30
Spurlos
Oxford, April 1971
»Nein«, sagte er nachdrücklich. Roger schwang
herum, um durch das Fenster auf den verhangenen Himmel zu blicken,
während er sich den Hörer ans Ohr hielt. »Auf gar keinen Fall. Ich
fahre nächste Woche nach Schottland, das habe ich Ihnen doch
gesagt.«
»Oh, aber Roger«, beschwor ihn die Stimme der
Dekanin. »Das ist doch wirklich etwas für Sie. Und es würde Ihren
Terminplan kaum verzögern; nächsten Monat um diese Zeit könnten Sie
in den Highlands Ihren Rehen hinterherjagen - und Sie haben mir
doch selbst gesagt, daß Sie Ihrrre Süße nicht vor Juli
errrwarrrten.«
Roger knirschte mit den Zähnen, als er hörte, wie
die Dekanin sich an einem schottischen Akzent versuchte, und
öffnete den Mund, um noch einmal nein zu sagen, doch er war ein
bißchen zu langsam.
»Und es sind Amerikaner, Rog«, sagte sie. »Sie
können doch so gut mit Amerikanern. Wo wir gerade von
Frrrauen sprechen«, fügte sie mit einem kurzen Glucksen
hinzu.
»Jetzt hören Sie mal, Edwina«, sagte er und rang um
Geduld. »Ich muß in diesen Ferien einiges erledigen. Und dazu
gehört nicht, daß ich amerikanische Touristen durch die Londoner
Museen scheuche.«
»Nein, nein«, versicherte sie ihm. »Wir haben
bezahlte Aufpasser für die Touristengeschichten; Sie hätten nur mit
der Konferenz selbst zu tun.«
»Ja, aber…«
»Geld, Roger«, schnurrte sie durchs Telefon und zog
damit ihre Geheimwaffe. »Es sind Amerikaner, habe ich gesagt. Sie
wissen, was das bedeutet.« Sie machte eine
bedeutungsschwangere Pause, damit er sich in Ruhe das Entgelt für
die Ausrichtung einer einwöchigen Konferenz für eine amerikanische
Besuchergruppe ausmalen konnte, deren offizieller Aufpasser
erkrankt war. Im Vergleich zu seinem normalen Gehalt war es eine
astronomische Summe.
»Äh…« Er konnte spüren, wie er schwach wurde.
»Ich habe gehört, Sie wollen demnächst heiraten,
Rog. Damit könnten Sie doch eine Extraportion Haggis für die
Hochzeit kaufen, oder?«
»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, wie subtil Sie
sind, Edwina?« wollte er wissen.
»Noch nie.« Sie gluckste noch einmal kurz und
wechselte dann abrupt in den Beamtenmodus. »Also gut, dann sehen
wir uns Montag in einer Woche beim Vorbereitungstreffen«, und dann
legte sie auf.
Er unterdrückte den zwecklosen Impuls, den Hörer
auf den Boden zu knallen und ließ ihn statt dessen auf die Gabel
fallen.
Vielleicht war es ja gar keine so schlechte Idee,
dachte er dumpf. Ehrlich gesagt war ihm das Geld egal, doch
vielleicht würde ihn die Organisation einer Konferenz ablenken. Er
hob den mehrfach zerknüllten Brief auf, der neben dem Telefon lag,
und strich ihn glatt. Sein Blick wanderte über die entschuldigenden
Zeilen, ohne sie wirklich zu lesen.
Tut mir so leid, hatte sie gesagt. Besondere
Einladung zu einer Ingenieurstagung in Sri Lanka (Gott, besuchten
denn alle Amerikaner im Sommer irgendwelche Konferenzen?), wichtige
Kontakte, Bewerbungsgespräche (Bewerbungsgespräche? Himmel,
er hatte es gewußt, sie würde nicht zurückkommen!) - konnte nicht
nein sagen. Tut mir wahnsinnig leid. Bis September dann. Ich
schreibe Dir. In Liebe.
»Ja klar«, sagte er. »In Liebe.«
Er knüllte das Blatt wieder zusammen und warf es
gegen die Anrichte. Es prallte vom Rand des silbernen Bilderrahmens
ab und fiel auf den Teppich.
»Du hättest es mir geradeheraus sagen können«,
sagte er laut. »Also hast du einen anderen gefunden; du hattest
damals also recht, nicht wahr? Du warst klug und ich der Dumme.
