1
Eine Hinrichtung in Eden
Charleston, Juni 1767
Ich hörte die Trommeln, lange bevor sie in
Sichtweite kamen. Die Schläge hallten in meiner Magengrube wider,
als wäre ich selber hohl. Der Klang breitete sich in der Menge aus,
ein harter, militärischer Rhythmus, der dazu gedacht war, jedes
Gespräch und selbst Schüsse zu übertönen. Ich sah, wie sich die
Köpfe umwandten, während die Menschen verstummten und jenen
Abschnitt der East Bay Street entlangblickten, der den Rohbau des
neuen Zollhauses mit den White Point Gardens verband.
Es war ein heißer Tag, sogar für Charleston im
Juni. Die besten Plätze waren auf dem Hafendamm, wo wenigstens ein
Luftzug wehte; hier unten war es, als würde man lebendig gegrillt.
Mein Hemd war durchnäßt, und das Baumwollmieder klebte mir zwischen
den Brüsten. Zum zehnten Mal in ebenso vielen Minuten wischte ich
mir über das Gesicht und hob meinen schweren Haarknoten in der
vergeblichen Hoffnung, daß ein Luftzug mir den Hals kühlen
würde.
Überhaupt fielen mir im Moment makabererweise Hälse
besonders auf. Unauffällig legte ich die Hand an meine Kehle und
umspannte sie mit den Fingern. Ich konnte spüren, wie der Puls
meiner Halsschlagadern im Takt mit den Trommeln schlug, und beim
Atmen verstopfte mir die heiße, feuchte Luft die Kehle, als wäre
ich selber dem Ersticken nahe.
Ich zog hastig meine Hand weg und holte Luft, so
tief ich konnte. Das war ein Fehler. Der Mann vor mir hatte seit
mindestens einem Monat nicht mehr gebadet. Der Rand seiner
Halsbinde stand vor Dreck, und seine Kleider rochen säuerlich und
muffig und überdeckten sogar den Schweißgeruch der Menge. Aus den
Buden, an denen Eßbares verkauft wurde, drang der Geruch von heißem
Brot und siedendem Schweinefett und vermischte sich mit dem Moder
verfaulenden Seegrases, der aus der Marsch herüberwehte und durch
einen salzigen Luftzug vom Hafen her kaum gemildert wurde.
Vor mir reckten ein paar Kinder gaffend die Hälse.
Sie rannten zwischen den Eichen und Fächerpalmen hervor, um einen
Blick auf die Straße zu werfen und wurden von ihren besorgten
Eltern wieder zurückgerufen. Der Hals des Mädchens neben mir
erinnerte an den weißen Teil eines Grashalmes, schlank und
glänzend.
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge: Die
Galgenprozession kam am anderen Ende der Straße in Sicht. Die
Trommeln wurden lauter.
»Wo ist er?« murmelte Fergus neben mir und reckte
ebenfalls den Hals, um etwas zu sehen. »Ich wußte doch, daß ich
besser mit ihm gegangen wäre.«
»Er kommt schon noch.« Ich hätte mich am liebsten
auf die Zehenspitzen gestellt, ließ es aber bleiben, weil ich es
als unpassend empfand. Dennoch blickte ich mich suchend um. Ich
konnte Jamie in jeder Menschenmenge ausmachen, denn sein Kopf und
seine Schultern überragten die meisten Männer, und in seinem Haar
fing sich das Licht in einer rotgoldenen Flamme. Er war noch nicht
zu sehen, nur das Meer wogender Hauben und Dreispitze, mit denen
sich jene Bürger vor der Hitze schützten, die zu spät gekommen
waren, um noch einen Platz im Schatten zu ergattern.
Zuerst kamen die Flaggen. Über den Köpfen der
aufgeregten Menge wehten die Banner von Großbritannien und der
Kronkolonie South Carolina. Und ein weiteres, das das Wappen des
Gouverneurs der Kolonie trug.
Dann kamen die Trommler, in Zweierreihen und im
Gleichschritt, und ihre Stöcke wechselten zwischen Schlägen und
Wirbeln ab. Es war ein langsamer Marsch, grimmig und unerbittlich.
Totenmarsch, so glaubte ich, nannte man diese spezielle Kadenz;
sehr passend unter diesen Umständen. Alle anderen Geräusche
ertranken im Trommelwirbel.
Dann kam der Zug der rotberockten Soldaten, und in
ihrer Mitte die Gefangenen.
Sie waren zu dritt. Man hatte ihnen die Hände vor
den Bauch gebunden und sie mit einer Kette aneinandergefesselt, die
durch Ringe an ihren Halseisen lief. Der erste war ein kleiner,
älterer Mann, zerlumpt und verlottert, ein verfallenes Wrack, und
er torkelte und stolperte so sehr, daß sich der dunkelgewandete
Geistliche an seiner Seite gezwungen sah, ihn beim Arm zu nehmen,
damit er nicht hinfiel.
»Ist das Gavin Hayes? Er sieht schlecht aus«,
murmelte ich Fergus zu.
»Er ist betrunken.« Die leise Stimme erklang hinter
mir, und ich
wirbelte herum. Jamie stand genau hinter mir und hatte die Augen
auf die klägliche Prozession gerichtet.
Die Gleichgewichtsstörungen des kleinen Mannes
behinderten die Prozession, denn sein Torkeln zwang die beiden an
ihn geketteten Männer zu abrupten Kurswechseln, wenn sie auf den
Füßen bleiben wollten. Sie erinnerten an drei Betrunkene auf dem
Nachhauseweg von der Dorfkneipe, was in drastischem Kontrast zum
Ernst der Lage stand. Über die Trommeln hinweg hörte ich Gelächter
aufbrausen, und von den schmiedeeisernen Balkonen der East Bay
Street erschollen Anfeuerungsrufe.
»Warst du das?« Ich sprach leise, um keine
Aufmerksamkeit zu erregen, aber ich hätte auch schreien und mit den
Armen rudern können; niemand hatte Augen für irgend etwas anderes
als die Szene vor uns.
Ich spürte Jamies Schulterzucken mehr, als daß ich
es sah, während er einen Schritt vortrat und sich neben mich
stellte.
»Er hat mich darum gebeten«, sagte er. »Es war
alles, was ich für ihn tun konnte.«
»Brandy oder Whisky?« fragte Fergus, der Hayes’
Erscheinung mit Kennerblick begutachtete.
»Der Mann ist ein Schotte, mein lieber Fergus.«
Jamies Stimme war so ruhig wie sein Gesicht, doch ich hörte die
leise Anspannung darin. »Er wollte Whisky.«
»Gute Wahl. Mit etwas Glück wird er es nicht einmal
merken, wenn sie ihn hängen«, murmelte Fergus. Der kleine Mann war
dem Griff des Priesters entschlüpft, auf der sandigen Straße mitten
aufs Gesicht gefallen und hatte dabei einen seiner Mitgefangenen
auf die Knie heruntergezogen. Der dritte Gefangene, ein
hochgewachsener junger Mann, blieb auf den Füßen, schwankte aber
wild hin und her, während er mit aller Kraft versuchte, die Balance
zu halten. Die Menge auf dem Platz brüllte vor Schadenfreude.
Der Hauptmann der Wache glühte zwischen seiner
weißen Perücke und seinem Kragen vor Wut mindestens genauso
feuerrot wie von der Sonne. Er bellte einen Befehl, die Trommeln
setzten ihr finsteres Rollen fort, und ein Soldat bemühte sich
hastig, die Kette zu entfernen, die die Gefangenen
aneinanderfesselte. Hayes wurde ohne Umschweife auf die Füße
gerissen, an beiden Armen von einem Soldaten ergriffen, und die
Prozession nahm ihren Weg wieder auf, diesmal in besserer
Ordnung.
Das Gelächter verstummte, als sie das Schafott
erreichten, einen von Maultieren gezogenen Karren unter den Ästen
einer riesigen
Eiche. Ich spürte das Schlagen der Trommeln durch meine Fußsohlen.
Mir war ein bißchen schlecht von der Sonne und den Gerüchen. Das
Trommeln endete abrupt, und die Stille summte in meinen
Ohren.
»Du mußt es dir nicht ansehen, Sassenach«,
flüsterte Jamie mir zu. »Geh zurück zum Wagen.« Seine Augen waren
fest auf Hayes gerichtet, der murmelnd im Griff der Soldaten
schwankte und sich trübäugig umschaute.
Zusehen war das letzte, was ich wollte. Aber ich
konnte Jamie auch nicht dabei im Stich lassen. Er war wegen Gavin
Hayes gekommen; ich war seinetwegen gekommen. Ich berührte seine
Hand.
»Ich bleibe hier.«
Jamie richtete sich höher auf. Er trat einen
Schritt vor und sorgte so dafür, daß er in der Menge gut sichtbar
war. Falls Hayes noch nüchtern genug war, um irgend etwas zu sehen,
dann wäre das Letzte, was er auf dieser Welt sah, das Gesicht eines
Freundes.
Er konnte sehen - Hayes stierte hierhin und
dorthin, als sie ihn auf den Karren hoben, und reckte verzweifelnd
suchend den Hals.
»Gabhainn! A charaid!« rief Jamie plötzlich.
Hayes’ Blick fand ihn sofort, und er mühte sich nicht länger
ab.
Der kleine Mann stand leicht schwankend da, als die
Anklage verlesen wurde: Diebstahl in Höhe von sechs Pfund, zehn
Schillingen. Er war mit rötlichem Staub bedeckt, und Schweißperlen
hingen zitternd in seinen grauen Bartstoppeln. Der Priester beugte
sich dicht zu ihm herüber und murmelte drängend in sein Ohr.
