26
Pest und Cholera
Kurz vor Sonnenuntergang verließ ich das Haus, um
nach meinem Patienten im Maisspeicher zu sehen. Es ging ihm nicht
besser, aber auch nicht sichtlich schlechter; dieselbe mühselige
Atmung, dasselbe brennende Fieber. Doch diesmal begegneten seine
eingesunkenen Augen den meinen, als ich den Schuppen betrat, und
sie blieben auf meinem Gesicht haften, während ich ihn
untersuchte.
Er umklammerte das Rabenfederamulett nach wie vor
mit der Hand. Ich berührte es und lächelte ihm zu, dann gab ich ihm
etwas zu trinken. Er nahm immer noch keine Nahrung an, trank aber
etwas Milch und schluckte ohne Protest eine weitere Dosis meines
fiebersenkenden Tees. Er lag bewegungslos da, während ich ihn
untersuchte und fütterte, doch als ich ein heißes Tuch auswrang, um
ihm daraus einen Brustwickel zu machen, streckte er plötzlich die
Hand aus und ergriff meinen Arm.
Er schlug sich mit der anderen Hand auf die Brust
und machte ein seltsames Summgeräusch. Das verwirrte mich für einen
Augenblick, bis ich erkannte, daß er tatsächlich summte.
»Wirklich?« sagte ich. Ich griff nach dem Päckchen
mit den Kräutern für den Wickel und schlug sie in das Tuch. »Na
gut. Laß mich nachdenken.«
Ich entschied mich für »Onward, Christian
Soldiers«, was ihm zu gefallen schien - ich mußte es dreimal
komplett singen, ehe er zufriedengestellt zu sein schien und mit
einem leichten Hustenanfall auf seine Decke zurücksank, eingehüllt
in Kampferdämpfe.
Vor dem Haus blieb ich stehen und reinigte mir
sorgfältig die Hände mit dem Alkohol aus der Flasche, die ich bei
mir trug. Ich war mir sicher, daß ich keine Ansteckung zu
befürchten hatte - ich hatte als Kind die Masern gehabt -,doch ich
wollte kein Risiko eingehen, einen der anderen zu infizieren.
»Ich habe in Cross Creek von einem Ausbruch der
Masern gehört«, merkte Lord John an, als ich Jamie vom Zustand
unseres
Gastes berichtete. »Ist es wahr, Mrs. Fraser, daß der Wilde von
Geburt an weniger gut in der Lage ist, Infektionen zu widerstehen,
als es die Europäer sind, während afrikanische Sklaven noch zäher
sind als ihre Herren?«
»Kommt auf die Infektion an«, sagte ich, während
ich in den Kessel blickte und dem Eintopfgefäß einen vorsichtigen
Stoß versetzte. »Die Indianer sind viel resistenter gegen
parasitäre Seuchen - zum Beispiel Malaria -,die von hiesigen
Organismen verursacht werden, und die Afrikaner kommen besser mit
Krankheiten wie dem Denguefieber zurecht - das schließlich mit
ihnen aus Afrika gekommen ist. Aber die Indianer besitzen kaum
Widerstandskräfte gegen europäische Seuchen wie Blattern und
Syphilis, nein.«
Lord John sah ein wenig überrumpelt aus, was mir
ein leichtes Gefühl der Genugtuung gab; offensichtlich hatte er die
Frage nur aus Höflichkeit gestellt - er hatte nicht ersthaft damit
gerechnet, daß ich etwas davon verstand.
»Wie faszinierend«, sagte er dann aber und klang
wirklich fasziniert. »Ihr bezieht Euch auf Organismen. Dann seid
Ihr also eine Anhängerin von Mister Evan Hunters Theorie der
miasmatischen Kreaturen?«
Jetzt war es an mir, überrumpelt zu sein.
»Äh… nicht exakt, nein«, sagte ich und wechselte
das Thema.
Wir verbrachten gemeinsam einen ganz angenehmen
Abend; Jamie und Lord John tauschten Jagd- und Angelanekdoten aus
und kommentierten den erstaunlichen Reichtum dieser Gegend, während
ich Strümpfe stopfte.
Willie und Ian spielten eine Partie Schach, welche
letzterer zu seiner sichtlichen Genugtuung gewann. Seine Lordschaft
gähnte mit aufgerissenem Mund, den er verspätet zu verdecken
versuchte, als er den drohenden Blick seines Vater auffing. Er
entspannte sich zu einem schläfrigen Lächeln gesättigter
Zufriedenheit; er und Ian hatten nach ihrem reichlichen Abendessen
allein einen ganzen Johannisbeerkuchen vernichtet.
Jamie sah es und gab Ian mit hochgezogenen
Augenbrauen ein Zeichen. Dieser erhob sich folgsam und zog Seine
Lordschaft fort, um mit ihm das Matratzenlager im Kräuterschuppen
zu teilen. Zwei weniger, dachte ich, während mein Blick fest
entschlossen dem Bett auswich - blieben noch drei.
