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Auftritt: Eine Schlange
Oktober 1768
Im Prinzip hatte ich nichts gegen Schlangen. Sie
fraßen Ratten, was lobenswert von ihnen war, manchmal waren sie
dekorativ, und meistens waren sie so klug, mir aus dem Weg zu
gehen. Leben und leben lassen war meine Grundeinstellung.
Andererseits war das nur theoretisch so. Praktisch
hatte ich alle möglichen Einwände gegen die große Schlange, die
zusammengerollt auf dem Sitz unseres Aborts lag. Abgesehen von der
Tatsache, daß sie mir im Augenblick ziemlich im Weg war, machte sie
sich auch nicht durch die Vertilgung von Ratten nützlich, und da
sie in einem freudlosen, dunklen Grau gescheckt war, bereitete sie
mir auch kein ästhetisches Vergnügen.
Mein Haupteinwand war allerdings die Tatsache, daß
es sich um eine Klapperschlange handelte. In gewisser Hinsicht war
das wahrscheinlich ein Glück; einzig ihr Klappern, bei dem mir fast
das Herz stehenblieb, hielt mich davon ab, mich im frühen
Dämmerlicht auf sie zu setzen.
Bei ihrem ersten Geräusch erstarrte ich auf der
Stelle, sobald ich einen Schritt in das winzige Aborthäuschen
gemacht hatte. Ich streckte einen Fuß nach hinten aus und tastete
nach der Türschwelle. Das gefiel der Schlange überhaupt nicht; ich
erstarrte erneut, als das warnende Rasseln an Lautstärke zunahm.
Ich konnte ihre vibrierende Schwanzspitze sehen, aufgerichtet wie
ein dicker, gelber Finger, der unverschämt aus dem verschlungenen
Haufen aufzeigte.
Mein Mund war so trocken wie Papier geworden; ich
biß mir auf die Innenseite meiner Wange, um den Speichelfluß ein
wenig anzuregen.
Wie lang war sie? Ich meinte mich daran erinnern zu
können, daß Brianna mir vorgelesen hatte - aus ihrem
Pfadfinderhandbuch -,daß Klapperschlangen aus einer Entfernung von
bis zu einem Drittel ihrer Körperlänge angreifen konnten. Kaum mehr
als ein halber Meter
trennte meine vom Nachthemd bedeckten Oberschenkel von dem
widerwärtigen, flachen Kopf mit seinen lidlosen Augen.
War sie anderthalb Meter lang? Es war unmöglich, es
zu sagen, doch das Gewimmel ihrer Windungen sah unangenehm massiv
aus, und der runde Körper bestand aus nichts anderem als
schuppenbedeckten Muskeln. Es war eine verdammt große Schlange, und
die Angst davor, bei der kleinsten Bewegung schändlich in den
Schritt gebissen zu werden, reichte aus, um mich auf der Stelle zu
halten.
Ich konnte allerdings nicht ewig still
stehenbleiben. Von allen anderen Überlegungen einmal abgesehen,
hatte der Schreck beim Anblick der Schlange den Drang meiner
Körperfunktionen nicht im mindesten verringert.
Ich hegte eine vage Vermutung, daß Schlangen taub
waren; vielleicht konnte ich um Hilfe rufen. Doch was, wenn es
nicht so war? Da gab es diese Sherlock-Holmes-Geschichte, über die
Schlange, die auf Pfeiftöne reagierte. Vielleicht würde die
Schlange sich zumindest nicht angegriffen fühlen, wenn ich pfiff?
Vorsichtig spitzte ich die Lippen und blies. Es kam nur ein dünner
Luftzug heraus.
»Claire?« sagte eine verwunderte Stimme hinter mir.
»Was zum Teufel machst du da?«
Ich fuhr bei dem Geräusch auf und die Schlange
ebenfalls - oder zumindest machte sie eine plötzliche Bewegung und
spannte ihre Körperwindungen an, so daß es aussah, als stünde ihr
Angriff unmittelbar bevor.
Ich erstarrte im Türrahmen, und die Schlange hörte
auf, sich zu bewegen. Nur das chronische Surren ihrer Rassel
erinnerte weiter an das ärgerliche Summen eines Weckers, der
einfach keine Ruhe geben wollte.
»Hier drin ist eine verdammte Schlange«, sagte ich
mit zusammengebissenen Zähnen und bemühte mich, nicht einmal meine
Lippen zu bewegen.
»Schön, warum stehst du dann hier? Geh zur Seite,
und ich werfe sie hinaus.« Ich hörte Jamies Schritte näher
kommen.
Die Schlange hörte ihn ebenfalls - offensichtlich
war sie nicht taub - und rasselte noch heftiger.
»Ah«, sagte Jamie in einem anderen Tonfall. Ich
hörte ein Rascheln, als er sich bückte. »Beweg dich nicht,
Sassenach.«
Ich hatte keine Zeit, auf diesen überflüssigen
Ratschlag zu antworten, denn schon schwirrte ein dicker Stein an
meiner Hüfte vorbei und traf die Schlange mittschiffs. Sie wickelte
sich zu einer Art
gordischem Knoten zusammen, wand sich, zuckte - und fiel in den
Abort, wo sie mit einem häßlichen, hohlen Wack!
landete.
Ich wartete nicht auf eine Gelegenheit, dem
siegreichen Krieger zu gratulieren, sondern machte statt dessen
kehrt und rannte zur nächstgelegenen Baumgruppe. Der Saum meines
Nachthemdes schlug mir taufeucht um die Knöchel.
Als ich einige Minuten später in einer gesetzteren
Verfassung zurückkehrte, fand ich Jamie und Ian gemeinsam in den
Abort gezwängt - was ob ihrer Größe nur gerade eben paßte -,und
letzterer hockte mit einer Kiefernfackel auf der Bank, während der
Erstgenannte sich über das Loch beugte und in die Tiefe sah.
»Können die schwimmen?« fragte Ian, während er
versuchte, an Jamies Kopf vorbeizusehen, ohne das Haar seines
Onkels in Brand zu stecken.