Dann setzten die Trommeln in einem gleichmäßigen
Wirbel wieder ein. Der Henker führte die Schlinge über den fast
kahlen Kopf und zog sie fest. Den Knoten positionierte er präzise
unter dem Ohr. Der Hauptmann der Wache stand mit erhobenem Säbel in
Habachtstellung.
Plötzlich richtete sich der Verurteilte zu voller
Höhe auf. Den Blick auf Jamie gerichtet, öffnete er den Mund, als
wollte er etwas sagen.
Der Säbel blitzte in der Morgensonne, und das
Trommeln endete mit einem letzten, abgehackten Schlag.
Ich sah Jamie an. Er war kalkweiß und starrte ins
Leere. Aus dem Augenwinkel sah ich das ruckende Seil und das
schwache, unwillkürliche Zucken des baumelnden Kleiderbündels. Ein
scharfer Geruch nach Urin und Fäkalien durchschnitt die dicke
Luft.
Neben mir beobachtete Fergus gelassen das
Geschehen. »Dann hat er es wohl doch gemerkt«, murmelte er mit
Bedauern.
Die Leiche schwang sacht, ein totes Gewicht, das
wie ein Senkblei an seiner Schnur baumelte. Aus der Menge erklang
ein Seufzer der Verschüchterung und Erleichterung. Seeschwalben
kreischten am brennenden Himmel, und entfernte Hafengeräusche
durchdrangen gedämpft die schwere Luft, doch der Platz war in
Schweigen gehüllt. Von meinem Platz aus konnte ich das leise
Plitsch, Platsch, Plitsch der Tropfen hören, die vom Zeh der
baumelnden Leiche fielen.
Ich hatte Gavin Hayes nicht gekannt, und sein Tod
ging mir nicht persönlich nahe, doch ich war froh, daß es schnell
gegangen war. Ich warf einen verstohlenen Blick auf ihn und fühlte
mich wie ein Störenfried. Es war eine höchst öffentliche Art, einen
ganz privaten Akt zu vollbringen, und es machte mich verlegen, ihn
anzusehen.
Der Henker hatte seine Sache gut gemacht: Es hatte
kein entwürdigendes Gezappel gegeben, keine vorquellenden Augen,
keine heraushängende Zunge. Gavins kleiner, runder Kopf war scharf
zur Seite geknickt, sein Hals war grotesk in die Länge gezogen,
doch sein Genick war glatt gebrochen.
Jemand anders dagegen war derweil ausgebrochen.
Nachdem er sich von Hayes’ Tod überzeugt hatte, gab der Hauptmann
der Wache mit seinem Säbel das Signal, den nächsten Mann zum Galgen
zu bringen. Ich sah, wie seine Augen an der rotberockten Kolonne
entlangschweiften und sich dann vor Entrüstung weiteten.
Im selben Moment erscholl ein Schrei aus der Menge,
und eine Welle der Aufregung breitete sich aus. Köpfe drehten sich,
und die Zuschauer drängten gegeneinander, um etwas zu sehen, wo es
nichts zu sehen gab.
»Weg ist er!«
»Da ist er!«
»Haltet ihn!«
Es war der dritte Gefangene, der hochgewachsene
junge Mann, der den Augenblick von Gavins Tod dazu benutzt hatte,
um sein Leben zu rennen. Er hatte sich an der Wache
vorbeigeschlichen, die auf ihn hätte aufpassen sollen, sich aber
der Faszination des Galgens nicht hatte entziehen können.
Ich sah eine kurze Bewegung hinter einer Bude, ein
Aufblitzen ungewaschener, blonder Haare. Einige der Soldaten sahen
es ebenfalls und liefen dorthin, doch viele hasteten auch in andere
Richtungen, und in der allgemeinen Verwirrung erreichten sie gar
nichts.
Der Hauptmann der Wache brüllte mit hochrotem
Gesicht, doch seine Stimme war in dem Aufruhr kaum zu hören. Der
letzte Gefangene, der ein verblüfftes Gesicht machte, wurde
ergriffen und zum
Quartier der Wache zurückverfrachtet, während die Rotröcke hastig
begannen, unter der peitschenden Stimme ihres Hauptmanns
ordentliche Aufstellung einzunehmen.
Jamie schlang seinen Arm um meine Taille und
brachte mich vor einer anrollenden Woge von Menschen in Sicherheit.
Soldatentrupps rückten an, formierten sich und marschierten
schnellen Schrittes davon, um die Umgebung unter dem grimmigen und
zornbebenden Kommando ihres Sergeanten zu durchkämmen, und die
Menge wich vor ihnen zurück.
»Wir sollten Ian suchen«, sagte Jamie, während er
eine Gruppe aufgeregter Lehrjungen verscheuchte. Er sah Fergus an
und deutete auf den Galgen und seine traurige Bürde. »Sag, daß wir
die Leiche haben wollen, aye? Wir treffen uns nachher im Willow
Tree.«
»Meinst du, sie kriegen ihn?« fragte ich, während
wir uns durch das abflauende Gedränge schoben und durch eine
kopfsteingepflasterte Gasse zu den Lagerhäusern der Handelsleute
gingen.
»Ich denke schon. Wo sollte er denn hin?« Er klang
abwesend, und ich sah eine dünne Linie zwischen seinen Augenbrauen.
Seine Gedanken waren ganz offensichtlich noch bei dem Toten, und er
hatte für die Lebenden nicht viel Aufmerksamkeit übrig.
»Hatte Hayes irgendwelche Verwandten?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
»Das habe ich ihn auch gefragt, als ich ihm den
Whisky brachte. Er meinte, einer seiner Brüder könnte noch leben,
hatte aber keine Ahnung, wo. Der Bruder war kurz nach dem Aufstand
deportiert worden - nach Virginia, meinte Hayes, hat aber seitdem
nie wieder von ihm gehört.«
Kein Wunder - ein Zwangsarbeiter hätte keine
Möglichkeit gehabt, mit seinen Verwandten in Schottland in
Verbindung zu treten, es sei denn, sein Herr war so großzügig, für
ihn einen Brief dorthin zu schicken. Und großzügig oder nicht, es
war unwahrscheinlich, daß ein solcher Brief Gavin Hayes erreicht
hätte, denn er hatte zehn Jahre im Gefängnis von Ardsmuir
verbracht, bevor er ebenfalls deportiert wurde.
»Duncan!« rief Jamie, und ein hochgewachsener,
dünner Mann drehte sich um und hob als Erwiderung seine Hand. Er
wand sich durch die Menge, wobei er sich die Leute vom Leib hielt,
indem er seinen Arm in weitem Bogen schwang.
»Mac Dubh«, sagte er und begrüßte Jamie mit einem
Kopfnicken. »Mrs. Claire.« Sein langes, schmales Gesicht war von
Traurigkeit durchfurcht. Auch er hatte als Gefangener in Ardsmuir
gesessen, zusammen
mit Hayes und Jamie. Nur die Tatsache, daß er seinen Arm durch
eine Blutvergiftung verloren hatte, hatte verhindert, daß er mit
den anderen deportiert wurde. Da man ihn nicht als Arbeiter
verkaufen konnte, hatte man ihn begnadigt und dem Hunger überlassen
- bis Jamie ihn gefunden hatte.
»Möge der arme Gavin in Frieden ruhen«, sagte
Duncan und schüttelte leidvoll den Kopf.
Jamie murmelte eine Antwort auf Gälisch und
bekreuzigte sich. Dann richtete er sich auf und schüttelte mit
sichtbarer Anstrengung die bedrückende Atmosphäre ab.
»Aye, gut. Ich muß zu den Docks gehen und Ians
Überfahrt arrangieren, und dann können wir uns um Gavins Begräbnis
kümmern. Aber erst muß ich den Jungen unterbringen.«
Wir kämpften uns durch das Gewühl zu den Docks
voran, zwängten uns zwischen Grüppchen aufgeregter Klatschmäuler
hindurch und wichen den Fuhrwerken und Handkarren aus, die mit dem
behäbigen Gleichmut von Handel und Wandel durchs Gedränge
fuhren.
Eine Reihe rotberockter Soldaten kam im Laufschritt
vom anderen Ende des Kais und zerteilte die Menge, wie wenn man
Essig auf Mayonnaise träufelt. Die Sonne glänzte heiß auf ihren
Bayonettspitzen, und der Rhythmus ihres Trotts klang im Lärmen der
Menge wie eine gedämpfte Trommel. Sogar die rumpelnden Gespanne und
Karren hielten abrupt an, um sie vorbeizulassen.
»Paß auf deine Tasche auf, Sassenach«, murmelte
Jamie mir ins Ohr und schob mich durch die enge Lücke zwischen
einem turbantragenden Sklaven, der zwei kleine Kinder umklammert
hielt, und einem Straßenprediger, der auf einer Kiste thronte. Er
schrie Sodom und Gomorrha, aber bei dem Lärm konnte man nur jedes
dritte Wort verstehen.
»Ich habe sie zugenäht«, sagte ich und griff
trotzdem nach dem kleinen Gewicht, das an meinem Oberschenkel
baumelte. »Was ist mit deiner?«
Er grinste und schob seinen Hut hoch. Seine
dunkelblauen Augen blinzelten in das gleißende Sonnenlicht.
»Die ist da, wo ich den Sporran tragen würde, wenn
ich einen hätte. So lange mir keine Hure mit langen Fingern
begegnet, kann mir nichts passieren.«
Ich blickte auf die leicht ausgebeulte Vorderseite
seiner Kniehose und sah dann zu ihm hoch. Er war breitschultrig und
hochgewachsen, und mit seinen ausgeprägten, kühnen Gesichtszügen
und der stolzen Haltung des Highlanders zog er die Blicke aller
Frauen auf
sich, an denen er vorbeiging - und das, obwohl sein leuchtendes
Haar unter einem nüchternen blauen Dreispitz verborgen war. Die
Kniehose war eine Leihgabe und viel zu eng, was den allgemeinen
Effekt nicht im geringsten minderte - und verstärkt wurde er noch
dadurch, daß er selbst sich dessen nicht bewußt war.
