ durchgenommen.«
»Und die Jungs?«
»Na ja, ich weiß es nicht genau, weil ich ja keine
Brüder hatte, die es mir hätten sagen können. Aber ein paar von
meinen Freundinnen hatten Brüder - einer von denen hat gesagt, sie
hätten achtzehn verschiedene Synonyme für ›Erektion‹
gelernt.«
»Sehr nützlich«, sagte Roger und fragte sich, wozu
irgend jemand mehr als eines davon brauchte. Glücklicherweise
verbarg ein Sporran gleich eine ganze Anzahl von Sünden.
»Vielleicht kann man damit ein Gespräch in Gang
halten - unter bestimmten Umständen.«
Ihre Wangen waren gerötet. Er spürte, wie auch ihm
die Röte den Hals hochkroch, und er bildete sich ein, daß sie
allmählich Aufmerksamkeit erregten. Seit er siebzehn war, hatte ihn
kein Mädchen mehr öffentlich bloßgestellt, aber sie war auf dem
besten Weg. Sie hatte damit angefangen - also konnte sie es auch zu
Ende bringen.
»Mmpf. Unter solchen Umständen sind mir noch keine
großartigen Gespräche untergekommen.«
»Du mußt es ja wissen.« Es war nicht direkt eine
Frage. Etwas verspätet erkannte er, worauf sie hinauswollte. Er
spannte seinen Arm an und zog sie näher an sich.
»Wenn du meinst, habe ich, ja. Wenn du meinst, bin
ich, nein.«
»Wie bitte?« Ihre Lippen zitterten leicht, als sie
ein Lachen unterdrückte.
»Du willst doch wissen, ob ich in England eine
Freundin habe, oder nicht?«
»Will ich das?«
»Ich habe keine. Das heißt, ich habe schon eine,
aber es ist nichts Ernstes.« Sie waren vor den Garderoben
angekommen; beinahe Zeit, seine Instrumente zu holen. Er blieb
stehen und sah sie an. »Und du? Hast du einen Freund?«
Sie war so groß, daß sie ihm in die Augen sehen
konnte, und so nah, daß ihre Brüste seinen Unterarm streiften, als
sie sich ihm zuwandte.
»Was hat deine Uroma doch gleich gesagt? ›Is
fhearr an giomach …?‹«
»›…na’bhi gun fear tighe.‹«
»Ah. Na ja, lieber einen Hummer als gar keinen
Freund.« Sie hob die Hand und berührte seine Brosche. »Also, es
gibt Leute, mit denen ich ausgehe. Aber ich habe keinen festen
Freund - noch nicht.«
Er erwischte ihre Finger und führte sie an seinen
Mund.
»Laß dir Zeit«, sagte er und küßte ihre Hand.
Das Publikum verhielt sich erstaunlich still, ganz
anders als bei einem Rockkonzert. Natürlich konnten sie keinen Lärm
machen, hier gab es keine E-Gitarren oder Verstärker, nur ein
kleines Mikrofon auf einem Ständer. Manche Dinge hatten aber auch
keine Verstärker nötig. Ihr Herz zum Beispiel, das ihr in den Ohren
hämmerte.
»Hier«, hatte er gesagt, als er plötzlich mit
Gitarre und Trommel in der Tür der Umkleidekabine erschien. Er
hatte ihr einen kleinen braunen Umschlag gegeben. »Die habe ich
gefunden, als ich Papas Papierkram in Inverness sortiert habe. Ich
dachte, vielleicht willst du sie.«
Sie wußte, daß es Fotos waren, doch sie hatte sie
nicht sofort angesehen. Sie hatte dagesessen und Rogers Set
zugehört und versucht, nicht an die Fotos zu denken.
Er war gut - obwohl sie nur halb bei der Sache war,
konnte sie hören, daß er gut war. Er hatte eine überraschend volle,
tiefe Baritonstimme, und er wußte sie zu benutzen. Nicht nur, was
Tonfall und Melodie anging - er hatte das Talent des echten
Bühnenkünstlers, den Vorhang zwischen Sänger und Publikum zur Seite
zu ziehen, in die Menge zu blicken, einen Zuhörer anzusehen und ihm
zu zeigen, was hinter den Worten und der Musik lag.
Er wärmte sie mit »The Road to the Isles« auf,
einem schnellen, lebendigen Song zum Mitklatschen und -singen,
hielt sie mit »The Gallowa’ Hills« bei der Stange und schaffte dann
den sanften Übergang zu »The Lewis Bridal Song« mit seinem schönen
gälischen Refrain.