»Ich weiß nicht«, sagte Jamie zweifelnd. »Es könnte
aber sein. Mich interessiert mehr, ob sie springen können.«
Ian fuhr zurück und lachte dann ein wenig nervös,
denn er war sich nicht ganz sicher, ob Jamie nur scherzte.
»Also, ich kann nichts sehen; gib mir das Licht.«
Jamie streckte die Hand nach oben, um Ian den Kiefernspan
abzunehmen, den er dann vorsichtig in das Loch senkte.
»Wenn der Gestank die Flamme nicht auslöscht,
stecken wir wahrscheinlich den Abort an«, brummte er und bückte
sich tief. »Also, jetzt, wo zum Teufel -«
»Da ist sie! Ich sehe sie!« rief Ian.
Ihre Köpfe fuhren hoch und knallten mit einem
Geräusch wie zerplatzende Melonen zusammen. Jamie ließ die Fackel
fallen, die in das Loch fiel und prompt erlosch. Ein dünnes
Rauchwölkchen stieg wie Weihrauch vom Rand des Loches auf.
Jamie stolperte aus dem Abort, die Hände gegen
seine Stirn gepreßt und die Augen vor Schmerz geschlossen. Ian
lehnte sich an die Innenwand, hielt sich den Scheitel und machte
abgehackte, atemlose Bemerkungen auf Gälisch.
»Lebt sie noch?« fragte ich mit einem besorgten
Blick zum Abort.
Jamie öffnete ein Auge und betrachtete mich
zwischen seinen Fingern hindurch.
»Oh, meinem Kopf geht’s gut, danke«, sagte er. »Ich
nehme an, meine Ohren hören nächste Woche irgendwann wieder auf zu
summen.«
»Aber, aber«, sagte ich beschwichtigend. »Man würde
einen Vorschlaghammer brauchen, um dir den Schädel zu verbeulen.
Aber laß
mich mal sehen.« Ich schob seine Finger zur Seite, zog seinen Kopf
zu mir herab und tastete mich sanft durch sein dichtes Haar. Ich
fand eine kleine Beule genau über seinem Haaransatz, aber kein
Blut.
Ich küßte die Stelle routinemäßig und tätschelte
ihm den Kopf.
»Du stirbst schon nicht«, sagte ich. »Jedenfalls
nicht daran.«
»Oh, gut«, sagte er trocken. »Ich sterbe sowieso
viel lieber an einem Schlangenbiß, wenn ich das nächste Mal mein
Geschäft mache.«
»Es ist eine Giftschlange, oder?« fragte Ian, der
jetzt die Hände von seinem Kopf nahm und aus dem Abort kam. Er
holte tief Luft und füllte seine schmale Brust mit frischer
Luft.
»Ziemlich giftig«, sagte ich mit leichtem
Schaudern. »Was hast du mit ihr vor?« fragte ich, an Jamie
gewandt.
Er zog eine Augenbraue hoch.
»Ich? Warum sollte ich etwas mit ihr vorhaben?«
fragte er.
»Du kannst sie doch nicht einfach
hierlassen!«
»Warum nicht?« sagte er und zog die andere Braue
hoch.
Ian kratzte sich geistesabwesend am Kopf, zuckte
zusammen, als er die Beule berührte, die von seiner Kollision mit
Jamie stammte, und hielt inne.
»Also, ich weiß nicht, Onkel Jamie«, sagte er
skeptisch. »Wenn du deine Eier über einer Grube mit einer tödlichen
Viper baumeln lassen willst, dann ist das ja deine Sache, aber ich
kriege eine Gänsehaut bei dem Gedanken. Wie dick ist das
Vieh?«
»Ganz anständig, das muß ich zugeben.« Jamie
winkelte sein Handgelenk an und zeigte ihm zum Vergleich seinen
Unterarm.
»Iih!« sagte Ian.
»Du weißt nicht mit Bestimmtheit, ob sie
nicht doch springen können«, warf ich hilfreicherweise ein.
»Aye, das stimmt.« Jamie beäugte mich zynisch.
»Aber ich muß zugeben, daß der Gedanke ausreicht, um bei mir
Verstopfung hervorzurufen. Und wie sollen wir sie deiner Meinung
nach herausholen?«
»Ich könnte sie mit deiner Pistole erschießen«, bot
Ian an, und sein Gesicht erhellte sich bei der Vorstellung, Jamies
wie einen Schatz gehütete Pistolen in die Finger zu bekommen. »Wir
brauchen sie nicht herauszuholen, wenn wir sie umbringen
können.«
»Kann man sie… äh… sehen?« fragte ich
vorsichtig.
Jamie rieb sich skeptisch das Kinn. Er hatte sich
noch nicht rasiert, und sein Daumen kratzte über die dunkelroten
Stoppeln.
»Nicht sehr gut. Es sind nur ein paar Zentimeter
Jauche in der Grube, aber ich glaube nicht, daß man sie so gut
sehen kann, daß es zum Zielen reicht, und ich würde ungern den
Schuß verschwenden.«
»Wir könnten die gesammelten Hansens zum Abendessen
einladen, sie mit Bier abfüllen und die Schlange ertränken«, schlug
ich im Scherz vor - die Hansens waren eine vielköpfige
Quäkerfamilie, die in der Nähe lebte.
Ian explodierte vor Lachen. Jamie warf mir einen
gestrengen Blick zu und wandte sich zum Wald.
»Ich lasse mir schon etwas einfallen«, sagte er.
»Wenn ich gefrühstückt habe.«
Das Frühstück war zum Glück kein großes Problem,
da die Hennen mich freundlicherweise mit neun Eiern ausgestattet
hatten und das Brot zu meiner Zufriedenheit aufgegangen war. Die
Butter war immer noch an der Rückseite der Vorratskammer
eingekerkert, wo sie von der Sau, die gerade geferkelt hatte,
übelgelaunt bewacht wurde. Doch es war Ian gelungen, sich
hineinzulehnen und sich ein Töpfchen Marmelade zu schnappen,
während ich mit einem Besen danebenstand, den ich der Sau jedesmal
zwischen die knirschenden Kiefer stieß, wenn sie einen ihrer
kurzen, pfeilschnellen Angriffe auf Ians Beine startete.