Aber konntest du nicht ehrlich sein, du alte Lügnerin?«
Er versuchte, sich so richtig in Wut zu reden;
alles, was half, die Leere in seiner Magengrube zu füllen. Doch es
funktionierte nicht.
Er ergriff den Silberrahmen mit ihrem Bild und
hätte ihn am liebsten in Stücke gebrochen, ihn am liebsten an sein
Herz gedrückt. Am Ende stand er einfach nur lange da und sah das
Bild an, bevor er es sanft mit dem Gesicht nach unten
hinlegte.
»Tut mir so leid«, sagte er. »Ja, mir auch.«
Mai 1971
Die Kisten warteten in der Portiersloge auf ihn,
als er am letzten Tag der Konferenz ins College zurückkehrte. Ihm
war heiß, er war müde,
und er hatte die Nase gründlich voll von allen Amerikanern. Es
waren fünf große Holzkisten, die mit bunten, internationalen
Frachtaufklebern zugekleistert waren.
»Was ist das denn?« Roger balancierte die
Schreibunterlage, die ihm der Paketbote überreicht hatte, in der
einen Hand und durchsuchte mit der anderen seine Tasche nach
Trinkgeld.
»Na, das weiß ich doch nicht, oder?« Mißmutig und
verschwitzt von seinem Gang über den Hof zur Portiersloge ließ der
Mann die letzte Kiste mit einem Knall auf die anderen fallen.
»Alles für dich, Kumpel.«
Roger stupste die obere Kiste probehalber an. Wenn
das keine Bücher waren, dann war es Blei. Doch beim Schieben hatte
er den Rand eines Briefes gesehen, der an der unteren Kiste
festgeklebt war. Mit einigen Schwierigkeiten löste er ihn ab und
riß ihn auf.
Du hast mir erzählt, dein Vater hätte gesagt,
daß jeder eine Geschichte braucht, stand in der Notiz, die er
aus dem Umschlag zog. Dies ist meine. Kannst Du sie zusammen mit
Deiner aufbewahren? Weder Begrüßung noch Schluß; nur der
Buchstabe »B« war in fetten, eckigen Linien
daruntergeschrieben.
Er starrte einen Moment lang auf die Notiz, dann
faltete er sie zusammen und steckte sie in seine Brusttasche. Er
ging vorsichtig in die Hocke, packte die obere Kiste und hob sie
hoch. Himmel, sie wog mindestens dreißig Kilo!
Schwitzend ließ Roger die Kiste auf den Boden
seines Wohnzimmers fallen und ging in das winzige Schlafzimmer, wo
er in einer Schublade herumkramte. Mit einem Schraubenzieher und
einer Bierflasche bewaffnet, kehrte er zurück, um sich mit der
Kiste zu befassen. Er versuchte, seine zunehmende Aufregung im Zaum
zu halten, doch es gelang ihm nicht. Kannst Du sie zusammen mit
Deiner aufbewahren? Schickte ein Mädchen einem Kerl ihren
halben Besitz, wenn sie ihn sitzenlassen wollte?
»Geschichte, was?« brummte er. »Museumsreif, so wie
du sie eingepackt hast.« Der Inhalt war in zwei Kartons verpackt,
die durch eine Lage Holzwolle voneinander getrennt waren. Als er
den inneren Karton öffnete, kam eine geheimnisvolle Sammlung von
ungleichmäßigen, in Zeitungspapier gewickelten Bündeln und
kleineren Kartons zum Vorschein.
Er wählte einen stabilen Schuhkarton und warf einen
Blick hinein. Fotografien; alte mit gezahnten Rändern und neuere,
hochglänzend und farbig. Der Rand eines großen Studioporträts stand
vor, und er zog es heraus.
Es war Claire Randall, fast so, wie er sie das
letzte Mal gesehen hatte; warme, ungewöhnliche bernsteinfarbene
Augen unter einem Gewirr brauner Seidenlocken, der Hauch eines
Lächelns auf dem vollen, sanften Mund. Er schob es in den Karton
zurück und kam sich wie ein Mörder vor.
Der Gegenstand, der zwischen den Lagen aus Zeitung
zum Vorschein kam, machte der Bezeichnung Flickenpuppe alle Ehre.
Ihr aufgemaltes Gesicht war so verblichen, daß nur die Knopfaugen
übriggeblieben waren, die leer und herausfordernd vor sich
hinstarrten. Ihr Kleid war zerrissen, war aber sorgfältig geflickt
worden, der weiche Stoffkörper verfärbt, aber sauber.