Schließlich löste sich das knifflige Problem des
Zubettgehens dadurch, daß ich mich in Anstand - oder zumindest in
ein Nachthemd - gehüllt zurückzog, während Jamie und Lord John das
Schachbrett übernahmen und beim Schein des Feuers den letzten
Brandy tranken.
Lord John war ein viel besserer Schachspieler als
ich - das schloß ich zumindest aus der Tatsache, daß sie eine gute
Stunde für die Partie brauchten. Jamie konnte mich normalerweise in
zwanzig Minuten schlagen. Das Spiel verlief größtenteils
schweigend, wenn auch mit kurzen Anflügen einer Konversation.
Schließlich führte Lord John einen Zug aus, lehnte
sich zurück und streckte sich, als sei er zu einem Entschluß
gekommen.
»Ich nehme an, hier in der Abgelegenheit der Berge
kommen kaum Störungen politischer Art vor?« fragte er beiläufig. Er
blinzelte abschätzend auf das Schachbrett.
»Ich beneide dich wirklich Jamie, so weit weg von
den belanglosen Problemen, die die Kaufleute und den Landadel im
Tiefland beschäftigen. Wenn dein Leben auch seine Härten hat - was
zweifellos der Fall sein muß -,so hast du doch den nicht
unbeträchtlichen Trost, daß du weißt, daß deine Anstrengungen
bedeutsam und heldenhaft sind.«
Jamie schnaubte kurz.
»Oh, aye. Überaus heldenhaft, ganz bestimmt. Im
Augenblick drehen sich wohl meine heldenhaftesten Anstrengungen um
das Schwein in meiner Vorratskammer.« Er wies kopfnickend auf das
Schachbrett, eine Augenbraue hochgezogen. »Du willst diesen Zug
wirklich machen?«
Grey kniff die Augen zusammen und sah Jamie an,
dann blickte er nach unten und studierte das Schachbrett mit
gespitzten Lippen.
»Ja, das will ich«, antwortete er bestimmt.
»Verdammt«, sagte Jamie, streckte mit einem Grinsen
die Hand aus und stieß resignierend seinen König um.
Grey lachte und griff nach der Brandyflasche.
»Verdammt!« sagte er jetzt, denn er stellte fest,
daß sie leer war. Jamie lachte, stand auf und ging zum
Küchenschrank.
»Versuch mal ein bißchen hiervon«, sagte er, und
ich hörte, wie eine Flüssigkeit unter musikalischem Gluckern in
einen Becher lief.
Grey hob den Becher an seine Nase, atmete ein und
nieste herzhaft, wobei er Tröpfchen über den ganzen Tisch
versprühte.
»Das ist doch kein Wein, John«, beobachtete Jamie
nachsichtig. »Du sollst es trinken, aye? Nicht das Bouquet
genießen.«
»Das habe ich gemerkt. Himmel, was ist das?« Grey
roch erneut daran, diesmal vorsichtiger, und wagte einen
Probeschluck. Er blieb ihm im Hals stecken, doch er schluckte ihn
langsam herunter.
»Himmel«, sagte er noch einmal. Seine Stimme war
heiser. Er hustete, räusperte sich und stellte den Becher
vorsichtig auf den Tisch, wobei er ihn betrachtete, als könnte er
explodieren.
»Sag’s mir nicht«, meinte er. »Laß mich raten. Es
soll schottischer Whisky sein?«
»In zehn Jahren vielleicht«, antwortete Jamie und
schenkte sich ebenfalls einen kleinen Becher ein. Er trank einen
kleinen Schluck, spülte ihn durch seinen Mund und schluckte
kopfschüttelnd. »Im Augenblick ist es Alkohol, und das ist alles,
was ich zu seiner Verteidigung vorbringen kann.«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Grey ihm bei und trank
noch einen ganz kleinen Schluck. »Wo hast du ihn her?«
»Selbst gemacht«, sagte Jamie mit dem bescheidenen
Stolz eines Meisterbrauers. »Ich habe zwölf Fässer davon.«
Jetzt schossen Greys helle Augenbrauen in die
Höhe.
»Da ich nicht davon ausgehe, daß du dir damit die
Stiefel putzen willst, darf ich fragen, was du mit zwölf Fässern
von diesem Zeug vorhast?«
Jamie lachte.
»Eintauschen«, sagte er. »Verkaufen, wenn ich kann.
Schließlich gehören Alkoholsteuer und Braulizenzen zu den
belanglosen Problemen, die mich dank unserer Abgelegenheit nicht
beschäftigen«, fügte er ironisch hinzu.
Lord John stöhnte, probierte noch einen Schluck und
stellte den Becher hin.
»Na ja, es könnte schon sein, daß du dem Zoll
entwischst, das muß ich dir lassen - der nächste Beamte sitzt in
Cross Creek. Aber ich kann trotzdem nicht sagen, daß es sicher ist.
Wem, wenn ich fragen darf, verkaufst du denn dieses bemerkenswerte
Gebräu? Doch hoffentlich nicht den Wilden?«
Jamie zuckte die Achseln.