»Ich muß einen neuen Besen haben«, merkte ich mit
einem Blick auf die zerfetzten Überreste an, während ich die Eier
auftischte. »Vielleicht gehe ich heute morgen zu dem Weidenhain am
Bach.«
»Mmpfm.« Jamie streckte eine Hand aus und tastete
geistesabwesend auf der Suche nach dem Brotteller auf dem Tisch
herum. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Buch,
in dem er las, Bricknells Naturgeschichte North
Carolinas.
»Hier ist es ja«, sagte er. »Ich wußte doch, daß
ich einen Absatz über Klapperschlangen gesehen hatte.« Er fand das
Brot, nahm sich ein Stück und schob sich damit einen herzhaften
Bissen Rührei in den Mund. Nachdem er sich diesen einverleibt
hatte, las er laut vor. Dabei hielt er das Buch in der einen Hand,
während er mit der anderen weiter auf dem Tisch herumsuchte.
»›Die Indianer ziehen den Schlangen oft die Zähne,
so daß sie hinterher kein Unheil mehr anrichten können, indem sie
ein Stück roten Wollstoff an das Ende eines langen, hohlen Stockes
binden und damit die Schlange zum Beißen reizen, es dann plötzlich
von ihr wegziehen, wobei die Zähne in dem Stoff hängenbleiben und
von allen Anwesenden gut gesehen werden können.‹«
»Haben wir roten Stoff, Tante Claire?« fragte Ian,
während er seine eigene Portion Ei mit Zichorienkaffee
hinunterspülte.
Ich schüttelte den Kopf und spießte das letzte
Würstchen auf, bevor Jamies suchende Hand es erreichte.
»Blau, grün, gelb, grau, weiß und braun. Kein
Rot.«
»Das ist aber ein praktisches Buch, Onkel Jamie«,
sagte Ian anerkennend. »Steht da noch mehr über die Schlangen?« Er
blickte hungrig über die Tischoberfläche und suchte nach etwas
Eßbarem. Ich griff kommentarlos in den Geschirrschrank und zog
einen Teller Muffins hervor, den ich vor ihn hinstellte. Er seufzte
glücklich und stürzte sich darauf, während Jamie umblätterte.
»Also, hier steht noch etwas darüber, wie
Klapperschlangen Eichhörnchen oder Kaninchen bezirzen.« Jamie faßte
seinen Teller an, fand aber nur eine leere Oberfläche. Ich schob
die Muffins in seine Richtung.
»›Es ist überraschend zu beobachten, wie diese
Schlangen Eichhörnchen, Kaninchen, Rebhühner und viele andere,
kleine Tiere und Vögel anlocken, die sie hurtig verschlingen. Die
Anziehungskraft ist so stark, daß man sehen kann, wie das
Eichhörnchen oder Rebhuhn (sobald es die Schlange erspäht hat) von
Ast zu Ast hüpft oder fliegt, bis es ihr schließlich direkt ins
Maul rennt oder springt, denn es hat nicht die Kraft, seinem Feind
auszuweichen, der sich niemals aus seiner Position oder Spirale
regt, bis er seine Beute errungen hat.‹«
Auf ihrer blinden Suche nach Nahrung stieß seine
Hand auf die Muffins. Er griff zu und blickte zu mir auf. »Ich will
verdammt sein, wenn ich das jemals selbst gesehen habe. Meinst du,
es stimmt?«
»Nein«, sagte ich und schob mir die Locken aus der
Stirn. »Hat dieses Buch irgendwelche hilfreichen Vorschläge für den
Umgang mit gemeingefährlichen Schweinen anzubieten?«
Er schwenkte geistesabwesend die Reste seines
Muffins.
»Keine Sorge«, murmelte er. »Mit dem Schwein komme
ich schon zurecht.« Er hob die Augen gerade lange genug von seinem
Buch, um seinen Blick über den Tisch und das leere Geschirr
schweifen zu lassen. »Haben wir keine Eier mehr?«
»Doch, aber die bringe ich unserem Gast in den
Maisspeicher.« Ich legte noch zwei Scheiben Brot in den kleinen
Korb, den ich gerade packte, und nahm die Flasche mit der Infusion,
die ich über Nacht hatte ziehen lassen. Die Brühe aus Goldrute,
Melisse und wilder Bergamotte war schwärzlich grün und roch nach
verbrannten Feldern, aber vielleicht half sie ja. Sie konnte
zumindest nicht schaden. Einem Impuls folgend, ergriff ich das
Amulett aus zusammengebundenen Federn, das die alte Nayawenne mir
gegeben hatte; vielleicht würde es den Kranken beruhigen. Genau wie
die Arznei konnte es zumindest nicht schaden.
Unser unerwarteter Gast war ein Fremder; ein
Tuscarora aus einem
Dorf im Norden. Er war vor einigen Tagen mit einer Gruppe von
Jägern aus Anna Ooka, die einem Bären folgte, auf den Hof
gekommen.
Wir hatten ihnen Essen und Trinken angeboten -
einige der Jäger waren Ians Freunde -,doch im Verlauf der Mahlzeit
war mir aufgefallen, daß dieser Mann mit glasigen Augen in seine
Tasse stierte. Bei näherer Betrachtung hatte sich herausgestellt,
daß er an etwas litt, was meiner Überzeugung nach die Masern waren,
in dieser Zeit eine besorgniserregende Krankheit.
Er hatte darauf bestanden, gemeinsam mit seinen
Begleitern aufzubrechen, doch ein paar Stunden später hatten zwei
von ihnen ihn stolpernd und delirierend zurückgebracht.
Er war eindeutig - und alarmierenderweise -
ansteckend. Ich hatte ihm ein bequemes Bett in unserem neugebauten
und zur Zeit noch leeren Maisspeicher gemacht und seine Begleiter
gezwungen, sich im Bach zu waschen, eine Prozedur, die sie
offensichtlich unsinnig fanden, der sie sich jedoch mir zuliebe
fügten, bevor sie aufbrachen und ihren Kameraden in meiner Obhut
zurückließen.