Das nächste Bündel förderte einen zerknitterten
Mickymaus-Hut zutage, zwischen dessen hochstehenden Ohren immer
noch eine winzige rosa Schaumgummischleife befestigt war. Eine
billige Spieldose, die »Over the Rainbow« spielte, als er sie
öffnete. Ein Stoffhund, dessen Synthetikfell stellenweise
durchgescheuert war. Ein ausgeblichenes, rotes Sweatshirt,
Männergröße Medium. Es hätte Brianna passen können, doch irgendwie
war Roger sich sicher, daß es Franks gewesen war. Ein abgetragener
Morgenmantel aus maronenfarbener, gesteppter Seide. Er folgte einer
Eingebung und preßte ihn an seine Nase. Claire. Ihr Duft ließ sie
lebendig vor ihm erstehen, ein schwacher Geruch nach Moschus und
grünen Pflanzen, und er ließ das Kleidungsstück erschüttert
fallen.
Unter den Alltagsdingen befand sich ein schwererer
Schatz.
Drei große, flache Kästen am Boden der Kiste
machten den Großteil ihres Gewichtes aus. Jede enthielt ein
silbernes Eßbesteck, sorgfältig eingeschlagen in graues
Antibeschlagtuch. In jedem Kasten lag eine maschinengeschriebene
Notiz, auf der die Herkunft und Geschichte des Silbers stand.
Ein versilbertes Besteck aus Frankreich mit
Bändelwerk an den Rändern, Herstellerinsignien DG. Erworben 1842
von William S. Randall. Ein altenglisches Muster, George III.,
erworben 1776 von Edward K. Randall. Ein Rocaillemuster, von
Charles Boyton, erworben 1903 von Quentin Lambert Beauchamp,
Hochzeitsgeschenk für Franklin Randall und Claire Beauchamp. Das
Familiensilber.
Mit wachsender Verwunderung fuhr Roger fort und
legte die einzelnen Fundstücke vorsichtig neben sich auf den Boden,
die Kunst-und Alltagsgegenstände, die Brianna Randalls Geschichte
ausmachten. Geschichte. Himmel, warum hatte sie es so
genannt?
Beunruhigung gesellte sich zu seiner Verwunderung,
als ihm ein neuer Gedanke kam, und er griff nach dem Deckel und
überprüfte den
Adreßaufkleber. Oxford. Ja, sie hatte sie nach hier
geschickt. Warum nach hier, wenn sie doch gewußt hatte - oder davon
ausgegangen war -,daß er vorhatte, den ganzen Sommer in Schottland
zu verbringen? Das hätte er auch, wenn nicht in letzter Minute
diese Konferenz dazwischengekommen wäre - und davon hatte er ihr
nichts gesagt.
In der äußersten Ecke steckte ein Schmuckkästchen,
ein kleiner, aber schwerer Behälter. Darin befanden sich diverse
Ringe. Broschen und Ohrringe. Die Cairngormbrosche, die er ihr zum
Geburtstag geschenkt hatte, war da. Halsbänder und -ketten. Zwei
Dinge fehlten.
Das Silberarmband, das er ihr geschenkt hatte - und
die Perlen ihrer Großmutter.
»Auch du lieber Himmel.« Er sah noch einmal nach,
nur um ganz sicher zu gehen, schüttete dann das glitzernde
Durcheinander aus und verteilte es auf seiner Tagesdecke. Keine
Perlen. Ganz sicher keine Kette aus schottischen Barockperlen,
durchsetzt mit antiken Goldkügelchen.
Tragen würde sie sie mit Sicherheit nicht, nicht
auf einer Ingenieurstagung in Sri Lanka. Die Perlen waren für sie
ein Erbstück, kein Schmuck. Sie trug sie nur selten. Sie waren ihre
Verbindung mit…
»Das hast du nicht getan«, sagte er laut. »Gott,
sag mir, daß du es nicht getan hast!«
Er ließ das Schmuckkästchen auf das Bett fallen und
donnerte die Treppe hinunter zum Telefonzimmer.
Es dauerte ewig, die internationale Vermittlung in
die Leitung zu bekommen, und dann folgte noch länger andauerndes
elektronisches Knacken und Summen, bis er die Verbindung klicken
hörte und ein schwaches Klingeln folgte. Einmal klingeln, zweimal,
dann ein Klikken, und sein Herz tat einen Sprung. Sie war zu
Hause!
