53
Vorwurfsvoll
Von unserer Abreise von Fraser’s Ridge bis zu unserer Ankunft in dem Tuscaroradorf Tennago wechselte Jamie kaum ein Wort mit irgend jemandem. Ich ritt in einem elenden Zustand vor mich hin, hin- und hergerissen zwischen meinen Schuldgefühlen, weil ich Brianna verlassen hatte, Angst um Roger und Schmerz über Jamies Schweigen. Ian gegenüber war er kurz angebunden, und mit Jocasta hatte er in Cross Creek nur das absolut Notwendigste besprochen. Zu mir hatte er nichts gesagt.
Er machte mir eindeutig Vorwürfe, weil ich ihm nicht sofort von Stephen Bonnet erzählt hatte. Jetzt, wo ich sah, was dabei herausgekommen war, machte ich mir selbst rückblickend bittere Vorwürfe. Er hatte den Goldring behalten, den ich vor ihn hingeworfen hatte; ich hatte keine Ahnung, was er damit gemacht hatte.
Das Wetter war fast ununterbrochen schlecht. Die Wolken hingen so dicht über den Bergen, daß wir auf den höheren Abhängen tagelang durch dichten, kalten Nebel ritten. Wassertropfen kondensierten auf den Fellen der Pferde, so daß ein konstanter Regen von ihren Mähnen tropfte und ihre Flanken vor Feuchtigkeit glänzten. Wir schliefen nachts an Stellen, die sich als Unterschlupf anboten, hüllten uns einzeln in unsere feuchten Kokons aus Decken und lagen getrennt um ein schwelendes Feuer herum.
Einige der Indianer, mit denen wir von Anna Ooka her bekannt waren, begrüßten uns, als wir Tennago erreichten. Ich sah, wie mehrere Männer die Whiskyfässer beäugten, als wir unsere Packmaultiere abluden, doch niemand machte Anstalten, sie zu behelligen. Wir hatten zwei Maultiere mit Whisky beladen; ein Dutzend kleine Fässer, der gesamte Anteil der Frasers am diesjährigen Ertrag der Destillerie - ein Großteil unseres Jahreseinkommens. Ein königliches Lösegeld, nach handelsüblichen Bedingungen. Genug Lösegeld für einen jungen Schotten, so hoffte ich.
Er war unsere beste - und einzige - Tauschware, doch er war auch eine gefährliche Tauschware. Jamie schenkte dem Sachem des Dorfes ein Faß, dann verschwand er mit Ian zu Beratungen in einem der Langhäuser. Ian hatte Roger einigen seiner Tuscarorafreunde überlassen, wußte aber nicht, wo sie ihn hingebracht hatten. Obwohl es außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit lag, hoffte ich, daß es Tennago war. Wenn es so war, konnten wir innerhalb eines Monats nach River Run zurückkehren.
Doch das war eine schwache Hoffnung. Während des bitteren Streits mit Brianna hatte Jamie gestanden, daß er Ian aufgetragen hatte, dafür zu sorgen, daß Roger nicht zurückkehrte. Tennago war ungefähr zehn Tagesreisen von uns entfernt; viel zu nah für die Zwecke eines aufgebrachten Vaters.
Ich hätte gern die Frauen, die mich gastlich aufnahmen, nach Roger gefragt, doch niemand in dem Haus sprach Französisch oder Englisch, und mein Tuscarora reichte gerade aus, um grundlegende Höflichkeiten auszutauschen. Besser, ich überließ Ian und Jamie die diplomatischen Verhandlungen. Dank seines Sprachtalents konnte sich Jamie in der Tuscarorasprache verständigen; Ian, der die Hälfte seiner Zeit auf der Jagd mit den Indianern verbrachte, beherrschte sie fließend.
Eine der Frauen bot mir einen Teller an, auf dem dampfende Körnerhäufchen lagen, die mit Fisch gekocht waren. Ich beugte mich vor, um mir mit dem flachen Holzstück, das sie mir zu diesem Zweck gegeben hatten, einen Bissen herunterzunehmen, und spürte dabei, wie das Amulett unter meinem Hemd nach vorn baumelte. Das kleine Gewicht erinnerte mich an meinen Schmerz und tröstete mich zugleich darüber hinweg.
Ich hatte sowohl Nayawennes Amulett als auch den gravierten Opal mitgebracht, den ich unter dem Lebensbaum gefunden hatte. Ersteres hatte ich mitgebracht, um es zurückzugeben - nur wem, das wußte ich nicht. Letzterer konnte vielleicht dem Whisky nachhelfen, falls wir zusätzliche Verhandlungsargumente brauchten. Aus demselben Grund hatte Jamie alles mitgenommen, was er an kleinen Wertgegenständen besaß - nicht viel -, mit Ausnahme des Rubinrings seines Vaters, den Brianna ihm aus Schottland mitgebracht hatte.