Er ließ den letzten Ton von »Vhair Me Oh«
verklingen und lächelte sie direkt an, dachte sie.
»Und hier ist eins von 1745«, sagte er. »Dieser
Song handelt von der berühmten Schlacht von Prestopans, wo Charles
Stuarts Highland-Armee eine viel stärkere englische Truppe in die
Flucht schlug, die von General Jonathan Cope befehligt
wurde.«
Ein anerkennendes Raunen ging durch das Publikum -
der Song war für viele von ihnen offenbar eine alte
Lieblingsnummer. Das Murmeln verstummte schnell, als Roger die
Hauptmelodie zupfte und dann Copes arrogante Herausforderung an
Prinz Charles sang.
»Cope sent a challenge from Dunbar
Sayin”Charlie, meet me, and ye daur
An’ I’ll learn ye the art o’ war
If ye’ll meet me in the mornin’.«
Sayin”Charlie, meet me, and ye daur
An’ I’ll learn ye the art o’ war
If ye’ll meet me in the mornin’.«
Er beugte den Kopf über die Saiten und nickte der
Menge zu, in den höhnischen Refrain einzustimmen, der Cope zum
Versager stempelte.
»Hey, Johnnie Cope, are ye walkin’ yet?
And are your drums a-beatin’ yet?
If ye were walkin’, I would wait
Tae gang tae the coals in the mornin’.«
And are your drums a-beatin’ yet?
If ye were walkin’, I would wait
Tae gang tae the coals in the mornin’.«
Brianna spürte plötzlich ein Prickeln an den
Haarwurzeln, das weder mit dem Sänger noch dem Publikum, sondern
mit dem Song selbst zusammenhing.
»When Charlie looked the letter upon
He drew his sword the scabbard from,
Come, follow me, my merry men,
And we’ll meet Johnnie Cope in the morning!«
He drew his sword the scabbard from,
Come, follow me, my merry men,
And we’ll meet Johnnie Cope in the morning!«
»Nein«, flüsterte sie, und ihre Finger lagen kalt
auf dem glatten, braunen Umschlag. Come follow me, my merry
men… »Mir nach, meine Gefolgsleute«, hatte Prinz Charles
befohlen und die Herausforderung angenommen. Sie waren dabeigewesen
- ihre Eltern, alle beide. Es war ihr Vater gewesen, der als erster
über das Schlachtfeld bei Preston gestürmt war, Schwert und
Lederschild in der Hand. Und es floß Blut an diesem Morgen.
»For it will be a bluidie morning!«
»Hey, Johnnie Cope, are ye walkin’ yet?
And are your drums a-beatin’ yet?…«
And are your drums a-beatin’ yet?…«
Die Stimmen um sie herum schwollen zu einem
zustimmenden Rauschen an, als sie in den Refrain einfielen. Sie
erlebte einen Anflug von Panik und wäre am liebsten geflüchtet wie
Johnnie Cope, doch es ging vorbei. Danach fühlte sie sich von ihren
Emotionen genauso erschlagen wie von der Musik.
»In faith, quo Johnnie, I got sic
flegs,
Wi’ their claymores an’ philabegs,
Gin I face them again, de’il brak my legs,
So I wish you a’ good morning!
Wi’ their claymores an’ philabegs,
Gin I face them again, de’il brak my legs,
So I wish you a’ good morning!
Hey, Johnnie Cope, are ye walkin’
yet?…«
Ja, Johnnie Cope ging immer noch um. Und er würde
gegenwärtig bleiben, solange dieses Lied gesungen wurde. Manche
Menschen versuchten, die Vergangenheit zu bewahren, andere wollten
ihr entkommen. Und das war so ziemlich die größte Kluft zwischen
ihr und Roger. Warum war ihr das nicht schon früher
eingefallen?
Sie wußte nicht, ob Roger ihre Unruhe wahrgenommen
hatte, doch er verließ das gefährliche Thema Jakobiten und begann
»MacPherson’s Lament«, das er nur mit gelegentlichen Berührungen
der Saiten begleitete. Die Frau neben Brianna seufzte und blickte
mit Rehaugen auf die Bühne, als die Geschichte des zum Tode
verurteilten Fiedlers erklang, der selbst vor dem Galgen nicht von
der Musik lassen konnte.