»Wir bedauern«, sagte eine freundliche,
unpersönliche Frauenstimme, »dieser Anschluß wurde stillgelegt
oder wird nicht mehr benutzt.«
Gott, das konnte sie doch nicht machen!
Oder? Klar konnte sie es, die leichtsinnige Närrin! Wo zum
Teufel war sie?
Er trommelte unruhig mit den Fingern auf seinen
Oberschenkel und kochte vor Wut, während es in der
transatlantischen Telefonleitung klickte und summte, während seine
Verbindung hergestellt wurde, während er sich mit den endlosen
Verzögerungen und Mißverständnissen herumschlug, wie sie für
Krankenhauszentralen und Sekretärinnen typisch sind. Doch
schließlich hörte er eine vertraute Stimme, tief und
volltönend.
»Joseph Abernathy?«
»Dr. Abernathy? Hier ist Roger Wakefield. Wissen
Sie, wo Brianna ist?« fragte er ohne Umschweife.
Die tiefe Stimme hob sich leicht vor
Überraschung.
»Bei Ihnen. Oder nicht?«
Ein kalter Schauer durchlief Roger, und er umfaßte
den Hörer fester, als könnte er ihn zwingen, ihm die Antwort zu
geben, die er hören wollte.
»Nein«, bemühte er sich zu sagen, so ruhig er
konnte. »Sie wollte im Herbst kommen, wenn sie mit ihrem Abschluß
fertig ist und eine Tagung in Sri Lanka besucht hat.«
»Nein. Nein, das stimmt nicht. Sie ist Ende April
mit ihren Prüfungen fertiggeworden - ich habe sie zur Feier des
Tages zum Essen eingeladen -,und sie hat gesagt, daß sie sofort
nach Schottland wollte, ohne ihre Promovierung abzuwarten. Warten
Sie, lassen Sie mich nachdenken… ja, das stimmt; mein Sohn Lenny
hat sie zum Flughafen gefahren… wann? Ja, am Dienstag… dem
siebenundzwanzigsten. Wollen Sie damit sagen, daß sie nicht
angekommen ist?« Dr. Abernathys aufgeregte Stimme wurde
lauter.
»Ich weiß nicht, ob sie hier gelandet ist oder
nicht.« Rogers freie Hand war zur Faust geballt. »Sie hat mir nicht
gesagt, daß sie kommen wollte.« Er zwang sich, tief durchzuatmen.
»Wo ist sie hingeflogen - in welche Stadt, wissen Sie das? London?
Edinburgh?« Es konnte ja sein, daß sie vorgehabt hatte, ihn
mit ihrer plötzlichen, unerwarteten Ankunft zu überraschen. Er war
überrascht, das stimmte, aber er bezweifelte, daß das ihre Absicht
gewesen war.
Visionen von Entführungen, Überfällen,
IRA-Bombenanschlägen trieben ihm durch den Kopf. Einem Mädchen, das
allein in einer Großstadt unterwegs war, konnte alles mögliche
passiert sein - und fast alles, das ihr hätte geschehen können, war
besser als das, was seinem Instinkt zufolge wirklich passiert
war.
Verflixtes Frauenzimmer!
»Inverness«, sagte Dr. Abernathys Stimme in sein
Ohr. »Von Boston nach Edinburgh, dann mit dem Zug nach
Inverness.«
»Oh, Himmel!« Es war Fluch und Gebet zugleich. Wenn
sie dienstags in Boston aufgebrochen war, dann war sie
wahrscheinlich im Laufe des Donnerstags in Inverness angekommen.
Und Freitag war der dreißigste April - der Vorabend von Beltane,
dem alten Feuerfest, an dem im alten Schottland die Feuer der
Reinigung und der Fruchtbarkeit auf den Gipfeln gebrannt hatten. An
dem - vielleicht - das Tor zum Feenhügel von Craigh na Dun am
weitesten offenstand.
Abernathys Stimme krächzte drängend in sein Ohr. Er
zwang sich, sich darauf zu konzentrieren.