Wir hatten Brianna den Rubin für den Fall dagelassen, daß wir nicht zurückkehrten - man mußte diese Möglichkeit einkalkulieren. Niemand konnte sagen, ob Geillis Duncan mit ihren Theorien über den Nutzen von Edelsteinen recht gehabt hatte oder nicht, doch zumindest würde Brianna einen haben.
Sie hatte mich fest umarmt und geküßt, als wir River Run verließen. Ich hatte nicht gehen wollen. Doch ich hatte auch nicht bleiben wollen. Ich war erneut zwischen ihnen hin- und hergerissen; zwischen der Notwendigkeit, zu bleiben und mich um Brianna zu kümmern, und der nicht minder großen Notwendigkeit, Jamie zu begleiten.
»Du mußt gehen«, hatte Brianna nachdrücklich gesagt. »Mir passiert schon nichts; du hast selbst gesagt, ich bin gesund wie ein Pferd. Du wirst lange zurück sein, wenn ich dich brauche.«
Sie hatte einen Blick auf den Rücken ihres Vaters geworfen; er stand im Stallhof und beaufsichtigte das Beladen der Pferde und Maultiere. Sie wandte sich wieder an mich, ausdruckslos.
»Du mußt gehen, Mama. Ich baue darauf, daß du Roger findest.« Es lag eine unangenehme Betonung auf dem du, und ich hoffte sehr, daß Jamie sie nicht hören konnte.
»Du glaubst doch nicht etwa, daß Jamie -«
»Ich weiß es nicht«, unterbrach sie. »Ich weiß nicht, was er tun würde.« Sie hatte die Zähne auf eine Art zusammengebissen, die ich nur zu gut kannte. Widerspruch war zwecklos, doch ich versuchte es trotzdem.
»Schön, aber ich weiß es«, sagte ich bestimmt. »Er würde alles für dich tun, Brianna. Alles. Und selbst, wenn es nicht um dich ginge, würde er alles Menschenmögliche tun, um Roger zurückzubekommen. Sein Ehrgefühl -« Ihr Gesicht verschloß sich wie eine Falle, und ich erkannte meinen Fehler.
»Seine Ehre«, sagte sie tonlos. »Darum geht es hier. Das ist schon in Ordnung; solange er nur Roger zurückholt.« Sie wandte sich ab und senkte den Kopf zum Schutz gegen den Wind.
»Brianna!« sagte ich, doch sie schob nur die Schultern nach vorn und zog ihr Tuch fest.
»Tante Claire? Wir sind jetzt fertig.« Ian war neben mir aufgetaucht und sah erst mich an, dann Brianna, das Gesicht voller Sorge. Ich ließ meinen Blick von ihm zu Brianna wandern und zögerte, denn ich wollte sie nicht so stehenlassen.
»Brianna?« sagte ich noch einmal.
Schon hatte sie sich in einem Wirbel aus Wolle umgedreht und mich umarmt, ihre Wange kalt an der meinen.
»Komm zurück!« flüsterte sie. »Oh, Mama - komm heil zurück!«
»Ich kann dich nicht allein lassen, Brianna, ich kann’s nicht!« Ich hielt sie fest, starke Knochen und sanfte Haut, das Kind, das ich verlassen hatte, das Kind, das ich zurückbekommen hatte - und die Frau, die jetzt meine Arme von sich schob und aufrecht dastand, allein.
»Du mußt gehen«, flüsterte sie. Die Maske der Gleichgültigkeit war von ihr abgefallen, und ihre Wangen waren feucht. Sie blickte über meine Schulter hinweg auf den Torbogen zum Stallhof. »Bring ihn mir wieder. Du bist die einzige, die ihn wiederbringen kann.«
Sie gab mir einen schallenden Kuß, wandte sich um und lief davon. Der Klang ihrer Schritte hallte auf dem gepflasterten Pfad wider.
Jamie kam durch den Torbogen und sah sie wie eine Todesfee durch das flackernde Licht huschen. Er blieb stehen und blickte ihr mit ausdruckslosem Gesicht nach.
»Du kannst sie nicht so zurücklassen«, sagte ich. Ich wischte mir meinerseits die feuchten Wangen mit einer Ecke meines Schultertuches ab. »Jamie, geh ihr hinterher. Bitte geh und sag ihr wenigstens auf Wiedersehen.«
Er blieb einen Augenblick still stehen, und ich glaubte schon, er würde so tun, als hätte er mich nicht gehört. Doch dann drehte er sich um und ging langsam den Pfad entlang. Die ersten Regentropfen begannen zu fallen. Sie prallten auf das staubige Pflaster, und der Wind blähte beim Gehen seinen Umhang.