»Nur ganz kleine Mengen - nie mehr als ein oder
zwei Flaschen auf einmal, als Geschenk oder im Tausch. Niemals
mehr, als einen Mann betrunken machen würde.«
»Sehr umsichtig. Ich nehme an, du hast die
Geschichten gehört. Ich habe mich mit einem Mann unterhalten, der
das Massaker in Michilimackinack überlebt hat, während des
Franzosenkrieges. Es wurde - zumindest teilweise - dadurch
verursacht, daß einer großen Ansammlung von Indianern im Fort eine
beträchtliche Menge Alkohol in die Hände fiel.«
»Das habe ich auch gehört«, versicherte Jamie ihm
trocken. »Aber
wir stehen auf gutem Fuß mit den Indianern in der Umgegend, und es
sind auch nicht so viele. Und wie ich schon gesagt habe, ich bin
vorsichtig.«
»Mm.« Er probierte noch einen Schluck und zog eine
Grimasse. »Vielleicht riskierst du mehr, wenn du einen von ihnen
vergiftest, als wenn du einen Pöbel betrunken machst.« Er stellte
das Glas ab und wechselte das Thema.
»Ich habe in Wilmington von einer Gruppe von
Aufrührern gehört, die Regulatoren genannt werden, das Hinterland
terrorisieren und durch Krawalle für Unruhe sorgen. Ist dir hier so
etwas schon untergekommen?«
Jamie schnaubte kurz.
»Wen terrorisieren sie denn? Die Eichhörnchen? Es
gibt das Hinterland, John, und dann gibt es die Wildnis. Dir ist
doch sicher auf dem Weg hierher das Fehlen menschlicher Siedlungen
aufgefallen?«
»Ich habe so etwas bemerkt«, stimmte Lord John ihm
zu. »Und doch habe ich gewisse Gerüchte in bezug auf deine
Anwesenheit hier gehört - daß sie zum Teil auch als heilsamer
Einfluß auf die wachsende Gesetzlosigkeit gedacht ist.«
Jamie lachte.
»Ich glaube, daß noch einige Zeit verstreichen
wird, bevor es hier soviel Gesetzlosigkeit gibt, daß ich mich darum
kümmern muß. Obwohl ich bereits einmal so weit gegangen bin, einen
alten deutschen Bauern niederzuschlagen, der in der Kornmühle am
Fluß eine junge Frau mißhandelt hat. Er hatte sich eingeredet, daß
sie ihn beim Wiegen übervorteilt hatte - was nicht stimmte -,und
ich konnte ihn nur so vom Gegenteil überzeugen. Doch das war bis
jetzt mein einziger Versuch, die öffentliche Ordnung
aufrechtzuerhalten.«
Grey lachte und hob den umgestürzten König
auf.
»Ich bin froh, das zu hören. Willst du dich bei
einer weiteren Partie revanchieren? Ich kann schließlich nicht
davon ausgehen, daß derselbe Trick zweimal funktioniert.«
Ich drehte mich auf die Seite, mit dem Gesicht zur
Wand, und starrte schlaflos die Balken an. Das Licht des Feuers
glomm auf den flügelförmigen Narben der Axt, die der Länge nach
über jeden Stamm liefen, so regelmäßig wie Wellen an einem
Sandstrand.
Ich versuchte die Unterhaltung zu ignorieren, die
hinter mir stattfand, und mich statt dessen in der Erinnerung an
Jamie zu verlieren, wie er die Rinde abspaltete und Baumstämme
abvierte, wie ich im Schutz einer halberrichteten Wand in seinen
Armen schlief und
spürte, wie um mich herum das Haus entstand, das mich mit Wärme
und Sicherheit umschließen würde, eine dauerhafte Verkörperung
seiner Umarmung. Diese Vision gab mir immer das Gefühl der
Sicherheit und des Trostes, sogar dann, wenn ich auf dem Berg
allein war, denn ich wußte, daß das Haus, das er für mich gebaut
hatte, mir Schutz gab. Doch heute nacht funktionierte sie
nicht.
Ich lag still da und fragte mich, was mit mir los
war. Oder vielmehr, nicht was, sondern warum. Ich wußte
inzwischen genau, was es war; es war Eifersucht.
Ich war in der Tat eifersüchtig; ein Gefühl, das
ich seit einigen Jahren nicht mehr gehabt hatte und das mich jetzt
mit Abscheu erfüllte. Ich drehte mich auf den Rücken, schloß die
Augen und versuchte, das Gemurmel der Unterhaltung zu
überhören.
Lord John war mir gegenüber die Höflichkeit in
Person gewesen. Mehr als das, er war intelligent und geistreich
gewesen - eigentlich durch und durch charmant. Ihm dabei zuzuhören,
wie er intelligente, geistreiche und charmante Konversation mit
Jamie betrieb, verknotete mir die Eingeweide und ließ mich unter
der Bettdecke die Hände zu Fäusten ballen.
Du bist eine Idiotin, sagte ich heftig zu
mir selbst. Was ist nur mit dir los? Ich versuchte mich zu
entspannen, und atmete mit geschlossenen Augen tief durch die Nase
ein und aus.
