24
Die große Kunst des Liebesbriefs
Oxford, März 1971
Roger nahm an, daß es in Inverness genausooft regnete wie in Oxford, aber irgendwie hatte ihm der Regen im Norden noch nie etwas ausgemacht. Der kalte, schottische Wind, der vom Moray Firth landeinwärts wehte, regte ihn an, und wenn ihn der Regen durchnäßte, wurden seine Lebensgeister geweckt und erfrischt.
Doch das war Schottland mit Brianna an seiner Seite gewesen. Jetzt war sie in Amerika, er in England, und Oxford war kalt und farblos, die Straßen und Gebäude grau wie die Asche eines erloschenen Feuers. Regen prasselte ihm auf die Schultern seines Talars, als er über den Hof des Colleges eilte, einen Arm voller Papiere von den Popelinfalten verdeckt. Als er den Schutz der Portiersloge erreicht hatte, blieb er stehen, um sich zu schütteln wie ein Hund, und versprühte dabei Tropfen auf dem steinernen Durchgang.
»Irgendwelche Post?« fragte er.
»Glaube schon, Mr. Wakefield. Augenblickchen.« Martin verschwand in seinem Allerheiligsten, und Roger las in der Zwischenzeit die Namen der Kriegsgefallenen des Colleges, die in die Steintafel im Eingangsbereich gemeißelt waren.
George Vanlandingham, Esq. The Honorable Phillip Menzies. Joseph William Roscoe. Roger ertappte sich nicht zum ersten Mal dabei, daß er über diese toten Helden nachdachte und darüber, was für Menschen sie wohl gewesen waren. Seit er Brianna und ihre Mutter kennengelernt hatte, stellte er fest, daß die Vergangenheit nur allzuoft ein verstörend menschliches Gesicht trug.
»Hier, Mr. Wakefield.« Martin beugte sich strahlend über die Theke und hielt ihm einen dünnen Briefstapel hin. »Heute einer aus den Staaten«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Roger spürte, wie als Antwort ein Grinsen sein Gesicht überzog, und augenblicklich breitete sich ein Wärmegefühl von seiner Brust in seine Gliedmaßen aus und vertrieb die Kühle des Regentages.
»Werden wir Ihre junge Dame bald hier begrüßen, Mr. Wakefield?« Martin reckte den Hals und schielte unverhohlen auf den Brief mit den amerikanischen Briefmarken. Der Portier hatte Brianna kennengelernt, als sie kurz vor Weihnachten mit Roger heruntergekommen war, und er war ihrem Charme erlegen.
»Ich hoffe es. Vielleicht im Sommer. Danke!«
Er wandte sich seiner Treppe zu und steckte die Briefe sorgfältig in den Ärmel seines Talars, während er nach seinem Schlüssel suchte. Wenn er an den Sommer dachte, fühlte er eine Mischung aus Freude und Frustration. Sie hatte gesagt, sie würde im Juli kommen, doch bis dahin waren es noch vier Monate. Je nach seiner Stimmung glaubte er, daß er keine vier Tage mehr überstehen konnte.
 
Roger faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in seine Innentasche, über seinem Herzen. Sie schrieb ihm alle paar Tage, von kurzen Notizen bis hin zu langen Berichten, und jeder ihrer Briefe rief ein sanftes, warmes Glühen in ihm hervor, das meistens bis zur Ankunft des nächsten anhielt.
Doch gleichzeitig waren ihre Briefe zur Zeit etwas unbefriedigend. Immer noch voll warmer Zuneigung, immer mit »In Liebe« unterzeichnet, immer voller Versicherungen, daß er ihr fehlte und sie ihn gern bei sich hätte. Aber nicht mehr die Art von Worten, mit der man Papier in Flammen setzt.
Vielleicht war es natürlich; eine normale Entwicklung, jetzt, da sie sich länger kannten; niemand konnte in alle Ewigkeit täglich einen leidenschaftlichen Brief schreiben, nicht, wenn er ehrlich war.
Er bildete es sich bestimmt nur ein, daß Brianna sich in ihren Briefen zurücknahm. Es mußten ja nicht unbedingt die Exzesse der Freundin eines Bekannten sein, die sich ein paar Schamhaare abgeschnitten und sie in einen Brief gesteckt hatte - obwohl er die Geisteshaltung hinter dieser Geste bewunderte.
