3
Pastors Katze
Boston, Massachusetts, Juni 1969
»Brianna?«
»Hä?« Sie schoß hoch. Ihr Herz schlug wie wild, und
der Klang ihres Namens hallte in ihrem Ohr nach. »Wer - was?«
»Du hast geschlafen. Verdammt, ich wußte doch, daß
ich die falsche Zeit erwischt habe! Entschuldigung, soll ich wieder
auflegen?«
Es war der gutturale Klang seiner Stimme, der
schließlich ihre verwirrten Nervenverbindungen einrasten ließ.
Telefon. Das Telefon hatte geklingelt, und sie hatte mitten im
Traum automatisch abgehoben.
»Roger!« Der Adrenalinstoß des plötzlichen
Erwachens ließ nach, doch ihr Herz raste immer noch. »Nein, leg
nicht auf! Es ist in Ordnung, ich bin wach.« Sie rieb sich mit der
Hand über das Gesicht und versuchte dann, die Telefonschnur zu
entwirren und gleichzeitig das Bettzeug glattzustreichen.
»Aye? Sicher? Wie spät ist es bei dir?«
»Keine Ahnung es ist so dunkel, daß ich die Uhr
nicht sehen kann«, sagte sie immer noch schlafverwirrt. Ein
zögerndes, leises Lachen antwortete ihr.
»Es tut mir wirklich leid; ich habe versucht, die
Zeitdifferenz auszurechnen, aber ich muß es verkehrt herum gemacht
haben. Ich wollte dich nicht aufwecken.«
»Schon okay, ich hätte ja sowieso aufwachen müssen,
um ans Telefon zu gehen«, versicherte sie ihm und lachte.
»Aye, gut…« Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme
hören und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Sie schob sich die
Locken aus den Augen und gewöhnte sich langsam ans Hier und Jetzt.
Ihr Traum war ihr immer noch gegenwärtig, wirklicher als die in
Dunkelheit gehüllten Umrisse ihres Schlafzimmers.
»Es tut gut, deine Stimme zu hören, Roger«, sagte
sie leise. Sie war überrascht, wie gut es tat. Seine Stimme
war weit weg und wirkte
doch viel unmittelbarer als das entfernte Sirenengeheul und das
Zischen der Reifen draußen auf dem Asphalt.
»Mir tut es auch gut.« Er klang ein bißchen
schüchtern. »Hör mal, ich könnte nächsten Monat in Boston an einer
Konferenz teilnehmen. Ich habe mir gedacht, ich könnte kommen, wenn
- verdammt, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Willst du mich
sehen?«
Ihre Hand umklammerte den Hörer, und ihr Herz tat
einen Sprung.
»Tut mir leid«, sagte er sofort, bevor sie
antworten konnte. »Ich setze dich unter Druck, stimmt’s? Ich… also…
sag mir gleich, wenn es dir nicht recht ist.«
»Doch. Klar ist es mir recht!«
»Ah. Du hast also nichts dagegen? Nur… du hast
meinen Brief nicht beantwortet. Ich dachte, ich hätte vielleicht
etwas getan -«
»Nein, hast du nicht. Tut mir leid. Es war nur
-«
»Schon gut. Ich wollte nicht -«
Ihre Sätze kollidierten, und sie hielten beide
inne, gelähmt vor Befangenheit.
»Ich wollte nicht drängen -«
»Ich wollte nicht -«
Da war es schon wieder passiert, doch diesmal
lachte er, und die leise schottische Belustigung überbrückte Zeit
und Raum, so beruhigend, als hätte er sie berührt.
»Dann ist es ja gut«, sagte er mit Nachdruck. »Ich
verstehe schon, aye?«
Sie antwortete nicht, sondern schloß die Augen, und
ein undefinierbares Gefühl der Erleichterung durchströmte sie.
Roger Wakefield war wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt,
der sie verstehen konnte. Doch ihr war vorher nicht klar
gewesen, wie wichtig dieses Verständnis sein könnte.
»Ich habe geträumt«, sagte sie, »als das Telefon
klingelte.«
»Mmpf?«
»Von meinem Vater.« Jedesmal, wenn sie das Wort
aussprach, schnürte es ihr ganz leicht die Kehle zu. Dasselbe
passierte auch, wenn sie »Mutter« sagte. Sie konnte immer noch die
sonnenwarmen Kiefern aus ihrem Traum riechen und das Knirschen der
Kiefernnadeln unter ihren Füßen spüren.
»Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich bin
irgendwo mit ihm durch den Wald gewandert. Ich folgte ihm einen
Pfad hinauf, und er hat mit mir geredet, aber ich konnte ihn nicht
verstehen - ich versuchte ihn einzuholen, damit ich ihn hören
konnte, aber ich habe es nicht geschafft.«
»Und du wußtest, daß der Mann dein Vater
ist?«
»Ja - aber vielleicht habe ich das nur wegen der
Bergwanderung gedacht. Das habe ich immer mit Paps gemacht.«
»Wirklich? Ich mit meinem auch. Wenn du jemals nach
Schottland zurückkommst, nehme ich dich mit zum Munro
bagging.«
»Wohin?«
Er lachte, und sie sah ihn plötzlich vor sich, wie
er das dichte Haar zurückstrich, das er nicht oft genug schnitt,
die moosgrünen Augen beim Lächeln halb zugekniffen. Sie merkte, daß
sie sich langsam mit der Daumenspitze über die Unterlippe strich,
und hielt inne. Er hatte sie geküßt, als sie sich verabschiedet
hatten.
»Munro nennt man in Schottland einen Berg, der
höher als neunhundervierzehn Meter ist. Es gibt so viele davon, daß
die Leute sich einen Sport daraus machen herauszufinden, auf wie
viele sie klettern können. Man sammelt sie wie Briefmarken oder
Streichholzschachteln.«
»Wo bist du jetzt - in Schottland oder in England?«
fragte sie, dann unterbrach sie sich, bevor er antworten konnte.
»Nein, laß mich raten. Du bist in… Schottland. In Inverness.«
»Stimmt.« Die Überraschung in seiner Stimme war
unüberhörbar. »Woher weißt du das?«
Sie reckte sich und schlug unter der Bettdecke ihre
langen Beine übereinander.
»Du rollst das R, wenn du dich mit anderen Schotten
unterhalten hast. Es ist mir aufgefallen, als wir - nach London
gefahren sind.« Ihre Stimme war nur noch leicht belegt; es wurde
langsam leichter, dachte sie.
»Und ich warrr schon überrrzeugt, du könntest
hellsehen«, sagte er und lachte.
»Ich wünschte, du wärst jetzt hier«, sagte sie
impulsiv.
»Wirklich?« Er klang überrascht, und dann plötzlich
schüchtern. »Oh. Also… das ist doch gut, oder?«
»Roger - weshalb ich nicht geschrieben habe
-«
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte er
schnell. »In einem Monat bin ich da, dann können wir darüber reden.
Brianna, ich -«
»Ja?«
Sie hörte ihn Luft holen und erinnerte sich genau
daran, wie es sich anfühlte, wenn sich seine Brust warm und fest
unter ihren Fingern hob und senkte.
»Ich bin froh, daß du ja gesagt hast.«
Sie konnte nicht wieder einschlafen, nachdem sie
aufgelegt hatte. Rastlos schwang sie die Füße aus dem Bett und
tappte in die Küche des kleinen Apartments, um ein Glas Milch zu
trinken. Erst als sie einige Minuten in die Tiefen des
Kühlschrankes gestarrt hatte, begriff sie, daß sie nicht die
Ketchupflaschen und angebrochenen Dosen sah, sondern aufrechte
Steine, schwarz vor dem bleichen Himmel der Morgendämmerung.
Mit einem Ausruf der Ungeduld richtete sie sich auf
und knallte die Tür zu. Sie zitterte ein wenig und rieb sich die
Arme, die in der temperierten Raumluft kalt geworden waren.
Impulsiv griff sich nach oben und schaltete die Klimaanlage aus,
ging zum Fenster, schob es hoch und ließ die schwüle Luft der
verregneten Sommernacht herein.
Sie hätte schreiben sollen. Sie hatte auch
geschrieben - mehrmals, und all ihre halbvollendeten Versuche
frustriert weggeworfen.
Sie wußte, warum, oder sie glaubte es zumindest. Es
Roger zusammenhängend zu erklären, war etwas anderes.
Zum Teil war es schlicht der Instinkt eines
verwundeten Tieres, der Drang, fortzulaufen und sich vor dem
Schmerz zu verstecken. Was im letzten Jahr geschehen war, war nicht
im geringsten Rogers Schuld, und doch war er unentrinnbar darin
verwickelt.
Er war hinterher so zärtlich und so lieb gewesen,
hatte sie wie eine Hinterbliebene behandelt - was sie auch war.
Aber was für ein seltsamer Verlust! Ihre Mutter war für immer fort,
doch sicher - so hoffte sie - nicht tot. Und doch war es ähnlich
gewesen wie beim Tod ihres Vaters; als glaubte man an ein Leben
nach dem Tod und hoffte mit aller Kraft, daß der geliebte Mensch
geborgen und glücklich war - und als müßte man dennoch Trauer,
Verlust und Einsamkeit ertragen.