»Du bist eine wandelnde Einladung für Huren«, sagte
ich. »Bleib in meiner Nähe, ich beschütze dich.«
Er lachte und nahm mich beim Arm, als wir auf einen
kleinen, freien Platz hinaustraten.
»Ian!« rief er, als er seinen Neffen über die Köpfe
der Menschenmenge hinweg erblickte. Einen Augenblick später tauchte
ein hochgewachsener, sehniger Bauernlümmel aus der Menge auf, schob
sich ein braunes Haarbüschel aus den Augen und grinste breit.
»Ich dachte schon, ich würd’ dich nie finden, Onkel
Jamie!« rief er aus. »Himmel, hier gibt’s ja mehr Leute als am
Lawnmarket in Edinburgh!« Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über
sein langes, unscheinbares Gesicht und hinterließ einen
Schmutzstreifen auf der einen Wange.
Jamie beäugte seinen Neffen mißtrauisch.
»Dein Frohsinn scheint mir ein bißchen fehl am
Platz, Ian, wenn man bedenkt, daß du gerade einen Mann hast sterben
sehen.«
Ian änderte hastig seine Miene und bemühte sich,
den angemessenen Ernst an den Tag zu legen.
»O nein, Onkel Jamie«, sagte er. »Ich war nicht bei
der Hinrichtung.« Duncan zog eine Augenbraue hoch, und Ian errötete
leicht. »Ich - ich hatte keine Angst zuzuschauen, aber es war so,
ich… hatte etwas anderes vor.«
Jamie zeigte die Spur eines Lächelns und klopfte
seinem Neffen auf den Rücken.
»Mach dir keine Sorgen, Ian, ich wäre lieber auch
nicht dabeigewesen, aber Gavin war nun mal mein Freund.«
»Das weiß ich, Onkel Jamie. Tut mir leid.«
Mitgefühl blitzte in den braunen Augen des Jungen auf, das einzige
in seinem Gesicht, was man mit Fug und Recht schön nennen konnte.
Er sah mich an. »War es schlimm, Tante Claire?«
»Ja«, sagte ich. »Aber es ist vorbei.« Ich zog mir
das feuchte Taschentuch aus dem Ausschnitt und stellte mich auf die
Zehenspitzen, um ihm den Flecken von der Wange zu wischen.
Duncan Innes schüttelte traurig den Kopf. »Aye,
armer Gavin. Aber immer noch ein schnellerer Tod als Verhungern,
und etwas anderes wäre ihm kaum übriggeblieben.«
»Laßt uns gehen«, unterbrach Jamie, dem der Sinn
nicht nach nutzlosem Lamentieren stand. »Die Bonnie Mary
dürfte fast am anderen Ende des Kais liegen.« Ich sah, wie Ian
Jamie einen Blick zuwarf und sich aufrichtete, als wollte er etwas
sagen, doch Jamie hatte sich schon zum Hafen umgedreht und schob
sich durch das Gedränge. Ian sah mich an, zuckte die Achseln und
bot mir seinen Arm.
Wir folgten Jamie an den Lagerhäusern vorbei, die
die Docks säumten, und wichen dabei Matrosen, Trägern, Sklaven,
Passagieren, Käufern und Verkäufern aller Art aus.
Charleston war ein bedeutender Hafen, und das
Geschäft blühte. In einer Saison sah man dort bis zu hundert
Schiffe, die aus Europa eintrafen oder dorthin aufbrachen.
Die Bonnie Mary gehörte einem Freund von
Jamies Vetter Jared, der nach Frankreich emigriert war, um sich
dort als Weinhändler zu versuchen, und ein Vermögen verdient hatte.
Mit etwas Glück konnte man vielleicht den Kapitän der Bonnie
Mary überreden, Ian um Jareds willen mit zurück nach Edinburgh
zu nehmen, wenn er dafür als Schiffsjunge arbeitete.
Ian war von dieser Aussicht nicht begeistert, aber
Jamie war fest entschlossen, seinen auf Abwege geratenen Neffen bei
nächster Gelegenheit nach Schottland zurückzubefördern. Es war
unter anderem die Nachricht gewesen, daß die Bonnie Mary in
Charleston lag, die uns von Georgia hierhergeführt hatte. Dort
hatten wir zwei Monate zuvor - zufällig - zum ersten Mal
amerikanischen Boden betreten.
Wir kamen an einem Wirtshaus vorbei, und gerade in
diesem Moment trat eine schmuddelige Dienstmagd mit einer Schüssel
Küchenabfälle nach draußen. Sie erblickte Jamie und hielt inne,
setzte die Schüssel auf ihrer Hüfte ab, sah ihn von der Seite an
und lächelte ihn mit einem Schmollmund an. Er ging zielstrebig
weiter, ohne ihr auch nur einen Blick zu gönnen. Sie warf den Kopf
zurück, schüttete dem Schwein, das neben der Schwelle schlief, die
Essensreste hin und rauschte wieder hinein.
Er blieb stehen und hielt sich die Hand über die
Augen, um an der Reihe der hoch aufragenden Schiffsmasten
entlangzusehen. Ich stellte mich neben ihn. Er zupfte unwillkürlich
an der Vorderseite seiner engen Kniehose und ich ergriff seinen
Arm.
»Familienjuwelen noch in Sicherheit?« murmelte
ich.
»Unbequem, aber in Sicherheit«, versicherte er mir.
Er rupfte an den Schnüren seines Hosenschlitzes und zog eine
Grimasse. »Hätte sie mir aber doch besser in den Hintern gesteckt,
glaube ich.«
»Lieber du als ich«, sagte ich lächelnd. »Da
riskiere ich es doch lieber, ausgeraubt zu werden.«
Bei den Familienjuwelen handelte es sich
tatsächlich um Edelsteine. Ein Hurrikan hatte uns an die Küste von
Georgia getrieben, wo wir durchnäßt, zerlumpt und mittellos
gestrandet waren - bis auf eine Handvoll großer, wertvoller
Edelsteine.
Ich hoffte, daß der Kapitän der Bonnie Mary
Jared Fraser genügend schätzte, um Ian als Schiffsjungen zu nehmen,
denn sonst würde uns die Überfahrt in Schwierigkeiten
bringen.
Theoretisch enthielten Jamies und meine Taschen ein
beträchtliches Vermögen. Praktisch nutzten uns die Steine nicht
mehr als Strandkiesel. Edelsteine waren zwar eine gute Lösung, wenn
man Reichtum transportieren wollte, doch war es ein Problem, sie
wieder zu Geld zu machen.
Die meisten Geschäfte in den südlichen Kolonien
liefen über Tauschhandel ab, und der Rest funktionierte entweder
über Interimsscheine oder Wechsel, die auf einen reichen Kaufmann
oder Bankier ausgestellt waren. Und reiche Bankiers waren in
Georgia nicht gerade dicht gesät, schon gar nicht solche, die daran
interessiert waren, ihr verfügbares Kapital in Edelsteinen
anzulegen. Der wohlhabende Reisfarmer in Savannah, der uns
aufgenommen hatte, hatte uns versichert, er selbst könne keine zwei
Pfund Sterling in bar zusammenkratzen - wahrscheinlich existierten
in der ganzen Kolonie keine zehn Pfund in Gold oder Silber.
Und natürlich hatte sich auch in den endlosen
Marschlandschaften und Kiefernwäldern, durch die wir auf unserem
Weg nach Norden gekommen waren, keine Gelegenheit ergeben, einen
der Steine zu verkaufen. Charleston war die erste Stadt an unserem
Weg, die groß genug war, um Kaufleute und Bankiers zu beherbergen,
die uns vielleicht helfen konnten, einen Teil unserer eingefrorenen
Vermögenswerte zu liquidieren.
Wobei es eigentlich unwahrscheinlich war, daß in
Charleston im Sommer irgend etwas lange gefroren blieb, dachte ich.
Der Schweiß lief mir in Rinnsalen den Hals herunter, und das
Leinenhemd unter meinem Mieder lag durchnäßt und zerknittert auf
meiner Haut. Selbst so nah am Hafen wehte zu dieser Tageszeit kein
Wind, und die Gerüche von heißem Teer, totem Fisch und schwitzenden
Arbeitern waren nahezu überwältigend.
Trotz ihrer Proteste hatte Jamie darauf bestanden,
Mr. und Mrs. Olivier einen unserer Edelsteine als Dank für ihre
Gastfreundschaft zu schenken, denn sie waren so großzügig gewesen,
uns aufzunehmen,
als wir quasi vor ihrer Haustür Schiffbruch erlitten. Dafür hatten
sie uns mit einem Wagen, zwei Pferden, frischer Reisekleidung,
Proviant für den Weg nach Norden und einem kleinen Geldbetrag
ausgestattet.
Davon hatte ich noch sechs Schillinge und drei
Pennies in meiner Tasche, die unsere gesamte Barschaft
darstellten.
»Da lang, Onkel Jamie«, sagte Ian. Er drehte sich
um und gestikulierte seinem Onkel lebhaft zu. »Ich hab’ was, was
ich dir zeigen muß.«
»Was denn?« fragte Jamie, während er sich seinen
Weg durch eine Kette schwitzender Sklaven bahnte, die gerade
staubige Blöcke aus getrocknetem Indigo auf ein vor Anker liegendes
Frachtschiff verluden. »Und wie bist du daran gekommen, was immer
es ist? Du hast doch kein Geld, oder?«
»Nein, ich hab’ beim Würfeln gewonnen«, kam Ians
Stimme angeweht, während sein Körper von einer Wagenladung Mais
verdeckt wurde.