»Tante Claire?« Ians Hand lag sanft drängend unter meinem Arm. Ich ging mit ihm und ließ ihn beim Aufsteigen seine Hand unter meinen Fuß halten. Jamie war innerhalb von ein paar Minuten zurück. Er war aufgestiegen, ohne mich anzusehen, hatte Ian einen Wink gegeben und war aus dem Stallhof geritten, ohne sich umzublicken. Ich hatte mich umgeblickt, doch von Brianna war nichts zu sehen.
 
Die Nacht war schon lange hereingebrochen, und Jamie war immer noch mit Nacognaweto und dem Sachem des Dorfes in dem Langhaus. Jedesmal, wenn jemand in das Haus trat, blickte ich auf, doch nie war es Jamie. Schließlich hob sich jedoch der Ledervorhang über der Eingangstür, und Ian kam herein, gefolgt von einer kleinen, runden Gestalt.
»Ich hab”ne Überraschung für dich, Tante Claire«, sagte er strahlend und trat beiseite, damit ich das lächelnde, runde Gesicht der Sklavin Pollyanne sehen konnte.
Oder besser, der Ex-Sklavin. Denn hier war sie natürlich frei. Grinsend wie eine Kürbislaterne setzte sie sich neben mich und schlug ihren hirschledernen Mantel zurück, um mir den kleinen Jungen in ihrer Armbeuge zu zeigen, dessen rundes Gesicht genauso strahlte wie das ihre.
Mit Ian als Dolmetscher, ihren eigenen Englisch- und Gälischbrokken und dem gelegentlichen Gebrauch weiblicher Zeichensprache hatten wir uns bald ins Gespräch vertieft. Wie Myers es vorausgesehen hatte, hatten die Tuscarora sie herzlich aufgenommen und sie in ihren Stamm adoptiert, wo man ihre Fähigkeiten als Heilerin sehr schätzte. Sie hatte einen Mann geheiratet, der durch die Masernepidemie seine Frau verloren hatte, und hatte ihm vor ein paar Monaten dieses neue Familienmitglied geschenkt.
Ich war begeistert, daß sie Freiheit und Glück gefunden hatte, und gratulierte ihr herzlich. Außerdem war ich beruhigt; wenn die Tuscarora sie so gut behandelt hatten, dann war es vielleicht ja auch Roger nicht so schlecht ergangen wie befürchtet.
Mir kam ein Gedanke, und ich zog Nayawennes Amulett aus dem Ausschnitt meines Wildlederhemds.
»Ian - kannst du sie fragen, ob sie weiß, wem ich das hier geben soll?«
Er sprach sie in der Tuscarorasprache an, und sie beugte sich vor und befühlte das Amulett neugierig, während sie sprach. Schließlich schüttelte sie den Kopf, lehnte sich zurück und antwortete ihm mit ihrer seltsam tiefen Stimme.
»Sie sagt, sie werden es nicht wollen, Tante Claire«, übersetzte Ian. »Es ist das Medizinbündel einer Shaman, und es ist gefährlich. Man hätte es zusammen mit seiner Besitzerin bestatten sollen; niemand hier wird es anrühren aus Angst, den Geist der Shaman herbeizulocken.«
Ich zögerte und hielt das Ledertäschchen in der Hand. Das seltsame Gefühl, etwas Lebendiges zu berühren, war seit Nayawennes Tod nicht mehr da. Es war bestimmt nur meine Phantasie gewesen, die sich in meiner Hand zu bewegen schien.
»Frag sie - was, wenn die Shaman nicht beerdigt worden ist? Wenn man ihre Leiche nicht finden konnte?«
Pollyanne hörte mit ernstem Gesicht zu. Als Ian fertig war, schüttelte sie den Kopf und antwortete.
»Sie sagt, daß in diesem Fall der Geist immer bei dir ist, Tante Claire. Sie sagt, du solltest es hier niemandem zeigen - es wird ihnen angst machen.«
»Aber sie hat keine Angst, oder?« Das verstand Pollyanne selbst; sie schüttelte den Kopf und berührte ihre massive Brust.
»Indianerin jetzt«, sagte sie einfach. »Nicht immer.« Sie wandte sich an Ian und erklärte durch ihn, daß ihr eigenes Volk die Geister der Toten ehrte; daß es sogar keinesfalls ungewöhnlich war, wenn ein Mann den Kopf oder einen anderen Körperteil seines Großvaters oder eines anderen Vorfahren aufbewahrte, um sich dort Schutz und Rat zu holen. Nein, der Gedanke, daß mich ein Geist begleitete, beunruhigte sie nicht.