»Sae rantingly, sae wantonly, sae dauntingly
gaed he,
He played a tune and he danced it roond… alow the gallows tree!«
He played a tune and he danced it roond… alow the gallows tree!«
Sie griff nach dem Umschlag und wog ihn in der
Hand. Vielleicht sollte sie warten, bis sie zu Hause war. Doch ihre
Neugier rang mit ihrem Zögern. Roger war sich nicht sicher gewesen,
ob er ihr den Umschlag geben sollte; das hatte sie an seinem Blick
erkannt.
»…ein bodhran«, sagte Roger. Die Trommel war
nur ein hölzerner Ring, der ein paar Zentimeter breit war, einen
Durchmesser von vielleicht vierzig Zentimetern hatte und mit Leder
bespannt war. Er hielt die Trommel in der einen Hand und einen
kleinen, doppelköpfigen Schlegel in der anderen. »Dies ist eins der
ältesten bekanntesten Instrumente, die Trommel, mit der die
Keltenstämme im Jahr 52 vor Christus Julius Caesars Truppen das
Fürchten lehrten.« Kichern erklang aus dem Publikum, und er
berührte das breite Trommelfell mit dem Schlegel, schlug es im
sanften, schnellen Rhythmus eines schlagenden Herzens.
»Und jetzt ›The Sheriffmuir Fight‹ aus der Zeit des
ersten Jakobitenaufstandes im Jahr 1715.«
Seine Finger verschoben sich unter dem Trommelfell,
und die Schläge wurden tiefer und nahmen einen kriegerischen Ton
an, Donnerschläge, die die Worte untermalten. Das Publikum benahm
sich immer noch, richtete sich aber auf und beugte sich vor,
während es dem Gesang folgte, der die Schlacht von Sheriffmuir im
blutigen Detail beschrieb und die Clans nannte, die daran
teilgenommen hatten.
»…then on they rushed, and blood out-gushed,
and many a puke did fall, man…
They hacked and hashed, while broadswords clashed…«
They hacked and hashed, while broadswords clashed…«
Als das Lied zu Ende war, schob sie ihre Finger in
den Umschlag und zog einen Stapel Fotografien heraus. Alte
Schnappschüsse, deren Schwarz-Weiß zu Brauntönen verblichen war.
Ihre Eltern. Frank und Claire Randall, die beide auf eine absurde
Weise jung aussahen - und furchtbar glücklich.
Sie waren irgendwo in einem Garten. Liegestühle und
ein Tisch mit Getränken standen vor einem Hintergrund, der gefleckt
war mit diffusem Licht, das durch die Laubbäume fiel. Doch ihre
Gesichter waren klar zu erkennen - lachende Gesichter, die vor
Jugend glühten. Sie hatten nur Augen füreinander.
In der üblichen Pose, Arm in Arm und gleichzeitig
voll Spott über die eigene Förmlichkeit. Und dann Claire, die sich
bog vor Lachen über etwas, was Frank gesagt hatte, und ihren
weiten, im Wind flatternden Rock festhielt, wogegen ihr lockiges
Haar nicht zu bändigen war. Frank, der Claire ein Glas reichte,
während sie ihm mit einem derart hoffnungsvollen Blick ins Gesicht
sah, daß der Anblick Brianna das Herz schwer machte.
Dann betrachtete sie das letzte Bild, und ihr wurde
klar, was sie da sah. Die beiden standen am Tisch, hielten
gemeinsam ein Messer fest und lachten, als sie eine ganz
offensichtlich selbstgebackene Torte anschnitten. Eine
Hochzeitstorte.
»Und zum Schluß eins meiner Lieblingslieder, das
Sie bestimmt kennen. Man sagt, ein gefangener Jakobit habe das Lied
auf dem Weg zum Galgen nach London an seine Frau in den Highlands
geschickt.«
Sie breitete ihre Hände über die Bilder, als wollte
sie verhindern, daß jemand sie sah. Ein eisiger Schreck durchfuhr
sie. Hochzeitsfotos. Schnappschüsse von ihrer Hochzeit. Natürlich,
sie waren in Schottland getraut worden. Reverend Wakefield hatte
die Messe zwar nicht selbst halten können, da er kein katholischer
Priester war, doch als einer der ältesten Freunde ihres Vaters
hatte er den Empfang sicher in seinem Pfarrhaus ausgerichtet.
Ja. Sie schaute durch ihre Finger und erkannte im
Hintergrund vertraute Details des alten Hauses. Dann schob sie
widerstrebend ihre Hand beiseite und betrachtete noch einmal das
junge Gesicht ihrer Mutter.