»Beim Würfeln! Ian, um Himmels willen, du kannst
dich doch nicht auf Glücksspiele einlassen, wenn du keinen Penny
besitzt.« Jamie hielt meinen Arm fest und schob sich durch die
Menschenmenge, um seinen Neffen einzuholen.
»Das machst du doch auch dauernd, Onkel Jamie«,
wandte der Junge ein und blieb stehen, um auf uns zu warten. »Du
hast es in jedem Wirtshaus und jedem Gasthof getan, in dem wir Rast
gemacht haben.«
»Mein Gott, Ian, ich habe Karten gespielt, nicht
Würfel. Und ich weiß, was ich tue.«
»Ich auch«, sagte Ian und setzte eine überlegene
Miene auf. »Ich hab’ gewonnen, oder?«
Jamie verdrehte die Augen und flehte um
Geduld.
»Himmel, Ian, bin ich vielleicht froh, daß du
heimfährst, bevor dir jemand den Schädel einschlägt. Versprich mir,
daß du nicht mit den Matrosen spielst, aye? Auf dem Schiff kannst
du ihnen nicht entkommen.«
Ian hörte ihm nicht zu. Er war an einem
halbzerfallenen Pfosten angekommen, um den ein fester Strick
gebunden war. Er blieb stehen, wandte sich uns zu und deutete auf
etwas zu seinen Füßen.
»Na? Es ist ein Hund.«
Ich trat schnell hinter Jamie und griff nach seinem
Arm
»Ian«, sagte ich. »Das ist kein Hund. Es ist ein
Wolf. Es ist ein verdammt großer Wolf, und ich finde, du
solltest weggehen, bevor er dich in den Hintern beißt.«
Der Wolf stellte nachlässig ein Ohr in meine
Richtung auf, befand
mich für uninteressant und legte das Ohr wieder an. Vor Hitze
hechelnd, saß er da und hielt seine großen, gelben Augen mit einer
Intensität auf Ian gerichtet, die jeder, der noch nie einem Wolf
begegnet war, für Hingabe gehalten hätte. Ich war schon einmal
einem Wolf begegnet.
»Diese Viecher sind gefährlich«, sagte ich. »Sie
beißen schneller, als du denkst.«
Jamie ignorierte das und bückte sich, um das Tier
in Augenschein zu nehmen.
»Es ist kein richtiger Wolf, oder?« Er klang
interessiert und hielt dem sogenannten Hund eine Faust hin, um ihn
an seinen Knöcheln schnuppern zu lassen. Ich schloß die Augen und
machte mich auf die bevorstehende Amputation seiner Hand gefaßt. Da
die Schreie ausblieben, öffnete ich sie wieder und sah, daß er auf
dem Boden hockte und dem Tier in die Nasenlöcher schaute.
»Das ist ein Prachtkerl, Ian«, sagte er und kraulte
das Vieh vertraulich unter dem Kinn. Die gelben Augen verengten
sich leicht, vielleicht, weil das Tier die Aufmerksamkeit genoß,
vielleicht aber auch - was ich für wahrscheinlicher hielt - weil es
sich schon darauf freute, Jamie die Nase abzubeißen. »Ist aber
größer als ein Wolf; hat einen breiteren Kopf und Brustkorb und
etwas längere Beine.«
»Seine Mutter war eine Irische Wolfshündin.« Ian
kauerte neben Jamie und erklärte begeistert, während er den enormen
graubraunen Rücken streichelte. »Sie hat sich in den Wald
davongemacht, als sie läufig war, und als sie trächtig zurückkam
-«
»Oh, aye, ich verstehe.« Jetzt turtelte Jamie auf
Gälisch mit dem Monster, hob seine riesige Pfote hoch und spielte
mit seinen behaarten Zehen. Die gebogenen schwarzen Krallen waren
gut fünf Zentimeter lang. Das Vieh schloß halb die Augen, und der
leichte Luftzug zerzauste ihm die dichten Nackenhaare.
Ich sah zu Duncan hinüber, der die Augenbrauen
hochzog, fast unmerklich mit den Achseln zuckte und seufzte. Duncan
machte sich nichts aus Hunden.
»Jamie -«, sagte ich.
»Balach boidheach«, sagte Jamie zu dem Wolf.
»Ja, bist du denn mein Hübscher?«
»Was würde er fressen?« fragte ich, etwas lauter
als notwendig.
Jamie hörte auf, das Tier zu liebkosen.
»Oh«, sagte er. Er betrachtete das gelbäugige Vieh
mit beträchtlichem Bedauern. »Tja.« Er erhob sich und schüttelte
widerstrebend den Kopf.
»Ich fürchte, deine Tante hat recht, Ian. Womit
sollen wir ihn füttern?«
»Ach, das ist kein Problem, Onkel Jamie«,
versicherte Ian ihm. »Er jagt für sich selbst.«
»Hier?« Ich ließ meinen Blick über die Lagerhäuser
und die stuckverzierte Ladenzeile dahinter schweifen. »Was jagt er
denn, Kleinkinder?«
Ian sah ein bißchen beleidigt aus.
»Natürlich nicht, Tante Claire. Fische.«
Angesichts der drei skeptischen Gesichter, die ihn
umringten, fiel Ian auf die Knie, ergriff die Schnauze des Tieres
mit beiden Händen und zog sie auf.
»Ehrlich! Ich schwöre es, Onkel Jamie! Hier, riech
mal seinen Atem!«
Jamie bedachte die zur Schau gestellte Doppelreihe
eindrucksvoll glänzender Fänge mit einem verzweifelten Blick und
rieb sich das Kinn.
»Ich - äh, ich glaube dir, Ian. Aber trotzdem - um
Himmels willen, paß auf deine Finger auf, Junge!« Ian hatte seinen
Griff gelockert, und die massiven Kiefer schnappten zu und
versprühten Speicheltropfen über die Kaimauer.
»Alles in Ordnung, Onkel Jamie«, sagte Ian fröhlich
und wischte sich die Hand an seiner Kniehose ab. »Er würde mich
nicht beißen, da bin ich mir sicher. Er heißt Rollo.«
Jamie rieb sich mit den Fingerknöcheln über die
Oberlippe.
»Mmpf. Tja, egal, wie er heißt und was er frißt,
ich glaube nicht, daß der Kapitän der Bonnie Mary über seine
Anwesenheit im Mannschaftsquartier besonders begeistert
wäre.«
Ian sagte nichts, doch der frohe Ausdruck
verschwand nicht aus seinem Gesicht. Er wurde eher noch stärker.
Jamie sah ihn an, bemerkte sein leuchtendes Gesicht und
erstarrte.
»Nein«, sagte er entsetzt. »Oh nein.«
»Doch«, sagte Ian. Ein breites, überglückliches
Lächeln breitete sich auf seinem hageren Gesicht aus. »Sie ist vor
drei Tagen abgesegelt, Onkel Jamie. Wir sind zu spät
gekommen.«
Jamie sagte etwas auf Gälisch, das ich nicht
verstand. Duncan machte ein schockiertes Gesicht.
»Verdammt!« sagte Jamie, indem er wieder ins
Englische wechselte. »Verflucht noch mal!« Jamie nahm seinen Hut ab
und rieb sich fest mit der Hand über das Gesicht. Er sah erhitzt,
zerzaust und durch und durch verärgert aus. Er machte den Mund auf,
überlegte es sich wieder anders, schluckte das, was er beinahe
gesagt hätte, hinunter
und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, wobei er das
Haarband losriß, das sie zusammenhielt.
Ian machte ein verlegenes Gesicht.
»Tut mir leid, Onkel Jamie. Ich werde versuchen,
dir keinen Kummer zu machen, ehrlich. Und ich kann arbeiten, ich
werd’ genug für mein Essen verdienen.«
Jamies Gesichtsausdruck wurde weicher, als er
seinen Neffen ansah. Er seufzte tief und klopfte Ian auf die
Schulter.
»Es ist nicht so, daß ich dich nicht dabeihaben
möchte, Ian. Du weißt, daß mir nichts lieber wäre, als dich
hierzubehalten. Aber was zum Teufel wird deine Mutter sagen?«
Das Leuchten kehrte in Ians Gesicht zurück.
»Ich hab’ keine Ahnung, Onkel Jamie«, sagte er.
»Aber sie wird es in Schottland sagen, oder? Und wir sind hier.« Er
legte seine Arme um Rollo und drückte ihn. Der Wolf schien etwas
verwirrt über die Geste, doch einen Augenblick später rollte er
seine lange, rosafarbene Zunge aus und leckte Ian genüßlich am Ohr.
Eine kleine Kostprobe, dachte ich zynisch.
»Außerdem«, fügte der Junge hinzu, »weiß sie ganz
genau, daß ich in Sicherheit bin - du hast ihr aus Georgia
geschrieben, daß ich bei dir bin.«
Jamie brachte ein trockenes Lächeln zustande.
»Ich glaube nicht, daß dieses Wissen sie übermäßig
beruhigen wird, Ian. Sie kennt mich schon ziemlich lange,
aye?«
Er seufzte und klatschte sich den Hut wieder auf
den Kopf.
»Ich muß dringend etwas trinken, Sassenach«, sagte
er. »Laß uns dieses Wirtshaus suchen.«
Im Willow Tree war es dunkel, und es hätte kühl
sein können, wenn weniger Gäste dagewesen wären. Doch die Tische
und Bänke waren mit Zaungästen von der Hinrichtung und Seeleuten
von den Docks besetzt, und es herrschte eine Atmosphäre wie in
einem Dampfbad. Ich holte Luft, als ich in den Schankraum trat, und
atmete schnell wieder aus. Es war, als atmete man durch ein Stück
biergetränkte Schmutzwäsche.