Ein Krankenwagen fuhr auf der anderen Seite des
Parks vorbei, das rote Licht pulsierte in der Dunkelheit, die
Sirene wurde durch die Entfernung gedämpft. Aus Gewohnheit
bekreuzigte sie sich und murmelte: »Miserere nobis.«
Schwester Marie Romaine hatte der fünften Klasse eingeschärft, daß
die Toten und die Sterbenden ihre Gebete brauchten, und damit einen
so starken Eindruck bei den Kindern hinterlassen, daß keins von
ihnen jemals an einer Unfallstelle vorbeigehen konnte, ohne ein
kurzes Gebet gen Himmel zu senden, um den Seelen derer beizustehen,
die unmittelbar vor der Himmelspforte standen.
Sie betete jeden Tag für sie, ihre Mutter und ihren
Vater - ihre Väter. Das war der andere Grund. Onkel Joe wußte auch,
wer ihr wirklicher Vater war, doch nur Roger konnte wirklich
verstehen, was geschehen war, nur Roger konnte die Steine auch
hören.
Niemand erlebte so etwas, ohne davon gezeichnet zu
werden. Er
nicht, sie nicht. Er hatte gewollt, daß sie blieb, nachdem Claire
fortgegangen war, doch sie konnte nicht.
Sie müsse hier einiges erledigen, hatte sie ihm
gesagt, sich um viele Dinge kümmern, ihre Ausbildung zu Ende
bringen. Das stimmte. Doch was noch wichtiger war, sie mußte weg -
weit weg von Schottland und seinen Steinkreisen, zurück zu einem
Ort, wo ihre Wunden heilen konnten, wo sie ihr Leben wieder
aufbauen konnte.
Wäre sie bei Roger geblieben, hätte sie nicht
vergessen können, was geschehen war, nicht einen Moment lang. Und
das war der letzte Grund, das letzte Stück ihres dreiteiligen
Puzzles.
Er hatte sie beschützt, sie liebevoll umsorgt. Ihre
Mutter hatte sie ihm anvertraut, und er hatte dieses Vertrauen
nicht enttäuscht. Doch hatte er sich nur um sie gekümmert, um das
Versprechen zu halten, das er Claire gegeben hatte - oder weil ihm
wirklich etwas an ihr lag? Wie auch immer, die erdrückenden
Verpflichtungen auf beiden Seiten boten keine Grundlage für eine
gemeinsame Zukunft.
Falls es eine Zukunft für sie gab… und das war es,
was sie ihm nicht schreiben konnte, denn wie sollte sie es sagen,
ohne sich eingebildet und idiotisch anzuhören?
»Geh fort, so daß du zurückkommen und es richtig
machen kannst«, murmelte sie und zog bei den Worten ein Gesicht.
Der Regen prasselte immer noch herunter und kühlte die Luft so weit
ab, daß sie ungehindert atmen konnte. Es war kurz vor der
Dämmerung, dachte sie, doch die Luft war immer noch so warm, daß
die Feuchtigkeit auf der kühlen Haut ihres Gesichtes kondensierte;
es bildeten sich kleine Wassertropfen, die ihr einzeln den Hals
herunterglitten und von ihrem Baumwoll-T-Shirt aufgesogen
wurden.
Sie wollte, daß sie die Ereignisse des vergangenen
Novembers hinter sich ließen, sie wollte einen sauberen Bruch. Wenn
genug Zeit verstrichen war, konnten sie vielleicht wieder
zusammenkommen. Nicht als Nebendarsteller im Lebensdrama ihrer
Eltern, sondern als Schauspieler, die sich ihre Rollen selbst
aussuchten.
Nein, wenn irgend etwas zwischen ihr und Roger
Wakefield geschehen sollte, sollte es definitiv aus freien Stücken
sein. Es sah so aus, als bekäme sie jetzt die Gelegenheit, sich zu
entscheiden, und die Aussicht rief ein leises, aufgeregtes Flattern
in ihrer Magengrube hervor.
Sie wischte sich mit der Hand über das Gesicht,
strich die Feuchtigkeit weg und rieb sie sich ins Haar, um die
wallenden Locken zu bändigen.
Sie ließ das Fenster offen, ohne sich daran zu
stören, daß der Regen
auf dem Boden eine Pfütze bildete. Sie fühlte sich zu unruhig, um
abgeriegelt zu sein und sich von künstlicher Luft erfrischen zu
lassen.
Sie schaltete die Tischlampe ein, zog ihr Lehrbuch
der Analysis hervor und öffnete es. Die späte Entdeckung, welch
beruhigende Wirkung die Mathematik auf sie hatte, war ein kleiner
und unerwarteter Vorteil ihres Studiengangwechsels.
Als sie allein nach Boston und zur Uni
zurückkehrte, hatte sie den Eindruck, Ingenieurwesen sei eine sehr
viel ungefährlichere Wahl als Geschichte: solide, faktenabhängig,
beruhigend unveränderbar. Vor allem kontrollierbar. Sie nahm sich
einen Stift, spitzte ihn langsam - eine Vorbereitung, die sie genoß
-, beugte dann den Kopf und las die erste Aufgabe.