Er biß in sein Sandwich und kaute geistesabwesend, während er an den letzten Artikel dachte, den Fiona ihm geschickt hatte. Jetzt, da sie verheiratet war, betrachtete sich Fiona als Expertin in Eheangelegenheiten und entwickelte ein schwesterliches Interesse an dem holperigen Verlauf von Rogers Liebesbeziehung.
Sie schnitt ständig hilfreiche Tips aus Frauenmagazinen aus und schickte sie ihm. Der letzte Ausschnitt war ein Artikel aus Meine Woche gewesen, mit dem Titel »Wie umgarne ich einen Mann«. Wie du mir, hatte Fiona in aller Deutlichkeit an den Rand geschrieben.
»Teilen Sie seine Interessen«, lautete ein Hinweis. »Wenn Sie Fußball für Zeitverschwendung halten, er aber nicht davon abzubringen ist, setzen Sie sich neben ihn und fragen Sie, wie diese Woche die Chancen für Arsenal stehen. Fußball mag langweilig sein, er ist es nicht.«
Roger lächelte etwas grimmig. Er hatte ihre Interessen geteilt, und wie, falls es als Zeitvertreib zählte, die Spur ihrer verdammten Eltern durch deren haarsträubende Geschichte zu verfolgen. Allerdings konnte er nur herzlich wenig davon mit ihr teilen.
»Seien Sie reserviert«, lautete ein anderer Zeitungstip. »Nichts weckt das Interesse eines Mannes mehr als eine Aura der Zurückhaltung. Lassen Sie ihn nicht zu schnell zu nah an sich heran.«
Roger fragte sich plötzlich, ob Brianna wohl ähnliche Ratschläge in amerikanischen Magazinen gelesen hatte, aber dann schob er den Gedanken von sich. Sie war sich zwar nicht zu schade, um Modemagazine zu lesen - er hatte es ein paar Mal gesehen -,doch Brianna war ebensowenig in der Lage, solche dummen Spiele zu spielen, wie er selbst.
Nein, sie würde ihn nicht auf Abstand halten, um sein Interesse an ihr zu schüren; wozu auch? Sie wußte doch wohl, wieviel ihm an ihr lag.
Wußte sie das wirklich? Mit plötzlicher Beklommenheit erinnerte er sich an einen anderen Rat, den Meine Woche für Verliebte bereithielt.
»Gehen Sie nicht davon aus, daß er Ihre Gedanken lesen kann«, hieß es in dem Artikel. »Deuten Sie ihm Ihre Gefühle an.«
Roger biß irgendwo in sein Sandwich und kaute, ohne zu bemerken, worauf. Doch, ja, er hatte sie angedeutet. Sich vorgewagt und ihr sein verdammtes Herz ausgeschüttet. Und sie war prompt in ein Flugzeug gesprungen und hatte sich nach Boston verdrückt.
»Seien Sie nicht zu aggressiv«, murmelte er und zitierte schnaubend Tip Nummer vierzehn. Die Professorin neben ihm rückte ein Stück zur Seite.
Roger seufzte und legte das angebissene Sandwich angewidert auf das Plastiktablett. Er hob die Tasse mit dem sogenannten Kaffee des Speisesaals hoch, trank aber nicht, sondern saß nur da, hielt sie zwischen den Händen und absorbierte ihre spärliche Wärme.
Das Problem war, daß er zwar glaubte, Briannas Aufmerksamkeit von der Vergangenheit abgelenkt zu haben, er selbst aber nicht in der Lage gewesen war, sie zu ignorieren. Er war besessen von Claire und ihrem verdammten Highlander; so, wie sie ihn faszinierten, hätten sie gut zu seiner eigenen Familie gehören können.
»Seien Sie immer aufrichtig.« Tip Nummer drei. Wenn er es gewesen wäre, wenn er ihr geholfen hätte, alles herauszufinden, dann würde der Geist Jamie Frasers jetzt vielleicht in Frieden ruhen - und Roger auch.
»Ach, leck mich am Arsch!« brummte er vor sich hin.
Seine Tischnachbarin knallte ihre Kaffeetasse aufs Tablett und stand abrupt auf.
»Leck dich selbst am Arsch!« sagte sie scharf und ging davon.
Roger starrte ihr einen Augenblick hinterher.
»Keine Angst«, sagte er. »Ich glaube, das habe ich schon.«
Der Ruf Der Trommel
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