28
Erhitzte Gespräche
Als es Abend wurde, hatte Ian glasige Augen
bekommen, und er fühlte sich heiß an. Er setzte sich auf seinem
Strohlager auf, um mich zu begrüßen, schwankte aber alarmierend,
und er konnte nicht geradeaus blicken. Ich hatte nicht den
geringsten Zweifel, sah mir aber dennoch zur Bestätigung seinen
Mund an; wie erwartet leuchteten die kleinen, symptomatischen
Koplik-Flecke weiß auf seiner dunkelroten Mundschleimhaut auf.
Obwohl die Haut auf seinem Hals unter seinen Haaren immer noch so
hell war wie die eines Kindes, zeigte sich dort ein harmlos
aussehender Ausschlag aus kleinen, rosa Pickelchen.
»Gut«, sagte ich resigniert. »Du hast sie. Am
besten kommst du mit zum Haus, damit ich mich besser um dich
kümmern kann.«
»Ich habe die Masern? Heißt das, daß ich sterben
muß?« fragte er. Es schien ihn nur beiläufig zu interessieren, als
sei seine ganze Aufmerksamkeit auf ein Bild in seinem Innern
konzentriert.
»Nein«, sagte ich nüchtern und hoffte, daß ich
recht hatte. »Aber dir geht’s ziemlich mies, oder?«
»Ich habe etwas Kopfweh«, sagte er. Das konnte ich
sehen; seine Augenbrauen waren zusammengezogen, und selbst das
schwache Licht meiner Kerze brachte ihn zum Blinzeln.
Doch er konnte noch laufen, und das war auch gut
so, dachte ich, während ich zusah, wie er schwankend die Leiter vom
Heuboden herunterstieg. Er sah zwar aus wie ein dürrer Storch, doch
er war gut zwanzig Zentimeter größer als ich und mindestens dreißig
Pfund schwerer.
Es waren nur zwanzig Meter bis zum Blockhaus, doch
bis ich ihn dort hatte, zitterte Ian vor Erschöpfung. Als wir
eintraten, setzte sich Lord John auf und machte Anstalten, aus dem
Bett zu steigen, doch ich winkte ab.
»Bleibt liegen«, sagte ich und ließ Ian kraftlos
auf einen Hocker sinken. »Ich komme schon zurecht.«
Ich hatte auf dem Rollbett geschlafen; es war schon
vorbereitet mit
Laken, Bettdecke und Kissen. Ich schälte Ian aus seinen Kniehosen
und Strümpfen und steckte ihn unverzüglich unter die Decke. Seine
Wangen waren gerötet und klamm, und er sah viel kränker aus als in
der gedämpften Beleuchtung des Heubodens.
Der Weidenrindentee, den ich hatte ziehen lassen,
war dunkel und aromatisch; gerade richtig zum Trinken. Ich goß ihn
vorsichtig in eine Tasse und blickte dabei zu Lord John
herüber.
»Der war eigentlich für Euch gedacht«, sagte ich.
»Aber wenn Ihr es aushalten könntet zu warten…«
»Gebt ihn auf jeden Fall dem Jungen«, sagte er und
winkte ab. »Ich kann gut warten. Aber kann ich Euch vielleicht
helfen?«
Mir kam der Gedanke, ihm vorzuschlagen, zum Abort
zu gehen, anstatt den Nachttopf zu benutzen - den ich würde
entleeren müssen -,wenn er wirklich helfen wollte, doch ich konnte
sehen, daß sein Zustand es ihm noch nicht erlaubte, nachts allein
umherzuwandern. Ich wollte dem jungen William nicht am Ende
erklären müssen, daß ich es hatte geschehen lassen, daß der einzige
Elternteil, der ihm geblieben war - oder der Mann, von dem er
glaubte, er sei der einzige Elternteil, der ihm geblieben war -
sich eine Lungenentzündung geholt hatte oder gar von Bären
gefressen worden war.
Also schüttelte ich nur höflich den Kopf und kniete
mich neben das Rollbett, um Ian den Aufguß zu verabreichen. Es ging
ihm immerhin so gut, daß er Gesichter schnitt und sich über den
Geschmack beschwerte, was ich beruhigend fand. Dennoch waren seine
Kopfschmerzen offenbar sehr stark; die Falte zwischen seinen Augen
wich nicht von der Stelle und war so tief, als wäre sie mit einem
Messer dort eingegraben worden.
Ich setzte mich auf das Rollbett, nahm seinen Kopf
auf meinen Schoß und rieb ihm sanft die Schläfen. Dann legte ich
meine Daumen gerade eben in seine Augenhöhlen und preßte sie fest
an der Kante seiner Augenbraue entlang. Er gab einen leisen Laut
des Unbehagens von sich, entspannte sich dann aber, und sein Kopf
lag schwer auf meinem Oberschenkel.
»Atme einfach nur weiter«, sagte ich. »Mach dir
keine Sorgen, wenn es am Anfang etwas unangenehm ist, es heißt, daß
ich die richtige Stelle erwischt habe.«
»Schon in Ordnung«, murmelte er in leicht gedehnten
Worten. Seine Hand driftete nach oben und schloß sich um mein
Handgelenk, groß und sehr warm. »Das hat der Chinamann auch so
gemacht, oder?«
»Das stimmt. Er meint Yi Tien Cho - Mr.
Willoughby«, erklärte
ich Lord John, der die Vorgänge mit einem verwunderten
Stirnrunzeln beobachtete. »Es ist eine Methode, mit der man
Schmerzen lindern kann, indem man Druck auf bestimmte Punkte des
Körpers ausübt. Dieser hier ist gut gegen Kopfschmerzen. Der
Chinamann hat es mir beigebracht.«
Ich erwähnte den kleinen Chinesen Lord John
gegenüber nur ungern, denn als wir uns das letzte Mal begegnet
waren, auf Jamaica, durchkämmten gerade vierhundert Soldaten auf
Lord Johns Befehl die Insel auf der Suche nach Mr. Willoughby, den
man eines besonders grausamen Mordes verdächtigte.
»Er hat es nicht getan, wißt Ihr?« fühlte ich mich
gedrängt hinzuzufügen. Lord John sah mich mit hochgezogener
Augenbraue an.
»Das spielt keine Rolle«, sagte er trocken, »da wir
ihn nie gefangen haben.«
»Oh, das freut mich.« Ich blickte auf Ian herab,
bewegte meine Daumen einen halben Zentimeter weiter nach außen und
drückte erneut zu. Sein Gesicht war immer noch vor Schmerz
angespannt, doch ich glaubte, daß die Blässe in seinen Mundwinkeln
etwas nachließ.
»Ihr… äh… wißt wohl nicht, wer Mrs. Alcott
umgebracht hat?« Lord Johns Stimme klang beiläufig. Ich sah zu ihm
auf, doch in seinem Gesicht waren nur schlichte Neugier und eine
große Anzahl Flecken zu sehen.
»Doch, das tue ich«, sagte ich zögernd, »aber
-«
»Wirklich? Ein Mord? Wer war es? Was ist passiert,
Tante Claire? Autsch!« Ians Augen öffneten sich abrupt unter meinen
Fingern, vor Interesse aufgerissen, und schnappten dann
schmerzverzerrt zu, als sie der Schein des Feuers traf.
»Halt du den Mund«, sagte ich und grub meine Daumen
in die Muskeln vor seinen Ohren. »Du bist krank.«
»Argk!« sagte er, erschlaffte aber gehorsam, wobei
die mit Liesch gefüllte Matratze laut unter seinem dünnen Körper
raschelte. »Schon gut, Tante Claire, aber wer? Du kannst nicht
einfach so Fetzen erzählen und dann erwarten, daß ich schlafe, ohne
den Rest zu erfahren. Oder kann sie das?« Er öffnete seine Augen
einen Spaltbreit, um an Lord John zu appellieren, der ihm mit einem
Lächeln antwortete.
»Ich trage keine Verantwortung mehr in dieser
Angelegenheit«, versicherte mir Lord John. »Vielleicht solltest du
allerdings in Betracht ziehen«, wandte er sich mit größerer
Bestimmtheit an Ian, »daß die Geschichte möglicherweise jemanden
belastet, den deine Tante schützen möchte. In diesem Fall wäre es
unfein, auf Details zu bestehen.«
»Och, das kann gar nicht sein«, versicherte ihm
Ian, die Augen fest geschlossen. »Onkel Jamie würde niemals
jemanden umbringen, es sei denn, er hätte guten Grund dazu.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Lord John leicht
erschrocken zusammenfuhr. Offensichtlich war ihm der Gedanke nie
gekommen, daß es Jamie gewesen sein könnte.
»Nein«, versicherte ich ihm, als ich sah, daß sich
seine hellen Augenbrauen zusammenzogen. »Er war es nicht.«
»Also, ich war es auch nicht«, sagte Ian
selbstsicher. »Und wen könnte Tante Claire sonst schützen
wollen?«
»Du schmeichelst dir, Ian«, sagte ich trocken.
»Aber da du darauf bestehst…«
Mit meiner Zurückhaltung hatte ich in der Tat Ian
schonen wollen. Kein anderer konnte durch die Geschichte Schaden
nehmen - der Mörder war tot und Mr. Willoughby höchstwahrscheinlich
auch, umgekommen im tiefen Dschungel der Hügel Jamaicas, obwohl ich
aufrichtig hoffte, daß es nicht so war.
Doch es war noch jemand in die Geschichte
verwickelt; die Frau, die ich als Geillis Duncan kennengelernt und
später unter dem Namen Geillis Abernathy wiedergetroffen hatte. In
ihrem Auftrag war Ian aus Schottland entführt worden, dann in
Jamaica gefangengehalten worden und Dinge hatte erlitten, von denen
er uns erst in letzter Zeit zu erzählen begonnen hatte.
Doch es sah so aus, als gäbe es jetzt kein Zurück
mehr - Ian war so widerspenstig wie ein Kind, das auf seiner
Gutenachtgeschichte besteht, und Lord John saß im Bett wie ein
Streifenhörnchen, das mit vor Interesse leuchtenden Augen auf Nüsse
wartet.
Und so lehnte ich mich mit dem makaberen Drang, mit
»Es war einmal« zu beginnen, an die Wand, Ians Kopf immer noch auf
dem Schoß, und begann die Geschichte vom Gut Rose Hall und seiner
Herrin, der Hexe Geillis Duncan, vom Reverend Archibald Campbell
und seiner seltsamen Schwester Margaret, vom Unhold von Edinburgh
und der Fraserprophezeiung und von einer Nacht voller Feuer und
Krokodilsblut, in der die Sklaven von sechs Plantagen am Ufer des
Yallahs River sich erhoben und ihre Herren gemeuchelt hatten,
angestachelt von Ishmael, dem Houngan.
Von den späteren Ereignissen in der Höhle von
Abandawe auf Haiti sagte ich nichts. Ian war sowieso dabeigewesen.
Und diese Geschehnisse hatten nichts mit dem Mord an Mina Alcott zu
tun.