Langsam wie immer wob die unausweichliche Logik der
Summen ihr Netz in ihrem Kopf, fing alle Zufallsgedanken ein und
wickelte die verwirrenden Gefühle in Seidenfäden, als wären sie
Fliegen. Um die Zentralachse des mathematischen Problems spann die
Logik ihr Netz, ordentlich und voller Schönheit wie das
juwelenbesetzte Werk einer Radnetzspinne. Nur ein kleiner Gedanke
verfing sich nicht in ihren Netzen und flatterte frei wie ein
heller, winziger Schmetterling.
Ich bin froh, daß du ja gesagt hast, hatte
er gesagt. Sie war es auch.
Juli 1969
»Spricht er wie die Beatles? Ich sterbe, wenn er
sich anhört wie John Lennon. Du weißt, wie der redet? Das haut mich
einfach um.«
»Er hört sich überhaupt nicht wie John Lennon an,
verflixt und zugenäht!« zischte Brianna. Sie warf einen
vorsichtigen Blick um einen Betonpfeiler, doch der Flugsteig für
Internationale Ankünfte war immer noch leer. »Kannst du jemanden
aus Liverpool nicht von einem Schotten unterscheiden?«
»Nein«, sagte ihre Freundin Gayle fröhlich und
schüttelte ihr blondes Haar aus. »Für mich hören sich alle
Engländer gleich an. Ich könnte ihnen ewig zuhören!«
»Er ist kein Engländer. Ich habe dir doch gesagt,
daß er ein Schotte ist!«
Gayle warf Brianna einen Blick zu, der deutlich
besagte, daß sie ihre Freundin für verrückt hielt.
»Schottland gehört zu England, ich habe es auf der
Karte nachgesehen.«
»Schottland gehört zu Großbritannien, nicht zu
England.«
»Und wo ist da der Unterschied?« Gayle machte einen
langen Hals
und schaute um den Pfeiler. »Warum stehen wir hier hinten? Da wird
er uns nie sehen.«
Brianna fuhr sich mit der Hand durch das Haar, um
es zu glätten. Sie standen hinter einem Pfeiler, weil sie sich
nicht sicher war, ob sie wollte, daß er sie sah. Jetzt war
es aber nicht mehr zu ändern, die ersten Passagiere kamen zerzaust
und mit Gepäck beladen durch die Doppeltür.
Sie ließ sich von der immer noch quasselnden Gayle
in die Hauptempfangszone schleifen. Die Zunge ihrer Freundin führte
eine Doppelexistenz: Obwohl Gayle in der Uni durchaus zu kühlem und
vernünftigem Diskurs in der Lage war, war ihre wichtigste Fähigkeit
im Umgang mit anderen, auf ein Stichwort hin wie ein Wasserfall zu
reden. Deswegen hatte Brianna Gayle gebeten, mit zum Flughafen zu
kommen und Roger abzuholen - so waren befangene Pausen in der
Unterhaltung ausgeschlossen.
»Hast du es schon mit ihm getan?«
Sie fuhr aufgeschreckt zu Gayle herum.
»Was?«
Gayle rollte mit den Augen.
»Sackhüpfen gespielt. Also ehrlich, Brianna!«
»Nein. Natürlich nicht.« Sie spürte, wie ihr das
Blut in die Wangen stieg.
»Und, wirst du es tun?«
»Gayle!«
»Also, ich meine, du hast deine eigene Wohnung und
alles, und keiner wird -«
In diesem ungeeigneten Moment erschien Roger
Wakefield. Er trug ein weißes Hemd und schmuddelige Jeans, und
Brianna mußte bei seinem Anblick erstarrt sein, denn Gayle drehte
eilig den Kopf, um herauszufinden, wohin Brianna blickte.
»Ooh«, sagte sie entzückt. »Ist er das? Er sieht
aus wie ein Pirat!«
Das stimmte, und Brianna spürte, wie ihr Magen noch
ein paar Zentimeter tiefer sank. Roger war das, was ihre Mutter
einen schwarzen Kelten nannte, mit reiner Olivenhaut, schwarzem
Haar und dichten, schwarzen Wimpern. Seine Augen, die man sich blau
vorgestellt hätte, waren aber überraschend dunkelgrün. Mit den
Haaren, die zerzaust und so lang waren, daß sie seinen Kragen
streiften, und den Bartstoppeln sah er nicht nur verwegen, sondern
geradezu gefährlich aus.
Bei seinem Anblick prickelte ein Alarmzeichen an
ihrer Wirbelsäule hoch, und sie wischte sich die schwitzenden
Handflächen an
den Seiten ihrer bestickten Jeans ab. Sie hätte ihn nicht kommen
lassen sollen.