Der Indianer lag auf der Seite, unter seiner Decke
zusammengerollt. Er drehte sich nicht um, um mich anzusehen, obwohl
er meine Schritte auf dem Weg gehört haben mußte. Ich konnte ihn
jedenfalls hören; kein Bedarf für mein improvisiertes Stethoskop -
das Rasseln in seiner Lunge war aus sechs Schritten Entfernung
deutlich zu hören.
»Comment ça va?« fragte ich und kniete mich
neben ihn. Er antwortete nicht; doch es war sowieso überflüssig.
Ich brauchte nur das rasselnde Keuchen zu hören, um eine
Lungenentzündung zu diagnostizieren, und sein Aussehen bestätigte
dies nur - seine Augen waren eingesunken und glanzlos, die
Gesichtsmuskeln eingefallen, bis auf die Knochen von heftig
flammendem Fieber verzehrt.
Ich versuchte, ihn zum Essen zu bewegen - er
brauchte unbedingt Nahrung -,doch er machte sich nicht einmal die
Mühe, sein Gesicht abzuwenden. Die Wasserflasche neben ihm war
leer; ich hatte ihm mehr mitgebracht, gab es ihm aber nicht sofort,
weil ich hoffte, er würde vielleicht aus Durst die Infusion
trinken.
Er nahm ein paar Schlucke, hörte dann aber auf zu
schlucken und ließ sich die grünlich-schwarze Flüssigkeit nur noch
aus den Mundwinkeln laufen. Ich versuchte, ihm auf Französisch
zuzureden, doch es nützte nichts; er zeigte mir nicht einmal, daß
er meine Anwesenheit wahrnahm, sondern starrte nur über meine
Schulter hinweg in den Morgenhimmel.
Sein abgemagerter Körper fiel vor Verzweiflung
zusammen; es war deutlich, daß er sich im Stich gelassen fühlte,
zum Sterben in den
Händen von Fremden zurückgelassen. Ich verspürte eine nagende
Angst, daß er recht haben könnte - er würde mit Sicherheit
sterben, wenn er nichts zu sich nahm.
Immerhin nahm er Wasser. Er trank durstig, leerte
die Flasche, und ich ging zum Bach, um sie noch einmal zu füllen.
Als ich zurückkehrte, holte ich das Amulett aus meinem Korb und
hielt es ihm vor das Gesicht. Ich glaubte, Überraschung hinter
seinen halbgeschlossenen Lidern aufflackern zu sehen - nichts, was
so stark war, daß ich es Hoffnung nennen würde, doch er nahm
immerhin zum ersten Mal bewußt von mir Notiz.
Einer Eingebung folgend sank ich langsam auf meine
Knie. Ich hatte keine Ahnung, welche Zeremonie in einem solchen
Fall zur Anwendung kam, doch ich war schon lange genug Ärztin, um
zu wissen, daß die Kraft der Suggestion zwar kein Antibiotikum
ersetzen konnte, daß sie aber mit Sicherheit besser war als gar
nichts.
Ich hielt das Amulett aus Rabenfedern hoch, wandte
mein Gesicht zum Himmel und intonierte feierlich den sonorsten
Text, der mir einfiel - zufällig war es ein von Dr. Rawlings in
Latein verfaßtes Rezept zur Behandlung von Syphilis.
Ich goß mir etwas Lavendelöl in die Hand, tauchte
die Feder hinein und salbte ihm Hals und Schläfen, während ich mit
tiefer, geheimnisvoller Stimme »Rolling Home« sang. Vielleicht half
es ja gegen die Kopfschmerzen. Seine Augen folgten den Bewegungen
der Feder; ich kam mir vor wie eine Klapperschlange, die zur
Spirale gewunden ein Eichhörnchen beschwört und darauf wartet, daß
es ihr in den Schlund rennt.
Ich hob seine Hand auf, legte ihm das ölbetropfte
Amulett auf die Handfläche und schloß seine Finger darum. Dann nahm
ich das mit Menthol versetzte Bärenfett und malte ihm mystische
Muster auf die Brust, wobei ich darauf achtete, es mit den
Daumenballen fest einzureiben. Der Geruch reinigte mir die
Stirnhöhlen; ich konnte nur hoffen, daß er die zähe Verschleimung
meines Patienten löste.
Ich beendete mein Ritual, indem ich die Flasche mit
der Infusion feierlich mit den Worten »In nomine Patri, et
Filii, et Spiritu Sancti, Amen.« segnete und sie dem Patienten
an die Lippen hielt. Mit leicht hypnotisiertem Gesichtsausdruck
öffnete er den Mund und trank gehorsam den Rest.
Ich zog ihm die Decke über die Schultern, stellte
das mitgebrachte Essen neben ihn und ließ ihn allein. Ich hatte
neue Hoffnung geschöpft und kam mir gleichzeitig vor wie eine
Hochstaplerin.
Ich ging langsam am Bach entlang und hielt wie
immer nach brauchbaren Dingen Ausschau. Es war zu früh im Jahr für
die meisten Heilkräuter; eine Pflanze diente um so besser als
Arznei, je älter und widerstandsfähiger sie war; mehrere im Kampf
gegen Insekten verbrachte Jahreszeiten garantierten eine höhere
Konzentration der aktiven Wirkstoffe in ihren Wurzeln und
Stengeln.
Außerdem waren es bei den meisten Pflanzen die
Blüten, Früchte oder Samen, die eine nützliche Substanz freigaben.
Ich hatte zwar an einigen Stellen Schöllkraut und Lobelien im
Schlamm am Wegrand erspäht, doch sie hatten schon lange ihre Samen
vestreut. Ich merkte mir die Fundstellen sorgfältig für später und
setzte meine Jagd fort.
Es gab Brunnenkresse im Überfluß; sie trieb an
vielen Stellen zwischen den Felsen am Rand des Baches, und eine
ausgedehnte Matte der würzigen, dunkelgrünen Blätter lag
verführerisch genau vor mir. Und was für ein schönes
Schilfdickicht, dessen Kolben sich da aneinanderrieben! Ich war
barfuß hergekommen, weil ich wußte, daß ich über kurz oder lang
sowieso im Wasser waten würde; ich raffte meine Röcke hoch und
begab mich vorsichtig in den Bach, ein Messer in der Hand und den
Korb über dem Arm, den Atem vor Eiseskälte angehalten.