Und auch mich beunruhigte die Vorstellung nicht. Ganz im Gegenteil, unter den gegenwärtigen Umständen fand ich den Gedanken, daß Nayawenne bei mir war, außerordentlich tröstlich. Ich steckte das Amulett in mein Hemd zurück. Es strich sanft und warm über meine Haut, wie die Berührung einer Freundin.
Wir unterhielten uns noch, als die anderen in dem Langhaus schon lange in ihre abgeteilten Räume gegangen waren und Schnarchgeräusche die verräucherte Luft erfüllten. Schließlich überraschte uns Jamies Ankunft, die von einem kalten Luftzug begleitet wurde.
Als Pollyanne sich verabschiedete, zögerte sie. Offensichtlich versuchte sie, sich zu entscheiden, ob sie mir etwas sagen sollte. Sie warf Jamie einen Blick zu, dann zuckte sie mit ihren massigen Schultern und faßte ihren Entschluß. Sie beugte sich ganz dicht zu Ian hinüber und murmelte etwas, das sich anhörte, wie wenn Honig über einen Felsen sickert, wobei sie beide Hände vor ihr Gesicht hielt und mit den Fingerspitzen ihre Haut berührte. Dann umarmte sie mich rasch und ging.
Ian starrte ihr verblüfft hinterher.
»Was hat sie gesagt, Ian?«
Er wandte sich wieder zu mir, seine schwach sichtbaren Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen.
»Sie sagt, ich soll Onkel Jamie erzählen, daß sie in der Nacht, als die Frau in der Sägemühle gestorben ist, einen Mann gesehen hat.«
»Was für einen Mann?«
Er schüttelte immer noch stirnrunzelnd den Kopf.
»Sie kannte ihn nicht. Nur, daß es ein Weißer war, schwer und untersetzt, nicht so groß wie Onkel Jamie oder ich. Sie hat gesehen, wie er aus der Mühle gekommen und in den Wald gegangen ist. Sie hat im Dunkeln in ihrem Hütteneingang gesessen, also glaubt sie nicht, daß er sie gesehen hat - aber er ist so nah am Feuer vorbeigekommen, daß sie sein Gesicht gesehen hat. Sie sagt, er hatte Pockennarben« - an dieser Stelle hielt er die Fingerspitzen an sein Gesicht, so wie sie es getan hatte - »und ein Gesicht wie ein Schwein.«
»Murchison?« Mein Herzschlag setzte einmal aus.
»Hatte der Mann eine Uniform an?« fragte Jamie stirnrunzelnd.
»Nein. Aber sie wollte wissen, was er da gemacht hatte; er war keiner der Plantagenbesitzer und auch keiner der Arbeiter oder Aufseher. Also hat sie sich zur Mühle geschlichen, um nachzusehen, aber als sie den Kopf hineinsteckte, hat sie gewußt, daß etwas Schlimmes passiert war. Sie hat gesagt, sie hat Blut gerochen, und dann hat sie Stimmen gehört, also ist sie nicht hineingegangen.«
Also war es Mord gewesen, und Jamie und ich waren nur um Sekunden zu spät gekommen, um ihn zu verhindern. In dem Langhaus war es warm, doch mir wurde kalt bei der Erinnerung an die dicke, blutige Luft in der Sägemühle und einen harten Küchenspieß in meiner Hand.
Jamies Hand senkte sich auf meine Schulter. Ohne zu überlegen langte ich hoch und ergriff sie. Sie fühlte sich gut in der meinen an, und mir wurde bewußt, daß wir einander seit fast einem Monat nicht mehr freiwillig berührt hatten.
»Das tote Mädchen hat als Wäscherin bei der Armee gearbeitet«, sagte er. »Murchison hat in England eine Frau; ich schätze, eine schwangere Geliebte wäre ihm ziemlich ungelegen gekommen.«
»Kein Wunder, daß er so ein Theater um die Jagd nach dem Verantwortlichen gemacht hat - und sich dann auf die arme Frau da gestürzt hat, die nicht für sich selbst sprechen konnte.« Ians Gesicht war vor Empörung gerötet. »Wenn er sie dafür hätte hängen lassen können, dann hätte er sich in Sicherheit wiegen können, der hinterlistige Mistkerl.«
»Vielleicht statte ich dem Sergeant nach unserer Rückkehr einen Besuch ab«, sagte Jamie. »Unter vier Augen.«
Der Gedanke ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Seine Stimme war leise und gleichmütig, und sein Gesicht war ruhig, als ich mich umdrehte, um es anzusehen. Doch mir kam es vor, als sähe ich das Spiegelbild eines dunklen, schottischen Gewässers in seinen Augen, dessen Oberfläche sich kräuselte, als sei gerade etwas Schweres darin versunken.
»Meinst du nicht, daß du im Augenblick schon genug Rache am Hals hast?«
Es klang schärfer als beabsichtigt, und seine Hand glitt abrupt aus der meinen.