Dann sah er sie, und sein Gesicht glühte auf wie
eine Kerze. Sie spürte, wie sich trotz ihrer Bedenken auch in ihrem
Gesicht ein breites, idiotisches Grinsen ausbreitete, und ohne
weiter über böse Vorahnungen nachzudenken, rannte sie durch den
Raum, vorbei an streunenden Kindern und Gepäckwagen.
Er traf sie in der Mitte und riß sie fast von den
Füßen, weil er sie so fest umarmte, daß ihre Rippen ächzten. Er
küßte sie, hielt inne und küßte sie noch einmal, und seine
Bartstoppeln kratzten über ihr Gesicht. Er roch nach Seife und
Schweiß und schmeckte nach Scotch, und sie wollte nicht, daß er
aufhörte.
Das tat er dann aber doch und ließ sie los, und sie
waren beide fast außer Atem.
»A-hem«, sagte eine laute Stimme direkt
neben Brianna. Sie wandte sich von Roger ab und gab den Blick auf
Gayle frei, die ihn unter ihrem blonden Pony engelhaft anlächelte
und wie ein Kind beim Abschied winkte.
»Hall - ooo«, sagte sie. »Du mußt Roger sein, denn
wenn du es nicht bist, steht Roger ein schöner Schock bevor, wenn
er auftaucht, oder?«
Sie begutachtete ihn beifällig von oben bis
unten.
»Das alles, und Gitarre spielst du auch
noch?«
Brianna hatte den Koffer gar nicht bemerkt, den er
losgelassen hatte. Er bückte sich, hob ihn auf und schwang ihn über
seine Schulter.
»Tja, davon muß ich mich auf dieser Reise
ernähren«, sagte er und lächelte Gayle an, die sich in gespielter
Ekstase ans Herz griff.
»Ooh, sag das noch mal!« bettelte sie.
»Was denn?« Roger machte ein verwundertes
Gesicht.
»Reise ernähren«, sagte Brianna und schulterte eine
seiner Taschen. »Sie möchte noch mal hören, wie du das R rollst.
Gayle ist verrückt nach britischen Akzenten. Oh - das ist Gayle.«
Sie deutete resigniert auf ihre Freundin.
»Ja, das habe ich schon mitgekriegt. Äh…« Er
räusperte sich, fixierte Gayle mit einem durchdringenden Blick und
senkte seine Stimme um eine Oktave. »Rrringel, rrrangel, Rrrose,
schöne Aprrrikose… Reicht das fürs erste?«
»Könntest du bitte damit aufhören?« Brianna sah
ihre Freundin, die dramatisch in einen der Plastiksessel gesunken
war, ärgerlich an. »Ignorier sie einfach«, riet sie Roger und
wandte sich zum Ausgang.
Mit einem vorsichtigen Blick auf Gayle befolgte er ihren
Ratschlag, hob eine große Schachtel hoch, die von einer Schnur
zusammengehalten wurde, und folgte ihr nach draußen.
»Was hast du damit gemeint, daß du dich auf der
Reise ernähren mußt?« fragte sie, um die Unterhaltung wieder in
vernünftige Bahnen zu lenken.
Er lachte, ein bißchen befangen.
»Tja, die Konferenz kommt zwar für den Flug auf,
doch die Spesen können sie nicht übernehmen. Also habe ich ein
bißchen herumtelefoniert und mir einen Job besorgt, um das Problem
aus der Welt zu schaffen.«
»Einen Job, bei dem du Gitarre spielst?«
»Tagsüber ist der angenehm gesittete Historiker
Roger Wakefield ein harmloser Akademiker aus Oxford. Doch in der
Nacht legt er heimlich seine Tartanrrregalien an und verrrwandelt
sich in den aufrrregenden - Roger MacKenzie!«
»Wen?«
Er lächelte über ihre Überraschung. »Tja, ich singe
schottische Folksongs auf Festivals und ceilidhs -
Highlandfestspielen und so. Ich soll am Wochenende bei einem
keltischen Festival in den Bergen auftreten, das ist alles.«
»Schottische Songs? Trägst du dabei einen Kilt?«
Gayle war an Rogers anderer Seite aufgetaucht.
»Klar. Woran sollten sie sonst erkennen, daß ich
Schotte bin?«
»Ich liebe Wuschelknie«, sagte Gayle
verträumt. »Sag mal, stimmt es, daß ein Schotte -«
»Hol das Auto«, befahl Brianna und drückte Gayle
hastig die Schlüssel in die Hand.