Rollo stellte unverzüglich seinen Wert unter Beweis
und zerteilte die Menge wie das Rote Meer, als er durch den
Schankraum schlich, die Zähne zu einem konstanten, lautlosen
Knurren entblößt. Kneipen waren ihm offenbar nicht neu. Nachdem er
erfolgreich eine Eckbank für uns geräumt hatte, rollte er sich
unter dem Tisch zusammen, und es sah so aus, als schliefe er
ein.
Jetzt, wo Jamie der Sonne nicht mehr ausgesetzt war
und ein großer Zinnkrug mit dunklem Ale sanft schäumend vor ihm
stand, erlangte er schnell wieder seine übliche
Selbstbeherrschung.
»Wir haben nur zwei Möglichkeiten«, sagte er und
strich sich das schweißnasse Haar aus den Schläfen. »Wir können so
lange in Charleston bleiben, bis wir vielleicht einen Käufer für
einen der Steine finden und wir möglicherweise auf einem anderen
Schiff Ians Überfahrt nach Schottland buchen können. Oder wir
können uns nach Norden zum Cape Fear durchschlagen und vielleicht
in Wilmington oder New Bern ein Schiff für ihn finden.«
»Ich bin für den Norden«, sagte Duncan, ohne zu
zögern. »Du hast doch Verwandte in Cape Fear, oder? Mir gefällt die
Vorstellung nicht, zu lange unter Fremden zu bleiben. Und deine
Verwandtschaft würde dafür sorgen, daß wir nicht übers Ohr gehauen
oder ausgeraubt werden. Hier -« Er zog die Schulter zu einer Geste
hoch, die alles über die unschottischen - und damit automatisch
unehrlichen - Menschen um uns herum sagte.
»Ach ja, laß uns nach Norden gehen, Onkel Jamie!«
sagte Ian schnell, bevor Jamie antworten konnte. Er wischte sich
mit dem Ärmel einen kleinen Schnurrbart aus Bierschaum ab. »Die
Reise könnte gefährlich werden; du brauchst bestimmt einen
zusätzlichen Mann zum Schutz, aye?«
Jamie vergrub seine Miene in seinem Becher, aber
ich saß nah genug bei ihm, um zu spüren, wie ihn ein Zittern
überlief. Jamie hatte seinen Neffen wirklich herzlich gern. Was
aber nichts daran änderte, daß Ian zu der Sorte Menschen gehörte,
die das Mißgeschick anzieht. Normalerweise konnte er nichts dafür,
aber es passierte dennoch einfach immer wieder.
Im Jahr zuvor war der Junge von Piraten entführt
worden, und weil wir ihn retten mußten, waren wir auf
verschlungenen und oftmals gefährlichen Wegen nach Amerika
gekommen. In letzter Zeit war nichts vorgefallen, aber ich wußte,
daß Jamie darauf brannte, seinen fünfzehnjährigen Neffen zurück
nach Schottland und zu seiner Mutter zu schicken, bevor es dazu
kam.
»Äh… um ehrlich zu sein, Ian«, sagte Jamie und
senkte seinen Becher. Er achtete sorgfältig darauf, meinem Blick
auszuweichen, doch ich sah, wie sein Mundwinkel zuckte. »Du wärst
bestimmt eine große Hilfe, aber…«
»Vielleicht treffen wir ja auf Indianer!« sagte Ian
mit weit aufgerissenen Augen. Sein Gesicht, das sowieso schon von
der Sonne rosigbraun gefärbt war, glühte jetzt rot vor wohliger
Vorfreude. »Oder
wilde Tiere! Dr. Stern hat mir gesagt, daß die Wildnis von
Carolina vor Raubtieren nur so wimmelt - Bären und Wildkatzen und
hinterlistige Panther - und große, widerwärtige Bestien, die die
Indianer Skunks nennen!«
Ich verschluckte mich an meinem Ale.
»Alles in Ordnung, Tante Claire?« Ian beugte sich
besorgt über den Tisch.
»Bestens«, keuchte ich und wischte mir das
triefende Gesicht mit meinem Halstuch ab. Ich tupfte mir die
verschütteten Biertropfen aus dem Ausschnitt und lüpfte unauffällig
den Stoff meines Mieders, um vielleicht etwas Luft
hereinzulassen.
Dann sah ich Jamies Gesicht, in dem der Ausdruck
unterdrückter Belustigung einem leichten, besorgten Stirnrunzeln
gewichen war.
»Skunks sind nicht gefährlich«, murmelte ich und
legte eine Hand auf sein Knie. In seiner Heimat, dem schottischen
Hochland, war Jamie ein erfahrener Jäger, doch genau deshalb neigte
er auch dazu, sich der unbekannten Fauna der Neuen Welt mit
Vorsicht zu nähern.
»Mmpf.« Das Stirnrunzeln ließ nach, doch eine
schmale Falte blieb zwischen seinen Augenbrauen stehen. »Mag sein,
aber was ist mit dem Rest? Ich kann nicht behaupten, daß ich gern
einem Bären oder einem Haufen Wilder begegnen würde, wenn ich nur
das hier in der Hand habe.« Er berührte das große Messer, das in
einer Scheide an seinem Gürtel hing.
Unser Mangel an Waffen hatte Jamie schon in Georgia
große Sorgen gemacht, und Ians Bemerkungen über Indianer und wilde
Tiere hatten ihm diese Sorge wieder zu Bewußtsein gebracht. Neben
Jamie trug nur noch Fergus eine kleinere Klinge, mit der man
Stricke zerschneiden und Zweige zu Zunder stutzen konnte. Das war
unser ganzes Arsenal - die Oliviers hatten weder Pistolen noch
Schwerter entbehren können.
Von Georgia nach Charleston waren wir in
Gesellschaft einer Gruppe von Reis- und Indigofarmern gereist -
alle bis an die Zähne mit Messern, Pistolen und Musketen bewaffnet
-, die ihre Erzeugnisse zum Hafen brachten, von wo aus sie in den
Norden, nach Pennsylvania und New York verschifft werden sollten.
Wenn wir jetzt nach Cape Fear aufbrachen, würden wir allein sein,
unbewaffnet und allem, was aus den dichten Wäldern auftauchen
mochte, mehr oder weniger hilflos ausgeliefert.
Gleichzeitig gab es jedoch triftige Gründe, nach
Norden zu reisen, und unser Mangel an verfügbarem Kapital war einer
davon. Am Cape Fear war die größte Ansiedlung schottischer
Highlander in den
amerikanischen Kolonien, und es gab dort mehrere Städte, deren
Einwohner infolge des Umbruchs nach Culloden während der letzten
zwanzig Jahre aus Schottland emigriert waren. Unter diesen
Emigranten befanden sich Verwandte von Jamie, und ich wußte, daß
sie uns bereitwillig Zuflucht gewähren würden: ein Dach über dem
Kopf, ein Bett und Zeit, um in dieser neuen Welt Fuß zu
fassen.
Jamie trank noch einen Schluck und nickte Duncan
zu.
»Ich kann nur sagen, ich bin deiner Meinung,
Duncan.« Er lehnte sich an die Wand und schaute sich unauffällig im
Raum um. »Spürst du die Blicke in deinem Rücken nicht?«
Es lief mir kalt den Rücken hinunter, ungeachtet
der Schweißtropfen, die sich auf demselben Weg befanden. Duncans
Augen weiteten sich um einen Bruchteil und verengten sich dann
wieder, doch er drehte sich nicht um.
»Ah«, sagte er.
»Welche Blicke?« fragte ich und sah mich ziemlich
nervös um. Mir fiel niemand auf, der uns besonders zu beachten
schien, aber vielleicht wurden wir ja verstohlen beobachtet - das
Wirtshaus war eine einzige alkoholgetränkte Menschenmenge, und das
Stimmengewirr war laut genug, um jede weiter entfernte Unterhaltung
zu übertönen.
»Alle möglichen, Sassenach«, antwortete Jamie. Er
warf mir einen Seitenblick zu und lächelte. »Jetzt mach nicht so
ein ängstliches Gesicht, ja? Wir sind nicht in Gefahr. Hier
nicht.«
»Noch nicht«, sagte Innes. Er beugte sich vor, um
sich nachzuschenken. »Mac Dubh hat Gavin am Galgen gerufen. Es wird
Leute geben, die sich das gemerkt haben - wo doch Mac Dubh so eine
unauffällige Erscheinung ist«, fügte er trocken hinzu.
»Und die Bauern, die mit uns aus Georgia gekommen
sind, haben ihre Waren inzwischen bestimmt verkauft und erholen
sich an Orten wie diesem hier«, sagte Jamie und studierte scheinbar
gebannt das Muster auf seinem Becher. »Lauter ehrliche Männer -
aber sie werden den Mund nicht halten, Sassenach. Es ist doch eine
tolle Geschichte, oder? Die Leute, die vom Hurrikan angeweht
wurden. Und wie stehen die Chancen, daß mindestens einer von ihnen
ahnt, was wir bei uns tragen?«
»Ich verstehe«, murmelte ich, und so war es auch.
Wir hatten öffentliche Aufmerksamkeit erregt, weil wir mit einem
Verbrecher in Verbindung standen, also gingen wir nicht länger als
unauffällige Reisende durch. Wenn es länger dauerte, einen Käufer
zu finden, und das war wahrscheinlich, liefen wir Gefahr,
skrupelloses Gesindel zum
Diebstahl einzuladen oder von den englischen Behörden überprüft zu
werden. Keine dieser Aussichten war verlockend.
Jamie hob den Becher und tat einen tiefen Zug, dann
stellte er ihn mit einem Seufzer hin.