»Kann schon sein«, sagte er, Gesicht und Stimme ausdruckslos. Er wandte sich an Ian.
»Wakefield - oder MacKenzie oder wie der Mann auch immer heißt - ist ein ganzes Stück weiter im Norden. Sie haben ihn an die Mohawk verkauft; ein kleines Dorf unten am Fluß. Dein Freund Onakara hat sich bereiterklärt, uns zu begleiten; wir brechen bei Tagesanbruch auf.«
Er erhob sich und ging fort, zum anderen Ende des Hauses. Alle anderen hatten sich bereits für die Nacht zurückgezogen. Fünf Feuerstellen brannten über die Länge des Hauses verteilt, jede mit ihrem eigenen Rauchabzug, und die andere Wand war in Verschläge unterteilt, einen für jedes Paar oder jede Familie, mit einem niedrigen, breiten Wandbord zum Schlafen, unter dem sich Lagerraum befand.
Jamie blieb vor dem Verschlag stehen, den man uns zur Verfügung gestellt hatte und in dem ich unsere Mäntel und Bündel liegengelassen hatte. Er zog seine Schnürstiefel aus, gürtete das Plaid auf, das er über Hemd und Kniehose trug, und verschwand in der Dunkelheit des Schlafraums, ohne sich umzublicken.
Ich stand umständlich auf und wollte ihm folgen, doch Ian bremste mich mit einer Hand auf meinem Arm.
»Tante Claire«, sagte er zurückhaltend. »Kannst du ihm nicht verzeihen?«
»Ihm verzeihen?« Ich starrte ihn an. »Was denn? Wegen Roger?«
Er zog eine Grimasse.
»Nein. Das war ein tragischer Fehler, aber er würde es jederzeit wieder genauso machen, unter denselben Voraussetzungen. Nein - wegen Bonnet.«
»Stephen Bonnet? Wie kann er nur glauben, daß ich ihm deswegen Vorwürfe mache? So etwas habe ich nie zu ihm gesagt!« Und ich war viel zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt gewesen, daß er mir Vorwürfe machte, um es auch nur in Betracht zu ziehen.
Ian kratzte sich in den Haaren.
»Na ja… verstehst du denn nicht, Tante Claire? Er macht es sich selbst zum Vorwurf. Schon seit der Mann uns auf dem Fluß überfallen hat; und was er jetzt meiner Kusine angetan hat…« Er zuckte mit den Achseln und sah leicht verlegen aus. »Es frißt ihn auf, und der Gedanke, daß du wütend auf ihn bist -«
»Aber ich bin doch gar nicht wütend auf ihn! Ich habe gedacht, er wäre wütend auf mich, weil ich ihm Bonnets Namen nicht sofort gesagt habe.«
»Och.« Ian sah aus, als wüßte er nicht, ob er lachen oder verstört aussehen sollte. »Na ja, man kann wohl sagen, daß es uns eine Menge Ärger erspart hätte, wenn du das getan hättest, aber nein, ich bin mir sicher, daß es nichts damit zu tun hat, Tante Claire. Als Brianna es dir erzählt hat, hatten wir diesen MacKenzie schließlich schon auf dem Berg gefunden und ihm nicht besonders freundlich mitgespielt.«
Ich holte tief Luft und atmete wieder aus.
»Aber du glaubst, er glaubt, ich bin wütend auf ihn?«
»Oh, jeder kann sehen, daß du das bist, Tante Claire«, versicherte er mir ernsthaft. »Du siehst ihn nicht an und sprichst nur mit ihm, wenn du mußt - und«, sagte er und räusperte sich verlegen, »ich habe dich im vergangenen Monat nicht zu ihm ins Bett gehen sehen.«
»Na ja, er ist auch nicht in meins gekommen!« sagte ich aufgebracht, bevor mir der Gedanke kam, daß dies wohl kaum eine Unterhaltung war, die dazu geeignet war, sie mit einem Siebzehnjährigen zu führen.
Ian zog die Schultern hoch und machte ein Gesicht wie eine Eule.
»Na ja, er hat seinen Stolz, nicht wahr?«
»Weiß Gott, den hat er«, sagte ich und rieb mir mit der Hand durch das Gesicht. »Ich - hör mal, Ian, danke, daß du mir das gesagt hast.«
Ein so frohes Lächeln wie jetzt war nur selten in seinem langen, gutmütigen Gesicht zu sehen.