Gayle stützte ihr Kinn auf die Unterkante des
Autofensters und sah zu, wie Roger ins Hotel ging. »Mensch, ich
hoffe, daß er sich nicht rasiert, bevor wir uns zum Abendessen
treffen. Ich finde, Männer sehen einfach toll aus, wenn sie sich
eine Zeitlang nicht rasiert haben. Was meinst du, was in der großen
Schachtel ist?«
»Sein bodhran. Ich habe ihn gefragt.«
»Sein was?«
»Das ist eine keltische Kriegstrommel. Er begleitet
ein paar seiner Songs damit.«
Gayle schürzte nachdenklich die Lippen.
»Du willst wohl nicht, daß ich ihn zu diesem
Festival fahre, oder? Ich meine, du hast doch bestimmt unheimlich
viel zu tun, und -«
»Ha, ha. Glaubst du, ich lasse dich in seine Nähe,
wenn er einen Kilt trägt?«
Gayle seufzte sehnsüchtig und zog den Kopf ein, als
Brianna den Wagen anließ.
»Vielleicht gäbe es da ja noch mehr Männer im
Kilt.«
»Das ist wohl anzunehmen.«
»Ich wette, die haben keine keltischen
Kriegstrommeln.«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Und, wirst du es tun?«
»Woher soll ich das wissen?« Aber das Blut ließ
ihre Haut aufblühen, und die Kleider wurden ihr eng.
»Also, wenn nicht«, sagte Gayle mit Bestimmtheit,
»dann spinnst du.«
»Pastors Katze ist eine… androgyne Katze.«
»Pastors Katze ist eine… aberdonische Katze.«
Brianna zog die Augenbrauen hoch und wandte den
Blick kurzfristig von der Straße ab.
»Schon wieder was Schottisches?«
»Es ist ein schottisches Spiel«, sagte Roger. »Und
die Katze ist eben aus Aberdeen. Du bist dran. Buchstabe B.«
Sie blinzelte durch die Windschutzscheibe auf die
enge Bergstraße. Die Morgensonne schien ihnen ins Gesicht und
erfüllte den Wagen mit Licht.
»Pastors Katze ist eine bunte Katze.«
»Pastors Katze ist eine beliebte Katze.«
»Na, das war ja für beide einfach. Unentschieden.
Okay. Pastors Katze ist eine…« Er sah, wie es in ihrem Gehirn
arbeitete und wie dann ihre zusammengekniffenen blauen Augen
blitzten, als ihr ein Gedanke kam. »… coccygodynische Katze.«
Bei dem Versuch, das Wort zu erraten, kniff Roger
nun auch die Augen zusammen.
»Eine Katze mit einem dicken Hintern?«
Sie lachte und bremste sacht, als das Auto in eine
Kurve fuhr.
»Eine Katze, die dich am Arsch kriegt.«
»Das Wort gibt es wirklich, oder?«
»Ja.« Sie beschleunigte sauber, als sie aus der
Kurve herausfuhr. »Einer von Mamas medizinischen Fachbegriffen.
Coccygodynie ist ein Schmerz in der Steißbeingegend. Sie nannte die
Krankenhausverwaltung immer Coccygodynier.«
»Und ich dachte schon, es wäre einer von deinen
Ingenieursbegriffen.
Also gut. Pastors Katze ist eine cholerische Katze.« Er grinste.
»Coccygodynier sind nämlich von Natur aus Choleriker.«
»Okay. Unentschieden. Pastors Katze ist…«
»Stop«, unterbrach Roger und zeigte nach draußen.
»Hier ist die Abzweigung.«
Langsam bog sie von der engen Landstraße in ein
noch engeres Sträßchen ein und folgte einem kleinen Schild mit
roten und weißen Pfeilen, auf dem KELTISCHES FESTIVAL stand.
»Das ist lieb von dir, daß du mich den ganzen Weg
hierher fährst«, sagte Roger. »Ich hatte keine Ahnung, wie weit es
ist, sonst hätte ich dich nie darum gebeten.«
Sie sah ihn belustigt an.
»So weit ist es doch gar nicht.«
»Es sind fast dreihundert Kilometer!«
Sie lächelte, doch ein Hauch von Ironie schwang
darin mit.
»Mein Vater hat immer gesagt, das ist der
Unterschied zwischen einem Amerikaner und einem Engländer. Ein
Engländer hält hundert Kilometer für eine weite Strecke, ein
Amerikaner hält hundert Jahre für eine lange Zeit.«
Roger lachte überrascht.
»Stimmt genau. Du gehörst dann wohl zu den
Amerikanern, oder?«
»Ich nehme es an.« Doch ihr Lächeln war
erstorben.
Die Unterhaltung auch. Sie fuhren ein paar Minuten
lang schweigend weiter und hörten nur das Motorengeräusch und den
Fahrtwind. Es war ein wunderschöner, heißer Sommertag, und sie
hatten die Bostoner Schwüle weit unter sich gelassen, als sie sich
bergauf in die klarere Bergluft schlängelten.