»Nein. Ich denke, es ist wohl nicht klug, hier in
der Stadt zu bleiben. Wir sorgen dafür, daß Gavin ordentlich
beerdigt wird, und dann suchen wir uns einen sicheren Platz zum
Schlafen draußen in den Wäldern. Morgen können wir dann
entscheiden, ob wir bleiben oder weiterfahren.«
Der Gedanke, erneut mehrere Nächte in den Wäldern
zu verbringen - egal, ob mit oder ohne Skunks - war nicht
verlockend. Ich hatte mir seit acht Tagen das Kleid nicht
ausgezogen und nur die erreichbaren Körperteile gewaschen, wenn wir
an einem Bach gerastet hatten.
Ich hatte mich auf ein richtiges Bett gefreut,
selbst wenn es voller Flöhe war, und auf die Gelegenheit, mir den
Dreck der letzten Woche abzuschrubben. Doch er hatte recht. Ich
seufzte und betrachtete den Saum meines Ärmels, der vom Tragen grau
und schmierig war.
Da flog plötzlich die Wirtshaustür auf und riß mich
aus meinen Gedanken. Vier rotberockte Soldaten drängten sich in den
überfüllten Raum. Sie trugen Uniform, hatten die Bajonette ihrer
Musketen aufgepflanzt und waren offensichtlich nicht zum Würfeln
oder Trinken hier.
Zwei der Soldaten machten eine schnelle Runde durch
den Raum und sahen unter die Tische, während ein anderer in der
Küche verschwand. Der vierte blieb als Wache an der Tür stehen und
musterte die Menge mit flinken, blassen Augen. Sein Blick traf
unseren Tisch und ruhte einen Augenblick spekulierend auf uns, doch
dann wanderte er weiter, unablässig auf der Suche.
Jamie war äußerlich ruhig und trank scheinbar
unbeirrt sein Ale, doch ich sah, wie sich die Hand in seinem Schoß
langsam zur Faust ballte. Duncan, der seine Gefühle weniger im Zaum
halten konnte, senkte den Kopf, um seinen Gesichtsausdruck zu
verbergen. Keiner von beiden würde die Gegenwart eines Rotrockes
jemals ohne Beklommenheit ertragen können, und das aus gutem
Grund.
Außer uns schien die Anwesenheit der Soldaten
niemanden sonderlich zu beunruhigen. Der kleine Gesangsverein in
der Kaminecke setzte seine endlose Version von »Fill Every Glass«
fort, und die Kellnerin fing einen lauten Streit mit zwei
Lehrlingen an.
Der Soldat kam aus der Küche zurück, offensichtlich
ohne etwas gefunden zu haben. Er stapfte mitten durch die
Würfelrunde am Kamin
und schloß sich dann seinen Kameraden an der Tür wieder an. Just
als sich die Soldaten aus der Wirtschaft schoben, quetschte sich
Fergus’ schmale Gestalt herein und drückte sich gegen den
Türpfosten, um den Ellbogen und Musketenkolben auszuweichen.
Ich sah, wie ein Soldat das Blitzen des Metalls
bemerkte und interessiert den Haken betrachtete, den Fergus
anstelle seiner fehlenden linken Hand trug. Er blickte Fergus
scharf an, schulterte dann aber seine Muskete und eilte seinen
Kameraden nach.
Fergus schob sich durch die Menge und ließ sich
neben Ian auf die Bank fallen. Er sah erhitzt und verärgert
aus.
»Blutsaugender salaud«, sagte er
unvermittelt.
Jamies Augenbrauen gingen in die Höhe.
»Der Priester«, erläuterte Fergus. Er nahm den
Becher entgegen, den Ian ihm hinschob, und leerte ihn gierig. Er
stellte ihn ab, atmete schwer aus, blinzelte und sah merklich
glücklicher aus. Er seufzte und wischte sich den Mund ab.
»Er will zehn Schillinge, wenn er den Mann im
Kirchhof beerdigen soll«, sagte er. »Natürlich eine anglikanische
Kirche, hier gibt es keine katholischen Kirchen. Der elende
Wucherer! Er weiß, daß wir keine Wahl haben. Die Leiche wird sich
ja kaum bis zum Sonnenuntergang halten.« Er fuhr mit dem Finger
unter seine Halsbinde und zog sich das schweißzerknitterte
Baumwolltuch vom Hals, dann knallte er mehrfach die Faust auf den
Tisch, um die Aufmerksamkeit der Bedienung zu erregen, die dem
Ansturm der Gäste kaum gewachsen war.
»Ich habe dem fetten Schwein gesagt, daß Ihr
entscheiden werdet, ob wir das bezahlen oder nicht. Wir könnten ihn
schließlich einfach im Wald begraben. Obwohl wir dann einen Spaten
kaufen müßten«, fügte er stirnrunzelnd hinzu. »Diese raffgierigen
Leute hier wissen, daß wir Fremde sind; sie werden uns bis auf den
letzten Penny ausnehmen, wenn sie können.«
Der letzte Penny kam der Wahrheit gefährlich nahe.
Ich hatte gerade genug, um hier eine anständige Mahlzeit zu
bezahlen und ein paar Lebensmittel für den Weg nach Norden zu
kaufen; vielleicht genug für ein paar Übernachtungen. Das war
alles. Ich sah, wie Jamie sich rasch umblickte und die Möglichkeit
abschätzte, beim Hasard-oder Kartenspiel an ein bißchen Geld zu
kommen.
Soldaten und Seeleute boten die besten
Voraussetzungen zum Spielen, doch beide Gruppen waren im Schankraum
nicht besonders zahlreich vertreten. Wahrscheinlich durchsuchte der
Großteil der Garnison immer noch die Stadt nach dem Flüchtling. In
einer Ecke
vergnügte sich eine kleine Gruppe von Männern lauthals bei
mehreren Krügen Brandy. Zwei von ihnen sangen oder versuchten es
zumindest, und ihre Bemühungen verursachten große Heiterkeit bei
ihren Kameraden. Jamie nickte fast unmerklich bei ihrem Anblick und
wandte sich wieder an Fergus.
»Was hast du in der Zwischenzeit mit Gavin
gemacht?« fragte Jamie. Fergus zog eine Schulter hoch.
»Ihn in den Wagen gelegt. Ich habe seine Kleider
bei einer Lumpenhändlerin gegen ein Leichentuch eingetauscht, und
als Teil der Abmachnung war sie bereit, ihn zu waschen. Keine
Sorge, Milord, er ist vorzeigbar. Noch«, fügte er hinzu und hob den
frischen Bierkrug an die Lippen.
»Armer Gavin.« Duncan Innes hob seinen Becher zum
Gedenken an den gefallenen Kameraden.
»Slàinte«, antwortete Jamie und hob
ebenfalls den Becher. Dann stellte er ihn hin und seufzte.
»Er würde nicht wollen, daß man ihn im Wald
beerdigt«, sagte er.
»Warum nicht?« fragte ich neugierig. »Ich kann mir
nicht vorstellen, daß es eine Rolle für ihn spielt, so oder
so.«
»O nein, das dürfen wir nicht, Mrs. Claire.« Duncan
schüttelte energisch den Kopf. Duncan war normalerweise ein sehr
zurückhaltender Mann, und ich war überrascht, daß er so viel Gefühl
zeigte.
»Er hatte Angst im Dunkeln«, sagte Jamie leise. Ich
starrte ihn an, und er lächelte mich schief an. »Ich hab’ mit Gavin
Hayes fast so lange zusammengelebt, wie mit dir, Sassenach - und
auf sehr viel engerem Raum. Ich habe ihn gut gekannt.«
»Aye, er hatte Angst davor, im Dunkeln allein zu
sein«, fiel Duncan ein. »Er hatte eine höllische Angst vor den
tannagach - vor Geistern, aye?«
Der Ausdruck seines langen, kummervollen Gesichtes
war nach innen gewandt, und ich wußte, daß er in Gedanken die
Gefängniszelle vor sich sah, die er und Jamie drei Jahre lang mit
Gavin Hayes geteilt hatten - und mit vierzig anderen Männern.
»Erinnerst du dich, Mac Dubh, wie er uns eines Nachts von dem
tannasq erzählt hat, dem er begegnet ist?«
»O ja, Duncan, und ich wünschte, ich hätte es
vergessen.« Jamie erschauerte trotz der Hitze. »Ich habe die halbe
Nacht wachgelegen, nachdem er uns die Geschichte erzählt
hatte.«
»Wie ging sie denn, Onkel Jamie?« Ian beugte sich
mit großen Augen über sein Ale. Seine Wangen waren gerötet und
schweißnaß, seine Halsbinde zerknittert vor Feuchtigkeit.
Jamie rieb sich den Mund und überlegte.
»Ah. Nun, es war eines Abends im kalten Spätherbst
in den Highlands, um die Zeit, wenn die Jahreszeit wechselt und die
Luft einem verrät, daß der Boden am nächsten Morgen mit Reif
überzogen sein wird«, sagte er. Er machte es sich auf seinem Sitz
bequem und lehnte sich zurück, den Bierkrug in der Hand. Er
lächelte ironisch und zupfte sich am Hals. »Nicht so wie jetzt,
aye? Also, Gavins Sohn trieb an dem Abend die Kühe heim, aber eine
fehlte - der Junge hatte sämtliche Hügel und Senken abgesucht,
konnte sie aber nirgends finden. Also ließ Gavin den Jungen die
beiden anderen melken und zog selber los, um die verlorene Kuh zu
suchen.«
Er drehte den Zinnbecher langsam zwischen seinen
Händen und starrte in das dunkle Ale, als sähe er darin die
nachtschwarzen schottischen Gipfel und den Nebel, der durch die
herbstlichen Täler schwebte.
»Er lief ein ganzes Stück, und die Kate hinter ihm
verschwand. Als er sich umsah, konnte er das Licht im Fenster nicht
mehr sehen, und um ihn war nichts als das Heulen des Windes. Es war
kalt, aber er ging weiter, stapfte durch Heide und Morast, und
unter seinen Stiefeln hörte er Eis brechen.