»Ein Krokodil«, murmelte Ian. Seine Augen waren
geschlossen, und sein Gesicht hatte sich unter meinen Fingern
weiter entspannt,
trotz der grauenvollen Natur meiner Geschichte. »Du hast es
wirklich gesehen, Tante Claire?«
»Ich habe es nicht nur gesehen, ich bin
daraufgetreten«, bestätigte ich ihm. »Oder vielmehr, ich bin
daraufgetreten, und dann habe ich es gesehen. Hätte ich es
zuerst gesehen, wäre ich in die andere Richtung gelaufen, darauf
kannst du Gift nehmen.«
Aus dem Bett erklang ein leises Lachen. Lord John
kratzte sich am Arm und lächelte.
»Ihr müßt das Leben hier äußerst langweilig finden,
Mrs. Fraser, nach Euren Abenteuern auf den Westindischen
Inseln.«
»Ab und zu ein bißchen Langeweile würde mir gar
nichts ausmachen«, sagte ich voller Sehnsucht.
Unwillkürlich blickte ich auf die verriegelte Tür.
Dort hatte ich Ians Muskete hingestellt, die ich aus dem
Maisspeicher mitgebracht hatte, als ich ihn geholt hatte. Jamie
hatte sein Gewehr mitgenommen, doch seine Pistolen lagen auf der
Anrichte, geladen und schußbereit, wie er sie für mich
zurückgelassen hatte, und Munitionskiste und Pulverhorn waren
ordentlich daneben arrangiert.
Es war gemütlich in der Blockhütte. Der Feuerschein
flackerte golden und rot auf den grobrindigen Wänden, und die Luft
war erfüllt vom warmen Nachklang der Düfte von Eichhörncheneintopf
und Kürbisbrot, gewürzt mit dem bitteren Aroma des Weidentees. Ich
strich mit den Fingern über Ians Kinn. Noch kein Ausschlag, doch
die Haut war angespannt und heiß - immer noch sehr heiß, trotz der
Weidenrinde.
Von Jamaica zu erzählen hatte mich zumindest ein
wenig von meiner Sorge um Ian abgelenkt. Kopfschmerzen waren kein
ungewöhnliches Symptom, wenn jemand die Masern hatte; doch schwere
und anhaltende Kopfschmerzen schon. Meningitis und Enzephalitis
waren gefährliche - und nur allzugut mögliche - Komplikationen
dieser Krankheit.
»Was macht der Kopf?« fragte ich.
»Ein bißchen besser«, sagte er. Er hustete und
kniff die Augen zu, als die Stöße seinen Kopf schüttelten. Er hielt
inne und öffnete sie ein Stückchen; dunkle, fieberglühende
Schlitze. »Mir ist furchtbar heiß, Tante Claire.«
Ich glitt vom Rollbett herab und wrang ein Tuch in
kühlem Wasser aus. Ian rührte sich leicht, als ich ihm über das
Gesicht wischte, und seine Augen waren wieder geschlossen.
»Mrs. Abernathy hat mir gegen die Kopfschmerzen
Amethyste zu trinken gegeben«, murmelte er schläfrig.
»Amethyste?« Ich erschrak, ließ meine Stimme aber
leise und beruhigend klingen. »Du hast Amethyste getrunken?«
»In Essig zerstampft«, sagte er. »Und Perlen in
süßem Wein, aber die waren fürs Bett, hat sie gesagt.« Sein Gesicht
sah rot und geschwollen aus, und auf der Suche nach Erleichterung
drehte er die Wange auf das kühle Kissen. »Sie hatte eine Menge
Ahnung von Steinen, die Frau. Sie hat Smaragdpulver in der Flamme
einer schwarzen Kerze verbrannt und mir den Schwanz mit einem
Diamanten eingerieben - um ihn steif zu halten, hat sie
gesagt.«
Aus dem Bett erklang ein leises Geräusch, und ich
blickte auf und sah, daß sich Lord John auf seinen Ellbogen
gestützt hatte, die Augen weit aufgerissen.
»Und haben die Amethyste gewirkt?« Ich wischte Ian
sanft mit dem Tuch über das Gesicht.
»Der Diamant hat gewirkt.« Er machte den zaghaften
Versuch, nach der Art von Heranwachsenden obszön zu lachen, doch es
ging in einen heftigen, rasselnden Husten über.
»Keine Amethyste hier, fürchte ich«, sagte ich.
»Aber es gibt Wein, wenn du welchen möchtest.« Er wollte, und ich
half ihm beim Trinken - stark mit Wasser verdünnt -,dann ließ ich
ihn auf das Kissen zurücksinken, rot und mit schweren Augen.
Lord John hatte sich ebenfalls hingelegt und
beobachtete uns, das dichte, lose blonde Haar hinter sich auf dem
Kissen ausgebreitet.
»Das war es, was sie von den Jungen wollte, weißt
du?« sagte Ian. Seine Augen waren fest gegen das Licht geschlossen,
doch er konnte eindeutig irgend etwas sehen, und wenn es nur
in den Nebeln der Erinnerung war. Er leckte sich die Lippen; sie
fingen an auszutrocknen und aufzuspringen, und seine Nase begann zu
laufen.
»Sie hat gesagt, daß der Stein im Inneren eines
Jungen wuchs - der, den sie wollte. Sie hat aber gesagt, daß es ein
Junge sein mußte, der noch nie einem Mädchen beigewohnt hatte, das
war wichtig. Wenn er das getan hatte, dann würde der Stein
irgendwie nicht richtig sein. Wenn er einen h-huh-hatte.« Er hielt
inne, um zu husten, und endete atemlos mit triefender Nase. Ich
hielt ihm ein Taschentuch hin, damit er sie putzen konnte.
»Was wollte sie mit dem Stein?« Lord Johns Gesicht
trug einen Ausdruck des Mitgefühls - er wußte nur zu gut, wie es
Ian im Augenblick ging -,doch die Neugier gebot ihm die Frage. Ich
protestierte nicht; ich wollte es ebenfalls wissen.
Ian fing an, den Kopf zu schütteln, und hielt dann
stöhnend inne.
»Ah! Gott, mein Kopf platzt gleich! Ich weiß es
nicht, Mann. Sie
hat es uns nicht gesagt. Nur, daß er wichtig war und sie ihn um
jeden Preis haben mußte.« Er hatte das letzte Wort kaum
hervorgebracht, als er sich in einem Hustenanfall verlor, der bis
jetzt der schlimmste war; er klang wie ein bellender Hund.
»Hör besser auf zu red-«, begann ich, wurde aber
durch ein leises Plumpsen an der Tür unterbrochen.
Ich erstarrte augenblicklich, das feuchte Tuch
immer noch in meiner Hand. Lord John lehnte sich schnell aus dem
Bett und zog eine Pistole aus einem seiner Reitstiefel, die auf dem
Boden standen. Mit dem Finger auf den Lippen gebot er Stille und
deutete kopfnickend auf Jamies Pistolen. Ich begab mich geräuschlos
zur Anrichte und ergriff eine davon. Der glatte, solide Schaft in
meiner Hand beruhigte mich.
»Wer ist da?« rief Lord John mit erstaunlich
kräftiger Stimme.
Es kam keine Antwort außer einer Art Kratzen und
einem schwachen Winseln. Ich legte die Pistole mit einem Seufzer
hin und schwankte zwischen Verärgerung, Erleichterung und
Belustigung.
»Es ist dein verflixter Hund, Ian.«
»Seid Ihr sicher?« Lord John sprach leise und
zielte immer noch unbeweglich mit der Pistole auf die Tür. »Es
könnte ein Trick der Indianer sein.«
Ian drehte sich angestrengt um, so daß er der Tür
zugewandt war.
»Rollo!« rief er, und seine heisere Stimme
überschlug sich dabei.
Heiser oder nicht, Rollo kannte die Stimme seines
Herrn; draußen erklang ein tiefes, hocherfreutes »WARF!«, gefolgt
von wildem Kratzen in etwa einem Meter Höhe.
»Böser Hund«, sagte ich und beeilte mich, die Tür
zu öffnen. »Hör auf damit, oder ich mache einen Bettvorleger aus
dir oder einen Mantel oder irgend so etwas.«
Indem er dieser Drohung genau die Aufmerksamkeit
schenkte, die sie verdiente, sprang Rollo an mir vorbei in das
Zimmer. Überschäumend vor Freude hoben seine hundertfünfzig Pfund
von der Fußbodenmitte ab und landeten direkt auf dem Rollbett, das
gefährlich schwankte und dessen Nahtstellen protestierend
quietschten. Er ignorierte den erstickten Schrei des Bettinsassen
und leckte Ian wie verrückt über Gesicht und Unterarme - obwohl Ian
letztere als völlig inadäquate Verteidigungsmaßnahme gegen den
sabbernden Ansturm hochwarf.
»Böser Hund«, sagte Ian, während er völlig
wirkungslose Versuche unternahm, Rollo von seiner Brust
herunterzuschieben und trotz seines Unwohlseins hilflos kicherte.
»Böser Hund, sage ich - Platz, Sir!«
»Platz, Sir!« wiederholte Lord John streng. Rollo,
der sich bei der Demonstration seiner Zuneigung unterbrochen sah,
drehte sich mit angelegten Ohren zu Lord John um. Er zog die Lippe
hoch und erlaubte John, einen klaren Blick auf den Zustand seiner
hinteren Zähne zu werfen. Lord John fuhr auf und hob ruckartig die
Pistole.
»Runter mit dir, a dhiobhuil!« sagte Ian und
stieß Rollos Hinterteil an. »Nimm deinen haarigen Hintern aus
meinem Gesicht, du verrückter Köter.«
Rollo verbannte Lord John augenblicklich aus seinen
Gedanken und tappte auf dem Rollbett herum. Er drehte sich dreimal
um sich selbst und knetete das Bettzeug mit den Pfoten, bevor er
sich neben den Körper seines Herrn fallen ließ. Er leckte Ian das
Ohr und legte mit einem tiefen Seufzer die Schnauze zwischen seinen
großen, schmutzigen Pfoten auf das Kissen.
»Möchtest du, daß ich ihn herunterhole, Ian?« bot
ich an und betrachtete Rollos Pfoten. Ich hatte keine Ahnung, wie
ich einen Hund von Rollos Größe und Temperament bewegen sollte,
außer, indem ich ihn mit Jamies Pistole erschoß und seinen Kadaver
vom Bett zerrte, daher war ich sehr erleichtert, als Ian den Kopf
schüttelte.
»Nein, laß ihn nur, Tante Claire«, sagte er leicht
krächzend. »Er ist ein lieber Kerl. Nicht wahr, a charaid?«
Er legte die Hand auf den Hals des Hundes und drehte seinen Kopf,
so daß seine Wange auf Rollos dicken Nacken gebettet war.
»Na gut.« Mit langsamen Bewegungen und einem
wachsamen Blick auf die reglosen gelben Augen näherte ich mich dem
Bett und strich Ian das Haar glatt. Seine Stirn war immer noch
heiß, doch ich glaubte, daß das Fieber ein wenig gesunken war. Wenn
es in der Nacht brach, was gut möglich war, dann würde ihm
wahrscheinlich heftiges Zittern folgen - und dann konnte es sein,
daß Ian Rollos warme Pelzmassen sehr gelegen kamen.
