30
Spurlos
Oxford, April 1971
»Nein«, sagte er nachdrücklich. Roger schwang herum, um durch das Fenster auf den verhangenen Himmel zu blicken, während er sich den Hörer ans Ohr hielt. »Auf gar keinen Fall. Ich fahre nächste Woche nach Schottland, das habe ich Ihnen doch gesagt.«
»Oh, aber Roger«, beschwor ihn die Stimme der Dekanin. »Das ist doch wirklich etwas für Sie. Und es würde Ihren Terminplan kaum verzögern; nächsten Monat um diese Zeit könnten Sie in den Highlands Ihren Rehen hinterherjagen - und Sie haben mir doch selbst gesagt, daß Sie Ihrrre Süße nicht vor Juli errrwarrrten.«
Roger knirschte mit den Zähnen, als er hörte, wie die Dekanin sich an einem schottischen Akzent versuchte, und öffnete den Mund, um noch einmal nein zu sagen, doch er war ein bißchen zu langsam.
»Und es sind Amerikaner, Rog«, sagte sie. »Sie können doch so gut mit Amerikanern. Wo wir gerade von Frrrauen sprechen«, fügte sie mit einem kurzen Glucksen hinzu.
»Jetzt hören Sie mal, Edwina«, sagte er und rang um Geduld. »Ich muß in diesen Ferien einiges erledigen. Und dazu gehört nicht, daß ich amerikanische Touristen durch die Londoner Museen scheuche.«
»Nein, nein«, versicherte sie ihm. »Wir haben bezahlte Aufpasser für die Touristengeschichten; Sie hätten nur mit der Konferenz selbst zu tun.«
»Ja, aber…«
»Geld, Roger«, schnurrte sie durchs Telefon und zog damit ihre Geheimwaffe. »Es sind Amerikaner, habe ich gesagt. Sie wissen, was das bedeutet.« Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause, damit er sich in Ruhe das Entgelt für die Ausrichtung einer einwöchigen Konferenz für eine amerikanische Besuchergruppe ausmalen konnte, deren offizieller Aufpasser erkrankt war. Im Vergleich zu seinem normalen Gehalt war es eine astronomische Summe.
»Äh…« Er konnte spüren, wie er schwach wurde.
»Ich habe gehört, Sie wollen demnächst heiraten, Rog. Damit könnten Sie doch eine Extraportion Haggis für die Hochzeit kaufen, oder?«
»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, wie subtil Sie sind, Edwina?« wollte er wissen.
»Noch nie.« Sie gluckste noch einmal kurz und wechselte dann abrupt in den Beamtenmodus. »Also gut, dann sehen wir uns Montag in einer Woche beim Vorbereitungstreffen«, und dann legte sie auf.
Er unterdrückte den zwecklosen Impuls, den Hörer auf den Boden zu knallen und ließ ihn statt dessen auf die Gabel fallen.
Vielleicht war es ja gar keine so schlechte Idee, dachte er dumpf. Ehrlich gesagt war ihm das Geld egal, doch vielleicht würde ihn die Organisation einer Konferenz ablenken. Er hob den mehrfach zerknüllten Brief auf, der neben dem Telefon lag, und strich ihn glatt. Sein Blick wanderte über die entschuldigenden Zeilen, ohne sie wirklich zu lesen.
Tut mir so leid, hatte sie gesagt. Besondere Einladung zu einer Ingenieurstagung in Sri Lanka (Gott, besuchten denn alle Amerikaner im Sommer irgendwelche Konferenzen?), wichtige Kontakte, Bewerbungsgespräche (Bewerbungsgespräche? Himmel, er hatte es gewußt, sie würde nicht zurückkommen!) - konnte nicht nein sagen. Tut mir wahnsinnig leid. Bis September dann. Ich schreibe Dir. In Liebe.
»Ja klar«, sagte er. »In Liebe.«
Er knüllte das Blatt wieder zusammen und warf es gegen die Anrichte. Es prallte vom Rand des silbernen Bilderrahmens ab und fiel auf den Teppich.
»Du hättest es mir geradeheraus sagen können«, sagte er laut. »Also hast du einen anderen gefunden; du hattest damals also recht, nicht wahr? Du warst klug und ich der Dumme. Aber konntest du nicht ehrlich sein, du alte Lügnerin?«
Er versuchte, sich so richtig in Wut zu reden; alles, was half, die Leere in seiner Magengrube zu füllen. Doch es funktionierte nicht.