Er sah einen kleinen Hain im Nebel, und weil er
dachte, die Kuh hätte vielleicht unter den Bäumen Schutz gesucht,
ging er dorthin. Er sagte, es waren kahle Birken, doch ihre Zweige
waren so zusammengewachsen, daß er sich bücken mußte, um darunter
durchzupassen.
Er trat in den Hain und sah, daß es gar keiner war,
sondern ein Kreis von Bäumen. Sehr große Bäume standen in
regelmäßigen Abständen um ihn herum, und kleinere Schößlinge
wuchsen dazwischen und bildeten eine Wand aus Zweigen. Und in der
Mitte des Kreises war ein Hügelgrab.«
Trotz der Hitze in der Wirtschaft fühlte ich mich
doch, als sei mir ein Eissplitter an der Wirbelsäule
heruntergeglitten. Ich hatte in den Highlands solche uralten
Hügelgräber gesehen und fand sie schon bei Tageslicht unheimlich
genug.
Jamie trank einen Schluck Ale und wischte sich
einen Schweißtropfen weg, der ihm die Schläfe herunterlief.
»Er fühlte sich ziemlich merkwürdig, unser Gavin.
Denn er kannte die Stelle - jeder kannte sie und hielt sich von ihr
fern. Es war seltsam dort. Und in der Kälte und Dunkelheit kam es
ihm noch schlimmer vor als bei Tageslicht. Es war ein altes
Hügelgrab mit einem Fundament aus großen Felsplatten, auf die man
Steine gehäuft hatte, und vor sich sah er die schwarze Öffnung der
Grabkammer.
Er wußte, daß man diesen Ort auf keinen Fall
betreten sollte, vor allem nicht ohne Amulett. Gavin trug nur ein
Holzkreuz um den Hals. Also bekreuzigte er sich damit und wandte
sich zum Gehen.«
Jamie hielt inne und trank einen Schluck Ale.
»Doch als Gavin aus dem Hain heraustrat«, sagte er
leise, »hörte er hinter sich Schritte.«
Ich sah, wie sich der Adamsapfel in Ians Kehle auf
und ab bewegte. Er griff mechanisch nach seinem Becher, die Augen
gebannt auf seinen Onkel gerichtet.
»Er blickte nicht hinter sich«, fuhr Jamie fort,
»sondern ging weiter. Und die Schritte hielten mit ihm mit, Schritt
für Schritt folgten sie ihm. Dann kam er im Torfmoor an eine
Stelle, wo Wasser hochquoll, und weil es so kalt war, war dort eine
Eiskruste. Er hörte den Torf unter seinen Füßen knacken und hinter
sich das Krack! Krack! zerbrechenden Eises.
Er ging weiter und weiter durch die kalte, dunkle
Nacht und hielt Ausschau nach dem Licht der Kerze, die seine Frau
ins Fenster gestellt hatte. Aber das Licht zeigte sich nicht, und
er begann zu befürchten, daß er sich in der Heide und den dunklen
Hügeln verlaufen hatte. Und die ganze Zeit hielten die Schritte mit
ihm mit und hallten in seinen Ohren.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus, ergriff das
Kreuz um seinen Hals und schwang sich mit einem lauten Schrei
herum, um sich dem Verfolger - wer immer es war - zu
stellen.«
»Was hat er gesehen?« Ians Pupillen waren geweitet,
dunkel vom Alkohol und vor Staunen. Jamie sah den Jungen an und
nickte dann Duncan zu, den Faden der Geschichte aufzunehmen.
»Er sagte, es war eine Gestalt wie ein Mann, nur
ohne Körper«, sagte Duncan ruhig. »Ganz weiß, als wäre sie aus
Nebel gemacht. Aber mit Riesenlöchern, wo die Augen hätten sein
sollen, schwarz und leer, so daß es ihm vor Schrecken fast die
Seele aus dem Leib zog.«
»Aber Gavin hielt sich das Kreuz vors Gesicht und
betete laut zur Jungfrau Maria.« Jamie übernahm wieder,
konzentriert nach vorn gebeugt, und der gedämpfte Feuerschein
umrandete sein Profil mit Gold. »Und das Wesen kam nicht näher,
sondern blieb, wo es war, und beobachtete ihn.
Und so begann er, rückwärts zu gehen, weil er sich
nicht traute, sich wieder umzudrehen. Er ging rückwärts, stolperte
und rutschte aus, fürchtete, er könnte jeden Moment in einen Bach
oder von einem Abhang stürzen und sich den Hals brechen, doch er
fürchtete sich noch mehr davor, dem kalten Wesen den Rücken
zuzukehren.
Er konnte nicht sagen, wie lange er so gegangen
war, nur, daß seine Beine vor Schwäche zitterten, als er endlich
ein Licht im Nebel erblickte, und das war seine Kate mit der Kerze
im Fenster. Er tat einen Freudenschrei und wandte sich der Tür zu,
aber das kalte Wesen war schneller und schlüpfte an ihm vorbei, um
sich zwischen ihn und die Tür zu stellen.
Seine Frau hatte nach ihm Ausschau gehalten, und
als sie seinen Schrei hörte, kam sie sofort an die Tür. Gavin rief
ihr zu, sie sollte nicht herauskommen, sondern um Himmels willen
ein Amulett gegen den tannasq holen. Blitzschnell zog sie
den Nachttopf unter ihrem Bett hervor und griff nach einem
Myrtenzweig, den sie mit rotem und schwarzem Garn umwunden hatte,
um die Kühe zu segnen. Sie bespritzte die Türpfosten mit Wasser,
und das kalte Wesen sprang in die Höhe und hängte sich rittlings
über den Türsturz. Gavin huschte hinein, verriegelte die Tür und
verharrte drinnen in den Armen seiner Frau bis zur Morgendämmerung.
Sie ließen die ganze Nacht die Kerze brennen, und Gavin Hayes hat
nie wieder nach Sonnenuntergang sein Haus verlassen - bis er für
Prinz Tscharlach in den Kampf gezogen ist.«
Selbst Duncan, der die Geschichte kannte, seufzte,
als Jamie zum Ende kam. Ian bekreuzigte sich und sah sich dann
befangen um, doch niemand schien es beachtet zu haben.
»Jetzt ist Gavin also in die Dunkelheit gegangen«,
sagte Jamie leise. »Aber wir werden nicht zulassen, daß er in
ungeweihtem Boden liegt.«
»Haben sie die Kuh gefunden?« fragte Fergus mit
seinem üblichen Sinn fürs Praktische. Jamie deutete auf Duncan, der
antwortete.
»Oh, aye, das haben sie. Am nächsten Morgen fanden
sie das arme Vieh, die Hufe voll Schlamm und Steinen, mit wildem
Blick und Schaum vor dem Maul, und ihre Flanken hoben und senkten
sich, als wollten sie bersten.« Er ließ den Blick von mir zu Ian
und zurück zu Fergus schweifen. »Gavin meinte«, sagte er präzise,
»sie sah aus, als hätte man sie zur Hölle und zurück
geritten.«
»Himmel.« Ian trank einen tiefen Zug Ale, und ich
folgte seinem Beispiel. Der betrunkene Gesangsverein in der Ecke
versuchte sich an »Captain Thunder« und brach jedesmal hilflos
lachend ab.
Ian stellte seinen Becher auf den Tisch.
»Was ist aus ihnen geworden?« fragte er mit
betroffenem Gesicht. »Aus Gavins Frau und seinem Sohn?«
Jamies Blick suchte den meinen, und seine Hand
berührte meinen Oberschenkel. Auch ohne daß man es mir sagte, wußte
ich, was aus
der Familie Hayes geworden war. Ohne Jamies Mut und
Unnachgiebigkeit wäre mir und Brianna wahrscheinlich dasselbe
widerfahren.
»Gavin hat es nie herausgefunden«, sagte Jamie
ruhig. »Er hat nie wieder von seiner Frau gehört - sie wird wohl
verhungert sein, oder man hat sie dem Kältetod überlassen. Sein
Sohn hat in Culloden an seiner Seite gestanden. Jedesmal, wenn ein
Mann, der dort gekämpft hatte, zu uns in die Zelle kam, fragte
Gavin ihn: ›Hast du vielleicht einen mutigen Jungen namens Archie
Hayes gesehen, ungefähr so groß?‹« Er ahmte unwillkürlich Hayes’
Geste nach und nahm etwa anderthalb Meter vom Boden Maß. »›Um die
vierzehn‹, sagte er dann, ›mit einem grünen Plaid und einer
kleinen, vergoldeten Brosche.‹ Aber es kam nie einer, der ihn mit
Gewißheit erkannt hatte - und hätte sagen können, ob er gefallen
oder entkommen war.«
Jamie trank einen Schluck Ale und richtete den
Blick auf zwei britische Offiziere, die hereingekommen waren und es
sich in der Ecke gemütlich gemacht hatten. Draußen war es dunkel
geworden, und sie waren ganz offensichtlich nicht im Dienst. In
dieser Hitze standen ihre Lederkrägen offen, und sie trugen nur
Seitenwaffen, die unter ihren Röcken glänzten. Im gedämpften Licht
erschienen sie fast schwarz, bis auf die Stellen, wo der
Feuerschein sie in Rot tauchte.
»Manchmal hoffte er, man hätte den Jungen
festgenommen und deportiert«, sagte er. »Wie seinen Bruder.«
»Aber das müßte doch in den Unterlagen stehen?«
sagte ich. »Wurden - werden - Register geführt?«
»Ja«, sagte Jamie, der immer noch die Soldaten
beobachtete. Der Anflug eines bitteren Lächelns erschien in seinem
Mundwinkel. »Es war schließlich eine solche Liste, die mich
gerettet hat, nach Culloden, als sie mich vor dem Erschießen nach
meinem Namen fragten, um ihn in ihr Register einzutragen. Aber für
einen Mann wie Gavin hätte es keine Möglichkeit gegeben, die
Totenregister der Engländer einzusehen. Und selbst wenn er es hätte
herausfinden können, glaube ich nicht, daß er es getan hätte.« Er
sah mich an. »Würdest du es wissen wollen, wenn es dein Kind
wäre?«
Ich schüttelte den Kopf, und er lächelte mich leise
an und drückte meine Hand. Unser Kind war in Sicherheit. Er hob
seinen Becher und leerte ihn, dann winkte er der Bedienung.