»Schlaf gut.«
»Oidche mhath.« Er schlief schon halb,
versank in lebhaften Fieberträumen, und sein »Gute Nacht« war kaum
mehr als ein Murmeln.
Ich bewegte mich still im Zimmer umher und räumte
die Resultate meiner Tagesarbeit auf; einen Korb frisch gesammelter
Erdnüsse, die ich waschen, trocknen und einlagern würde; ein Blech,
das ich flach mit getrocknetem Ried ausgelegt und mit einer Schicht
Schweinefett bedeckt hatte, um daraus Binsenlichter zu machen. Ein
Gang in die Vorratskammer, wo ich die Biermaische umrührte, die in
einem Bottich fermentierte, den Quark ausdrückte, aus dem ich
Frischkäse herstellte, und den Brotteig flachschlug, den ich am
Morgen in Laibe teilen
und backen würde, wenn der kleine Steinofen, den wir in die
Seitenwand der Feuerstelle eingebaut hatten, von der Hitze des
schwach brennenden Feuers in der Nacht genügend erwärmt war.
Ian schlief fest, als ich in den zentralen Raum
zurückkam; Rollos Augen waren ebenfalls geschlossen, obwohl sich
bei meinem Eintreten eine gelbe Spalte auftat. Ich warf Lord John
einen Blick zu; er war wach, sah sich aber nicht um.
Ich setzte mich auf die Bank am Feuer und holte den
großen Wollkorb mit seinem schwarz-grünen Indianermuster hervor -
Sonnenesser hatte Gabrielle diese Flechtart genannt.
Zwei Tage, seit Jamie und Willie aufgebrochen
waren. Zwei Tage zum Dorf der Tuscarora. Zwei Tage zurück. Falls
nichts geschah, das sie aufhielt.
»Unsinn«, murmelte ich vor mich hin. Nichts würde
sie aufhalten. Sie würden bald zu Hause sein.
Der Korb war mit Strängen aus gefärbter Wolle und
Leinenfäden gefüllt. Manche hatte Jocasta mir geschenkt, manche
hatte ich selbst gesponnen. Der Unterschied war nicht zu übersehen,
doch selbst das knotige, wenig elegant aussehende Garn, das ich
produzierte, war nicht völlig unbrauchbar. Keine Strümpfe oder
Jerseys; vielleicht konnte ich einen Teewärmer stricken - so etwas
war wohl hinreichend formlos, um mein Unvermögen zu tarnen.
Jamie war schockiert und belustigt gewesen, als er
herausgefunden hatte, daß ich nicht stricken konnte. Die Frage
hatte sich in Lallybroch nie gestellt, weil dort Jenny und die
Dienstmädchen Stricksachen für alle herstellten. Ich hatte Aufgaben
in der Kräuterkammer und im Garten übernommen und war über die
einfachsten Flickarbeiten hinaus niemals mit Handarbeiten in
Berührung gekommen.
»Du kannst überhaupt nicht stricken?« sagte er
ungläubig. »Und wie bist du dann in Boston zu deinen
Winterstrümpfen gekommen?«
»Gekauft«, sagte ich.
Er hatte sich ausgiebig auf der Lichtung umgesehen,
auf der wir gesessen und das halbfertige Blockhaus bewundert
hatten.
»Da ich hier nirgendwo einen Laden sehe, lernst du
es wohl besser, aye?«
»Wahrscheinlich.« Ich beäugte mißtrauisch den
Strickkorb, den Jocasta mir geschenkt hatte. Er war gut
ausgestattet, mit drei langen Rundstricknadeln aus Draht in
verschiedenen Größen und einem gefährlich aussehenden Nadelspiel
aus Elfenbein, die Nadeln schlank wie Stilette, von dem ich wußte,
daß es auf irgendeine geheimnisvolle Weise dazu diente,
Sockenfersen zu wenden.
»Ich bitte Jocasta, es mir zu zeigen, wenn wir das
nächste Mal nach River Run kommen. Vielleicht nächstes Jahr.«
Jamie schnaubte kurz und nahm sich eine Nadel und
ein Wollknäuel.
»Es ist wirklich nicht schwierig, Sassenach. Sieh
mal - so schlägt man Maschen auf.« Er zog den Faden aus seiner
geschlossenen Faust hervor, legte ihn in einer Schlaufe um seinen
Daumen, ließ diese auf die Nadel gleiten und schlug mit raschen,
sparsamen Bewegungen in Sekundenschnelle eine lange Maschenreihe
auf. Dann gab er mir die andere Nadel und ein Wollknäuel. »Da -
versuch’s mal.«
Ich sah ihn völlig erstaunt an.
»Du kannst stricken?«
»Natürlich kann ich das«, sagte er und starrte mich
verwundert an. »Ich kann mit den Nadeln klappern, seit ich sieben
war. Bringt man den Kindern in deiner Zeit denn gar nichts
bei?«
»Hm«, sagte ich und kam mir etwas idiotisch vor,
»manchmal lernen kleine Mädchen Handarbeiten, aber keine
Jungen.«
»Du hast es nicht gelernt, oder? Außerdem ist es
keine komplizierte Handarbeit, Sassenach, es ist einfach nur
Stricken. Hier, nimm deinen Daumen und greif so in die
Schlaufe…«
Und so hatten er und Ian - der, wie sich
herausstellte, ebenfalls stricken konnte und vor Lachen über meine
Ignoranz am Boden lag - mir die einfachen Grundlagen des Rechts-
und Linksstrickens beigebracht und mir zwischen abfälligen
Äußerungen über meine Bemühungen erklärt, daß in den Highlands alle
Jungen stricken lernten, da es eine nützliche Beschäftigung beim
Schafe- oder Rinderhüten auf der Weide war.
»Wenn ein Mann erst einmal erwachsen ist und eine
Frau hat, die es für ihn tut und einen Jungen, der seine Schafe
hütet, dann macht er vielleicht seine Strümpfe nicht mehr selbst«,
hatte Ian gesagt und geschickt eine Ferse gewendet, bevor er mir
den Strumpf zurückgab, »aber sogar die kleinen Jungs können es,
Tante Claire.«
Ich warf einen Blick auf mein gegenwärtiges
Projekt, etwa dreißig Zentimeter eines wollenen Schultertuches, das
in einem kleinen Haufen auf dem Boden des Korbes lag. Ich hatte die
Grundlagen gelernt, doch Stricken war für mich immer noch ein
regelrechter Kampf mit verknotetem Garn und schlüpfrigen Nadeln,
nicht der beruhigende, verträumte Zeitvertreib, den sich Ian und
Jamie daraus machten, wenn am Feuer die Nadeln in ihren großen
Händen vor sich hin klapperten, beruhigend wie der Gesang der
Grillen an der Feuerstelle.
Heute nacht nicht, dachte ich. Mir war nicht
danach. Etwas Geistloses, zum Beispiel Wollknäuel aufwickeln. Das
konnte ich tun. Ich legte ein Paar halbfertige Socken zur Seite,
die Jamie gerade für sich strickte - gestreift, der Angeber -,und
zog einen schweren Strang frisch gefärbter, blauer Wolle hervor,
der immer noch die schweren Düfte des Färbens verströmte.
Eigentlich mochte ich den Geruch frischen Garns,
den leicht öligen Hauch von Schaf, den erdigen Indigogeruch und das
scharfe Aroma des Essigs, mit dem die Farbe fixiert wurde. Heute
nacht kam er mir erdrückend vor, zusätzlich zu dem Holzrauch und
Kerzenwachs, zu den aufdringlichen, beißenden Ausdünstungen der
Männerkörper und dem Krankheitsgeruch - zusammengesetzt aus
durchgeschwitzten Laken und benutzten Nachttöpfen -,die alle in der
verbrauchten Luft des Zimmers hingen.
Ich ließ den Strang auf meinem Schoß liegen und
schloß für einen Augenblick die Augen. Ich hätte mich am liebsten
ausgezogen und mit kaltem Wasser abgewaschen, um dann nackt
zwischen die sauberen Leintücher meines Bettes zu schlüpfen, still
dazuliegen und mir die frische Luft vom Fenster her über das
Gesicht wehen zu lassen, während ich dem Vergessen
entgegentrieb.
Doch in einem meiner Betten lag ein schwitzender
Engländer und ein verdreckter Hund in dem anderen, ganz zu
schweigen von einem Teenager, der offensichtlich eine harte Nacht
vor sich hatte. Die Laken waren seit Tagen nicht gewaschen worden,
und es würde eine Mordsarbeit sein, sie zu kochen, aus dem Wasser
zu heben und auszuwringen. Heute nacht würde ein Matratzenlager aus
einer zusammengelegten Bettdecke mein Bett sein - vorausgesetzt ich
kam dazu, darin zu schlafen - und mein Kissen ein Sack gekrempelte
Wolle. Ich würde die ganze Nacht Schaf einatmen.
Krankenpflege ist harte Arbeit, und ganz plötzlich
war ich sie entsetzlich leid. Einen Augenblick immenser Sehnsucht
lang wünschte ich mir, sie würden alle verschwinden. Ich öffnete
die Augen und sah Lord John grollend an. Mein kleiner Anfall von
Selbstmitleid verebbte jedoch bei seinem Anblick. Er lag auf dem
Rücken, einen Arm hinter dem Kopf, und starrte trübsinnig an die
Decke. Vielleicht spiegelte mir das Feuer es nur vor, doch sein
Gesicht schien von Sorge und Trauer gezeichnet zu sein, die Augen
überschattet von dunklem Verlust.
Auf einmal schämte ich mich meiner Griesgrämigkeit.
Es stimmte, ich hatte ihn hier nicht gewollt. Es ärgerte mich, daß
er sich in mein Leben gedrängt hatte und mir durch seine Krankheit
die Bürde der Verpflichtung auferlegt hatte. In seiner Gegenwart
fühlte ich mich beklommen
- von Williams ganz zu schweigen. Doch sie würden bald wieder
gehen. Jamie würde nach Hause kommen, Ian würde genesen, und ich
würde meinen Frieden, mein Glück und meine sauberen Laken
wiederhaben. Was ihm zugestoßen war, war von Dauer.
John Grey hatte seine Frau verloren - ganz egal,
wie er zu ihr gestanden hatte. Es hatte ihn in mehr als nur einer
Hinsicht Mut gekostet, William hierherzubringen und ihn mit Jamie
fortgehen zu lassen. Und ich nahm nicht an, daß er etwas dafür
konnte, daß er sich die Masern geholt hatte.
Ich legte die Wolle für den Augenblick beiseite und
stand auf, um den Wasserkessel aufzusetzen. Eine gute Tasse Tee war
wohl jetzt das beste. Als ich mich vor der Feuerstelle aufrichtete,
sah ich, wie Lord John den Kopf wandte. Durch meine Bewegung riß
ich ihn aus seinen Grübeleien.
