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Die große Kunst des
Liebesbriefs
Oxford, März 1971
Roger nahm an, daß es in Inverness genausooft
regnete wie in Oxford, aber irgendwie hatte ihm der Regen im Norden
noch nie etwas ausgemacht. Der kalte, schottische Wind, der vom
Moray Firth landeinwärts wehte, regte ihn an, und wenn ihn der
Regen durchnäßte, wurden seine Lebensgeister geweckt und
erfrischt.
Doch das war Schottland mit Brianna an seiner Seite
gewesen. Jetzt war sie in Amerika, er in England, und Oxford war
kalt und farblos, die Straßen und Gebäude grau wie die Asche eines
erloschenen Feuers. Regen prasselte ihm auf die Schultern seines
Talars, als er über den Hof des Colleges eilte, einen Arm voller
Papiere von den Popelinfalten verdeckt. Als er den Schutz der
Portiersloge erreicht hatte, blieb er stehen, um sich zu schütteln
wie ein Hund, und versprühte dabei Tropfen auf dem steinernen
Durchgang.
»Irgendwelche Post?« fragte er.
»Glaube schon, Mr. Wakefield. Augenblickchen.«
Martin verschwand in seinem Allerheiligsten, und Roger las in der
Zwischenzeit die Namen der Kriegsgefallenen des Colleges, die in
die Steintafel im Eingangsbereich gemeißelt waren.
George Vanlandingham, Esq. The Honorable Phillip
Menzies. Joseph William Roscoe. Roger ertappte sich nicht zum
ersten Mal dabei, daß er über diese toten Helden nachdachte und
darüber, was für Menschen sie wohl gewesen waren. Seit er Brianna
und ihre Mutter kennengelernt hatte, stellte er fest, daß die
Vergangenheit nur allzuoft ein verstörend menschliches Gesicht
trug.
»Hier, Mr. Wakefield.« Martin beugte sich strahlend
über die Theke und hielt ihm einen dünnen Briefstapel hin. »Heute
einer aus den Staaten«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Roger spürte, wie als Antwort ein Grinsen sein
Gesicht überzog, und augenblicklich breitete sich ein Wärmegefühl
von seiner Brust in seine Gliedmaßen aus und vertrieb die Kühle des
Regentages.
»Werden wir Ihre junge Dame bald hier begrüßen, Mr.
Wakefield?« Martin reckte den Hals und schielte unverhohlen auf den
Brief mit den amerikanischen Briefmarken. Der Portier hatte Brianna
kennengelernt, als sie kurz vor Weihnachten mit Roger
heruntergekommen war, und er war ihrem Charme erlegen.
»Ich hoffe es. Vielleicht im Sommer. Danke!«
Er wandte sich seiner Treppe zu und steckte die
Briefe sorgfältig in den Ärmel seines Talars, während er nach
seinem Schlüssel suchte. Wenn er an den Sommer dachte, fühlte er
eine Mischung aus Freude und Frustration. Sie hatte gesagt, sie
würde im Juli kommen, doch bis dahin waren es noch vier Monate. Je
nach seiner Stimmung glaubte er, daß er keine vier Tage mehr
überstehen konnte.
Roger faltete den Brief wieder zusammen und
steckte ihn in seine Innentasche, über seinem Herzen. Sie schrieb
ihm alle paar Tage, von kurzen Notizen bis hin zu langen Berichten,
und jeder ihrer Briefe rief ein sanftes, warmes Glühen in ihm
hervor, das meistens bis zur Ankunft des nächsten anhielt.
Doch gleichzeitig waren ihre Briefe zur Zeit etwas
unbefriedigend. Immer noch voll warmer Zuneigung, immer mit »In
Liebe« unterzeichnet, immer voller Versicherungen, daß er ihr
fehlte und sie ihn gern bei sich hätte. Aber nicht mehr die Art von
Worten, mit der man Papier in Flammen setzt.
Vielleicht war es natürlich; eine normale
Entwicklung, jetzt, da sie sich länger kannten; niemand konnte in
alle Ewigkeit täglich einen leidenschaftlichen Brief schreiben,
nicht, wenn er ehrlich war.
Er bildete es sich bestimmt nur ein, daß Brianna
sich in ihren Briefen zurücknahm. Es mußten ja nicht unbedingt die
Exzesse der Freundin eines Bekannten sein, die sich ein paar
Schamhaare abgeschnitten und sie in einen Brief gesteckt hatte -
obwohl er die Geisteshaltung hinter dieser Geste bewunderte.