Er ergriff den Silberrahmen mit ihrem Bild und hätte ihn am liebsten in Stücke gebrochen, ihn am liebsten an sein Herz gedrückt. Am Ende stand er einfach nur lange da und sah das Bild an, bevor er es sanft mit dem Gesicht nach unten hinlegte.
»Tut mir so leid«, sagte er. »Ja, mir auch.«
 
Mai 1971
Die Kisten warteten in der Portiersloge auf ihn, als er am letzten Tag der Konferenz ins College zurückkehrte. Ihm war heiß, er war müde, und er hatte die Nase gründlich voll von allen Amerikanern. Es waren fünf große Holzkisten, die mit bunten, internationalen Frachtaufklebern zugekleistert waren.
»Was ist das denn?« Roger balancierte die Schreibunterlage, die ihm der Paketbote überreicht hatte, in der einen Hand und durchsuchte mit der anderen seine Tasche nach Trinkgeld.
»Na, das weiß ich doch nicht, oder?« Mißmutig und verschwitzt von seinem Gang über den Hof zur Portiersloge ließ der Mann die letzte Kiste mit einem Knall auf die anderen fallen. »Alles für dich, Kumpel.«
Roger stupste die obere Kiste probehalber an. Wenn das keine Bücher waren, dann war es Blei. Doch beim Schieben hatte er den Rand eines Briefes gesehen, der an der unteren Kiste festgeklebt war. Mit einigen Schwierigkeiten löste er ihn ab und riß ihn auf.
Du hast mir erzählt, dein Vater hätte gesagt, daß jeder eine Geschichte braucht, stand in der Notiz, die er aus dem Umschlag zog. Dies ist meine. Kannst Du sie zusammen mit Deiner aufbewahren? Weder Begrüßung noch Schluß; nur der Buchstabe »B« war in fetten, eckigen Linien daruntergeschrieben.
Er starrte einen Moment lang auf die Notiz, dann faltete er sie zusammen und steckte sie in seine Brusttasche. Er ging vorsichtig in die Hocke, packte die obere Kiste und hob sie hoch. Himmel, sie wog mindestens dreißig Kilo!
Schwitzend ließ Roger die Kiste auf den Boden seines Wohnzimmers fallen und ging in das winzige Schlafzimmer, wo er in einer Schublade herumkramte. Mit einem Schraubenzieher und einer Bierflasche bewaffnet, kehrte er zurück, um sich mit der Kiste zu befassen. Er versuchte, seine zunehmende Aufregung im Zaum zu halten, doch es gelang ihm nicht. Kannst Du sie zusammen mit Deiner aufbewahren? Schickte ein Mädchen einem Kerl ihren halben Besitz, wenn sie ihn sitzenlassen wollte?
»Geschichte, was?« brummte er. »Museumsreif, so wie du sie eingepackt hast.« Der Inhalt war in zwei Kartons verpackt, die durch eine Lage Holzwolle voneinander getrennt waren. Als er den inneren Karton öffnete, kam eine geheimnisvolle Sammlung von ungleichmäßigen, in Zeitungspapier gewickelten Bündeln und kleineren Kartons zum Vorschein.
Er wählte einen stabilen Schuhkarton und warf einen Blick hinein. Fotografien; alte mit gezahnten Rändern und neuere, hochglänzend und farbig. Der Rand eines großen Studioporträts stand vor, und er zog es heraus.
Es war Claire Randall, fast so, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte; warme, ungewöhnliche bernsteinfarbene Augen unter einem Gewirr brauner Seidenlocken, der Hauch eines Lächelns auf dem vollen, sanften Mund. Er schob es in den Karton zurück und kam sich wie ein Mörder vor.
Der Gegenstand, der zwischen den Lagen aus Zeitung zum Vorschein kam, machte der Bezeichnung Flickenpuppe alle Ehre. Ihr aufgemaltes Gesicht war so verblichen, daß nur die Knopfaugen übriggeblieben waren, die leer und herausfordernd vor sich hinstarrten. Ihr Kleid war zerrissen, war aber sorgfältig geflickt worden, der weiche Stoffkörper verfärbt, aber sauber.