»Tee?« sagte ich, zu verlegen, um ihm nach meinen
unfreundlichen Gedanken in die Augen zu sehen. Ich deutete mit
einer kleinen, fragenden Geste auf den Kessel.
Er lächelte schwach und nickte.
»Ich danke Euch, Mrs. Fraser.«
Ich nahm die Teedose aus dem Schrank, stellte zwei
Tassen und Löffel zurecht und fügte nachträglich das
Zuckerschüsselchen hinzu; keine Melasse heute abend.
Als ich den Tee fertig aufgegossen hatte, setzte
ich mich neben das Bett, um ihn zu trinken. Wir nippten ein paar
Augenblicke lang schweigend vor uns hin, und eine seltsame
Atmosphäre der Schüchternheit hing zwischen uns.
Schließlich stellte ich meine Tasse ab und
räusperte mich.
»Tut mir leid; ich hatte vorgehabt, Euch mein
Beileid zum Verlust Eurer Frau auszusprechen«, sagte ich sehr
förmlich.
Im ersten Moment machte er ein überraschtes Gesicht
und neigte dann ebenso förmlich als Antwort den Kopf.
»Was für ein Zufall, daß Ihr das gerade jetzt
sagt«, sagte er. »Ich hatte eben an sie gedacht.«
Während ich daran gewöhnt war, daß andere Leute
einen Blick auf mein Gesicht warfen und augenblicklich erkennen
konnten, was ich gerade dachte, war es seltsam befriedigend,
dasselbe mit jemand anderem tun zu können.
»Vermißt Ihr sie sehr - Eure Frau?« Ich stellte
diese Frage nur zögernd, doch er schien sie nicht aufdringlich zu
finden. Ich konnte mir beinahe vorstellen, daß er sich dasselbe
auch gefragt hatte, denn er antwortete zwar nachdenklich, aber
bereitwillig.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte er. Er sah mich
mit hochgezogener Augenbraue an. »Klingt das herzlos?«
»Das kann ich nicht sagen«, sagte ich ein wenig
schnippisch. »Ihr müßt doch selber besser wissen als ich, ob Ihr
ihr gegenüber Gefühle empfunden habt oder nicht.«
»Ja, das habe ich.« Er ließ seinen Kopf zurück auf
das Kissen fallen, und sein dichtes, helles Haar lag ihm lose um
die Schultern. »Vielleicht tue ich es immer noch. Das war es, warum
ich gekommen bin, versteht Ihr?«
»Nein, das kann ich nicht behaupten.«
Ich hörte Ian husten und erhob mich, um nach ihm zu
sehen, doch er hatte sich nur im Schlaf umgedreht; er lag auf dem
Bauch, und einer seiner langen Arme baumelte aus dem Rollbett. Ich
ergriff seine Hand - sie war immer noch heiß, doch es bestand keine
Gefahr - und legte sie neben seinem Gesicht auf das Kissen. Das
Haar war ihm in die Augen gefallen; ich strich es behutsam
zurück.
»Ihr könnt sehr gut mit ihm umgehen; habt Ihr
selbst Kinder?«
Erschrocken sah ich auf. Lord John beobachtete
mich, das Kinn auf seine Faust gestützt.
»Ich - wir - haben eine Tochter«, sagte ich.
Er riß die Augen auf.
»Wir?« fragte er scharf. »Das Mädchen ist Jamies
Tochter?«
»Nennt sie nicht ›das Mädchen‹«, sagte ich,
unsinnigerweise aufgebracht. »Ihr Name ist Brianna, und ja, sie ist
Jamies Tochter.«
»Entschuldigung«, sagte er sehr steif.
»Ich wollte Euch nicht beleidigen«, fügte er einen
Augenblick später in sanfterem Tonfall hinzu. »Ich war
überrascht.«
Ich sah ihn direkt an. Ich war zu müde, um den Takt
zu wahren.
»Und vielleicht ein bißchen eifersüchtig?«
Er hatte das Gesicht eines Diplomaten; hinter
dieser Fassade gutaussehender Liebenswürdigkeit konnte alles
mögliche vor sich gehen. Doch ich starrte ihn weiter an, und er
ließ die Maske fallen - ein Blitz der Erkenntnis erleuchtete die
hellblauen Augen, versetzt mit widerwilligem Humor.
»Ach so. Noch etwas, das wir gemeinsam haben.«
Seine Scharfsinnigkeit erschreckte mich, obwohl ich es hätte kommen
sehen sollen. Es ist immer etwas verwirrend, wenn man feststellt,
daß man Gefühle, die man sicher verborgen glaubte, in Wirklichkeit
auf dem Präsentierteller vor sich herträgt.
»Jetzt erzählt mir nicht, daß Ihr Euch darüber
keine Gedanken gemacht habt, als Ihr Euch entschlossen habt
hierherzukommen.«
Meine Teetasse war leer; ich stellte sie beiseite und griff wieder
nach meinem Wollstrang.
Er studierte mich einen Moment lang mit
zusammengekniffenen Augen.
»Doch, ich habe mir darüber Gedanken gemacht«,
sagte er schließlich. Er ließ seinen Kopf auf das Kissen fallen,
und sein Blick fixierte die niedrige Balkendecke. »Aber wenn ich so
menschlich - oder so engstirnig - war, es in Kauf zu nehmen, Euch
vor den Kopf zu stoßen, indem ich William herbrachte, so bitte ich
Euch auch, mir zu glauben, daß ein solcher Affront nicht der Grund
meines Kommens war.«
Ich legte das fertige Wollknäuel in den Korb und
nahm mir einen anderen Strang, den ich über der Lehne eines
Korbstuhls ausbreitete.
»Ich glaube Euch«, sagte ich, den Blick fest auf
den Strang gerichtet. »Wenn auch nur deshalb, weil der Aufwand mir
ziemlich groß erscheint. Aber was war der Grund?«
Ich spürte an seiner Bewegung, daß er mit den
Achseln zuckte; die Laken raschelten.
»Er liegt doch auf der Hand - damit Jamie den
Jungen sehen konnte.«
»Und ein anderer liegt auch auf der Hand - damit
Ihr Jamie sehen konntet.«
Die Stille im Bett war geladen. Ich hielt meinen
Blick auf das Garn gerichtet und drehte das Knäuel, während ich den
Strang abwickelte, auf und ab, vor und zurück, ein kompliziertes
Gewirr, das am Ende eine perfekte Kugel ergeben würde.
»Ihr seid eine bemerkenswerte Frau«, sagte er
schließlich sehr ruhig.
»Ach ja?« sagte ich, ohne aufzublicken.
»Inwiefern?«
Er lehnte sich zurück; ich hörte wieder sein
Bettzeug rascheln.
»Ihr nehmt weder Rücksicht, noch macht Ihr
irgendwelche Umschweife. Ich glaube wirklich nicht, daß ich jemals
einem Menschen begegnet bin, dessen Direktheit vernichtender war -
Mann oder Frau.«
»Das habe ich mir aber nicht ausgesucht«, sagte
ich. Ich erreichte das Ende des Fadens und steckte ihn ordentlich
in das Knäuel. »Ich bin so geboren.«
»Ich auch«, sagte er ganz leise.
Ich gab keine Antwort; ich hatte nicht das Gefühl,
daß er beabsichtigt hatte, daß ich es hörte.
Ich stand auf und ging zum Schrank. Ich nahm drei
Gläser heraus: Katzenminze, Baldrian und wilden Ingwer. Ich holte
den Marmormörser herunter und kippte die getrockneten Blätter und
Wurzelstückchen
hinein. Ein Wassertropfen fiel vom Kessel herab und verdampfte
zischend.
»Was macht Ihr da?« fragte Lord John.
»Einen Aufguß für Ian«, sagte ich und wies mit
einem Nicken auf das Rollbett. »Den gleichen, den ich Euch vor vier
Tagen gegeben habe.«
»Ah. Wir haben auf dem Weg von Wilmington von Euch
gehört«, sagte Grey. Seine Stimme war jetzt beiläufig, er machte
Konversation. »Es scheint, als wären Eure Fähigkeiten in der Gegend
gut bekannt.«
»Mm.« Ich stampfte und mahlte, und der starke,
würzige Geruch des wilden Ingwers erfüllte das Zimmer.
»Man sagt, Ihr seid eine Beschwörerin. Wißt Ihr,
was das ist?«
»Alles mögliche, von einer Hebamme oder Ärztin bis
hin zu einer Zauberin oder Hellseherin«, sagte ich. »Je nachdem,
wer es sagt.«
Er machte ein Geräusch, das wie Gelächter klang,
und schwieg dann eine Zeitlang.
»Ihr glaubt also, daß ihnen nichts passiert.« Es
war eine Aussage, aber eigentlich stellte er eine Frage.
»Ja. Jamie hätte den Jungen nicht mitgenommen, wenn
er es für gefährlich gehalten hätte. Das wißt Ihr doch sicher, wenn
Ihr ihn auch nur ein bißchen kennt?« fügte ich hinzu und sah ihn
an.
»Ich kenne ihn«, sagte er.
»Aha«, sagte ich.
Er schwieg einen Moment, und man hörte nur, wie er
sich kratzte.
»Ich kenne ihn so gut - oder glaube es zumindest
-,daß ich es riskiere, William allein mit ihm fortgehen zu lassen.
Und daß ich mir sicher bin, daß er William nicht die Wahrheit
sagt.«
Ich schüttelte das grüngelbe Pulver auf ein kleines
Quadrat aus Baumwollgaze und band es ordentlich zu einem kleinen
Beutel zusammen.
»Nein, das wird er nicht, da habt Ihr recht.«
»Und Ihr?«
Ich sah ihn aufgeschreckt an.
»Ihr glaubt wirklich, daß ich das tun würde?« Er
betrachtete einen Augenblick lang sorgfältig mein Gesicht und
lächelte dann.
»Nein«, sagt er. »Danke.«
Ich schnaubte kurz und ließ den Arzneibeutel in die
Teekanne fallen. Ich stellte die Kräutergefäße zurück und setzte
mich wieder mit der vermaledeiten Wolle hin.
»Es war großzügig von Euch - Willie mit Jamie gehen
zu lassen. Sehr tapfer«, fügte ich etwas widerstrebend hinzu. Ich
sah auf; er
starrte auf das lederverhangene Fenster, das als dunkles Rechteck
sichtbar war, als könne er hindurchblicken und dahinter zwei
Menschen Seite an Seite im Wald sehen.
»Jamie hält jetzt schon seit vielen Jahren mein
Leben in der Hand«, antwortete er leise. »Ich kann ihm Williams
anvertrauen.«
»Und was, wenn Willie sich besser an einen
Stallknecht namens MacKenzie erinnert, als Ihr glaubt? Oder
zufällig einen genauen Blick auf sein eigenes Gesicht und auf
Jamies wirft?«
»Zwölfjährige Jungen bestechen nicht unbedingt
durch die Schärfe ihrer Wahrnehmung«, sagte Grey trocken. »Und ich
glaube nicht, daß ein Junge, der sein ganzes Leben in der sicheren
Annahme verbracht hat, der neunte Graf von Ellesmere zu sein, auf
den Gedanken käme, daß er in Wirklichkeit der außereheliche
Nachkomme eines schottischen Stallknechtes sein könnte - oder daß
er sich mit diesem Gedanken lange befassen würde, wenn es doch
geschähe.«
Ich wickelte schweigend meine Wolle auf und
lauschte dem Knistern des Feuers. Ian hustete wieder, wachte aber
nicht auf. Der Hund hatte sich bewegt und lag jetzt zusammengerollt
als dunkler Fellberg neben seinen Beinen.