Meine Füße verloren innerhalb von Sekunden jedes
Gefühl - doch ich störte mich nicht daran. Ich vergaß die Schlange
im Abort, das Schwein in der Vorratskammer und den Indianer im
Maisspeicher völlig, so nahmen mich das Wasser, das an meinen
Beinen vorbeirauschte, die feuchte, kalte Berührung der
Pflanzenstengel und der Duft der aromatischen Blätter
gefangen.
Libellen hingen über den von der Sonne beschienenen
Untiefen, und Elritzen schossen auf der Jagd nach unsichtbaren
Mücken an mir vorbei. Irgendwo weiter flußaufwärts rief ein
Eisvogel mit lautem, trockenen Rasseln, doch er war hinter größeren
Beutetieren her. Die Elritzen stoben bei meinem Eindringen
auseinander, schwärmten dann aber wieder zurück, grau und silbern,
grün und golden, schwarz mit weißer Zeichnung, so unwirklich wie
die Schatten des Laubes vom vergangenen Jahr. Brown’sche
Molekularbewegungen, dachte ich, während ich zusah, wie kleine
Lehmwolken aufstiegen, um meine Knöchel wirbelten und die Fische
einnebelten.
Alles in ständiger Bewegung, bis hin zum kleinsten
Molekül - und inmitten der Bewegung der paradoxe Eindruck des
Stillstandes, das Chaos im Kleinen wich der Illusion einer
größeren, allgemeinen Ordnung.
Ich bewegte mich ebenfalls, nahm teil am
leuchtenden Tanz des
Baches, spürte, wie sich Licht und Schatten auf meinen Schultern
abwechselten, während meine Zehen auf den schlüpfrigen, kaum
sichtbaren Felsen Halt suchten. Meine Hände und Füße waren taub vom
Wasser; ich fühlte mich, als bestünde ein Teil von mir aus Holz und
wäre dennoch zutiefst lebendig, wie die Silberbirke, die über mir
aufleuchtete, oder die Weiden, deren feuchte Blätter in den Teich
hingen.
Vielleicht entstanden so die Legenden von grünen
Männern und die Mythen von verwandelten Nymphen, dachte ich; nicht,
wenn ein Baum lebendig wurde, und auch nicht, wenn sich eine Frau
in Holz verwandelte - sondern wenn ein warmer Menschenkörper in die
kälteren Sinneswahrnehmungen der Pflanzen eintauchte und sich so
weit abkühlte, daß sich sein Bewußtsein verlangsamte.
Ich spürte mein Herz langsam schlagen, und das Blut
pochte halb schmerzhaft in meinen Fingern. Aufsteigende Säfte. Ich
bewegte mich mit den Rhythmen von Wasser und Wind, ohne Hast oder
bewußte Gedanken, Teil der langsamen und perfekten Ordnung des
Universums.
Ich hatte die Sache mit dem Chaos im Kleinen ganz
vergessen.
Gerade, als ich die Flußbiegung mit den Weiden
erreichte, erscholl jenseits der Bäume ein lautes Kreischen. Ich
hatte schon ähnliche Laute von einer Vielzahl von Tieren gehört,
von Leoparden bis hin zu jagenden Adlern, doch ich erkannte eine
menschliche Stimme, wenn ich sie hörte.
Ich stolperte aus dem Bach und schob mich durch das
Gewirr der Zweige. Dann brach ich zu der freien Stelle durch. Ein
Junge tanzte am Ufer herum, klatschte wie verrückt auf seine Beine
und heulte, während er hin und her hüpfte.
»Was -?« begann ich, und er blickte zu mir auf, die
blauen Augen aufgerissen, erschrocken über mein plötzliches
Auftauchen.
Er war nicht annähernd so erschrocken wie ich. Er
war elf oder zwölf; hochgewachsen und dünn wie ein Kiefernschößling
mit einem zerzausten, kastanienbraunen Lockenkopf.
Schräggestellte, blaue Augen starrten mich zu
beiden Seiten eines messerscharfen Nasenrückens an; sie waren mir
so vertraut wie mein eigener Handrücken, obwohl ich wußte, daß ich
dieses Kind noch nie gesehen hatte.
Mein Herz schlug irgendwo in der Gegend meiner
Mandeln, und die Kälte war mir von den Zehen in die Magengrube
gefahren. Da ich dazu ausgebildet war, auch im Fall eines Schocks
zu handeln, brachte ich es fertig, auch den Rest seiner Erscheinung
zu betrachten - Hemd und Kniehosen von guter Qualität, wenn auch
mit Wasser bespritzt,
und lange, bleiche Schienbeine, auf denen schwarze Kleckse wie
Schlamm klebten.
»Blutegel«, sagte ich, während sich aus purer
Gewohnheit die professionelle Ruhe über meinen persönlichen Tumult
senkte. Es kann doch nicht sein, sagte ich mir, während ich
doch gleichzeitig wußte, daß es verdammt noch mal so war.
»Es sind nur Blutegel. Sie tun dir nichts.«
»Ich weiß, was das ist!« sagte er. »Nehmt sie weg!«
Er wischte über seinen Unterschenkel und schauderte vor Ekel. »Sie
sind widerlich.«
»Oh, aber nicht sehr«, sagte ich, während ich die
Kontrolle über mich zurückgewann. »Manchmal sind sie sogar
nützlich.«
»Das interessiert mich nicht!« bellte er und
stampfte frustriert mit dem Fuß auf. »Ich finde sie ekelhaft, nehmt
sie weg!«
»Na, dann hör auf, nach ihnen zu schlagen«, sagte
ich scharf. »Setz dich hin, und ich kümmere mich darum.«
Er zögerte und starrte mich argwöhnisch an, setzte
sich dann aber auf einen Felsen und streckte seine mit Egeln
bedeckten Beine vor sich aus.
»Nehmt sie sofort weg!« forderte er.
»Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Wo kommst du
her?«
Er musterte mich verständnislos.
»Du wohnst nicht hier in der Nähe«, sagte ich, denn
ich war mir meiner Sache völlig sicher. »Wo kommst du her?«
Er riß sich mit sichtlicher Anstrengung
zusammen.