»Na ja, ich hasse es, ihn leiden zu sehen. Ich hab’ Onkel Jamie lieb, aye?«
»Ich auch«, sagte ich und schluckte den kleinen Kloß in meinem Hals herunter. »Gute Nacht, Ian.«
 
Ich durchschritt das Haus leise der Länge nach, vorbei an den Verschlägen, in denen ganze Familien schliefen. Ihre gemeinsamen Atemgeräusche waren ein friedlicher Gegensatz zum ängstlichen Schlagen meines Herzens. Draußen regnete es; Wasser tropfte durch die Rauchabzüge und verdunstete zischend in der Glut.
Warum hatte ich nicht gesehen, was Ian aufgefallen war? Das war leicht zu beantworten; es war nicht Wut gewesen, sondern mein eigenes Schuldgefühl, das mich geblendet hatte. Ich hatte mein Wissen über die Rolle, die Bonnet gespielt hatte, nicht nur verheimlicht, weil Brianna mich darum gebeten hatte, sondern auch wegen des goldenen Eherings; ich hätte sie überreden können, es Jamie zu erzählen, wenn ich es nur versucht hätte.
Sie hatte recht; früher oder später würde er sich auf die Jagd nach Bonnet begeben. Doch mein Glaube an seine Erfolgsaussichten war etwas stärker als der ihre. Nein, es war der Ring gewesen, der mich hatte schweigen lassen.
Warum sollte ich mich deswegen schuldig fühlen? Es gab keine vernünftige Antwort; den Ring zu verstecken, war Instinkt gewesen, keine bewußte Entscheidung. Ich hatte ihn Jamie nicht zeigen, ihn nicht vor seinen Augen wieder anstecken wollen. Und dennoch hatte ich ihn behalten wollen - ihn behalten müssen.
Es brach mir das Herz, wenn ich an die letzten paar Wochen dachte, daran, wie Jamie sich grimmig voller Einsamkeit und Schuld an die notwendige Wiedergutmachung begab. Das war es schließlich, warum ich mitgekommen war - weil ich Angst hatte, daß er nicht zurückkehren würde, wenn er allein ging. Angestachelt von Schuld und Mut war es möglich, daß er sich zum Leichtsinn hinreißen ließ; ich wußte, daß er vorsichtig sein würde, wenn er auf mich Rücksicht nehmen mußte. Und die ganze Zeit über hatte er sich nicht nur allein geglaubt, sondern auch gedacht, der einzige Mensch, der ihm Trost hätte bieten können - und sollen -, würde ihm bittere Vorwürfe machen.
Oh, ja, es fraß ihn auf.
 
Bei dem Verschlag blieb ich stehen. Das Bord war vielleicht zweieinhalb Meter breit, und er lag ganz hinten; ich konnte kaum mehr von ihm sehen als eine Auswölbung unter einer Kaninchenfelldecke. Er lag ganz still, doch ich wußte, daß er nicht schlief.
Ich kletterte auf das Podest, und als ich mich sicher in der Dunkelheit des Verschlages befand, schlüpfte ich aus meinen Kleidern. In dem Langhaus war es einigermaßen warm, doch meine nackte Haut zog sich zusammen und meine Brustwarzen verhärteten sich. Meine Augen hatten sich an das gedämpfte Licht gewöhnt; ich konnte sehen, daß er mir zugewandt auf der Seite lag. Ich erspähte den Glanz seiner Augen in der Dunkelheit, sie waren offen und beobachteten mich.
Ich kniete mich hin und glitt unter die Decke, das weiche Fell auf meiner Haut. Ohne großartig darüber nachzudenken, drehte ich mich zu ihm um, preßte meinen nackten Körper an ihn und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter.
»Jamie«, flüsterte ich ihm zu. »Mir ist kalt. Komm und wärme mich. Bitte.«
 
Er drehte sich zu mir um, wortlos, mit einer stummen Heftigkeit, die ich sonst vielleicht für den Hunger lange unterdrückter Sehnsucht gehalten hätte - doch die ich jetzt als schlichte Verzweiflung erkannte. Ich suchte keine Lust für mich selbst; ich wollte ihm nur Trost spenden. Doch als ich mich ihm öffnete, ihn drängte, öffnete sich auch in mir eine tiefe Quelle, und ich klammerte mich mit einer plötzlichen Not an ihn, die genauso blind und verzweifelt war wie seine eigene.
Erschauernd hingen wir fest aneinander, die Köpfe im Haar des anderen vergraben, unfähig, einander anzusehen, unfähig, loszulassen. Als das Zucken erstarb, wurde ich mir langsam der Welt bewußt, die uns in unserer Sorge umgab, und begriff, daß wir nackt und hilflos unter Fremden lagen, nur durch die Dunkelheit abgeschirmt.
Und doch waren wir völlig allein. Wir genossen die Isolation von Babel; am anderen Ende des Langhauses unterhielt sich jemand, doch die Worte ergaben keinen Sinn. Es hätte genausogut das Summen von Bienen sein können.
