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Gestern in zweihundert Jahren
»Du hast ja deinen Kilt gar nicht an!« Gayle
verzog enttäuscht den Mund.
»Falsches Jahrhundert«, sagte Roger und lächelte
auf sie herab. »Bißchen zugig für einen Spaziergang auf dem
Mond.«
»Du mußt mir das beibringen.«
»Was denn?«
»Wie du das R rollst.« Sie runzelte die Stirn und
machte einen ernstgemeinten Versuch, der sich anhörte wie ein
Motorboot im ersten Gang.
»Sehrrr gut«, sagte er und bemühte sich, nicht zu
lachen. »Weiterrr so, Übung macht den Meisterrr.«
»Hast du wenigstens deine Gitarre mitgebracht?« Sie
stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, ihm über die
Schulter zu blicken. »Oder diese starke Trommel?«
»Die ist im Auto«, sagte Brianna, steckte die
Schlüssel ein und stellte sich neben Roger. »Wir fahren danach
direkt zum Flughafen.«
»Ach schade; ich dachte, wir könnten nachher noch
ein bißchen rumhängen und singen. Kennst du ›This Land is your
Land‹, Roger? Oder stehst du mehr auf Protestsongs? Na ja,
wahrscheinlich nicht, weil du ja Engländer - huch, ich meine
Schotte bist. Bei euch gibt’s doch nichts zu protestieren,
oder?«
Brianna warf ihrer Freundin einen leicht entnervten
Blick zu. »Wo ist Onkel Joe?«
»Im Wohnzimmer, er traktiert den Fernseher mit den
Füßen«, sagte Gayle. »Soll ich Roger bei Laune halten, während du
ihn suchst?« Sie hängte sich bei Roger ein und klimperte mit den
Wimpern.
»Ich habe die halbe Technik-Uni von Massachusetts
hier, und keiner kann den bescheuerten Fernseher in Gang
bringen?« Dr. Joseph Abernathy warf den Jugendlichen, die
grüppchenweise in seinem Wohnzimmer verstreut waren, anklagende
Blicke zu.
»Du meinst Elektrotechnik, Paps«, erklärte
ihm sein Sohn überlegen.
»Wir studieren Maschinenbau. Einen Maschinenbauingenieur zu
bitten, dir deine Glotze zu reparieren, ist so, als wolltest du,
daß sich ein Gynäkologe die wunde Stelle an deinem Schwa-
au!«
»Oh, tut mir leid«, sagte sein Vater und blickte
ungerührt über den Rand seines goldenen Brillengestells. »War das
dein Fuß, Lenny?«
Unter allgemeinem Gelächter hüpfte Lenny auf einem
Bein durchs Zimmer und umklammerte Fuß und Turnschuh in gespielter
Agonie.
»Brianna, Schätzchen!« Der Doktor erblickte sie,
strahlte übers ganze Gesicht und überließ den Fernseher seinem
Schicksal. Er umarmte sie stürmisch, ohne sich im geringsten daran
zu stören, daß sie ihn um gute zehn Zentimeter überragte. Dann ließ
er sie wieder los und sah Roger an. Seine Gesichtszüge hatten einen
Ausdruck wachsamer Höflichkeit angenommen.
»Ist das dein Freund?«
»Das ist Roger Wakefield«, sagte Brianna und warf
dem Doktor einen Blick aus leicht zusammengekniffenen Augen zu.
»Roger, Joe Abernathy.«
»Guten Tag, Dr. Abernathy.«
»Sagen Sie Joe zu mir.«
Sie begrüßten sich mit einem abwägenden Handschlag.
Der Doktor musterte ihn von oben bis unten. Aus seinen braunen
Augen sprach bei aller Wärme sehr viel Scharfsinn.
»Brianna, Schätzchen, kannst du mal Hand an diese
Schrottkiste legen und nachsehen, ob du sie wieder zum Leben
erwecken kannst?« Er wies mit dem Daumen auf das 24-Zoll-Gerät, das
stumm auf der Fernsehbank stand. »Gestern abend hat er noch
wunderbar funktioniert, und heute… pffft!«
Brianna warf dem großen Farbfernseher einen
zweifelnden Blick zu, suchte in ihrer Jeanstasche herum und brachte
ein Schweizer Armeemesser zum Vorschein.