»Äh… wir haben in einem Ort namens Salem
geschlafen, vor drei Tagen. Das ist die letzte Stadt gewesen, die
ich gesehen habe.« Er schüttelte heftig die Beine. »Nehmt sie weg,
habe ich gesagt.«
Es gab diverse Möglichkeiten, Blutegel zu
entfernen, und die meisten verursachten größere Schäden als die
Egel selbst. Ich sah es mir an; er hatte vier an einem Bein kleben
und drei am anderen. Eins der fetten, kleinen Biester war schon
fast bis zum Anschlag vollgesogen, es war rund geworden und so
angespannt, daß es glänzte. Ich schob ihm meinen Daumennagel unter
den Kopf, und er löste sich und fiel mir in die Hand, rund wie ein
Kiesel und schwer vor Blut.
Der Junge starrte ihn an, blaß unter seiner
Sonnenbräune, und schauderte.
»Wir wollen ihn nicht verschwenden,« sagte ich
beiläufig und machte mich auf, um den Korb zu holen, den ich unter
den Zweigen liegengelassen hatte, als ich mich zwischen den Bäumen
durchschob.
Nicht weit weg sah ich seinen Rock auf dem Boden
liegen und dazu die abgelegten Schuhe und Strümpfe. Schlichte
Schnallen an den
Schuhen, aber aus Silber, nicht aus Zinn. Guter Stoff, nicht
prahlerisch, aber mit etwas mehr Stil geschnitten, als es nördlich
von Charleston an der Tagesordnung war. Ich hatte nicht wirklich
der Bestätigung bedurft, doch hier war sie.
Ich schöpfte eine Handvoll Schlamm, drückte den
Blutegel sanft hinein und wickelte den klebrigen Klumpen in feuchte
Blätter. Erst jetzt bemerkte ich, daß meine Hände zitterten. Der
Idiot! Der verlogene, niederträchtige, berechnende… Was zum
Teufel hatte ihn getrieben, hierher zu kommen? Und, Gott,
was würde Jamie tun?
Ich kehrte zu dem Jungen zurück, der sich
vornübergebeugt hatte und die verbliebenen Blutegel angewidert
anblickte. Der nächste war kurz vor dem Abfallen, und als ich mich
vor ihn kniete, fiel der Egel herunter und federte sachte auf dem
feuchten Boden nach.
»Au!« sagte der Junge.
»Wo ist dein Stiefvater?« fragte ich abrupt. Es gab
nicht viel, das ihn von seinen Beinen hätte ablenken können, doch
diese Frage schaffte es. Sein Kopf fuhr hoch, und er starrte mich
erstaunt an.
Es war ein kühler Tag, doch in seinem Gesicht
glänzten kleine Schweißperlen. Es hatte schmalere Wangen und
Schläfen, dachte ich, und einen ganz anderen Mund; vielleicht war
die Ähnlichkeit doch nicht so ausgeprägt, wie ich dachte.
»Woher kennt Ihr mich?« fragte er und richtete sich
mit einer überlegenen Ausstrahlung auf, die unter anderen Umständen
extrem komisch gewirkt hätte.
»Alles, was ich von dir weiß, ist, daß dein Name
William ist. Habe ich recht?« Meine Hände ballten sich an meinen
Seiten, und ich hoffte, daß ich nicht recht hatte. Wenn er William
war, dann war das nicht alles, was ich über ihn wußte, aber
für den Anfang reichte es.
Seine Wangen liefen dunkelrot an, und sein Blick
wanderte suchend über mich. Sein Augenmerk war vorübergehend von
den Blutegeln abgelenkt, weil er in so vertrautem Tonfall von einer
Frau angesprochen wurde, die ihm - wie ich plötzlich begriff - mit
ihren über die Oberschenkel hochgezogenen Röcken wie eine zerzauste
Kräuterhexe vorkommen mußte. Entweder hatte er gute Manieren, oder
die Tatsache, daß mein Tonfall nicht zu meiner Erscheinung paßte,
mahnte ihn zur Vorsicht, denn er schluckte die spontane Erwiderung
herunter, die ihm auf den Lippen lag.
»Ja, das stimmt«, sagte er statt dessen kurz
angebunden. »William, Vicomte Ashness, neunter Graf von
Ellesmere.«
»Das alles?« sagte ich höflich. »Du meine Güte.«
Ich ergriff einen der Blutegel mit Daumen und Zeigefinger und zog
sanft daran. Er dehnte sich wie ein dickes Gummiband, weigerte sich
aber loszulassen. Die blasse Haut des Jungen wurde ebenfalls nach
vorn gezogen, und er machte ein leises Würgegeräusch.
»Aufhören!« sagte er. »Er zerreißt, Ihr zerreißt
ihn!«
»Könnte passieren«, gab ich zu. Ich stand auf,
schüttelte meine Röcke zu Boden und riß mich zusammen.
»Komm mit«, sagte ich und streckte ihm die Hand
hin. »Ich nehme dich mit zum Haus. Wenn ich ein bißchen Salz auf
sie streue, fallen sie sofort ab.«
Er wies die Hand zurück, erhob sich aber, wenn auch
etwas wackelig. Er sah sich um, als suchte er jemanden.
»Papa«, erklärte er, als er mein Gesicht sah. »Wir
haben uns verirrt, und er hat mir gesagt, ich sollte am Bach
warten, während er herausfindet, wie es weitergeht. Ich hätte nicht
gern, daß er einen Schrecken bekommt, wenn ich bei seiner Rückkehr
nicht hier bin.«
»Ich würde mir keine Sorgen machen«, sagte ich.
»Ich schätze, er hat das Haus inzwischen allein gefunden; es ist
nicht weit.« Eine sichere Prognose, da es weit und breit das
einzige Haus war und am Ende eines ausgetretenen Pfades lag. Lord
John hatte den Jungen eindeutig zurückgelassen, um selbst
vorzugehen, Jamie zu suchen - und ihn vorzuwarnen. Sehr umsichtig.
Meine Lippen spannten sich unwillkürlich an.