Er biß in sein Sandwich und kaute geistesabwesend,
während er an den letzten Artikel dachte, den Fiona ihm geschickt
hatte. Jetzt, da sie verheiratet war, betrachtete sich Fiona als
Expertin in Eheangelegenheiten und entwickelte ein schwesterliches
Interesse an dem holperigen Verlauf von Rogers
Liebesbeziehung.
Sie schnitt ständig hilfreiche Tips aus
Frauenmagazinen aus und schickte sie ihm. Der letzte Ausschnitt war
ein Artikel aus Meine Woche gewesen, mit dem Titel »Wie
umgarne ich einen Mann«. Wie du mir, hatte Fiona in aller
Deutlichkeit an den Rand geschrieben.
»Teilen Sie seine Interessen«, lautete ein Hinweis.
»Wenn Sie Fußball
für Zeitverschwendung halten, er aber nicht davon abzubringen ist,
setzen Sie sich neben ihn und fragen Sie, wie diese Woche die
Chancen für Arsenal stehen. Fußball mag langweilig sein, er
ist es nicht.«
Roger lächelte etwas grimmig. Er hatte ihre
Interessen geteilt, und wie, falls es als Zeitvertreib zählte, die
Spur ihrer verdammten Eltern durch deren haarsträubende Geschichte
zu verfolgen. Allerdings konnte er nur herzlich wenig davon mit ihr
teilen.
»Seien Sie reserviert«, lautete ein anderer
Zeitungstip. »Nichts weckt das Interesse eines Mannes mehr als eine
Aura der Zurückhaltung. Lassen Sie ihn nicht zu schnell zu nah an
sich heran.«
Roger fragte sich plötzlich, ob Brianna wohl
ähnliche Ratschläge in amerikanischen Magazinen gelesen hatte, aber
dann schob er den Gedanken von sich. Sie war sich zwar nicht zu
schade, um Modemagazine zu lesen - er hatte es ein paar Mal gesehen
-,doch Brianna war ebensowenig in der Lage, solche dummen Spiele zu
spielen, wie er selbst.
Nein, sie würde ihn nicht auf Abstand halten, um
sein Interesse an ihr zu schüren; wozu auch? Sie wußte doch wohl,
wieviel ihm an ihr lag.
Wußte sie das wirklich? Mit plötzlicher
Beklommenheit erinnerte er sich an einen anderen Rat, den Meine
Woche für Verliebte bereithielt.
»Gehen Sie nicht davon aus, daß er Ihre Gedanken
lesen kann«, hieß es in dem Artikel. »Deuten Sie ihm Ihre Gefühle
an.«
Roger biß irgendwo in sein Sandwich und kaute, ohne
zu bemerken, worauf. Doch, ja, er hatte sie angedeutet. Sich
vorgewagt und ihr sein verdammtes Herz ausgeschüttet. Und sie war
prompt in ein Flugzeug gesprungen und hatte sich nach Boston
verdrückt.
»Seien Sie nicht zu aggressiv«, murmelte er und
zitierte schnaubend Tip Nummer vierzehn. Die Professorin neben ihm
rückte ein Stück zur Seite.
Roger seufzte und legte das angebissene Sandwich
angewidert auf das Plastiktablett. Er hob die Tasse mit dem
sogenannten Kaffee des Speisesaals hoch, trank aber nicht, sondern
saß nur da, hielt sie zwischen den Händen und absorbierte ihre
spärliche Wärme.
Das Problem war, daß er zwar glaubte, Briannas
Aufmerksamkeit von der Vergangenheit abgelenkt zu haben, er selbst
aber nicht in der Lage gewesen war, sie zu ignorieren. Er war
besessen von Claire und ihrem verdammten Highlander; so, wie sie
ihn faszinierten, hätten sie gut zu seiner eigenen Familie gehören
können.
»Seien Sie immer aufrichtig.« Tip Nummer drei. Wenn
er es gewesen
wäre, wenn er ihr geholfen hätte, alles herauszufinden, dann würde
der Geist Jamie Frasers jetzt vielleicht in Frieden ruhen - und
Roger auch.
»Ach, leck mich am Arsch!« brummte er vor sich
hin.
Seine Tischnachbarin knallte ihre Kaffeetasse aufs
Tablett und stand abrupt auf.
»Leck dich selbst am Arsch!« sagte sie
scharf und ging davon.
Roger starrte ihr einen Augenblick hinterher.
»Keine Angst«, sagte er. »Ich glaube, das habe ich
schon.«