Zum Teil lag es natürlich an Willie. Jamie nahm
sich sehr in acht, doch ich hatte seinen Gesichtsausdruck gesehen,
wenn er den Jungen in unbeobachteten Momenten ansah. Sein ganzer
Körper war von einer scheuen Freude erfüllt, Stolz vermischt mit
Schüchternheit und es traf mich mitten ins Herz, ihn so zu
sehen.
Er würde Brianna, seine Erstgeborene, niemals so
ansehen. Würde sie überhaupt niemals sehen. Das war kaum seine
Schuld - und doch kam es mir so ungerecht vor. Gleichzeitig konnte
ich ihm die Freude an seinem Sohn kaum übelnehmen - und das tat ich
auch nicht, redete ich mir fest ein. Es war schlicht und ergreifend
mein Problem, wenn es mir einen fürchterlichen Stich der Sehnsucht
versetzte, den Jungen anzusehen mit seinem kühnen, hübschen
Gesicht, in dem sich das Gesicht seiner Schwester spiegelte. Es lag
nicht an Jamie oder an Willie. Oder an John Grey, der den Jungen
hierhergebracht hatte.
Wozu? Das war es, was ich die ganze Zeit
gedacht hatte, seit ich mich vom ersten Schrecken ihres Auftauchens
erholt hatte, und das war es, was ich immer noch dachte. Was zum
Teufel hatte der Mann vor?
Die Geschichte mit dem Anwesen in Virginia konnte
wahr sein - oder nur eine Ausrede. Selbst wenn sie stimmte, war es
ein beträchtlicher
Umweg, nach Fraser’s Ridge zu kommen. Warum hatte er sich solche
Mühe gemacht, den Jungen hierherzubringen? Und das Risiko: Willie
war sich eindeutig der Ähnlichkeit nicht bewußt, die sogar Ian
aufgefallen war, doch was, wenn er sie bemerkt hätte? War es Grey
so wichtig gewesen, erneut klarzumachen, wie sehr ihm Jamie
verpflichtet war?
Ich drehte mich auf die andere Seite, öffnete meine
Augen einen Spaltbreit und beobachtete sie am Schachbrett,
Rotschopf und Blondschopf, in gemeinsamer Konzentration
vornübergebeugt. Grey machte einen Zug mit seinem Läufer und lehnte
sich zurück, rieb sich den Nacken und begutachtete lächelnd die
Wirkung seines Zuges. Er war ein gutaussehender Mann; schlank mit
feinem Knochenbau, doch mit einem starken, klar geschnittenen
Gesicht und einem schönen, sinnlichen Mund, um den ihn zweifellos
schon so manche Frau beneidet hatte.
Grey hatte sein Gesicht noch besser unter Kontrolle
als Jamie; ich hatte noch keinen einzigen verräterischen Blick von
ihm gesehen. Doch auf Jamaica hatte ich einmal einen solchen Blick
gesehen, und ich hatte keinen Zweifel an der Natur seiner Gefühle
für Jamie.
Andererseits hatte ich auch keinerlei Zweifel an
Jamies Gefühlen in dieser Hinsicht. Der Knoten unter meinem Herzen
lockerte sich ein wenig, und ich konnte tiefer durchatmen. Egal,
wie lange sie am Schachbrett wachblieben und redeten und tranken,
es würde mein Bett sein, in das Jamie kam.
Ich löste meine Fäuste, und da, als ich meine
Handflächen unauffällig an meinen Oberschenkeln rieb, erkannte ich
erschrocken, warum Lord John mich so aus der Fassung brachte.
Meine Fingernägel hatten kleine Kerben in meine
Handflächen gegraben, eine kleine Reihe pochender Halbmonde.
Jahrelang hatte ich mir diese Halbmonde nach jeder
Abendgesellschaft wegmassiert, jede Nacht, wenn Frank »noch spät im
Büro arbeitete«. Jahrelang hatte ich immer wieder allein in unserem
Doppelbett gelegen, hellwach in der Dunkelheit, und mir die Nägel
in die Hände gegraben, während ich darauf wartete, daß er
zurückkam.
Und das hatte er getan. Man mußte es ihm lassen,
daß er immer vor der Dämmerung zurückkehrte. Manchmal traf er dann
auf meinen Rücken, der ihm in kalter Ablehnung zugewandt war,
manchmal preßte sich mein Körper in wütender Herausforderung an ihn
und drängte ihn wortlos, es zu leugnen, seine Unschuld mit seinem
Körper zu beweisen - stellte ihn mit Gewalt auf die Probe. Meistens
hatte er die Herausforderung angenommen. Doch es half nichts.
Dennoch sprach keiner von uns bei Tageslicht von
solchen Dingen. Ich konnte es nicht; ich hatte kein Recht dazu.
Frank tat es nicht; er hatte seine Rache gehabt.
Manchmal vergingen Monate - sogar ein Jahr oder
mehr - zwischen solchen Episoden, und wir lebten friedlich
zusammen. Doch dann geschah es wieder; die heimlichen Telefonate,
sein allzu penibel entschuldigtes Fernbleiben, die Überstunden.
Niemals etwas so Offensichtliches wie das Parfüm einer anderen Frau
oder Lippenstift an seinem Kragen - er war diskret. Doch stets
spürte ich die andere Frau wie einen Geist, wer sie auch immer war;
eine gesichtslose, anonyme Sie.