Das nächste Bündel förderte einen zerknitterten Mickymaus-Hut zutage, zwischen dessen hochstehenden Ohren immer noch eine winzige rosa Schaumgummischleife befestigt war. Eine billige Spieldose, die »Over the Rainbow« spielte, als er sie öffnete. Ein Stoffhund, dessen Synthetikfell stellenweise durchgescheuert war. Ein ausgeblichenes, rotes Sweatshirt, Männergröße Medium. Es hätte Brianna passen können, doch irgendwie war Roger sich sicher, daß es Franks gewesen war. Ein abgetragener Morgenmantel aus maronenfarbener, gesteppter Seide. Er folgte einer Eingebung und preßte ihn an seine Nase. Claire. Ihr Duft ließ sie lebendig vor ihm erstehen, ein schwacher Geruch nach Moschus und grünen Pflanzen, und er ließ das Kleidungsstück erschüttert fallen.
Unter den Alltagsdingen befand sich ein schwererer Schatz.
Drei große, flache Kästen am Boden der Kiste machten den Großteil ihres Gewichtes aus. Jede enthielt ein silbernes Eßbesteck, sorgfältig eingeschlagen in graues Antibeschlagtuch. In jedem Kasten lag eine maschinengeschriebene Notiz, auf der die Herkunft und Geschichte des Silbers stand.
Ein versilbertes Besteck aus Frankreich mit Bändelwerk an den Rändern, Herstellerinsignien DG. Erworben 1842 von William S. Randall. Ein altenglisches Muster, George III., erworben 1776 von Edward K. Randall. Ein Rocaillemuster, von Charles Boyton, erworben 1903 von Quentin Lambert Beauchamp, Hochzeitsgeschenk für Franklin Randall und Claire Beauchamp. Das Familiensilber.
Mit wachsender Verwunderung fuhr Roger fort und legte die einzelnen Fundstücke vorsichtig neben sich auf den Boden, die Kunst-und Alltagsgegenstände, die Brianna Randalls Geschichte ausmachten. Geschichte. Himmel, warum hatte sie es so genannt?
Beunruhigung gesellte sich zu seiner Verwunderung, als ihm ein neuer Gedanke kam, und er griff nach dem Deckel und überprüfte den Adreßaufkleber. Oxford. Ja, sie hatte sie nach hier geschickt. Warum nach hier, wenn sie doch gewußt hatte - oder davon ausgegangen war -,daß er vorhatte, den ganzen Sommer in Schottland zu verbringen? Das hätte er auch, wenn nicht in letzter Minute diese Konferenz dazwischengekommen wäre - und davon hatte er ihr nichts gesagt.
In der äußersten Ecke steckte ein Schmuckkästchen, ein kleiner, aber schwerer Behälter. Darin befanden sich diverse Ringe. Broschen und Ohrringe. Die Cairngormbrosche, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, war da. Halsbänder und -ketten. Zwei Dinge fehlten.
Das Silberarmband, das er ihr geschenkt hatte - und die Perlen ihrer Großmutter.
»Auch du lieber Himmel.« Er sah noch einmal nach, nur um ganz sicher zu gehen, schüttete dann das glitzernde Durcheinander aus und verteilte es auf seiner Tagesdecke. Keine Perlen. Ganz sicher keine Kette aus schottischen Barockperlen, durchsetzt mit antiken Goldkügelchen.
Tragen würde sie sie mit Sicherheit nicht, nicht auf einer Ingenieurstagung in Sri Lanka. Die Perlen waren für sie ein Erbstück, kein Schmuck. Sie trug sie nur selten. Sie waren ihre Verbindung mit…
»Das hast du nicht getan«, sagte er laut. »Gott, sag mir, daß du es nicht getan hast!«
Er ließ das Schmuckkästchen auf das Bett fallen und donnerte die Treppe hinunter zum Telefonzimmer.
Es dauerte ewig, die internationale Vermittlung in die Leitung zu bekommen, und dann folgte noch länger andauerndes elektronisches Knacken und Summen, bis er die Verbindung klicken hörte und ein schwaches Klingeln folgte. Einmal klingeln, zweimal, dann ein Klikken, und sein Herz tat einen Sprung. Sie war zu Hause!