»Also, ich kann mir ja mal die Kontakte ansehen.«
Sie klappte den Schraubenzieher auf. »Wieviel Zeit haben wir
noch?«
»Eine halbe Stunde vielleicht«, rief ein Student
mit Bürstenschnitt. Er sah zu der Gruppe hinüber, die sich um das
kleine Schwarzweißgerät auf dem Küchentisch drängte. »Wir sind
immer noch im Kontrollzentrum in Houston - geschätzte Landungszeit
in vierunddreißig Minuten.« Die aufgeregte Stimme des
TV-Kommentators durchdrang nur ab und zu die lebhaftere Aufregung
seiner Zuschauer.
»Gut, gut«, sagte Dr. Abernathy. Er legte seine
Hand auf Rogers Schulter. »Also reichlich Zeit für einen Drink.
Mögen Sie Scotch, Mr. Wakefield?«
»Sagen Sie Roger.«
Abernathy goß einen großzügigen Schuß
bernsteinfarbenen Nektars ein und gab ihm das Glas.
»Sie werden wohl kein Wasser nehmen, oder,
Roger?«
»Nein.« Es war Lagavulin; erstaunlich, diese Marke
in Boston zu finden. Er probierte ihn anerkennend, und der Doktor
lächelte.
»Ich habe ihn von Claire - Briannas Mama. Das war
mal eine Frau mit einem guten Whiskygeschmack.« Er schüttelte
sinnierend den Kopf und hob sein Glas zum Zeichen seiner
Hochachtung.
»Slàinte«, sagte Roger und neigte sein Glas,
bevor er davon trank.
Abernathy schloß in stummer Anerkennung die Augen -
ob für den Whisky oder die Frau, das konnte Roger nicht
sagen.
»Wasser des Lebens, was? Ich glaube gern, daß diese
Sorte hier Tote wieder lebendig machen könnte.« Mit ehrfürchtigen
Händen stellte er die Flasche zurück in das Barfach.
Wieviel hatte Claire Abernathy erzählt? Genug,
vermutete Roger. Der Doktor hob sein Glas und warf ihm einen
abschätzenden Blick zu.
»Da Briannas Vater tot ist, habe ich wohl die Ehre.
Ob wohl genug Zeit bleibt, Sie gründlich auszuquetschen, bevor sie
landen, oder sollen wir es kurz machen?«
Roger zog eine Augenbraue hoch.
»Ihre Absichten«, half der Doktor nach.
»Oh. Völlig ehrenhaft.«
»Ach ja? Ich habe Brianna gestern abend noch
angerufen, um sie zu fragen, ob sie heute kommt. Keine
Antwort.«
»Wir waren bei einem keltischen Festival in den
Bergen.«
»So so. Ich habe noch einmal angerufen, um elf. Um
Mitternacht. Keine Antwort.« Die Augen des Doktors blickten immer
noch scharfsinnig, jedoch beträchtlich weniger warm. Er stellte
sein Glas mit einem leisen Klicken ab.
»Brianna ist allein«, sagte er. »Und sie ist
einsam. Und sie ist ein wunderbarer Mensch. Ich möchte nicht, daß
jemand das ausnutzt, Mr. Wakefield.«
»Ich auch nicht - Dr. Abernathy.« Roger leerte sein
Glas und stellte es mit Nachdruck hin. Seine Wangen brannten, und
daran war nicht der Lagavulin schuld. »Wenn Sie glauben, daß ich
-«
»HIER HOUSTON«, dröhnte der Fernseher. »TRANQUILITY
BASE, LANDUNG IN ZWANZIG MINUTEN.«
Die Gäste schwenkten Colaflaschen und spendeten
Beifall, während sie aus der Küche strömten. Brianna lachte, rot
vor Anstrengung,
und wies die Glückwünsche von sich, während sie das Messer
einsteckte. Abernathy legte eine Hand auf Rogers Arm, um ihn an
seiner Seite zu halten.