Ich wußte, daß es keine Rolle spielte, wer es war -
es waren mehrere. Das einzige, was zählte, war, daß sie nicht ich
war. Und ich lag wach und ballte meine Fäuste, die Spuren meiner
Nägel eine kleine Kreuzigung.
Das Murmeln der Unterhaltung am Feuer war
weitgehend verebbt; das Klicken bei den Zügen der Schachfiguren das
einzige Geräusch.
»Fühlst du dich zufrieden?« fragte Lord John
plötzlich.
Jamie hielt einen Moment lang inne.
»Ich habe alles, was ein Mann sich wünschen kann«,
sagte er dann. »Einen Platz zum Leben und eine anständige Arbeit.
Meine Frau an meiner Seite. Das Wissen, daß mein Sohn in Sicherheit
ist und man gut für ihn sorgt.« Dann sah er zu Grey auf. »Und einen
guten Freund.« Er ergriff Lord Johns Hand und ließ sie wieder los.
»Mehr will ich nicht.«
Ich machte entschlossen die Augen zu und fing an,
Schafe zu zählen.
Kurz vor der Dämmerung wurde ich von Ian geweckt,
der neben meinem Bett hockte.
»Tante Claire«, sagte er leise, eine Hand auf
meiner Schulter. »Komm lieber mit; dem Mann im Maisspeicher geht’s
sehr schlecht.«
Noch ehe mein Verstand bewußt zu arbeiten begonnen
hatte, war ich automatisch auf den Beinen, hatte mich in meinen
Umhang gehüllt und folgte Ian auf nackten Füßen. Nicht, daß hier
große Diagnosekünste vonnöten waren; ich konnte die tiefen,
rasselnden Atemzüge aus drei Metern Entfernung hören.
Der Graf kauerte im Eingang, sein schmales Gesicht
bleich und voller Angst im grauen Licht.
»Geh weg«, sagte ich scharf zu ihm. »Du darfst
nicht in seine Nähe kommen; du auch nicht, Ian - geht zum Haus, ihr
zwei, holt mir heißes Wasser aus dem Kessel, meine Kiste und
saubere Tücher.«
Willie setzte sich sofort in Bewegung, denn er
konnte es nicht abwarten, die furchterregenden Geräusche hinter
sich zu lassen, die aus dem Schuppen drangen. Ian blieb jedoch
stehen, und sein Gesicht war sorgenvoll.
»Ich glaube nicht, daß du ihm helfen kannst, Tante
Claire«, sagte er. Sein Blick traf den meinen direkt, mit der
tiefen Einsicht eines Erwachsenen.
»Sehr wahrscheinlich nicht«, sagte ich und
antwortete ihm auf gleicher Ebene. »Aber ich kann nicht einfach
nichts tun.«
Er holte tief Luft und nickte.
»Aye. Aber ich glaube…« Er zögerte und spach dann
weiter, als ich nickte. »Ich glaube, du solltest ihn nicht mit
Arzneien quälen. Er ist fest entschlossen zu sterben, Tante Claire;
wir haben in der Nacht eine Eule gehört - er hat sie sicher auch
gehört. Das ist für sie ein Vorzeichen des Todes.«
Ich blickte auf das dunkle Rechteck, das die Tür
andeutete, und biß mir auf die Lippe. Er atmete flach und keuchend,
und zwischen den einzelnen Zügen lagen erschreckend lange Pausen.
Ich blickte wieder zu Ian.
»Was tun die Indianer, wenn jemand im Sterben
liegt? Weißt du das?«
»Singen«, sagte er prompt. »Ihr Shaman
bemalt sich das Gesicht und singt die Seele in Sicherheit, damit
die Dämonen sie nicht holen.«
Ich zögerte, denn mein instinktives Bedürfnis,
wenigstens etwas zu tun, stand auf Kriegfuß mit meiner
Überzeugung, daß jegliches Handeln zwecklos war. Hatte ich
irgendein Recht, diesen Mann um einen friedvollen Tod zu bringen?
Schlimmer noch, in ihm die Angst zu wecken, daß meine Einmischung
ihn seine Seele kosten würde?
Ian hatte die Ergebnisse meiner unentschlossenen
Überlegungen nicht abgewartet. Er bückte sich und kratzte einen
kleinen Erdklumpen zusammen, spuckte darauf und verrührte ihn zu
Schlamm. Kommentarlos tauchte er den Zeigefinger in die Pfütze und
zog von meiner Stirn aus eine Linie an meinem Nasenbein
entlang.
»Ian!«
»Psst«, murmelte er und runzelte konzentriert die
Stirn. »So, glaube ich.« Er fügte zwei Linien auf jeder Wange hinzu
und eine grobe Zickzacklinie auf der rechten Seite meines
Unterkiefers. »Das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Ich
habe es nur einmal gesehen, aus der Entfernung.«
»Ian, das ist nicht -«
»Psst«, sagte er noch einmal und legte mir die Hand
auf den Arm, um meinen Protest zu ersticken. »Geh zu ihm, Tante
Claire. Er wird keine Angst vor dir haben; er ist ja schließlich an
dich gewöhnt.«
Ich rieb mir einen Tropfen von der Nasenspitze und
kam mir durch und durch idiotisch vor. Doch ich hatte keine Zeit
für Diskussionen. Ian versetzte mir einen leichten Stoß, und ich
wandte mich zur Tür. Ich betrat den dunklen Maisspeicher, bückte
mich und legte dem Mann die Hand auf. Seine Haut war heiß und
trocken, seine Hand so schlaff wie abgewetztes Leder.