»Wir bedauern«, sagte eine freundliche, unpersönliche Frauenstimme, »dieser Anschluß wurde stillgelegt oder wird nicht mehr benutzt.«
 
Gott, das konnte sie doch nicht machen! Oder? Klar konnte sie es, die leichtsinnige Närrin! Wo zum Teufel war sie?
Er trommelte unruhig mit den Fingern auf seinen Oberschenkel und kochte vor Wut, während es in der transatlantischen Telefonleitung klickte und summte, während seine Verbindung hergestellt wurde, während er sich mit den endlosen Verzögerungen und Mißverständnissen herumschlug, wie sie für Krankenhauszentralen und Sekretärinnen typisch sind. Doch schließlich hörte er eine vertraute Stimme, tief und volltönend.
»Joseph Abernathy?«
»Dr. Abernathy? Hier ist Roger Wakefield. Wissen Sie, wo Brianna ist?« fragte er ohne Umschweife.
Die tiefe Stimme hob sich leicht vor Überraschung.
»Bei Ihnen. Oder nicht?«
Ein kalter Schauer durchlief Roger, und er umfaßte den Hörer fester, als könnte er ihn zwingen, ihm die Antwort zu geben, die er hören wollte.
»Nein«, bemühte er sich zu sagen, so ruhig er konnte. »Sie wollte im Herbst kommen, wenn sie mit ihrem Abschluß fertig ist und eine Tagung in Sri Lanka besucht hat.«
»Nein. Nein, das stimmt nicht. Sie ist Ende April mit ihren Prüfungen fertiggeworden - ich habe sie zur Feier des Tages zum Essen eingeladen -,und sie hat gesagt, daß sie sofort nach Schottland wollte, ohne ihre Promovierung abzuwarten. Warten Sie, lassen Sie mich nachdenken… ja, das stimmt; mein Sohn Lenny hat sie zum Flughafen gefahren… wann? Ja, am Dienstag… dem siebenundzwanzigsten. Wollen Sie damit sagen, daß sie nicht angekommen ist?« Dr. Abernathys aufgeregte Stimme wurde lauter.
»Ich weiß nicht, ob sie hier gelandet ist oder nicht.« Rogers freie Hand war zur Faust geballt. »Sie hat mir nicht gesagt, daß sie kommen wollte.« Er zwang sich, tief durchzuatmen. »Wo ist sie hingeflogen - in welche Stadt, wissen Sie das? London? Edinburgh?« Es konnte ja sein, daß sie vorgehabt hatte, ihn mit ihrer plötzlichen, unerwarteten Ankunft zu überraschen. Er war überrascht, das stimmte, aber er bezweifelte, daß das ihre Absicht gewesen war.
Visionen von Entführungen, Überfällen, IRA-Bombenanschlägen trieben ihm durch den Kopf. Einem Mädchen, das allein in einer Großstadt unterwegs war, konnte alles mögliche passiert sein - und fast alles, das ihr hätte geschehen können, war besser als das, was seinem Instinkt zufolge wirklich passiert war.
Verflixtes Frauenzimmer!
»Inverness«, sagte Dr. Abernathys Stimme in sein Ohr. »Von Boston nach Edinburgh, dann mit dem Zug nach Inverness.«
»Oh, Himmel!« Es war Fluch und Gebet zugleich. Wenn sie dienstags in Boston aufgebrochen war, dann war sie wahrscheinlich im Laufe des Donnerstags in Inverness angekommen. Und Freitag war der dreißigste April - der Vorabend von Beltane, dem alten Feuerfest, an dem im alten Schottland die Feuer der Reinigung und der Fruchtbarkeit auf den Gipfeln gebrannt hatten. An dem - vielleicht - das Tor zum Feenhügel von Craigh na Dun am weitesten offenstand.
Abernathys Stimme krächzte drängend in sein Ohr. Er zwang sich, sich darauf zu konzentrieren.
»Nein«, sagte er unter Schwierigkeiten. »Nein, ist sie nicht. Ich bin immer noch in Oxford. Ich hatte keine Ahnung.«
Der luftleere Raum zwischen ihnen vibrierte, die Stille füllte sich mit Angst. Er mußte die Frage stellen. Er holte noch einmal Luft - er schien sich zu jedem Atemzug bewußt aufraffen zu müssen - und nahm den Hörer in die andere Hand. Dann wischte er sich seine verkrampfte, verschwitzte Hand an seinem Hosenbein ab.