Der Rauch des eingedämmten Feuers wehte außen an der Zuflucht unseres Bettes vorbei, duftend und substanzlos wie Weihrauch. Innerhalb des Verschlages war es so dunkel wie in einem Beichtstuhl; alles, was ich von Jamie sehen konnte, war die schwache Lichtkurve, die seine Schulter umrandete, ein vorübergehendes Leuchten in seinen Locken.
»Jamie, es tut mir leid«, sagte ich. »Du bist nicht schuld gewesen.«
»Wer denn sonst?« sagte er ziemlich trostlos.
»Wir alle. Niemand. Stephen Bonnet selbst. Aber nicht du.«
»Bonnet?« Seine Stimme war vor Überraschung ausdruckslos. »Was hat er damit zu tun?«
»Na ja… alles«, sagte ich verblüfft. »Äh… etwa nicht?«
Er rollte sich halb von mir herunter und strich sich das Haar aus dem Gesicht.
»Stephen Bonnet ist ein hinterhältiges Geschöpf«, sagte er sorgfältig, »und ich werde ihn bei der nächsten Gelegenheit umbringen. Aber mir ist nicht klar, wie ich ihm mein eigenes menschliches Versagen vorwerfen könnte.«
»Wovon in aller Welt redest du? Welches Versagen?«
Er antwortete nicht sofort, sondern senkte den Kopf, ein gebeugter Schatten in der Dunkelheit. Seine Beine waren immer noch mit den meinen verschlungen; ich konnte spüren, wie angespannt sein Körper war, die Gelenke knotig, die Furchen in seinen Oberschenkeln starr.
»Ich hätte nie geglaubt, daß ich einmal so eifersüchtig auf einen Toten sein würde«, flüsterte er schließlich. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten.«
»Auf einen Toten?« Meine Stimme hob sich leicht vor Erstaunen, als es mir schließlich dämmerte. »Auf Frank
Er lag still auf mir. Seine Hand berührte zögernd die Konturen meines Gesichts.
»Auf wen denn sonst? Ich habe mich während des ganzen Rittes vor Eifersucht verzehrt. Ich sehe sein Gesicht vor mir, im Wachen und im Schlaf. Du hast doch gesagt, er hat wie Jack Randall ausgesehen, nicht wahr?«
Ich zog ihn fest an mich und drückte seinen Kopf nach unten, so daß sein Ohr neben meinem Mund lag. Gott sei Dank hatte ich den Ring nicht erwähnt - aber hatte mein Gesicht, mein verräterisches, transparentes Gesicht irgendwie erkennen lassen, daß ich daran gedacht hatte?
»Wie?« fragte ich und drückte ihn fest. »Wie konntest du nur so etwas denken?«
Er löste sich von mir und stützte sich auf seinen Ellbogen. Sein Haar fiel als Masse flammender Schatten über mein Gesicht, und der Feuerschein schlug darin goldene und purpurne Funken.
»Wie hätte ich es verhindern können?« wollte er wissen. »Du hast sie doch gehört, Claire; du weißt genau, was sie zu mir gesagt hat.«
»Brianna?«
»Sie hat gesagt, sie sähe mich gern in der Hölle schmoren, und sie würde ihre eigene Seele verkaufen, um ihren Vater wiederzubekommen - ihren richtigen Vater.« Er schluckte; ich hörte das Geräusch durch das Gemurmel der entfernten Stimmen.
»Ich denke immerzu, ihm wäre ein solcher Fehler nicht passiert. Er hätte ihr vertraut; er hätte gewußt, daß sie… Ich denke immerzu, daß Frank Randall ein besserer Mensch gewesen ist als ich. Sie glaubt das auch.« Seine Hand zögerte, dann senkte sie sich auf meine Schulter und drückte fest zu. »Ich dachte… vielleicht glaubst du es auch, Sassenach.«
»Dummkopf«, flüsterte ich und meinte nicht ihn damit. Ich ließ meine Hand über den langen Bogen seines Rückens gleiten und grub meine Finger in seine festen Pobacken. »Alter Idiot. Komm her.«
Er senkte den Kopf und machte ein leises Geräusch an meiner Schulter, das ein Lachen hätte sein können.
»Aye, das bin ich. Aber es stört dich nicht so sehr?«
»Nein.« Sein Haar roch nach Rauch und Kiefernharz. Es hingen immer noch Nadelstückchen darin, eins davon stach mich in die Lippen, glatt und spitz.
»Sie hat es nicht so gemeint«, sagte ich.