»Ian, kannst du mit ihm reden? Seinen Namen rufen,
ihm sagen, daß alles gut ist?«
»Du darfst seinen Namen nicht aussprechen, Tante
Claire; es lockt die Dämonen an.«
Ian räusperte sich und sprach ein paar Worte in
leisen, klickenden Kehllauten. Die Hand, die ich hielt, zuckte
schwach. Meine Augen hatten sich jetzt der Dunkelheit angepaßt, ich
konnte das Gesicht des Mannes sehen, in dem sich ein Ausdruck
schwacher Überraschung zeigte, als er meine Schlammfarbe sah.
»Sing, Tante Claire«, drängte mich Ian leise.
»Tantum ergo vielleicht; es hat sich ein bißchen ähnlich
angehört.«
Es gab schließlich nichts, was ich sonst hätte tun
können. Völlig hilflos fing ich an.
»Tantum ergo, sacramentum…«
Innerhalb weniger Sekunden wurde meine Stimme
kräftiger, und ich hockte mich leise singend auf meine nackten
Fersen und hielt seine Hand. Seine schweren Augenbrauen entspannten
sich, und ein Blick, der Ruhe hätte sein können, trat in die
eingesunkenen Augen.
Ich hatte schon so manchem Sterben beigewohnt,
durch Unfälle, Krieg, Krankheit oder natürliche Ursachen, und ich
hatte gesehen, wie die Menschen dem Tod auf verschiedene Weisen
entgegentraten, von stoischer Akzeptanz bis hin zu heftigem
Protest. Doch ich hatte noch nie jemanden so sterben sehen.
Er wartete einfach, die Augen auf die meinen
gerichtet, bis ich zum Ende des Liedes gekommen war. Dann drehte er
sein Gesicht zur Tür, und als die aufgehende Sonne auf ihn fiel,
verließ er seinen Körper, ohne daß er mit einem Muskel gezuckt oder
einen letzten Atemzug getan hätte.
Ich saß völlig still und hielt seine schlaffe Hand,
bis ich erkannte, daß auch ich meinen Atem anhielt.
Die Luft um mich herum erschien mir merkwürdig
still, als wäre die Zeit für einen Augenblick stehengeblieben. Doch
natürlich war
sie das, dachte ich, und zwang mich zum Einatmen. Sie war für ihn
stehengeblieben, für immer.
»Was sollen wir mit ihm machen?«
Es gab nichts mehr, was wir für unseren Gast
tun konnten; im Augenblick stellte sich nur die Frage, wie wir am
besten mit seinen sterblichen Überresten umgingen.
Ich hatte mich unauffällig mit Lord John
unterhalten, und er hatte Willie mitgenommen, um die letzten
Erdbeeren auf dem Hang zu sammeln. Obwohl der Tod des Indianers
nichts auch nur ansatzhaft Unheimliches an sich gehabt hatte,
wünschte ich mir dennoch, Willie hätte nichts davon mitbekommen; es
war kein Anblick für ein Kind, das erst vor ein paar Monaten seine
Mutter hatte sterben sehen. Auch Lord John war mir aufgewühlt
vorgekommen - vielleicht würden ein bißchen Sonne und frische Luft
den beiden guttun.
Jamie runzelte die Stirn und rieb sich mit der Hand
über das Gesicht. Er hatte sich noch nicht rasiert, und seine
Stoppeln machten ein kratzendes Geräusch.
»Wir müssen ihn doch sicher anständig
beerdigen?«
»Tja, ich schätze nicht, daß wir ihn im
Maisspeicher liegenlassen können, aber würde es seine Leute nicht
stören, wenn wir ihn hier begraben? Hast du irgendeine Ahnung, wie
sie mit ihren Toten umgehen, Ian?«
Ian war immer noch ein wenig blaß, aber
überraschend ruhig. Er schüttelte den Kopf und trank von seiner
Milch.
»Ich weiß nicht viel darüber, Tante Claire. Aber
ich habe dir ja gesagt, daß ich einmal dabei war, als ein Mann
gestorben ist. Sie haben ihn in Hirschleder gehüllt und eine
Prozession durch das Dorf veranstaltet und dabei gesungen, dann
haben sie die Leiche ein Stück weit in den Wald getragen und ihn
auf ein Podest gelegt, ein Stück über dem Boden, und ihn zum
Trocknen dortgelassen.«
Jamie schien alles andere als angetan von der
Vorstellung, mumifizierte Körper auf den Bäumen in der Umgebung der
Farm aufzubewahren. »Ich glaube, dann ist es wohl am besten, wenn
wir ihn ordentlich einhüllen und ihn zum Dorf tragen, damit sich
seine eigenen Leute richtig um ihn kümmern können.«
»Nein, das kannst du nicht.« Ich zog das Blech mit
den frischgebackenen Muffins aus dem Steinofen, pflückte einen
Ginsterzweig ab und stach in eins der runden, braunen Küchlein. Er
kam sauber wieder heraus, also stellte ich das Blech auf den Tisch
und setzte mich dann ebenfalls. Ich blickte mit einem abwesenden
Stirnrunzeln
auf das Honigglas, das golden in der späten Morgensonne
leuchtete.