»Pastors Katze ist auf Distanz«, sagte Roger
schließlich leise. »Habe ich was Falsches gesagt?«
Sie schoß ihm einen blauen Blitz und ein halbes
Lächeln zu.
»Pastors Katze ist eine dösende Katze.« Sie preßte
die Lippen zusammen, als sie hinter einem anderen Wagen abbremste,
und entspannte sich dann. »Nein, das stimmt nicht, es liegt
an dir, aber es ist nicht deine Schuld.«
Roger verlagerte sein Gewicht und drehte sich, so
daß er sie ansehen konnte.
»Pastors Katze ist eine enigmatische Katze.«
»Pastors Katze ist eine errötende Katze - ich hätte
nichts sagen sollen, entschuldige.«
Roger war klug genug, sie nicht zu bedrängen. Statt
dessen beugte
er sich vor und suchte unter dem Sitz nach der Thermoskanne mit
heißem Tee und Zitrone.
»Willst du welchen?« Er bot ihr die Tasse an, doch
sie zog ein Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Nein, danke. Ich hasse Tee.«
»Also bestimmt keine Engländerin«, sagte er und
wünschte sich im selben Moment, er hätte den Mund gehalten, denn
ihre Hände umklammerten das Lenkrad fester. Sie sagte aber nichts,
und er trank schweigend seinen Tee und beobachtete sie.
Trotz ihrer Herkunft und Hautfarbe sah sie nicht
wie eine Engländerin aus. Er konnte nicht sagen, ob der Unterschied
nur auf die Kleidung zurückzuführen war, aber er glaubte es nicht.
Amerikaner schienen so viel mehr… was? Mehr Ausstrahlung zu
haben?
Intensiver zu sein? Größer? Einfach mehr.
Brianna Randall war definitiv mehr.
Der Verkehr nahm zu, und als sie die Einfahrt an
der Anlage erreichten, in der das Festival stattfand, kroch er nur
noch dahin.
»Hör mal«, sagte Brianna abrupt. Sie sah ihn nicht
an, sondern starrte durch die Windschutzscheibe auf das
New-Jersey-Kennzeichen des Wagens vor ihnen. »Ich muß was
erklären.«
»Mir nicht.«
Irritiert zog sie eine rote Augenbraue hoch.
»Wem denn sonst?« Sie preßte die Lippen zusammen
und seufzte. »Na gut, okay, mir selber auch. Trotzdem.«
Roger schmeckte die Säure des Tees bitter in seinem
Gaumen. Kam jetzt der Moment, in dem sie ihm sagte, daß es ein
Fehler gewesen war herüberzukommen? Das hatte er sich auf dem Weg
über den Atlantik auch gedacht, während er sich verkrampft in dem
winzigen Flugzeugsessel gewunden hatte. Dann hatte er sie am
anderen Ende der Ankunftshalle gesehen, und all seine Zweifel
hatten sich sofort in Luft aufgelöst.
Sie waren während der vergangenen Woche nicht
wiedergekehrt. Er hatte Brianna jeden Tag zumindest kurz gesehen,
es am Donnerstagnachmittag sogar geschafft, sich mit ihr ein
Baseballspiel im Fenwick-Park anzusehen.
Das Spiel an und für sich hatte ihn verwirrt, doch
die Art, wie Brianna sich dafür begeisterte, hatte ihn bezaubert.
Er ertappte sich dabei, daß er die Stunden zählte, die ihnen bis
zum Abschied noch blieben, und doch hatte er sich auf heute gefreut
- auf den einzigen Tag, den sie von früh bis spät miteinander
verbringen konnten.
Das bedeutete aber nicht, daß es ihr genauso ging.
Er betrachtete
abschätzend die Autoschlange; die Einfahrt war in Sicht, aber
immer noch eine Viertelmeile weit weg. Ihm blieben etwa drei
Minuten, um sie zu überzeugen.
»In Schottland«, hörte er sie sagen, »als… als das
alles mit meiner Mutter passiert ist. Du warst toll, Roger -
wirklich wundervoll.« Sie blickte ihn nicht an, doch er sah einen
feuchten Schimmer auf ihren dichten, kastanienfarbigen
Wimpern.
»Das war doch nicht der Rede wert«, sagte er. »Ich
fand es interessant.«
Sie lachte kurz.
»Das kann ich mir vorstellen.« Sie bremste ab und
wandte den Kopf, um ihn direkt anzusehen. Selbst wenn sie ihre
Augen weit öffnete, waren sie noch katzenhaft schräg.
»Bist du noch einmal bei dem Steinkreis gewesen?