Ich wickelte das zweite Knäuel fertig auf und
begann ein neues. Noch eins, und der Aufguß würde durchgezogen
sein. Wenn Ian mich noch nicht brauchte, würde ich mich dann
hinlegen.
Grey hatte so lange geschwiegen, daß es mich
überraschte, als er wieder zu sprechen begann. Als ich zu ihm
hinüberschaute, sah er mich nicht an, sondern starrte nach oben und
suchte erneut zwischen den rauchgefleckten Balken nach einer
Vision.
»Ich habe Euch gesagt, daß ich Gefühle für meine
Frau empfunden habe«, sagte er leise. »Das habe ich auch.
Zuneigung. Vertrautheit. Loyalität. Wir kannten uns ein Leben lang;
unsere Väter waren befreundet; ich kannte ihren Bruder. Sie hätte
gut meine Schwester gewesen sein können.«
»Und war sie damit zufrieden - Eure Schwester zu
sein?«
Er warf mir einen Blick zu, der irgendwo zwischen
Verärgerung und Interesse lag.
»Es muß sehr unbequem sein, mit einer Frau wie Euch
zusammenzuleben.« Er schloß den Mund, konnte es aber nicht dabei
belassen. Er zuckte ungeduldig mit den Achseln. »Ja, ich glaube sie
ist mit ihrem Leben zufrieden gewesen. Sie hat nie gesagt, daß es
nicht so war.«
Ich gab darauf keine Antwort, atmete aber ziemlich
kräftig durch die Nase aus. Er zuckte unangenehm berührt mit den
Achseln und kratzte sich am Schlüsselbein.
»Ich bin ihr ein angemessener Ehemann gewesen«,
sagte er defensiv. »Daß wir keine eigenen Kinder hatten - das war
nicht meine -«
»Das will ich gar nicht wissen!«
»Ach, wirklich nicht?« Seine Stimme war immer noch
leise, um Ian nicht aufzuwecken, doch sie hatte die glatten
Modulationen der Diplomatie verloren; seine Wut war jetzt offen zu
hören.
»Ihr habt mich gefragt, warum ich hier bin; Ihr
habt meine Beweggründe in Frage gstellt; Ihr habt mich der
Eifersucht bezichtigt. Vielleicht wollt Ihr es wirklich nicht
wissen, denn wenn Ihr es wüßtet, dann könntet Ihr nicht mehr länger
so über mich denken, wie es Euch paßt.«
»Und woher wollt Ihr zum Teufel wissen, was ich von
Euch denke?«
Sein Mund verzog sich zu einem Ausdruck, der in
einem weniger gutaussehenden Gesicht eine Hohngrimasse gewesen
wäre.
»Tue ich das nicht?«
Ich sah ihm eine Minute lang voll ins Gesicht, ohne
zu versuchen, irgend etwas zu verbergen.
»Ihr habt von Eifersucht gesprochen«, sagte er
einen Augenblick später leise.
»Das habe ich. Ihr aber auch.«
Er wandte den Kopf ab, fuhr aber einen Augenblick
später fort.
»Als ich erfuhr, daß Isobel gestorben war… da hat
es mir nichts bedeutet. Wir hatten jahrelang zusammengelebt, uns
aber seit fast zwei Jahren nicht gesehen. Wir hatten unser Bett
geteilt; wir hatten unser Leben geteilt, dachte ich. Es hätte mir
etwas ausmachen müssen. Aber es war nicht so.«
Er holte tief Luft; ich sah, wie sich das Bettzeug
bewegte, als er es sich bequemer machte.
»Ihr habt von Großzügigkeit gesprochen. Das ist es
nicht gewesen. Ich bin gekommen, um zu sehen… ob ich noch etwas
empfinden kann«, sagte er. Sein Kopf war immer noch von mir
abgewandt, und er starrte auf das lederverhangene Fenster, das sich
mit der Nacht verdunkelt hatte. »Ob es meine Gefühle waren, die
gestorben sind, oder nur Isobel.«
»Nur Isobel.«
Er lag einen Moment lang völlig still und hielt
sein Gesicht von mir abgewandt.
»Ich kann zumindest immer noch Scham empfinden«,
sagte er tonlos.
Ich wußte gefühlsmäßig, daß es sehr spät war; das
Feuer war heruntergebrannt,
und meine schmerzenden Muskeln sagten mir, daß ich längst ins Bett
gehörte.
Ian wurde unruhig; er regte sich stöhnend im
Schlaf, und Rollo stand auf und beschnüffelte ihn unter leisem
Winseln. Ich ging zu ihm und wischte ihm erneut das Gesicht ab,
schüttelte ihm das Kissen auf und zog seine Decke gerade, wobei ich
ihm beruhigend zumurmelte. Er war kaum halb wach; ich stützte
seinen Kopf und flößte ihm eine Tasse des warmen Aufgusses ein,
Schluck für Schluck.
»Morgen geht es dir besser.« In seinem offenen
Hemdkragen konnte ich Flecken erkennen - bis jetzt nur ein paar
-,doch das Fieber hatte nachgelassen, und die Furche zwischen
seinen Augenbrauen hatte sich geglättet.
Ich wischte ihm noch einmal über das Gesicht und
ließ ihn auf sein Kissen zurücksinken, wo er seine Wange auf das
kühle Leinen drehte und sofort wieder einschlief.
Es war noch viel von dem Tee übrig. Ich goß noch
eine Tasse voll und hielt sie Lord John hin. Überrascht setzte er
sich hin und nahm sie mir ab.
»Und jetzt, wo Ihr gekommen seid und ihn gesehen
habt - empfindet Ihr immer noch Gefühle?«
Er starrte mich an, die Augen reglos im
Kerzenlicht.
»Ja, das tue ich.« Mit einer Hand, die so reglos
wie ein Felsen war, hob er die Tasse hoch und trank. »Gott steh mir
bei«, sagte er so beiläufig, daß es beinahe unbeteiligt
klang.
Ian hatte eine schlechte Nacht, fiel aber kurz vor
der Dämmerung in einen unruhigen Halbschlaf. Ich nutzte die
Gelegenheit, mich selbst ein bißchen auszuruhen, und schaffte es,
ein paar erholsame Stunden auf dem Boden zu schlafen, bis mich
Clarence, der Maulesel, mit lautem Trompeten weckte.
Clarence liebte Gesellschaft und war grenzenlos
entzückt, wenn sich irgend etwas näherte, das er für einen Freund
hielt - diese Kategorie umfaßte quasi alles, was vier Beine hatte.
Er verlieh seiner Freude mit lauter Stimme Ausdruck, die vom Hang
des Berges widerhallte. Rollo, der es als Affront ansah, einfach so
an die zweite Stelle der Wachhundabteilung gedrängt zu werden,
sprang von Ians Bett und fegte über mich hinweg zum offenen Fenster
hinaus, heulend wie ein Werwolf.
Das schreckte mich aus dem Schlaf, und ich kam
stolpernd auf die Beine. Lord John, der im Hemd am Tisch saß, sah
ebenfalls erschrocken aus, doch ich konnte nicht sagen, ob es an
dem Aufruhr
oder an meiner Erscheinung lag. Ich ging hinaus und fuhr mir
hastig mit den Fingern durch meine verworrenen Locken. Mein Herz
schlug schneller, denn ich hoffte, daß Jamie nach Hause gekommen
war.
Mein Herz sank, als ich sah, daß es nicht Jamie und
Willie waren, doch auf meine Enttäuschung folgte rasch Erstaunen,
als ich sah, wer der Besucher war - Pastor Gottfried, das Oberhaupt
der Lutheranischen Gemeinde in Salem. Ich war dem Pastor schon ein
paarmal in den Häusern von Mitgliedern seiner Gemeinde begegnet,
denen ich ärztliche Besuche abstattete, doch ich war mehr als
überrascht, ihn so weit draußen anzutreffen.
Es waren fast zwei Tagesritte von Salem nach
Fraser’s Ridge, und der nächste Deutsch-Lutheranische Hof war
mindestens fünfzehn unwegsame Meilen entfernt.
Der Pastor war kein geborener Reiter - ich konnte
den Schmutz und Staub wiederholter Stürze auf dem Rücken seines
schwarzen Rocks verteilt sehen - und ich dachte mir, daß der
Notfall, der ihn so weit den Berg herauf führte, dringend sein
mußte.
»Platz, dummer Hund!« sagte ich scharf zu Rollo,
der seine Zähne fletschte und den Neuankömmling zum großen
Unbehagen seines Pferdes anknurrte. »Sei still, sage ich!«
Rollo warf mir einen gelbäugigen Blick zu und ergab
sich mit einer Aura beleidigter Würde, als wollte er andeuten, daß
er nicht für die Konsequenzen geradestehen würde, wenn ich
offensichtliche Bösewichte auf dem Grundstück willkommen heißen
wollte.
Der Pastor war ein kleiner, rundlicher Mann mit
einem lockigen, grauen Vollbart, aus dem normalerweise sein Gesicht
so fröhlich hervorlugte wie die Sonne aus einer Sturmwolke. Heute
morgen strahlte er allerdings nicht; seine runden Wangen hatten die
Farbe von Talg, die aufgedunsenen Lippen waren bleich, und seine
Augen waren vor Erschöpfung rot gerändert.
Er begrüßte mich auf Deutsch, lüftete den Hut und
verneigte sich tief aus der Hüfte.
Ich sprach nur ein paar simple Worte Deutsch,
konnte aber leicht erkennen, daß er Jamie suchte. Ich schüttelte
den Kopf und wies vage auf den Wald, um Jamies Abwesenheit
anzudeuten.
Der Pastor sah noch verstörter aus als zuvor und
rang fast die Hände vor Sorge. Er sprach ein paar Sätze, die
flehend klangen, und als er sah, daß ich ihn nicht verstand,
wiederholte er sich, wobei er langsamer und lauter sprach. Sein
untersetzter Körper rang um Ausdruck, und er versuchte, mich durch
schiere Willenskraft zum Verstehen zu zwingen.
Ich schüttelte immer noch hilflos den Kopf, als
hinter mir eine scharfe Stimme erklang.
In forderndem Tonfall sprach Lord John ein paar
deutsche Worte und trat vor die Tür. Wie ich erfreut feststellte,
hatte er seine Kniehosen angezogen, obwohl er immer noch barfuß war
und ihm das blonde Haar lose über die Schultern strömte.