»Dr. Abernathy«, sagte er vorsichtig. »Es ist ja möglich, daß Brianna zu ihrer Mutter gegangen ist - zu Claire. Sagen Sie - wissen Sie, wo sie ist?«
Diesmal war die Stille mit Argwohn geladen.
»Äh… nein.« Abernathy sprach langsam und zögerte. »Nein, ich fürchte, das weiß ich nicht. Nicht genau.«
Nicht genau. So konnte man es auch sagen. Roger rieb sich mit der Hand durch das Gesicht und spürte, wie seine Bartstoppeln über seine Handfläche kratzten.
»Dann möchte ich Sie folgendes fragen«, sagte Roger vorsichtig. »Haben Sie den Namen Jamie Fraser schon einmal gehört?«
Die Leitung in seiner Hand war völlig still. Dann seufzte es tief an seinem Ohr.
»Ach, du dickes Ei«, sagte Dr. Abernathy. »Sie hat’s getan.«
 
Sie nicht?
Das hatte Joe Abernathy am Ende ihrer langen Unterhaltung zu ihm gesagt, und die Frage hing ihm nach, während er jetzt nach Norden fuhr und die Straßenschilder kaum bemerkte, die im Regen an ihm vorbeihuschten.
Sie nicht?
»Ich würde es tun«, hatte Abernathy gesagt. »Wenn Sie Ihren Vater nicht kennen würden, ihm noch nie begegnet wären - und ganz plötzlich herausbekämen, wo er sich befindet? Würden Sie ihn nicht treffen wollen, herausfinden wollen, was für ein Mensch er wirklich ist? Also, ich wäre da doch ziemlich neugierig.«
»Sie verstehen das nicht«, hatte Roger gesagt und sich frustriert mit der Hand über die Stirn gerieben. »Es ist nicht wie bei einer Adoptivtochter, die den Namen ihres wirklichen Vaters herausfindet und dann einfach so vor seiner Haustür aufkreuzt.«
»Kommt mir aber doch genauso vor.« Die tiefe Stimme war kühl. »Brianna war ein Adoptivkind, stimmt’s? Ich glaube, sie wäre schon viel früher gegangen, wenn sie es nicht als unloyal Frank gegenüber empfunden hätte.«
Roger schüttelte den Kopf, ohne darüber nachzudenken, daß Abernathy ihn nicht sehen konnte.
»Es ist nicht so, als ob - es ist die Sache mit dem Aufkreuzen vor der Haustür. Das - der Durchgang - den sie genommen hat - hören Sie, hat Claire Ihnen erzählt…?«
»Ja, das hat sie«, unterbrach Abernathy. Sein Ton war nachdenklich. »Ja, sie hat gesagt, daß das nicht ganz so wäre, wie wenn man durch eine Drehtür geht.«
»Um es harmlos auszudrücken.« Der bloße Gedanke an den Steinkreis von Craigh na Dun verursachte Roger das kalte Grausen.
»Um es harmlos auszudrücken - Sie wissen, wie es sich anfühlt?« Die Stimme aus der Ferne verschärfte sich voll Interesse.
»Ja, verdammt noch mal!« Er holte langsam und tief Luft. »Entschuldigung. Hören Sie, es ist nicht… ich kann es nicht erklären, ich glaube nicht, daß es irgend jemand könnte. Diese Steine… offensichtlich hört sie nicht jeder. Aber Claire konnte es. Brianna kann es, und - und ich kann es. Und für uns…«
Claire war am Tag des alten Feuerfestes Samhain, am ersten November, durch die Steine von Craigh na Dun gegangen, vor zweieinhalb Jahren. Roger zitterte, und zwar nicht vor Kälte. Seine Nackenhaare sträubten sich jedesmal, wenn er daran dachte.
»Also kann nicht jeder da hindurchgehen - aber Sie können es.« Abernathys Stimme war von Neugier erfüllt - und von etwas, das sich vage wie Neid anhörte.