Achtzehn. Claire hatte Frank Randall mit achtzehn
geheiratet. Wie konnte jemand, der so jung war, sich seiner Sache
so sicher sein?
»By yon bonnie banks, and by yon bonnie
braes,
Where the sun shines bright in Loch Lomond,
Where me and my true love were ever wont to gae…«
Where the sun shines bright in Loch Lomond,
Where me and my true love were ever wont to gae…«
Doch Claire war sich sicher gewesen - oder
zumindest hatte sie das gedacht. Ihre breite, klare Stirn und ihr
feiner Mund ließen keinen Raum für Zweifel; ihre großen,
leuchtenden Augen waren auf ihren frischgebackenen Ehemann
gerichtet, ohne eine Spur von Zurückhaltung oder bösen Vorahnungen
zu verraten. Und dennoch -
»But me and my true love will never meet
again
on the bonnie, bonnie banks of Loch Lomond.«
»Doch ich werd’ meine Liebste niemals wiedersehen
an den herrlichen Ufern von Loch Lomond.«
on the bonnie, bonnie banks of Loch Lomond.«
»Doch ich werd’ meine Liebste niemals wiedersehen
an den herrlichen Ufern von Loch Lomond.«
Ohne zu merken, daß sie den Leuten auf die Zehen
trat, stolperte Brianna aus der Sitzreihe und flüchtete, bevor
irgend jemand ihre Tränen sah.
»Ich kann beim Ruf der Clans noch etwas bei dir
bleiben«, sagte Roger, »doch gegen Ende habe ich da zu tun, und
dann muß ich dich allein lassen. Geht das?«
»Ja, natürlich«, sagte sie bestimmt. »Mir geht’s
gut. Mach dir keine Sorgen.«
Er sah sie etwas besorgt an, sagte aber nichts.
Keiner von ihnen hatte bis jetzt ihre Flucht von vorhin erwähnt.
Bis er sich einen Weg durch die Fans gebahnt hatte, hatte sie genug
Zeit gehabt, eine Damentoilette zu suchen und mit Hilfe von viel
kaltem Wasser die Beherrschung wiederzuerlangen.
Den Rest des Nachmittags waren sie über das
Festivalgelände spaziert, hatten ein bißchen eingekauft, hatten
sich im Freien den Dudelsackwettbewerb angehört und waren halb taub
wieder nach innen gegangen, um einem jungen Mann zuzusehen, der
zwischen zwei über Kreuz im Boden steckenden Schwertern tanzte. Die
Fotos waren außer Sichtweite in ihrer Handtasche verwahrt.
Jetzt war es fast dunkel; die Leute verließen die
Imbißbuden und strömten zu der Tribüne, die draußen am Fuß des
Berges aufgebaut war.
Sie hatte erwartet, daß die Familien mit
Kleinkindern nach Hause fahren würden, und manche taten das auch,
doch überall zwischen den Erwachsenen auf der Tribüne sah man
kleine Körper mit müde herabhängenden Köpfen. Ein winziges Mädchen
war auf der Schulter seines Vaters fest eingeschlafen und hing
schlaff in seinen Armen, während er sich seinen Weg zu den oberen
Rängen bahnte. Vor den unüberdachten Sitzreihen befand sich eine
ebene Lichtung, auf der man einen riesigen Holzhaufen aufgetürmt
hatte.
»Was ist der Ruf der Clans?« hörte sie in der Reihe
vor ihnen eine Frau ihre Begleiterin fragen. Sie zuckte nur mit den
Schultern, und Brianna sah Roger fragend an, doch der lächelte
nur.
»Du wirst schon sehen«, sagte er.
Es war völlig dunkel, und der Mond war noch nicht
aufgegangen. Der Berg ragte dunkel vor dem sternenübersäten Himmel
auf. Irgendwo in der Menge erscholl ein Ausruf, andere folgten, und
dann ertönte
von fern ein einzelner Dudelsack und brachte alles andere zum
Schweigen.
Ein kleiner Lichtfleck erschien in der Nähe der
Bergspitze. Sie sahen zu, wie er sich herunterbewegte, und dann
erschien ein zweiter dahinter. Die Musik wurde lauter, und ein
weiteres Licht kam über den Bergrücken. Fast zehn Minuten lang nahm
die Spannung ständig zu, während die Musik immer lauter und die
Lichterreihe immer länger wurde, eine Flammenkette am
Berghang.