Der Pastor warf mir einen entsetzten Blick zu und
ging eindeutig vom Schlimmsten aus, doch Lord John wischte ihm
diesen Ausdruck mit einem weiteren deutschen Wortschwall aus dem
Gesicht. Der Pastor verneigte sich entschuldigend vor mir und
wandte sich dann eifrig an den Engländer. Er stotterte und
gestikulierte in seiner Hast, seine Geschichte zu erzählen.
»Was?« sagte ich, da es mir nicht gelungen war,
mehr als ein oder zwei Worte aus der teutonischen Sturmflut
aufzufangen. »Was in aller Welt sagt er?«
Grey wandte sich mit grimmigem Gesicht an
mich.
»Kennt Ihr eine Familie namens Mueller?«
»Ja«, sagte ich, und bei der Nennung des Namens
flackerte sofort Alarm in mir auf. »Ich habe Petronella Mueller vor
drei Wochen entbunden.«
»Ah.« Grey leckte sich die trockenen Lippen und sah
zu Boden; er wollte es mir nicht sagen. »Das - das Kind ist tot,
fürchte ich. Und die Mutter auch.«
»Oh, nein.« Ich sank auf die Bank neben der Tür,
und absolute Hilflosigkeit überschwemmte mich. »Nein. Das kann
nicht sein.«
Grey rieb sich mit der Hand über den Mund und
nickte, während der Pastor weitersprach und dabei aufgeregt seine
kleinen, fetten Hände schwenkte.
»Er sagt, es waren die Masern.«
Er fuhr auf Deutsch an den Pastor gewandt fort und
deutete auf die Reste des Ausschlags, die immer noch in seinem
Gesicht zu sehen waren.
Der Pastor nickte nachdrücklich und wiederholte
Lord Johns Worte, wobei er sich auf die eigenen Wangen
klopfte.
»Aber wozu braucht er Jamie?« fragte ich, und
Verwunderung mischte sich unter meine Besorgnis.
»Offensichtlich glaubt er, daß Jamie in der Lage
sein könnte, den Mann zur Vernunft zu bringen - Herrn Mueller. Sind
die beiden befreundet?«
»Nicht direkt, nein. Jamie hat Gerhard Mueller
letztes Frühjahr vor der Mühle ins Gesicht geboxt und ihn
niedergeschlagen.«
In Lord Johns von Krusten überzogener Wange zuckte
ein Muskel.
»Ich verstehe. Dann bentuzt er also den Begriff
›zur Vernunft bringen‹ im weitesten Sinne, ja?«
»Mueller kann man nur mit Methoden zur Vernunft
bringen, die nicht komplexer sind als ein Axtstiel«, sagte ich.
»Aber inwiefern ist er denn unvernünftig?«
Grey zögerte, wandte sich dann erneut an den
kleinen Priester, fragte ihn noch etwas und lauschte gebannt dem
darauffolgenden deutschen Sturzbach.
Stück für Stück, unter ständigen Unterbrechungen
und häufigem Gestikulieren, kam die Übersetzung der Geschichte
heraus.
Wie Lord John uns schon berichtet hatte, gab es
eine Masernepidemie in Cross Creek. Diese hatte offensichtlich auf
das Hinterland übergegriffen; mehrere Haushalte in Salem waren
betroffen, doch die Muellers hatten dank ihrer Isolation bis vor
kurzem keine Ansteckung erlitten.
Doch am Tag, bevor sich die ersten Masernsymptome
zeigten, hatte eine kleine Gruppe Indianer auf dem Muellerhof
haltgemacht und hatte um etwas zu Essen und zu Trinken gebeten.
Mueller, mit dessen Ansichten über Indianer ich bestens vertraut
war, hatte sie unter einem Schwall von Beschimpfungen verjagt. Die
beleidigten Indianer hatten - so Mueller - mysteriöse Zeichen in
Richtung des Hauses gemacht, als sie fortritten.
Als am nächsten Tag die Masern in der Familie
ausbrachen, stand für Mueller fest, daß ihnen die Krankheit
angehext worden war, daß die Indianer, die er vor den Kopf gestoßen
hatte, sie über sein Haus gebracht hatten. Er hatte sogleich
Symbole gegen den Zauber auf die Wände gemalt und den Pastor aus
Salem herbeigerufen, damit er einen Exorzismus durchführte… »Ich
glaube, das hat er gesagt«, fügte Lord John zweifelnd hinzu. »Aber
ich bin mir nicht sicher, ob er damit meint…«
»Egal«, sagte ich ungeduldig. »Weiter!«
Keine dieser Vorsichtsmaßnahmen hatte Mueller etwas
genützt, und als Petronella und das Neugeborene der Krankheit
erlagen, hatte der alte Mann den Rest seines Verstandes verloren.
Unter Racheschwüren gegen die Wilden, die diese Katastrophe über
seinen Haushalt gebracht hatten, hatte er seine Söhne und
Schwiegersöhne gezwungen, ihn zu begleiten, und war in die Wälder
davongeritten.
Vor drei Tagen waren sie von dieser Expedition
zurückgekehrt, die Söhne bleich und schweigsam, der alte Mann
fiebernd vor kalter Genugtuung.
Gottfried sprach weiter, und die Erinnerung trieb
ihm den Schweiß ins Gesicht. Ich war dort, hatte er gesagt.
Ich habe ihn gesehen.
Von einer hysterischen Botschaft der Frauen
herbeigerufen, war der Pastor in den Stallhof geritten und hatte
zwei lange, schwarze Haarzöpfe vorgefunden, die vom Scheunentor
herabhingen und sich sanft über einer grob gemalten deutschen
Aufschrift im Wind wiegten.
»Das heißt ›Rache‹«, übersetzte Lord John für
mich.
»Ich weiß«, sagte ich, und mein Mund war so
ausgetrocknet, daß ich kaum sprechen konnte. »Ich habe Sherlock
Holmes gelesen. Ihr meint, er…«
»Ganz offensichtlich.«
Der Pastor redete immer noch; er ergriff meinen Arm
und schüttelte ihn, um mir die Dringlichkeit seiner Botschaft
klarzumachen. Greys Blick verschärfte sich als Reaktion auf die
folgenden Worte des Priesters, und er unterbrach ihn mit einer
abrupten Frage, die mit wildem Kopfnicken beantwortet wurde.
»Er ist auf dem Weg hierher. Mueller.« Grey schwang
mit alarmiertem Gesicht zu mir herum.
Der Pastor, der über die Skalpe fürchterlich
erschrocken war, hatte sich auf die Suche nach Herrn Mueller
gemacht und mußte feststellen, daß der Patriarch seine grausigen
Trophäen an die Scheune genagelt und dann den Hof verlassen hatte,
in Richtung Fraser’s Ridge - hatte er gesagt -,um mich
aufzusuchen.
Wenn ich nicht schon gesessen hätte, wäre ich bei
dieser Nachricht vielleicht zusammengebrochen. Ich fühlte, wie mir
das Blut aus den Wangen wich, und ich war mir sicher, daß ich
mindestens so bleich war wie Pastor Gottfried.
»Warum?« sagte ich. »Ist er - er kann doch nicht!
Er kann doch nicht glauben, daß ich Petronella oder dem Baby etwas
angetan habe. Oder?« Ich wandte mich flehend an den Pastor, der
sich mit seiner aufgedunsenen, zitternden Hand durch sein
graumeliertes Haar fuhr und die sorgsam eingefetteten Strähnen
durcheinanderbrachte.
»Der Kirchenmann weiß nicht, was in Mueller vorgeht
oder in welcher Absicht er kommt«, sagte Lord John. Er ließ den
Blick interessiert über die wenig einnehmende Gestalt des Pastors
gleiten. »Zu seiner großen Ehre ist er Mueller ganz allein wie der
Teufel hinterhergeritten und hat ihn zwei Stunden später gefunden -
bewußtlos am Straßenrand.«
Der hünenhafte, alte Bauer hatte offenbar auf
seiner Jagd nach
Rache tagelang nichts gegessen. Maßlosigkeit war keine Schwäche,
die man bei den Lutheranern fand. Doch so müde und aufgewühlt, wie
er war, hatte Mueller nach seiner Rückkehr reichlich getrunken, und
die enormen Biermassen, die er konsumiert hatte, waren zuviel für
ihn gewesen. Vom Alkohol überwältigt hatte er es noch geschafft,
sein Maultier anzubinden, hatte sich dann aber in seinen Rock
gehüllt und war unter der Kriechenden Heide am Straßenrand
eingeschlafen.
Der Pastor hatte keinen Versuch unternommen,
Mueller zu wekken, denn er kannte das Temperament des Mannes gut
und hatte nicht das Gefühl, daß Alkohol es verbessern würde. Statt
dessen war Gottfried seinerseits aufs Pferd gestiegen und war
losgeritten, so schnell er konnte, im Vertrauen darauf, daß ihn die
Vorsehung schon rechtzeitig hier eintreffen lassen würde, um uns zu
warnen.
Er hatte keinen Zweifel gehabt, daß mein Mann in
der Lage sein würde, unabhängig von Muellers Geisteszustand oder
Absicht mit diesem fertig zu werden, aber da er nicht da war…
Pastor Gottfried blickte hilflos von mir zu Lord
John und wieder zurück.
Auf Deutsch legte er uns nahe wegzugehen, und
verdeutlichte uns, was er meinte, in dem er mit einem Ruck seines
Kopfes auf die Koppel wies.
»Ich kann nicht fort«, sagte ich. Ich deutete auf
das Haus und erklärte ihm in gebrochenem Deutsch, daß mein Neffe
krank sei.
Lord John verbesserte meine Bemühungen ungeduldig
und stellte dem Pastor eine weitere Frage.
Dieser schüttelte den Kopf, und seine Sorge
verwandelte sich in Erschrecken.
»Er hat die Masern noch nicht gehabt«, sagte Lord
John an mich gewandt. »Er darf also nicht hierbleiben, sonst läuft
er Gefahr, sich anzustecken, nicht wahr?«
»Ja.« Der Schock begann nachzulassen, und ich fing
an, mich zusammenzureißen. »Ja, er sollte sofort gehen. Eure Nähe
ist nicht gefährlich für ihn, Ihr seid nicht mehr ansteckend. Ian
dagegen schon.« Ich unternahm einen vergeblichen Versuch, mein Haar
zu glätten, das mir zu Berge stand - kein Wunder, dachte ich. Dann
fielen mir die Skalpe an Muellers Scheunentor ein, und mir standen
wirklich die Haare zu Berge. Über meine eigene Kopfhaut lief
vor Schreck eine Gänsehaut.
Lord John sprach im Befehlston mit dem kleinen
Pastor und drängte ihn zu seinem Pferd, indem er ihn am Ärmel zog.
Gottfried legte Protest
ein, doch der wurde schwächer und schwächer. Er blickte zu mir
zurück, das runde Gesicht voller Sorge.
Ich versuchte, ihm beruhigend zuzulächeln, doch ich
war genauso beunruhigt wie er.
»Danke«, sagte ich. »Sagt ihm, uns wird schon
nichts geschehen, ja?« sagte ich zu Lord John. »Sonst geht er
nicht.« Er nickte kurz.