»Doch, das hat sie«, sagte er, und ich spürte, wie er den Kloß in seinem Hals hinunterschluckte. »Ich habe es doch gehört.«
»Ich habe euch beide gehört.« Ich massierte ihn langsam zwischen den Schulterblättern und spürte die schwachen Spuren der alten Narben und die dicken, frischeren Wülste, die die Bärenklauen hinterlassen hatten. »Sie ist genau wie du; wenn sie aufgebracht ist, sagt sie Dinge, die sie bei klarem Verstand niemals sagen würde. Du hast doch auch nicht alles ernst gemeint, was du gesagt hast, oder?«
»Nein.« Ich konnte spüren, wie seine Anspannung nachließ und sich seine Gelenke lockerten und sich langsam der Beschwörung meiner Finger fügten. »Nein. Ich habe es nicht so gemeint. Nicht alles.«
»Sie auch nicht.«
Ich wartete einen Augenblick, während ich ihn streichelte wie ich Brianna gestreichelt hatte, wenn sie als kleines Mädchen voller Angst gewesen war.
»Du kannst mir glauben«, flüsterte ich. »Ich liebe euch beide.«
Er seufzte tief und schwieg einen Augenblick.
»Wenn ich den Mann finden und ihn ihr wiederbringen kann, wenn ich es tue - meinst du, sie wird mir eines Tages verzeihen?«
»Ja«, sagte ich. »Ich weiß es.«
Ich hörte, wie auf der anderen Seite der Abtrennung die leisen Geräusche eines liebenden Paares einsetzten, das Schieben und Seufzen, die gemurmelten Worte, die keine Sprache haben.
»Du mußt gehen.« Das hatte Brianna zu mir gesagt. »Du bist die einzige, die ihn wiederbringen kann.«
Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, daß sie damit vielleicht nicht Roger gemeint hatte.
 
Es war ein langer Weg durch die Berge, und das Winterwetter verlängerte ihn noch. Es gab Tage, an denen es unmöglich war zu reisen; an denen wir den ganzen Tag unter felsigen Überhängen oder in der Obhut einer Baumgruppe hockten, zum Schutz gegen den Wind zusammengekauert.
Als wir das Gebirge überquert hatten, wurde die Reise etwas einfacher, obwohl die Temperaturen niedriger wurden, je weiter wir nach Norden kamen. Manchmal aßen wir kalt, weil wir in Schnee und Wind kein Feuer unterhalten konnten. Doch jede Nacht lag ich mit Jamie zusammen, in einem Kokon aus Fell und Decken aneinandergekuschelt, und wir teilten unsere Wärme.
Ich zählte penibel die Tage, die ich mit einem verknoteten Zwirnsfaden markierte. Wir waren Anfang Januar von River Run aufgebrochen; es wurde Mitte Februar, bevor Onakara auf eine Rauchsäule in der Ferne deutete, die das Mohawkdorf anzeigte, in das er und seine Freunde Roger Wakefield gebracht hatten. »Schlangendorf«, so sagte er, wurde es genannt.
Sechs Wochen, und Brianna war fast im siebten Monat. Wenn wir Roger schnell zurücktransportieren konnten - und wenn er reisefähig war, fügte ich grimmig in Gedanken hinzu -, dann würden wir lange vor der Geburt des Kindes zurück sein. Doch wenn Roger nicht hier war - wenn die Mohawk ihn weiterverkauft hatten… oder wenn er tot war - sagte eine leise, kalte Stimme in meinem Kopf, dann würden wir ohne Aufschub zurückkehren.
Onakara lehnte es ab, uns in das Dorf zu begleiten, was meine Zuversicht in unsere Erfolgsaussichten nicht im geringsten stärkte. Jamie dankte ihm und verabschiedete ihn, nachdem er ihn mit einem Pferd, einem guten Messer und einer Flasche Whisky für seine Dienste entlohnt hatte.
Wir vergruben den restlichen Whisky in einiger Entfernung, um ihn vorsichtshalber vor dem Dorf zu verbergen.
»Werden sie verstehen, was wir wollen?« fragte ich, als wir wieder auf die Pferde stiegen. »Ist Tuscarora der Mohawksprache so ähnlich, daß wir uns mit ihnen unterhalten können?«
»Es ist nicht ganz dasselbe, Tante Claire, aber nah dran«, sagte Ian. Es schneite ein wenig, und die schmelzenden Flocken blieben an seinen Wimpern hängen. »Vielleicht so wie der Unterschied zwischen Italienisch und Spanisch. Aber Onakara sagt, der Sachem und ein paar von den anderen können ein bißchen Englisch, auch wenn sie es meistens mit Absicht nicht benutzen. Aber die Mohawk haben auf seiten der Engländer gegen die Franzosen gekämpft; ein paar werden es verstehen.«
»Also dann.« Jamie lächelte uns zu und legte seine Muskete quer vor sich über den Sattel. »Dann wollen wir mal unser Glück versuchen.«
Der Ruf Der Trommel
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