Fast am Fuß des Hanges kam ein Pfad aus dem Wald;
sie hatte ihn auf ihrem Erkundungsgang gesehen. Jetzt trat ein Mann
zwischen den Bäumen hervor, der eine lodernde Fackel in die Höhe
hielt. Hinter ihm kam der Dudelsackspieler, dessen Musik jetzt so
laut war, daß sie sogar die »Oohs« und »Aahs« der Menge
übertönte.
Als die beiden den Pfad bis zu dem freien Platz
herunterschritten, sah Brianna, daß noch mehr Männer hinter ihnen
waren; eine lange Reihe von Männern, jeder mit einer Fackel, alle
im Sonntagsstaat der Highland-Clanoberhäupter. Sie sahen barbarisch
und umwerfend aus mit ihren Moorhuhnfedern und den Schwertern und
Dolchen, die sich im Fackelschein rotglänzend von den Tartanfalten
abhoben.
Der Dudelsack verstummte abrupt, und der erste Mann
schritt auf die Lichtung und blieb vor der Tribüne stehen. Er hob
seine Fackel hoch und rief: »Die Camerons sind hier!«
Laute Beifallsrufe erklangen auf der Tribüne, und
er warf die Fackel auf das kerosingetränkte Holz, das
donnergrollend in einer drei Meter hohen Feuersäule
aufloderte.
Ein anderer Mann erschien vor der blendenden
Feuerwand und rief: »Die MacDonalds sind hier!«
Großes Geschrei aus der Menge derer, die damit ihre
Verwandtschaft mit dem Clan MacDonald kundtaten, und dann -
»Die MacLachlans sind hier!«
»Die MacGillivrays sind hier!«
Das Schauspiel hielt sie so in Atem, daß sie Roger
kaum beachtete. Dann trat wieder ein Mann vor und rief: »Die
MacKenzies sind hier!«
»Tulach Ard!« dröhnte Roger, und sie fuhr
zusammen.
»Was war das denn?« fragte sie.
»Das«, sagte er grinsend, »ist der Kriegsruf des
MacKenzie-Clans.«
»So hat es sich auch angehört.«
»Die Campbells sind hier!« Es mußten ziemlich viele
Campbells sein, denn ihre Antwort erschütterte die Sitzreihen. Als
wäre dies das Signal gewesen, auf das Roger gewartet hatte, stand
er auf und schwang sich das Plaid über die Schulter.
»Wir treffen uns hinterher bei der Garderobe, in
Ordnung?« Sie nickte, und er bückte sich plötzlich und küßte
sie.
»Nur für alle Fälle«, sagte er, »der Ruf der
Frasers ist Caisteal Dhuni!«
Sie sah zu, wie er nach unten ging und dabei über
die Ränge kletterte wie eine Bergziege. Rauchgeruch erfüllte die
Nachtluft und vermischte sich mit dem schwächeren Tabakduft der
Zigaretten im Zuschauerraum.
»Die MacKays sind hier!«
»Die MacLeods sind hier!«
»Die Farquarsons sind hier!«
Rauch und Emotion nahmen ihr den Atem. Die Clans
waren auf dem Feld von Culloden gestorben - oder nicht? Doch, das
waren sie, dies hier war nur Erinnerung, Geisterbeschwörung. Die
Leute, die hier so enthusiastisch brüllten, waren nicht miteinander
verwandt, sie waren nicht mehr durch Land und Clanoberhaupt
miteinander verbunden, sondern…«
»Die Frasers sind hier!«
Panik ergriff sie, und sie umklammerte den
Verschluß ihrer Handtasche.
Nein, dachte sie. O nein. Das tue ich
nicht.
Dann war der Moment vorbei, und sie konnte wieder
atmen, doch das Adrenalin raste immer noch durch ihre Adern.
»Die Grahams sind hier!«
»Die Innes’ sind hier!«
Die Ogilvys, die Lindsays, die Gordons… und
schließlich erstarben die Echos des letzten Rufes. Brianna
klammerte sich fest an die Tasche auf ihrem Schoß, als wollte sie
ihren Inhalt daran hindern, wie ein Dschinn aus einer Lampe zu
entfliehen.
Wie konnte sie nur? dachte sie, und dann,
als sie Roger ins Licht treten sah, Feuer im Haar, bodhran
in der Hand, überlegte sie es sich anders. Was hätte sie sonst
tun sollen?