»Das habe ich schon. Ich habe ihm gesagt, daß ich
Soldat bin; daß ich nicht zulasse, daß Euch etwas zustößt.«
Der Pastor blieb stehen, die Zügel in der Hand, und
sprach ernst mit Lord John. Dann ließ er die Zügel fallen, wandte
sich entschlossen um und kam über den Hof zu mir. Er streckte die
Hand aus und legte sie sanft auf meinen zerzausten Kopf.
Er sprach zwei deutsche Worte und fügte die
lateinische Übersetzung an. »Benedicite«, sagte er.
»Er hat gesagt -«, begann Lord John.
»Ich verstehe.«
Wir standen schweigend vor der Tür und sahen zu,
wie Gottfried durch den Kastanienhain ritt. Der Friede hier draußen
kam mir unpassend vor, die sanfte Herbstsonne auf meinen Schultern
und die Vögel, die in den Wipfeln der Bäume saßen. Ich hörte in der
Ferne einen Specht klopfen, und die Spottdrosseln, die in der
großen Blaufichte hausten, sangen ein fließendes Duett. Keine
Eulen, aber natürlich gab es jetzt keine Eulen; es war
Vormittag.
Wer? frage ich mich, als mir ein anderer
Aspekt der Tragödie mit Verspätung in den Sinn kam. Wer war das
Ziel von Muellers blinder Rache gewesen? Der Hof der Muellers lag
mehrere Tagesritte von der Bergkette entfernt, die das
Indianerterritorium von den Siedlungen trennte, doch je nachdem,
wohin er sich gewendet hatte, konnte er mehrere Dörfer der
Tuscarora oder Cherokee erreicht haben.
War er in ein Dorf eingedrungen? Und wenn, wieviel
Blutvergießen hatten er und seine Söhne hinterlassen? Schlimmer
noch, wieviel Blutvergießen würde daraus entstehen?
Mich schauderte, und trotz des Sonnenscheins wurde
mir kalt. Mueller war nicht der einzige, der an Rache glaubte. Die
Familie, der Clan, das Dorf derjenigen, die er ermordet hatte - sie
würden ebenfalls Rache für ihre Gefallenen suchen; und sie würden
sich vielleicht nicht mit den Muellers begnügen - wenn sie
überhaupt wußten, wer die Mörder waren.
Und wenn nicht, wenn sie nur wußten, daß die Mörder
Weiße waren… Mich schauderte erneut. Ich hatte schon genug
Geschichten von Massakern gehört, um zu wissen, daß die Opfer nur
sehr selten
ihr Schicksal selbst provoziert hatten; sie hatten nur das Pech,
zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Fraser’s Ridge lag genau
zwischen dem Muellerhof und den Indianerdörfern - was im Moment
entschieden der falsche Ort zu sein schien.
»Oh, Gott, ich wünschte, Jamie wäre hier.« Mir war
nicht bewußt, daß ich laut gesprochen hatte, bis Lord John
antwortete.
»Ich auch«, sagte er. »Obwohl ich anfange zu
glauben, daß William bei ihm viel sicherer ist als er es hier wäre
- und das nicht nur wegen der Krankheit.«
Ich sah ihn an, und plötzlich wurde mir klar, wie
schwach er immer noch war; dies war das erste Mal seit einer Woche,
daß er das Bett verlassen hatte. Unter den Überresten des
Ausschlags war sein Gesicht weiß, und er lehnte sich gegen den
Türpfosten, um nicht hinzufallen.
»Ihr solltet überhaupt nicht auf sein!« rief ich
aus und faßte ihn am Arm. »Geht ins Haus und legt Euch sofort
hin.«
»Ich habe nichts«, sagte er gereizt, zog aber weder
den Arm weg noch protestierte er, als ich darauf bestand, daß er
sich wieder ins Bett legte.
Ich kniete mich hin, um nach Ian zu sehen, der sich
unruhig und fieberglühend auf dem Rollbett herumwarf. Seine Augen
waren geschlossen, seine Gesichtszüge geschwollen und durch den
ausbrechenden Ausschlag entstellt, und die Lymphdrüsen in seinem
Hals waren so rund und hart wie Eier.
Rollo steckte fragend die Nase unter meinem
Ellbogen durch, stieß seinen Herrn sanft an und jaulte.
»Er wird schon wieder«, sagte ich bestimmt. »Warum
gehst du nicht nach draußen und hältst Ausschau nach unserem
Besuch, hm?«
Doch Rollo ignorierte diesen Rat und saß statt
dessen da und sah geduldig zu, wie ich ein Tuch in kühlem Wasser
auswrang und Ian wusch. Ich rüttelte ihn halb wach, bürstete ihm
die Haare, gab ihm den Nachttopf und überredete ihn, etwas
Melissensirup zu sich zu nehmen - und lauschte dabei die ganze Zeit
auf Hufschläge und Clarences fröhliche Ankündigung, daß wir
Gesellschaft bekamen.
Es wurde ein langer Tag. Nachdem ich stundenlang
bei jedem Geräusch zusammengefahren war und bei jedem Schritt über
meine Schulter geblickt hatte, konzentrierte ich mich schließlich
auf meine Tagesarbeit. Ich versorgte Ian, der fieberte und sich
elend fühlte, fütterte das Vieh, rupfte Unkraut im Garten, pflückte
zarte, junge Gurken zum Einlegen und ließ Lord John, der mir seine
Hilfe anbot, Bohnen enthülsen.
Auf dem Weg vom Abort zum Ziegenstall blickte ich
sehnsuchtsvoll in den Wald. Ich hätte viel darum gegeben, einfach
in diese kühlen, grünen Tiefen davonzuwandern. Es wäre nicht das
erste Mal gewesen, daß ich einen solchen Impuls hatte. Doch die
Herbstsonne brannte auf unseren Hof herab, und die Stunden
verstrichen in friedlicher Stille ohne ein Spur von Gerhard
Mueller.
»Erzählt mir von diesem Mueller«, sagte Lord John.
Sein Appetit kehrte zurück; er hatte seine Portion gebratene
Champignons komplett gegessen, obwohl er den Salat aus
Löwenzahnblättern und Kermesbeeren beiseite geschoben hatte.
Ich dagegen pflückte einen zarten Kermesbeerenstiel
aus der Schüssel, knabberte daran und genoß den scharfen
Geschmack.
»Er ist das Oberhaupt einer großen Familie;
Deutsch-Lutheraner, wie Ihr zweifellos mitbekommen habt. Sie wohnen
ungefähr fünfzehn Meilen von hier, unten im Flußtal.«
»Ja?«
»Gerhard ist groß, und er ist stur, wie Ihr
ebenfalls zweifelsohne mitbekommen habt. Spricht ein paar Worte
Englisch, aber nicht viel. Er ist alt, aber, mein Gott, er ist
stark!« Ich konnte immer noch vor mir sehen, wie der alte Mann,
dessen Schultern von sehnigen Muskeln durchflochten waren, fünfzig
Pfund schwere Mehlsäcke in seinen Wagen warf, als enthielten sie
Federn.
»Dieser Streit, den er mit Jamie hatte - hat er den
Eindruck gemacht, als wäre er von der nachtragenden Sorte?«
»Er ist definitiv von der nachtragenden Sorte, aber
nicht deswegen. Es war kein richtiger Streit. Es -« Ich schüttelte
den Kopf und suchte nach einer Möglichkeit, es zu beschreiben.
»Kennt Ihr Euch mit Maultieren aus?«
Seine hellen Augenbrauen hoben sich, und er
lächelte.
»Ein bißchen, ja.«
»Also, Gerhard Mueller ist wie ein Maultier. Er ist
nicht grundsätz lich böswillig, und man kann ihn auch nicht als
dumm bezeichnen - aber er hat nicht besonders viel Aufmerksamkeit
für die Dinge übrig, die sich außerhalb seines Kopfes abspielen,
und man kann ihn nur mit viel Kraft dazu bewegen, sie auf irgend
etwas anderes zu richten.«
Ich war bei der Auseinandersetzung in der Mühle
nicht dabeigewesen, doch Ian hatte sie mir beschrieben. Der Alte
hatte es sich fest in den Kopf gesetzt, daß Felicia Woolam, eine
der drei Töchter des Mühlenbesitzers, ihn beim Wiegen übervorteilt
hatte und ihm noch einen Sack Mehl schuldete.
Felicia hatte vergebens eingewandt, daß er ihr fünf
Säcke Weizen
gebracht hatte; sie hatte sie gemahlen und vier Säcke mit dem
resultierenden Mehl gefüllt. Sie hatte darauf beharrt, daß die von
den Körnern getrennte Spreu und die Hülsen den Unterschied
ausmachten. Fünf Säcke Weizen ergaben vier Säcke Mehl.
»Fünf!« hatte Mueller gesagt. »Es gibt fünf!« Er
war nicht vom Gegenteil zu überzeugen und begann, kräftig auf
Deutsch zu fluchen, wobei er das Mädchen wütend anstarrte und sie
in eine Ecke drängte.
Ian, der erfolglos versucht hatte, die
Aufmerksamkeit des alten Mannes auf sich zu ziehen, war nach
draußen gesaust, um Jamie zu holen, der sich gerade mit Mr. Woolam
unterhielt. Die beiden Männer waren in die Mühle geeilt, hatten
aber nicht mehr Erfolg als Ian dabei, Mueller von der Überzeugung
abzubringen, daß man ihn betrogen hatte.
Er hatte ihre Ermahnungen ignoriert und sich
Felicia in der klaren Absicht genähert, sich mit Gewalt einen
weiteren Mehlsack von dem Haufen hinter ihr zu nehmen.
»An dieser Stelle gab Jamie es auf, mit ihm zu
argumentieren, und hat ihn geschlagen«, sagte ich.
Er hatte anfangs gezögert, es zu tun, da Mueller
fast siebzig ist, hatte aber seine Meinung rapide geändert als sein
erster Schlag von Muellers Kinn abprallte, als bestünde es aus gut
abgelagertem Eichenholz.
Der alte Mann war auf ihn losgegangen wie ein in
die Enge getriebener Keiler, worauf Jamie ihn so fest wie möglich
erst in den Magen und dann auf den Mund geboxt hatte. Damit hatte
er Mueller niedergeschlagen und sich die Fingerknöchel an den
Zähnen des alten Mannes aufgerissen.
Mit einer an Woolam gerichteten Bemerkung - der
Quäker war und daher Gewalt ablehnte - hatte er Mueller dann an den
Beinen gepackt und den benommenen Bauern nach draußen gezerrt, wo
einer von Muellers Söhnen geduldig im Wagen wartete. Jamie hatte
den alten Mann am Kragen hochgehievt, ihn gegen den Wagen gedrückt
und ihn dort festgehalten. Er hatte freundlich auf deutsch auf ihn
eingeredet, bis Mr. Woolam - der das Mehl hastig umverpackt hatte -
herausgekommen war und unter dem bohrenden Blick des alten Mannes
fünf Säcke in den Wagen geladen hatte.