»Hören Sie mir gut zu, Mr. Wakefield«, sagte
Abernathy so leise, daß ihn die Studenten nicht hören konnten. »Daß
mir nur nicht zu Ohren kommt, Sie hätten das Mädchen unglücklich
gemacht. Nie.«
Roger löste seinen Arm vorsichtig aus dem Griff des
anderen.
»Finden Sie, daß sie unglücklich aussieht?« fragte
er, so höflich er konnte.
»Nein«, sagte Abernathy, verlagerte sein Gewicht
auf seine Absätze und schaute ihn scharf an. »Im Gegenteil. Es ist
die Art, wie sie heute abend aussieht, die mich darauf bringt, daß
ich Ihnen vielleicht an Stelle ihres Vaters eine verpassen
sollte.«
Roger drehte sich automatisch um und sah sie
ebenfalls an. Es stimmte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen,
kleine Haarsträhnen waren aus ihrem Pferdeschwanz entwischt, und
ihre Haut glühte wie das Wachs einer brennenden Kerze. Sie sah aus
wie eine Frau, die eine lange Nacht hinter sich hatte - und sie
genossen hatte.
Als spürte sie ihn per Radar, wandte sie den Kopf
und sah ihn über Gayles Kopf hinweg an. Sie redete weiter mit
Gayle, doch ihre Augen sprachen direkt zu ihm.
Der Doktor räusperte sich laut. Roger riß sich von
ihr los und stellte fest, daß Abernathy nachdenklich zu ihm
aufsah.
»Ach«, sagte der Doktor in einem ganz anderen
Tonfall. »So ist das also.«
Rogers Hemdkragen stand offen, doch er fühlte sich,
als trüge er eine zu fest gebundene Krawatte. Er sah den Doktor
direkt an.
»Ja«, sagte er, »so ist das.«
Dr. Abernathy griff nach der Flasche Lagavulin und
füllte beide Gläser.
»Claire hat ja auch gesagt, Sie wären ihr
sympathisch«, sagte er resigniert. Er hob sein Glas. »Okay.
Slaìnte.«
»In die andere Richtung - Walter Cronkite ist ja
ganz orange!« Lenny Abernathy drehte gehorsam den Regler, woraufhin
sich der Kommentator grün verfärbte. Cronkite redete weiter, ohne
sich an seinem plötzlichen Teintwechsel zu stören.
»In ungefähr zwei Minuten werden Commander Neil
Armstrong und die Mannschaft von Apollo 11 mit der ersten bemannten
Landung auf dem Mond in die Geschichte eingehen…«
Das Wohnzimmer war abgedunkelt und voller Menschen,
die gebannt
auf den großen Fernseher starrten, wo jetzt Aufnahmen vom Start
der Apollo-Rakete gezeigt wurden.
»Ich bin beeindruckt«, flüsterte Roger Brianna ins
Ohr. »Wie hast du das hingekriegt?« Er hatte sich an das Seitenteil
eines Bücherregals gelehnt und sie eng zu sich gezogen. Seine Hände
ruhten auf der Rundung ihrer Hüften, sein Kinn auf ihrer
Schulter.
Ihre Augen waren auf den Fernseher gerichtet, doch
er spürte, wie sich ihre Wange an der seinen bewegte.
»Jemand hat den Stecker rausgezogen«, sagte sie.
»Ich habe ihn nur wieder in die Steckdose gesteckt.«
Er lachte und küßte sie auf den Hals. Obwohl die
Klimaanlage brummte, war es heiß im Zimmer und ihre Haut war feucht
und salzig.
»Du hast den rundesten Arsch der Welt«, flüsterte
er. Sie antwortete nicht, schob aber ihren Hintern noch dichter an
ihn heran.
Vom Fernseher rauschende Stimmen und Bilder der
Flagge, die die Astronauten auf dem Mond aufpflanzen würden.