Auf dem Craigh na Dun?«
»Nein«, sagte er kurz. Dann hustete er und fügte
scheinbar beiläufig hinzu: »Ich komme nicht so oft nach Inverness;
schließlich war es mitten im Semester.«
»Kann es sein, daß Pastors Katze sich fürchtet?«
fragte sie, lächelte aber dabei.
»Pastors Katze hat eine Heidenangst vor der
Stelle«, sagte er ganz offen. »Sie würde sie nicht einmal betreten,
wenn sie dort knietief in Sardinen waten könnte.« Brianna lachte
spontan, und die Spannung zwischen ihnen ließ merklich nach.
»Ich auch nicht«, sagte sie und holte tief Luft.
»Aber ich erinnere mich an alles. An all die Mühe, die du dir
gemacht hast, um zu helfen - und dann, als es - als sie - als Mama
durch die Steine gegangen -« Ihre Zähne gruben sich in ihre
Unterlippe, und sie trat fester als nötig auf die Bremse.
»Verstehst du?« sagte sie leise. »Kaum bin ich eine
halbe Stunde mit dir zusammen, kommt es alles wieder hoch. Über ein
halbes Jahr lang habe ich meine Eltern nicht ein einziges Mal
erwähnt, und kaum fangen wir mit diesem bescheuerten Spiel an, rede
ich von beiden, noch bevor eine Minute vergangen ist. So ist es die
ganze Woche gewesen.«
Sie schnippte sich eine lose Haarsträhne von der
Schulter. Sie wurde so schön rot, wenn sie sich aufregte oder aus
der Fassung geriet, und die Farbe brannte mitten auf ihren
Wangen.
»Ich habe mir gedacht, daß es so etwas war - als du
meinen Brief nicht beantwortet hast.«
»Nicht nur das.« Sie klemmte ihre Unterlippe
zwischen die Zähne,
als wollte sie sich die Worte verkneifen, doch es war zu spät.
Eine leuchtendrote Flut stieg aus dem V-Ausschnitt ihres T-Shirts
auf, bis sie so rot war wie der Ketchup, den sie immer zu ihren
Pommes aß.
Er streckte den Arm über den Sitz und strich ihr
den Haarschleier aus dem Gesicht.
»Ich war fürchterlich in dich verknallt«, platzte
sie heraus und starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe. »Aber
ich war mir nicht sicher, ob du nur nett zu mir warst, weil Mama
dich darum gebeten hatte, oder ob -«
»Ob«, unterbrach er und lächelte, als sie einen
kurzen Seitenblick auf ihn riskierte. »Definitiv ob.«
»Oh.« Sie entspannte sich ein wenig und lockerte
ihren Würgegriff um das Lenkrad. »Ja dann - gut.«
Er wollte sie bei der Hand nehmen, wollte sie aber
nicht vom Lenkrad lösen und einen Unfall riskieren. Statt dessen
legte er seinen Arm um die Lehne ihres Sitzes und ließ seine Finger
über ihre Schulter streifen.
»Jedenfalls dachte ich nicht - ich dachte - also,
ich konnte mich dir nur an den Hals werfen oder so schnell wie
möglich abhauen. Also bin ich abgehauen, aber ich wußte nicht, wie
ich es dir erklären sollte, ohne wie eine Idiotin dazustehen, und
als du dann geschrieben hast, wurde alles noch schlimmer - siehst
du, und schon stehe ich da wie eine Idiotin.«
Roger öffnete seinen Sicherheitsgurt.
»Fährst du auf den Wagen vor uns auf, wenn ich dir
einen Kuß gebe?«
»Nein.«
»Gut.« Er rutschte zu ihr herüber, nahm ihr Kinn in
die Hand und küßte sie schnell. Sie rumpelten gemächlich über den
Feldweg auf den Parkplatz.
Sie atmete freier, und ihre Röte hatte
nachgelassen. Sie parkte ordentlich ein und würgte den Motor ab,
dann saß sie einen Moment lang nur da und blickte geradeaus. Dann
schnallte sie sich ab und wandte sich ihm zu.
Erst als sie einige Minuten später aus dem Auto
stiegen, fiel Roger auf, daß sie zwar ihre Eltern mehr als einmal
erwähnt hatte - doch das wirkliche Problem lag wohl mehr bei dem
Elternteil, den sie so sorgfältig nicht erwähnt hatte.
Toll, dachte er und bewunderte
geistesabwesend ihren Hintern, als sie sich bückte, um den
Kofferraum zu öffnen. Da gibt sie sich alle Mühe, nicht an Jamie
Fraser zu denken, und wo zum Teufel bringst
du sie hin? Er blickte zum Eingang der Anlage, wo der Union
Jack und das schottische Andreaskreuz im Sommerwind flatterten.
Dahinter lag ein Berghang, auf dem melancholisches Dudelsackspiel
erklang.