»Nein«, sagte er unter Schwierigkeiten. »Nein, ist
sie nicht. Ich bin immer noch in Oxford. Ich hatte keine
Ahnung.«
Der luftleere Raum zwischen ihnen vibrierte, die
Stille füllte sich mit Angst. Er mußte die Frage stellen. Er holte
noch einmal Luft - er schien sich zu jedem Atemzug bewußt aufraffen
zu müssen - und nahm den Hörer in die andere Hand. Dann wischte er
sich seine verkrampfte, verschwitzte Hand an seinem Hosenbein
ab.
»Dr. Abernathy«, sagte er vorsichtig. »Es ist ja
möglich, daß Brianna zu ihrer Mutter gegangen ist - zu Claire.
Sagen Sie - wissen Sie, wo sie ist?«
Diesmal war die Stille mit Argwohn geladen.
»Äh… nein.« Abernathy sprach langsam und zögerte.
»Nein, ich fürchte, das weiß ich nicht. Nicht genau.«
Nicht genau. So konnte man es auch sagen. Roger
rieb sich mit der Hand durch das Gesicht und spürte, wie seine
Bartstoppeln über seine Handfläche kratzten.
»Dann möchte ich Sie folgendes fragen«, sagte Roger
vorsichtig. »Haben Sie den Namen Jamie Fraser schon einmal
gehört?«
Die Leitung in seiner Hand war völlig still. Dann
seufzte es tief an seinem Ohr.
»Ach, du dickes Ei«, sagte Dr. Abernathy. »Sie
hat’s getan.«
Sie nicht?
Das hatte Joe Abernathy am Ende ihrer langen
Unterhaltung zu ihm gesagt, und die Frage hing ihm nach, während er
jetzt nach Norden fuhr und die Straßenschilder kaum bemerkte, die
im Regen an ihm vorbeihuschten.
Sie nicht?
»Ich würde es tun«, hatte Abernathy gesagt. »Wenn
Sie Ihren Vater nicht kennen würden, ihm noch nie begegnet
wären - und ganz plötzlich herausbekämen, wo er sich befindet?
Würden Sie ihn nicht treffen wollen, herausfinden wollen, was für
ein Mensch er wirklich ist? Also, ich wäre da doch ziemlich
neugierig.«
»Sie verstehen das nicht«, hatte Roger gesagt und
sich frustriert mit der Hand über die Stirn gerieben. »Es ist nicht
wie bei einer Adoptivtochter, die den Namen ihres wirklichen Vaters
herausfindet und dann einfach so vor seiner Haustür
aufkreuzt.«
»Kommt mir aber doch genauso vor.« Die tiefe Stimme
war kühl. »Brianna war ein Adoptivkind, stimmt’s? Ich
glaube, sie wäre schon
viel früher gegangen, wenn sie es nicht als unloyal Frank
gegenüber empfunden hätte.«
Roger schüttelte den Kopf, ohne darüber
nachzudenken, daß Abernathy ihn nicht sehen konnte.
»Es ist nicht so, als ob - es ist die Sache mit dem
Aufkreuzen vor der Haustür. Das - der Durchgang - den sie genommen
hat - hören Sie, hat Claire Ihnen erzählt…?«
»Ja, das hat sie«, unterbrach Abernathy. Sein Ton
war nachdenklich. »Ja, sie hat gesagt, daß das nicht ganz so wäre,
wie wenn man durch eine Drehtür geht.«
»Um es harmlos auszudrücken.« Der bloße Gedanke an
den Steinkreis von Craigh na Dun verursachte Roger das kalte
Grausen.
»Um es harmlos auszudrücken - Sie wissen,
wie es sich anfühlt?« Die Stimme aus der Ferne verschärfte sich
voll Interesse.
»Ja, verdammt noch mal!« Er holte langsam und tief
Luft. »Entschuldigung. Hören Sie, es ist nicht… ich kann es nicht
erklären, ich glaube nicht, daß es irgend jemand könnte. Diese
Steine… offensichtlich hört sie nicht jeder. Aber Claire konnte es.
Brianna kann es, und - und ich kann es. Und für uns…«
Claire war am Tag des alten Feuerfestes Samhain, am
ersten November, durch die Steine von Craigh na Dun gegangen, vor
zweieinhalb Jahren. Roger zitterte, und zwar nicht vor Kälte. Seine
Nackenhaare sträubten sich jedesmal, wenn er daran dachte.
»Also kann nicht jeder da hindurchgehen - aber Sie
können es.« Abernathys Stimme war von Neugier erfüllt - und von
etwas, das sich vage wie Neid anhörte.