»Ich weiß es nicht.« Roger fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Seine Augen brannten, als hätte er eine ganze Nacht durchwacht. »Vielleicht.«
»Es ist nur…« Er sprach langsam, versuchte seine Stimme zu kontrollieren und damit auch seine Furcht. »Es ist nur - selbst wenn sie hindurchgegangen ist, kann niemand sagen, ob oder wo sie wieder herausgekommen ist.«
»Ich verstehe.« Die tiefe, amerikanische Stimme hatte ihre Unbeschwertheit verloren. »Und dann wissen Sie also auch nichts von Claire? Ob sie es geschafft hat?«
Er schüttelte den Kopf - er hatte Abernathy so klar vor Augen, daß er erneut vergaß, daß der Mann ihn nicht sehen konnte. Dr. Abernathy war durchschnittlich groß, ein untersetzter Mann mit Goldbrille, doch mit einer solchen Aura der Autorität, daß man durch seine bloße Präsenz mit Zuversicht erfüllt und zur Ruhe gezwungen wurde. Roger war überrascht, festzustellen, daß sich diese Präsenz auch durch die Telefonleitung übertrug - doch er war mehr als dankbar dafür.
»Nein«, sagte er laut. Fürs erste wollte er es dabei belassen. Er hatte nicht vor, jetzt alles zu erklären, in einem Telefonat mit einem fast fremden Mann. »Sie ist eine Frau; damals nahm die Öffentlichkeit nicht viel Notiz vom Leben einzelner Frauen - es sei denn, sie stellten etwas Spektakuläres an, zum Beispiel sich als Hexen verbrennen zu lassen oder wegen Mordes gehängt zu werden. Oder ermordet zu werden.«
»Ha, ha«, sagte Abernathy, doch er lachte nicht. »Aber sie hat es geschafft, mindestens einmal. Sie ist gegangen - und sie ist zurückgekommen.«
»Aye, das ist sie.« Roger hatte versucht, sich selbst mit dieser Tatsache zu trösten, doch zu viele andere Möglichkeiten drängten sich seinem Bewußtsein auf. »Aber wir wissen nicht, ob Brianna genausoweit zurückgegangen ist - oder weiter. Und selbst, wenn sie die Steine überlebt hat und in der richtigen Zeit herausgekommen ist… haben Sie die geringste Ahnung, wie gefährlich das achtzehnte Jahrhundert gewesen ist?«
»Nein«, sagte Abernathy trocken. »Ich habe aber den Eindruck, daß Sie das wissen. Und Claire scheint doch gut dort zurechtgekommen zu sein.«
»Sie hat überlebt«, stimmte Roger zu. »Als Urlaubsort ist es aber kein Erfolgsschlager - ›Mit etwas Glück kommen Sie lebend zurück‹?« Einmal zumindest.
Diesmal lachte Abernathy, allerdings mit einem nervösen Unterton. Dann hustete er und räusperte sich.
»Na ja. Gut. Was zählt, ist - Brianna ist irgendwohin verschwunden. Und ich denke, Sie haben wohl recht, was das Wohin angeht. Ich meine, an ihrer Stelle wäre ich auch gegangen. Sie nicht?«
Sie nicht? Er zog den Wagen nach rechts und überholte einen Laster, der sich mit eingeschalteten Scheinwerfern durch den zunehmenden Nebel kämpfte.
Ich schon, klang Abernathys selbstsichere Stimme in seinem Ohr nach.
INVERNESS 30, stand auf einem Schild. Er riß den winzigen Morris abrupt nach links und rutschte über den nassen Asphalt. Der Regen trommelte so fest auf die Fahrbahn, daß er als Nebelschleier über dem Gras am Straßenrand aufstieg.
Sie nicht? Er berührte die Brusttasche seines Hemdes, in der der quadratische Umriß von Briannas Foto steif über seinem Herzen lag. Seine Finger berührten das Medaillon seiner Mutter, klein, rund und hart, das er im letzten Moment ergriffen und als Glücksbringer mitgenommen hatte.
»Ja, vielleicht würde ich das«, brummte er und blinzelte durch den Regen, der über die Windschutzscheibe dampfte. »Aber ich hätte dir gesagt, daß ich es tun würde. In Gottes Namen, Frau - warum hast du es mir nicht gesagt?«
Der Ruf Der Trommel
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