Er blickte durchs Zimmer, doch Joe Abernathy war
genauso hypnotisiert wie alle anderen, sein Gesicht gebannt im
Glühen des Fernsehschirms. Im Schutz der Dunkelheit legte er die
Arme um Brianna, spürte ihre Brüste als weiche Gewichte auf seinem
Unterarm. Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich an ihn, legte
ihre Hand auf die seine und drückte sie fest.
Hätte dabei irgendeine Gefahr bestanden, wäre
keiner von ihnen so mutig gewesen. Doch in zwei Stunden mußte er
aufbrechen, sie würden keine Gelegenheit haben, weiterzugehen.
Letzte Nacht hatten sie gewußt, daß sie mit dem Feuer spielten, und
waren vorsichtiger gewesen. Er fragte sich, ob Abernathy ihn wohl
wirklich geschlagen hätte, wenn er zugegeben hätte, daß Brianna die
Nacht in seinem Bett verbracht hatte.
Er war den Berg heruntergefahren, hin- und
hergerissen zwischen seinen Bemühungen, auf der richtigen
Straßenseite zu bleiben, und dem aufregenden Gefühl, daß Briannas
Gewicht sanft gegen ihn gepreßt war. Sie hatten eine Kaffeepause
gemacht, sich bis nach Mitternacht unterhalten, wobei sie einander
ständig berührt hatten: Hände, Oberschenkel, Köpfe ganz nah
aneinander. Mitten in der Nacht waren sie nach Boston
weitergefahren. Das Gespräch erstarb, und dann lag Briannas Kopf
schwer auf seinen Schultern.
Weil er zu müde war, um im Gewirr der unbekannten
Straßen den Weg zu ihrer Wohnung zu suchen, war er zu seinem Hotel
gefahren, hatte sie die Treppe hochgeschmuggelt und sie auf sein
Bett gelegt, wo sie innerhalb von Sekunden eingeschlafen war.
Er selbst hatte den Rest der Nacht auf dem harten
Boden verbracht, und Briannas Strickjacke hatte ihm die Schultern
gewärmt. In der Dämmerung war er aufgestanden, hatte sich in den
Sessel gesetzt, umhüllt von ihrem Geruch, und stumm zugesehen, wie
sich das Licht über ihr schlafendes Gesicht breitete.
Ja, so war das.
»Tranquility Base… der Adler ist gelandet.«
Die Stille im Zimmer wurde von einem tiefen, kollektiven Seufzer
unterbrochen, und Roger spürte, wie sich ihm die Nackenhaare
sträubten.
»Ein… kleiner… Schritt für einen Menschen«,
sagte die blecherne Stimme, »ein Riesensprung für die
Menschheit.« Das Bild war voller Schnee, doch das lag nicht am
Fernseher. Köpfe reckten sich, begierig, die plumpe Gestalt zu
sehen, die vorsichtig die Leiter herunterstieg und zum erstenmal
den Fuß auf den Mond setzte. Ein Mädchen hatte Tränen auf den
Wangen, die im Licht des Fernsehers silbern glänzten.
Selbst Brianna hatte alles andere vergessen. Ihre
Hand war von seinem Arm gefallen, und sie beugte sich vor, im
Augenblick gefangen.
Einen Augenblick lang kamen ihm Zweifel, als er sie
alle so gebannt sah, so durch und durch stolz, und Brianna so ganz
Teil davon. Es war ein anderes Jahrhundert, gestern in
zweihundert Jahren.
Ob es eine gemeinsame Grundlage für sie gab, einen
Historiker und eine Ingenieurin? Obwohl sein Blick auf die
Geheimnisse der Vergangenheit gerichtet war und ihrer in die
Zukunft mit ihrem blendenden Glanz?
Dann löste sich die Spannung im Raum in
Beifallsrufe und Geplauder auf, und er dachte, daß es vielleicht
keine Rolle spielte, daß sie in entgegengesetzte Richtungen
blickten - solange sie einander ansahen.