»Ich weiß es nicht.« Roger fuhr sich mit der Hand
durch das Haar. Seine Augen brannten, als hätte er eine ganze Nacht
durchwacht. »Vielleicht.«
»Es ist nur…« Er sprach langsam, versuchte seine
Stimme zu kontrollieren und damit auch seine Furcht. »Es ist nur -
selbst wenn sie hindurchgegangen ist, kann niemand sagen, ob
oder wo sie wieder herausgekommen ist.«
»Ich verstehe.« Die tiefe, amerikanische Stimme
hatte ihre Unbeschwertheit verloren. »Und dann wissen Sie also auch
nichts von Claire? Ob sie es geschafft hat?«
Er schüttelte den Kopf - er hatte Abernathy so klar
vor Augen, daß er erneut vergaß, daß der Mann ihn nicht sehen
konnte. Dr. Abernathy war durchschnittlich groß, ein untersetzter
Mann mit Goldbrille, doch mit einer solchen Aura der Autorität, daß
man durch seine bloße Präsenz mit Zuversicht erfüllt und zur Ruhe
gezwungen wurde.
Roger war überrascht, festzustellen, daß sich diese Präsenz auch
durch die Telefonleitung übertrug - doch er war mehr als dankbar
dafür.
»Nein«, sagte er laut. Fürs erste wollte er es
dabei belassen. Er hatte nicht vor, jetzt alles zu erklären, in
einem Telefonat mit einem fast fremden Mann. »Sie ist eine Frau;
damals nahm die Öffentlichkeit nicht viel Notiz vom Leben einzelner
Frauen - es sei denn, sie stellten etwas Spektakuläres an, zum
Beispiel sich als Hexen verbrennen zu lassen oder wegen Mordes
gehängt zu werden. Oder ermordet zu werden.«
»Ha, ha«, sagte Abernathy, doch er lachte nicht.
»Aber sie hat es geschafft, mindestens einmal. Sie ist gegangen -
und sie ist zurückgekommen.«
»Aye, das ist sie.« Roger hatte versucht, sich
selbst mit dieser Tatsache zu trösten, doch zu viele andere
Möglichkeiten drängten sich seinem Bewußtsein auf. »Aber wir wissen
nicht, ob Brianna genausoweit zurückgegangen ist - oder weiter. Und
selbst, wenn sie die Steine überlebt hat und in der richtigen Zeit
herausgekommen ist… haben Sie die geringste Ahnung, wie gefährlich
das achtzehnte Jahrhundert gewesen ist?«
»Nein«, sagte Abernathy trocken. »Ich habe aber den
Eindruck, daß Sie das wissen. Und Claire scheint doch gut dort
zurechtgekommen zu sein.«
»Sie hat überlebt«, stimmte Roger zu. »Als
Urlaubsort ist es aber kein Erfolgsschlager - ›Mit etwas Glück
kommen Sie lebend zurück‹?« Einmal zumindest.
Diesmal lachte Abernathy, allerdings mit einem
nervösen Unterton. Dann hustete er und räusperte sich.
»Na ja. Gut. Was zählt, ist - Brianna ist
irgendwohin verschwunden. Und ich denke, Sie haben wohl
recht, was das Wohin angeht. Ich meine, an ihrer Stelle wäre ich
auch gegangen. Sie nicht?«
Sie nicht? Er zog den Wagen nach rechts und
überholte einen Laster, der sich mit eingeschalteten Scheinwerfern
durch den zunehmenden Nebel kämpfte.
Ich schon, klang Abernathys selbstsichere Stimme in
seinem Ohr nach.
INVERNESS 30, stand auf einem Schild. Er riß den
winzigen Morris abrupt nach links und rutschte über den nassen
Asphalt. Der Regen trommelte so fest auf die Fahrbahn, daß er als
Nebelschleier über dem Gras am Straßenrand aufstieg.
Sie nicht? Er berührte die Brusttasche
seines Hemdes, in der der
quadratische Umriß von Briannas Foto steif über seinem Herzen lag.
Seine Finger berührten das Medaillon seiner Mutter, klein, rund und
hart, das er im letzten Moment ergriffen und als Glücksbringer
mitgenommen hatte.
»Ja, vielleicht würde ich das«, brummte er und
blinzelte durch den Regen, der über die Windschutzscheibe dampfte.
»Aber ich hätte dir gesagt, daß ich es tun würde. In Gottes Namen,
Frau - warum hast du es mir nicht gesagt?«