»Das Problem ist, daß die Leiche mit allergrößter
Sicherheit immer noch ansteckend ist. Du hast ihn doch nicht
angefaßt, oder, Ian?« Ich sah Ian an, der den Kopf schüttelte und
ein ernüchtertes Gesicht machte.
»Nein, Tante Claire. Jedenfalls nicht mehr, nachdem
er hier krank geworden ist; vorher weiß ich es nicht. Wir waren
schließlich alle zusammen auf der Jagd.«
»Und du hast die Masern noch nicht gehabt.
Verflixt«. Ich fuhr mir mit der Hand durch das Haar. »Du?« fragte
ich Jamie. Zu meiner Erleichterung nickte er.
»Aye, mit fünf oder so. Und du hast gesagt, man
bekommt dieselbe Krankheit nicht zweimal. Also passiert mir nichts,
wenn ich ihn anfasse?«
»Nein, und mir auch nicht. Ich habe sie auch
gehabt. Aber wir können ihn nicht ins Dorf bringen. Ich habe keine
Ahnung, wie lange das Masernvirus - das ist eine Art Keim - auf
Kleidungsstükken oder einer Leiche überleben kann. Aber wie sollen
wir seinen Leuten erklären, daß sie ihn nicht anrühren oder in
seine Nähe kommen dürfen? Und wir können es nicht riskieren, daß
sie sich anstecken.«
»Was mir Sorgen macht«, meldete sich Ian unerwartet
zu Wort, »ist, daß der Mann nicht aus Anna Ooka ist - er ist aus
einem Dorf weiter im Norden. Wenn wir ihn hier ganz normal
beerdigen, könnten seine Leute es erfahren und glauben, daß wir ihn
irgendwie haben zu Tode kommen lassen und ihn dann begraben haben,
um es zu verheimlichen.«
Das war ein unangenehmer Gedanke, der mir gar nicht
in den Sinn gekommen war, und ich fühlte mich, als hätte sich mir
eine kalte Hand in den Nacken gelegt.
»Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?«
Ian zuckte mit den Achseln, brach einen heißen
Muffin entzwei und träufelte Honig auf die dampfenden
Innenseiten.
»Nacognawetos Leute trauen uns, aber Myers hat
gesagt, es gibt genug andere, die das nicht tun. Sie haben allen
Grund, mißtrauisch zu sein, aye?«
Wenn ich in Betracht zog, daß der Großteil der
Tuscarora kaum fünfzig Jahre zuvor in einem blutigen Krieg mit den
Siedlern North Carolinas ausgelöscht worden war, konnte ich ihnen
das nicht verdenken. Es half uns bei unserem Problem jedoch nicht
weiter.
Jamie schluckte den Rest seines Muffins hinunter
und lehnte sich seufzend zurück.
»Also gut. Ich denke, wir wickeln den armen Kerl am
besten in ein Leichentuch und legen ihn in die kleine Höhle auf dem
Hügel hinter dem Haus. Ich habe schon die Pfosten für einen Stall
vor der Öffnung aufgerichtet; sie werden die Raubtiere von ihm
fernhalten. Dann sollten Ian oder ich nach Anna Ooka gehen und
Nacognaweto die Sache erklären. Vielleicht schickt er jemanden mit
uns zurück, der sich die Leiche ansehen und den Verwandten des
Mannes versichern kann, daß wir ihm keine Gewalt angetan haben -
und dann können wir ihn begraben.«
Bevor ich auf diesen Vorschlag antworten konnte,
hörte ich jemanden über den Hof rennen. Ich hatte die Tür angelehnt
gelassen, damit Licht und Luft hereinkamen. Als ich mich umdrehte,
erschien Willies Gesicht in der Öffnung, bleich und
aufgeregt.
»Mrs. Fraser. Könnt Ihr bitte kommen? Papa ist
krank.«
»Hat er es von dem Indianer?« Jamie sah Lord John
stirnrunzelnd an, den wir bis auf sein Hemd ausgezogen und ins Bett
gelegt hatten. Sein Gesicht lief abwechselnd rot an und wurde
bleich - die Symptome, die ich anfangs aufgewühlten Emotionen
zugeschrieben hatte.
»Nein, das kann nicht sein. Die Inkubationszeit
beträgt ein bis zwei Wochen. Wo seid ihr gewesen -« Ich wandte mich
an Willie, zuckte dann die Achseln und vergaß die Frage. Sie waren
unterwegs gewesen; es war unvorstellbar, daß noch jemand sagen
konnte, wo oder wann Grey das Virus aufgefangen hatte. In den
Gasthäusern schliefen die Reisenden normalerweise zu mehreren in
einem Bett, und die Decken wurden selten gewechselt; es war gut
möglich, sich dort schlafen zu legen und am Morgen mit den Erregern
aller möglichen Seuchen von Masern bis hin zur Gelbsucht
aufzuwachen.