»Wohnen da die Frasers?« fragte der Junge. Er
machte einen vorsichtigen Schritt mit gespreizten Beinen, so daß
sie nicht aneinanderrieben. »Wir waren gekommen, um einen James
Fraser zu besuchen.«
»Ich bin Mrs. Fraser«, sagte ich und lächelte ihn
an. Deine Stiefmutter, hätte ich hinzufügen können - doch
ich unterließ es. »Komm.«
Er folgte mir durch die dicht stehenden Bäume zum
Haus und trat mir in seiner Hast fast auf die Fersen. Ich stolperte
wieder und wieder über Baumwurzeln und halbvergrabene Steine. Ich
achtete nicht darauf, wohin ich trat, denn ich bekämpfte das
überwältigende Bedürfnis, mich umzudrehen und ihn anzustarren. Wenn
William, Vicomte Ashness, neunter Graf von Ellesmere, auch
vielleicht nicht die allerletzte Person war, die ich jemals in den
abgelegenen Wäldern North Carolinas erwartet hätte, so war er doch
sicherlich die vorletzte - es war wohl noch etwas weniger
wahrscheinlich, daß König George vor meiner Haustür
auftauchte.
Was hatte er sich nur gedacht, dieser… dieser… ich
kramte in meinem Gedächtnis und versuchte, mich für eine von
mehreren diskreditierenden Bezeichnungen für Lord John Grey zu
entscheiden, gab dann aber meine Anstrengungen auf, um mir statt
dessen zu überlegen, was um Himmels willen ich tun sollte. Dann gab
ich das ebenfalls auf; es gab nichts, was ich tun
konnte.
William, Vicomte Ashness, neunter Graf von
Ellesmere. Oder jedenfalls dachte er, daß er das war. Und was
genau gedenkt Ihr zu tun, wandte ich mich still und brutal in
Gedanken an Lord John Grey, wenn er herausfindet, daß er in
Wirklichkeit der uneheliche Sohn eines begnadigten schottischen
Verbrechers ist? Und was noch viel wichtiger ist - was wird der
schottische Verbrecher tun? Oder empfinden?
Ich blieb stehen und brachte den Jungen zum
Stolpern, als er versuchte, den Zusammenstoß mit mir zu
vermeiden.
»Entschuldigung«, murmelte ich. »Dachte, ich hätte
eine Schlange gesehen.« Ich ging weiter, während der Gedanke, der
mich zum Stehen gebracht hatte, mir immer noch die Eingeweide
verknotete wie unreife Äpfel. War es möglich, daß Lord John den
Jungen mit Absicht hierhergebracht hatte, um seine Abstammung zu
enthüllen? Hatte er vor, ihn hierzulassen, bei Jamie - bei
uns?
So erschreckend ich diesen Gedanken fand, konnte
ich ihn doch nicht mit dem Mann in Verbindung bringen, den ich in
Jamaica kennengelernt hatte. Ich mochte gute Gründe haben, John
Grey nicht zu mögen - es ist schließlich immer etwas schwierig,
gegenüber einem Mann mit einer erklärten homosexuellen Leidenschaft
für den eigenen Ehemann wohlmeinende Wärme zu empfinden -,doch ich
mußte zugeben, daß ich keine Spur von Rücksichtslosigkeit oder
Grausamkeit in seinem Charakter gefunden hatte. Im Gegenteil, ich
hatte den Eindruck gehabt, daß er ein einfühlsamer, großherziger
und ehrenhafter Mann war - zumindest, bis ich von seinen
Gefühlsregungen gegenüber Jamie erfuhr.
Konnte es sein, daß etwas vorgefallen war? Eine
Bedrohung für den Jungen, die Lord John um seine Sicherheit bangen
ließ? Es konnte doch wohl niemand die Wahrheit über William
herausgefunden haben - niemand kannte sie, außer Lord John und
Jamie. Und ich natürlich, fügte ich nachträglich hinzu. Ohne die
offenkundige Ähnlichkeit - ich unterdrückte erneut den Drang, mich
umzudrehen und ihn anzustarren - gab es keinen Grund, warum jemand
Lunte riechen sollte.
Doch wenn man sie Seite an Seite sah - nun, ich
würde sie in Kürze
Seite an Seite sehen. Der Gedanke verursachte mir ein seltsames,
hohles Gefühl unter dem Brustbein, halb Furcht und halb Vorfreude.
War sie wirklich so stark wie ich dachte, die Ähnlichkeit?
Ich machte absichtlich einen kleinen Umweg durch
ein niedriges Hartriegelgebüsch, um eine Ausrede zu haben, mich
umzudrehen und auf ihn zu warten. Er kam hinter mir her und bückte
sich umständlich, um den Schuh mit der Silberschnalle aufzuheben,
der ihm hingefallen war.
Nein, dachte ich und beobachtete ihn unauffällig,
als er sich aufrichtete, das Gesicht vom Bücken errötet. Sie war
nicht so stark, wie ich zuerst gedacht hatte. Jamies Knochenbau war
angedeutet, doch es war noch nicht alles da - er hatte die Umrisse,
doch ihm fehlte noch die Substanz. Er würde sehr groß werden - das
war eindeutig -,aber zur Zeit hatte er ungefähr meine Größe,
schlaksig und dünn, mit sehr langen Gliedmaßen, die so schlank
waren, daß sie fast zart erschienen.
Außerdem war er viel dunkler als Jamie; sein Haar
schimmerte zwar rot in den Sonnenstrahlen, die durch die Zweige
fielen, doch es war von einem dunklen Kastanienrot, ganz und gar
nicht wie Jamies helles Rotgold, und seine Haut hatte sich in der
Sonne zu einem weichen Goldbraun verfärbt, anders als Jamies
halbverbrannter Bronzeton.
Doch er hatte die schrägstehenden Katzenaugen der
Frasers, und irgend etwas an der Haltung seines Kopfes, der Neigung
seiner schmalen Schultern erinnerte mich an -
Brianna. Es traf mich mit einem leichten Schock,
wie ein elektrischer Funke. Er ähnelte Jamie sehr, doch es waren
meine Erinnerungen an Brianna gewesen, die den spontanen
Wiedererkennungseffekt bewirkt hatten, als ich ihn sah. Er war nur
zehn Jahre jünger als sie, und mit seinen kindlichen Konturen
ähnelte sein Gesicht dem ihren viel mehr als Jamies.