Das Mädchen brachte unser Essen und machte einen
weiten Bogen, um Rollo auszuweichen. Der Hund lag bewegungslos
unter dem Tisch, sein Kopf ragte in den Raum und sein langer,
behaarter Schwanz hing schwer über meinen Füßen, doch seine gelben
Augen waren weit geöffnet, und ihnen entging nichts. Sie folgten
dem Mädchen
gebannt, und sie wich nervös zurück, ohne ihn aus den Augen zu
lassen, bis sie sicher außer Bißweite war.
Jamie sah das und warf dem sogenannten Hund einen
skeptischen Blick zu.
»Hat er Hunger? Muß ich ihm einen Fisch
bestellen?«
»O nein, Onkel Jamie«, versicherte Ian. »Rollo
fängt sich seine Fische selbst.«
Jamies Augenbrauen schnellten in die Höhe, doch er
nickte nur und nahm sich mit einem wachsamen Blick auf Rollo einen
Teller mit Brathuhn vom Tablett.
»Ach, was für eine Schande.« Duncan Innes war
inzwischen völlig betrunken. Er saß zusammengesunken an der Wand
und hielt die armlose Schulter höher als die andere, was ihm das
seltsame Aussehen eines Buckligen gab. »Daß ein anständiger Mann
wie Gavin ein solches Ende finden mußte!« Er schüttelte tieftraurig
den Kopf und ließ ihn über dem Alebecher hin- und herschwingen wie
den Klöppel einer Totenglocke.
»Keine Familie, die ihn betrauern könnte, allein in
einem fremden Land gestrandet - wie ein Verbrecher gehängt und um
ein Haar in ungeweihter Erde vergraben. Und jetzt bekommt er nicht
einmal ein ordentliches caithris!« Er hob den Becher und
fand unter Schwierigkeiten seinen Mund. Er trank in tiefen Zügen
und stellte ihn mit einem gedämpften Geräusch ab.
»Was soll’s, wir werden die Totenklage
halten!« Er funkelte Jamie, Fergus und Ian herausfordernd an.
»Warum nicht?«
Jamie war nicht betrunken, doch er war auch nicht
mehr völlig nüchtern. Er grinste Duncan an und hob seinen eigenen
Becher zum Salut.
»Warum nicht, genau«, sagte er. »Du wirst aber
singen müssen, Duncan. Keiner von den anderen hat Gavin gekannt,
und ich kann nicht singen. Ich kann aber mitbrüllen.«
Duncan nickte gebieterisch und sah uns mit
blutunterlaufenen Augen an. Ohne Vorwarnung warf er den Kopf zurück
und gab ein furchtbares Geheul von sich. Ich fuhr auf meinem Sitz
zusammen und verschüttete einen halben Becher Ale in meinem Schoß.
Ian und Fergus, die offenbar schon öfter gälische Totenklagen
gehört hatten, verzogen keine Miene.
Überall im ganzen Raum wurden Bänke gerückt, als
die Männer alarmiert aufsprangen und nach ihren Pistolen griffen.
Die Bedienung lehnte sich mit großen Augen aus der
Küchendurchreiche. Rollo erwachte mit einem empörten »Wuff!«
und starrte mit gefletschten Zähnen wild um sich.
»Tha sinn cruinn a chaoidh ar caraid, Gabhainn
Hayes«, donnerte Duncans rauher Bariton. Ich verstand gerade
genug Gälisch, um das zu übersetzen. »Wir haben uns
zusammengefunden, um zu weinen und dem Himmel den Verlust unseres
Freundes Gavin Hayes zu klagen!«
»Èisd ris!«, stimmte Jamie ein.
»Rugadh e do Sheumas Immanuel Hayes agus Louisa
N’ic a Liallain an am baile Chill-Mhartainn, ann an sgire Dhun
Domhnuill, anns a bhliadhnaseachd ceud deug agus a haon!« Er
wurde geboren als Sohn von James Emmanuel Hayes und Louisa
Maclellan, im Dorf Kilmartin im Pfarrbezirk Dodanil, im Jahr
unseres Herrn siebzehnhundertundeins!
»Èisd ris!« Diesmal fielen Fergus und Ian in
den Refrain ein, den ich mir in etwa mit »Hört ihn an!«
übersetzte.
Rollo schien weder Strophe noch Refrain übermäßig
zu gefallen. Er hatte seine Ohren flach an den Schädel gepreßt und
die gelben Augen zu Schlitzen verengt. Ian kratzte ihn beruhigend
am Kopf, und er legte sich wieder hin und brummte Wolfsflüche vor
sich hin.
Da das Publikum begriff, daß keine Gewalt drohte
und ihm die minderwertige Stimmakrobatik der betrunkenen Sänger in
der Ecke wohl sowieso langweilig geworden war, ließ es sich
gemütlich nieder, um die Darbietung zu genießen. Als Duncan so weit
gediehen war, daß er die Namen der Schafe aufzählte, die Gavin
Hayes besessen hatte, bevor er seine Kate verlassen hatte, um
seinem Herrn nach Culloden zu folgen, sangen viele der Gäste an den
umliegenden Tischen begeistert den Refrain mit, brüllten »Èisd
ris!«, knallten ihre Becher auf den Tisch - und hatten
glücklicherweise keine Ahnung, wovon eigentlich die Rede war.
Betrunkener denn je fixierte Duncan die Soldaten am
Nebentisch mit haßerfülltem Blick, während ihm der Schweiß über das
Gesicht lief.
»A Shasunnaich na galladh,’s olc a thig e dhuibh
fanaid air bàs gasgaich. Gun toireadh an diabhul fhein leis anns a
bhàs sibh, direach di Fhirinn!« Hinterlistige Sassenach-Hunde,
die totes Fleisch essen! Übel steht es euch an, euch über den Tod
eines beherzten Mannes zu freuen! Möge der Teufel selbst in eurer
Todesstunde über euch kommen und euch zur Hölle befördern!
An diesem Punkt wurde Ian etwas blaß, und Jamie
warf Duncan einen scharfen Blick zu, doch beide brüllten tapfer
»Èisd ris!« mit dem Rest der Menge.
Einer Eingebung folgend, stand Fergus auf und ließ
seinen Hut herumgehen,
und außer sich vom Bier und vor Begeisterung, zahlten die Leute
fröhlich Kupferstücke dafür, daß sie über sich selbst herziehen
durften.
Mein Kopf vertrug nicht weniger als so mancher
Männerschädel, doch meine Blase war viel kleiner. Da mir vor Krach,
dicker Luft und Alkohol ganz schwindelig war, erhob ich mich und
bahnte mir vorsichtig einen Weg hinter dem Tisch hervor, durch das
Gedränge und hinaus in die frische Luft des frühen Abends.
Es war immer noch heiß und drückend, obwohl die
Sonne schon lange untergegangen war. Aber hier draußen gab es viel
mehr Luft und viel weniger Leute, die sie teilten.
Nachdem ich meinem inneren Druck Erleichterung
verschafft hatte, setzte ich mich mit meinem Zinnbecher auf den
Hackklotz des Wirtshauses und holte tief Luft. Die Nacht war klar,
und ein leuchtender Halbmond lugte silbern über den Hafenrand.
Unser Wagen stand in der Nähe, nur ein Umriß im Licht der
Kneipenfenster. Gavin Hayes’ ordentlich eingewickelte Leiche lag
wohl darin. Ich hoffte, daß ihm sein caithris Freude gemacht
hatte.
Drinnen war Duncans Gesang verstummt. Zitternd vom
Alkohol, aber dennoch wohlklingend sang jetzt eine klare
Tenorstimme eine vertraute Melodie, die trotz des Stimmengewirrs
gut zu hören war.
»To Anacreon in heav’n, where he sat in full
glee,
A few sons of harmony sent a petition,
That he their inspirer and patron would be!
When this answer arrived from the jolly old Grecian:
›Voice, fiddle, and flute,
No longer be mute!
I’ll lend you my name and inspire you to boot.‹«
A few sons of harmony sent a petition,
That he their inspirer and patron would be!
When this answer arrived from the jolly old Grecian:
›Voice, fiddle, and flute,
No longer be mute!
I’ll lend you my name and inspire you to boot.‹«
Bei »voice, fiddle and flute« schwankte die Stimme
des Sängers gefährlich, doch er sang trotz des Gelächters aus dem
Publikum tapfer weiter. Ich lächelte ironisch vor mich hin, als er
bei den beiden letzten Zeilen des ausgelassenen Trinkliedes
angelangte:
»›And, besides, I’ll instruct you like me to
entwine,
The Myrtle of Venus with Bacchus’s vine!‹«
The Myrtle of Venus with Bacchus’s vine!‹«
Ich hob meinen Becher in Richtung des
Leichenwagens und wiederholte leise die Melodie der letzten Zeilen
des Sängers. Doch ich wählte den anderen Text, ohne mich daran zu
stören, daß weder
das Amerika mit dem »sternenbesäten Banner« noch der Text seiner
Nationalhymne zu diesem Zeitpunkt schon existierte:
»›Oh, say, does that star-spangled banner yet
wave
O’er the land of the free and the home of the brave?‹«
O’er the land of the free and the home of the brave?‹«
Ich leerte meinen Becher. Dann saß ich still da
und wartete, bis die Männer herauskamen.