»Ihr habt gesagt, es gab eine Masernepidemie in
Cross Creek?« Ich legte Lord John eine Hand auf die Stirn. Da ich
Fieber nach Gefühl bestimmen konnte, schätzte ich das seine auf
etwa 39,5 Grad; hoch genug.
»Ja«, sagte er heiser und hustete. »Habe ich die
Masern? Ihr müßt Willie von mir fernhalten.«
»Ian - kannst du bitte mit Willie nach draußen
gehen?« Ich wrang ein Tuch aus, das ich mit Holunderwasser
befeuchtet hatte, und wischte Grey Gesicht und Hals ab. Er hatte
noch keinen Ausschlag im Gesicht, doch als ich ihn bat, den Mund zu
öffnen, sah ich ganz
deutlich die kleinen, weißlichen Koplik-Flecke auf der
Schleimhaut.
»Ja, Ihr habt die Masern«, sagte ich. »Seit wann
fühlt Ihr Euch schon krank?«
»Mir war gestern abend beim Schlafengehen ein
bißchen schwindelig«, sagte er und hustete erneut. »Beim Aufwachen
hatte ich ziemliche Kopfschmerzen, aber ich dachte, es wäre nur die
Nachwirkung von Jamies sogenanntem Whisky.« Er lächelte Jamie
schwach an. »Aber heute morgen…« Er nieste, und ich suchte hastig
nach einem sauberen Taschentuch.
»Ja, sicher. Also, versucht, Euch ein wenig
auszuruhen. Ich habe etwas Weidenrinde aufgesetzt; der Tee ist gut
gegen die Kopfschmerzen.« Ich stand auf und sah Jamie mit
hochgezogener Augenbraue an. Er folgte mir nach draußen.
»Wir dürfen Willie nicht in seine Nähe lassen«,
sagte ich so leise, daß es niemand anders hören konnte: Willie und
Ian waren beim Pferch und gabelten Heu in die Krippe der Pferde.
»Und Ian auch nicht. Es ist sehr ansteckend.«
Jamie runzelte die Stirn.
»Aye. Aber was du über die Inkubation gesagt hast
-«
»Ja. Ian könnte sich bei dem Toten angesteckt
haben, Willie bei demselben Herd wie Lord John. Jeder der beiden
könnte es haben, obwohl noch nichts zu sehen ist.« Ich drehte mich
um und sah die beiden Jungen an, die äußerlich genauso gesund waren
wie die Pferde, die sie gerade fütterten.
»Ich denke«, sagte ich zögernd, während ich einen
vagen Plan faßte, »daß du vielleicht heute nacht besser mit den
Jungen im Freien campierst - ihr könntet in der Kräuterkammer
schlafen oder unter den Bäumen übernachten. Wartet einen oder zwei
Tage; wenn Willie sich angesteckt hat - und er es von demselben
Herd hat wie Lord John -,kann man es bis dahin wahrscheinlich
sehen. Wenn nicht, dann ist er wahrscheinlich davor sicher. Wenn er
sicher ist, dann könntest du mit ihm nach Anna Ooka gehen,
um Nacognaweto von dem Toten zu erzählen. So würde Willie außer
Reichweite der Gefahr bleiben.«
»Und Ian könnte hierbleiben, um sich um dich zu
kümmern?« Er runzelte abwägend die Stirn und nickte dann. »Aye, das
könnte wohl gehen.«
Er drehte sich um, um einen Blick auf Willie zu
werfen. Er konnte zwar völlig teilnahmslos aussehen, wenn er es
wollte, doch ich kannte ihn gut genug, um das Aufflackern der
Emotion in seinem Gesicht zu sehen.
Es lag Sorge in seinen schräggestellten Augenbrauen
- Besorgnis um John Grey und vielleicht auch um mich oder Ian. Doch
darunter lag etwas völlig anderes - Interesse, versetzt mit
Wachsamkeit, so glaubte ich, ausgelöst von der Vorstellung, mehrere
Tage allein mit dem Jungen zu verbringen.
»Wenn er es bis jetzt noch nicht gemerkt hat, dann
wird er es auch nicht mehr merken«, sagte ich leise und legte meine
Hand auf seinen Arm.
»Nein«, murmelte er und drehte dem Jungen den
Rücken zu. »Es dürfte wohl ungefährlich sein.«
»Man sagt, alles hat seine guten Seiten«, sagte
ich. »Du kannst dann mit ihm reden, ohne daß es ihm ungewöhnlich
vorkommt.« Ich hielt inne. »Ich habe nur noch eine Bitte, bevor du
gehst.«
Er legte seine Hand auf die meine, die auf seinem
Arm lag, und lächelte zu mir herab.
»Aye, und was ist das?«
»Hol das Schwein aus der Vorratskammer,
bitte.«