Mueller hatte sie zweimal sorgfältig durchgezählt,
sich dann an Jamie gewandt und sich würdevoll bedankt. Dann war er
neben seinem verblüfften Sohn auf den Wagen gestiegen und
davongefahren.
Grey kratzte an den Überresten seines Ausschlags
herum und lächelte.
»Ich verstehe. Also schien er es nicht übelgenommen
zu haben?«
Ich schüttelte kauend den Kopf und schluckte
dann.
»Überhaupt nicht. Er war die Liebenswürdigkeit in
Person, als ich auf den Hof kam, um bei Petronellas Geburt zu
helfen.« Die erneute Erkenntnis, daß sie nicht mehr lebte, schnürte
mir die Kehle zu, und ich verschluckte mich am bitteren Geschmack
der Löwenzahnblätter, als mir die Galle im Hals aufstieg.
»Hier.« Grey schob mir den Alekrug über den Tisch
zu.
Ich trank in vollen Zügen, und die saure Kühle
linderte für einen Augenblick die tiefere Bitternis meines Gemüts.
Ich stellte den Krug hin und saß einen Augenblick lang mit
geschlossenen Augen da. Ein frisch duftender Luftzug wehte vom
Fenster herein, doch die Sonne wärmte die Tischplatte unter meinen
Händen. All die kleinen Freuden körperlicher Existenz waren immer
noch mein, und ich war mir ihrer um so akuter bewußt, als ich
wußte, daß sie anderen so abrupt genommen worden waren - anderen,
die sie kaum geschmeckt hatten.
»Danke«, sagte ich und öffnete die Augen.
Grey beobachtete mich mit einem Ausdruck tiefen
Mitgefühls.
»Man sollte nicht meinen, daß es einen so
mitnimmt«, sagte ich in dem plötzlichen Bedürfnis, eine Erklärung
zu versuchen. »Sie sterben hier so leicht. Vor allem die Jüngeren.
Es ist nicht so, als hätte ich das nicht schon öfter erlebt. Und es
gibt so selten etwas, das ich tun kann.«
Ich spürte etwas Warmes auf meiner Wange und
stellte überrascht fest, daß es eine Träne war. Er griff in seinen
Ärmel, zog ein Taschentuch hervor und reichte es mir. Es war nicht
sonderlich sauber, aber das kümmerte mich nicht.
»Ich habe mich manchmal gefragt, was er in Euch
sieht«, sagte er in betont harmlosem Tonfall. »Jamie.«
»Oh, wirklich? Wie schmeichelhaft.« Ich schniefte
und putzte mir die Nase.
»Als er anfing, von Euch zu sprechen, hielten wir
Euch beide für tot«, erläuterte er. »Und Ihr seid zwar zweifellos
eine schöne Frau, doch von Eurem Aussehen hat er nie
gesprochen.«
Zu meiner Überraschung ergriff er meine Hand und
hielt sie sachte in der seinen.
»Ihr habt seinen Mut«, sagte er.
Das brachte mich zum Lachen, wenn auch nur
halbherzig.
»Wenn Ihr nur wüßtet«, sagte ich.
Er antwortete nicht darauf, sondern lächelte
schwach. Sein Daumen
fuhr leicht über die Knöchel meiner Hand, und seine Berührung war
leicht und warm.
»Er würde sich niemals vor etwas drücken, nur weil
er Angst vor aufgeschürften Knöcheln hat«, sagte er. »Und Ihr auch
nicht.«
»Das kann ich gar nicht.« Ich holte tief Luft und
wischte mir die Nase ab; die Tränen waren versiegt. »Ich bin
Ärztin.«
»Das stimmt«, sagte er und hielt inne. »Ich habe
Euch noch nicht für mein Leben gedankt.«
»Das war nicht ich. Es gibt wirklich nicht viel,
das ich im Fall einer solchen Krankheit tun kann. Alles, was ich
tun kann, ist… dazusein.«
»Ein bißchen mehr als das«, sagte er trocken und
ließ meine Hand los. »Wollt Ihr noch Ale?«
Ich begann meinerseits deutlich zu sehen, was Jamie
in Lord John sah.
Der Nachmittag verstrich ruhig. Ian warf sich
stöhnend hin und her, doch am späten Nachmittag war der Ausschlag
voll entwickelt, und sein Fieber schien etwas zu sinken. Er würde
sicher noch nichts essen wollen, doch vielleicht konnte ich ihn
dazu bewegen, etwas Milchsuppe zu sich zu nehmen. Der Gedanke
erinnerte mich daran, daß es fast Zeit zum Melken war, und mit
einem geflüsterten Wort zu Lord John stand ich auf und legte meine
Stopfarbeit beiseite.
Ich öffnete die Tür des Blockhauses, trat hinaus
und prallte direkt auf Gerhard Mueller, der im Eingang stand.
Muellers Augen waren rötlich-braun und schienen
stets mit einer inneren Intensität zu brennen. Dank der
verletzlichen Durchsichtigkeit der Haut, die sie umgab, brannten
sie jetzt noch heller. Seine tiefliegenden Augen fixierten mich,
und er nickte, einmal, dann noch einmal.
Mueller war zusammengeschrumpft, seit ich ihn das
letzte Mal gesehen hatte. Alles Fleisch war von ihm abgefallen; er
war immer noch ein Hüne, doch jetzt bestand er mehr aus Knochen
denn aus Muskeln, ausgezehrt und uralt. Seine Augen waren gebannt
auf die meinen gerichtet, der einzige Lebensfunke in einem Gesicht,
das aussah wie verschrumpeltes Papier.
»Herr Mueller«, sagte ich. In meinen Ohren klang
meine Stimme ruhig; ich hoffte, sie hörte sich für ihn genauso an.
»Wie geht es Euch?«
Der alte Mann stand schwankend vor mir, als würde
ihn der Abendwind jeden Moment umpusten. Ich wußte nicht, ob er
sein Reittier verloren oder es unterhalb des Abhangs zurückgelassen
hatte, doch ich sah keine Spur von einem Pferd oder Maultier.
Er trat einen Schritt auf mich zu, und ich trat
unwillkürlich einen zurück.
»Frau Klara«, sagte er mit einem bittenden Unterton
in der Stimme.
Ich hielt inne, denn ich wollte Lord John rufen,
zögerte aber. Er würde mich nicht mit meinem Vornamen anreden, wenn
er mir etwas antun wollte.
»Sie sind tot«, sagte er. »Mein Mädchen. Mein
Kind.« Tränen quollen plötzlich in den blutunterlaufenen Augen auf
und rollten ihm langsam durch die wettergegerbten Furchen seines
Gesichtes. Das Elend in seinen Augen war so unmittelbar, daß ich
seine große, von der Arbeit gezeichnete alte Hand in die meine
nahm.
»Ich weiß«, sagte ich. »Es tut mir leid.«
Er nickte erneut, und sein alter Mund arbeitete
dabei. Er ließ sich von mir zu der Bank neben der Tür führen, wo er
sich so plötzlich hinsetzte, als wäre ihm jegliche Kraft aus den
Beinen gewichen.
Die Tür ging auf, und John Grey kam heraus. Er
hatte seine Pistole in der Hand, ließ sie aber sofort in sein Hemd
gleiten, als ich den Kopf schüttelte. Der alte Mann hatte meine
Hand nicht losgelassen; er zog daran und zwang mich, mich neben ihn
zu setzen.
»Gnädige Frau«, sagte er, drehte sich unvermittelt
und umarmte mich. Er drückte mich fest an seinen schmutzigen Rock.
Tonloses Weinen schüttelte ihn, und obwohl ich wußte, was er getan
hatte, legte ich meine Arme um ihn.
Er roch fürchterlich, sauer, nach Alter und Trauer,
dazu Bier und Schweiß und Schmutz, und irgendwo unter all den
anderen Gerüchen lag der Gestank getrockneten Blutes. Ich
schüttelte mich, gefangen in einem Netz aus Mitleid, Schrecken und
Abscheu, doch ich konnte mich nicht zurückziehen.
Schließlich ließ er los und sah auf einmal John
Grey, der neben uns stand und sich nicht sicher war, ob er
eingreifen sollte oder nicht. Bei seinem Anblick fuhr der alte Mann
zusammen.
»Mein Gott!« rief er im Tonfall des Entsetzens aus.
»Er hat Masern!« Die Sonne sank schnell und tauchte den Eingang in
blutiges Licht. Sie traf Grey voll ins Gesicht, hob die dunklen
Flecken in seinem Gesicht hervor und überzog seine Haut mit
Rot.
Mueller drehte sich zu mir hin und nahm wie wild
mein Gesicht zwischen seine großen, schwieligen Hände. Seine Daumen
schabten über meine Wangen, und ein Ausdruck der Erleichterung
zeigte sich in seinen eingesunkenen Augen, als er sah, daß meine
Haut immer noch glatt war.
»Gott sei Dank«, sagte er, ließ mein Gesicht los
und begann, in seinem
Rock herumzukramen. Dabei sagte er etwas auf Deutsch, so drängend
und so leise, daß ich nur ab und zu ein Wort verstehen
konnte.
»Er sagt, er hatte Angst, zu spät zu kommen, und
ist froh, daß es nicht so ist«, sagte Grey, als er meine Bestürzung
sah. Er betrachtete den alten Bauern mit skeptischer Abneigung. »Er
sagt, er hat Euch etwas mitgebracht - irgendeinen Talisman. Er wird
den Fluch abwenden und Euch vor der Krankheit schützen.«
Der alte Mann zog einen in Stoff gewickelten
Gegenstand aus den Tiefen seines Rockes und legte ihn mir in den
Schoß, wobei er weiter auf Deutsch vor sich hin brabbelte.
»Er dankt Euch für die Hilfe, die Ihr seiner
Familie geleistet habt - er meint, Ihr seid eine gute Frau, die ihm
nicht weniger am Herzen liegt als seine Schwiegertöchter - er sagt,
daß…« Mueller faltete den Stoff mit zitternden Händen auseinander,
und die Worte erstarben in Greys Kehle.
Ich öffnete meinen Mund, tat aber keinen Laut. Ich
muß mich unwillkürlich bewegt haben, denn der Stoff rutschte
plötzlich auf den Boden und gab das weißmelierte Haarbüschel frei,
an dem immer noch eine kleine Silberverzierung hing. Daneben lag
ein Lederbeutel, und die Spechtfedern waren blutbefleckt.
Mueller redete immer noch, und Grey versuchte es zu
übersetzen, doch ich nahm diese Worte kaum wahr. In meinen Ohren
hallten die Worte wider, die ich vor einem Jahr gehört hatte, unten
am Fluß, in Gabrielles sanfter Stimme, als sie für Nayawenne
übersetzte.
Ihr Name bedeutete »Es mag sein; es wird
geschehen.« Jetzt war es geschehen, und der einzige Trost, der mir
blieb, waren ihre Worte. »Sie sagt, Ihr sollt Euch keine Vorwürfe
machen; Krankheiten werden von den Göttern gesandt. Es wird nicht
Eure Schuld sein.«