Er war stehengeblieben, um eine lange Haarsträhne
aus einem widerspenstigen Hartriegelzweig zu befreien; jetzt holte
er mich ein, eine Augenbraue fragend hochgezogen.
»Ist es noch weit?« fragte er. Durch die
Anstrengung beim Gehen war die Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt,
doch er sah immer noch ein bißchen kränklich aus und hielt den
Blick von seinen Beinen abgewandt.
»Nein«, sagte ich. Ich deutete auf den
Kastanienhain. »Da drüben. Da; du kannst den Rauch aus dem
Schornstein sehen.«
Erwartete nicht darauf, daß ich ihn hinführte,
sondern machte sich
verbissen auf den Weg, so brannte er darauf, die Blutegel
loszuwerden.
Ich folgte ihm rasch, denn ich wollte nicht, daß er
vor mir am Blockhaus ankam. Ich war einer Mischung der
beunruhigendsten Gefühle ausgesetzt; zuallererst bangte ich um
Jamie, etwas danach kam Wut über Lord John Grey. Dann immense
Neugier. Und ganz auf dem Grund, so tief, daß ich fast vorgeben
konnte, daß er nicht da war, spürte ich einen scharfen Stich der
Sehnsucht nach meiner Tochter, deren Gesicht ich nie wiederzusehen
erwartet hatte.
Jamie und Lord John saßen auf der Bank neben der
Tür; beim Klang unserer Schritte erhob sich Jamie und blickte zum
Wald. Er hatte Zeit gehabt, sich vorzubereiten; sein Blick
schweifte beiläufig über den Jungen, während er sich an mich
wandte.
»Oh, Claire. Du hast also unseren anderen Besucher
gefunden. Ich hatte Ian losgeschickt, um dich zu suchen. Ich nehme
an, du erinnerst dich an Lord John?«
»Wie könnte ich ihn vergessen?« sagte ich und
schenkte Seiner Lordschaft ein besonders strahlendes Lächeln. Sein
Mund zuckte leicht, doch er blieb ernst, als er sich tief vor mir
verbeugte. Wie schaffte es ein Mann, nach mehreren Tagesritten und
Nächten im Wald immer noch so makellos auszusehen?
»Euer Diener, Mrs. Fraser.« Er sah den Jungen an
und runzelte leicht die Stirn über dessen halbbekleidete
Erscheinung. »Darf ich Euch meinen Stiefsohn vorstellen, Lord
Ellesmere? Und William, da ich sehe, daß du die Bekanntschaft
unserer liebenswürdigen Gastgeberin bereits gemacht hast, würdest
du auch unseren Gastgeber begrüßen, Hauptmann Fraser?«
Der Junge trat von einem Fuß auf den anderen und
tanzte fast auf den Zehen. Doch als er so angesprochen wurde,
verbeugte er sich ruckartig vor Jamie.
»Euer Diener, Hauptmann«, sagte er und warf mir
dann einen schmerzerfüllten Blick zu. Offensichtlich konnte er an
nichts anderes denken als daran, daß ihm Sekunde für Sekunde mehr
Blut ausgesaugt wurde.
»Bitte entschuldigt uns«, sagte ich höflich, nahm
den Jungen beim Arm, führte ihn in die Hütte und schloß unter den
erstaunten Gesichtern der Männer fest die Tür. William setzte sich
sofort auf den Hocker, auf den ich zeigte, und streckte zitternd
die Beine aus.
»Schnell!« sagte er. »Oh, bitte, bitte,
schnell!«
Es gab kein gemahlenes Salz; ich ergriff mein
Wurzelmesser und spaltete in rücksichtsloser Hast ein Stück vom
Block ab, warf es in
meinen Mörser und zertrümmerte es mit ein paar schnellen Schlägen
des Stößels in Klümpchen. Ich zerbröselte die Körner zwischen
meinen Fingern und bestreute die Blutegel dick mit Salz.
»Nicht sehr angenehm für die armen Blutegel«, sagte
ich, als ich sah, wie sich das erste Tier langsam zu einer Kugel
zusammenrollte. »Aber es funktioniert.« Der Blutegel ließ los und
purzelte von Williams Bein, auf ähnliche Weise von seinen Kameraden
gefolgt, die sich in Zeitlupe schmerzerfüllt auf dem Boden
wanden.
Ich sammelte die Tierchen auf und warf sie in das
Feuer. Dann kniete ich mich vor ihn und hielt taktvoll den Kopf
gesenkt, während er sein Gesicht unter Kontrolle brachte.
»Komm, ich kümmere mich um die Bißstellen.« Blut
lief ihm in kleinen Rinnsalen über die Beine; ich betupfte sie mit
einem sauberen Tuch und wusch die Wunden dann mit Essig und
Johanniskraut aus, um die Blutung zu stoppen.
Er gab einen tiefen, bebenden Seufzer der
Erleichterung von sich, als ich seine Schienbeine abtrocknete.
»Eigentlich habe ich keine Angst vor - vor Blut«, sagte er in einem
tapferen Tonfall, der es deutlich machte, daß er genau davor Angst
hatte. »Aber sie sind so scheußliche Kreaturen.«
»Eklige kleine Biester«, pflichtete ich ihm bei.
Ich stand auf, nahm ein sauberes Tuch, tauchte es ins Wasser und
wusch ihm ganz selbstverständlich das Gesicht. Ohne ihn zu fragen,
ergriff ich dann meine Bürste und kämmte ihm die Knoten aus den
Haaren.
Er machte ein völlig verblüfftes Gesicht, als ich
so vertraut mit ihm umging, doch eine anfängliche Versteifung
seiner Wirbelsäule war sein einziger Einwand, und als ich begann,
ihm das Haar zu frisieren, seufzte er erneut leise und ließ seine
Schultern ein wenig vornüberfallen.
Seine Haut strahlte eine angenehme, lebendige Wärme
aus, und meine Finger, immer noch kühl vom Bach, erwärmten sich
behaglich, als ich die weichen Strähnen seines seidigen
Kastanienhaars glättete. Es war sehr dicht und leicht gewellt. Er
hatte einen Wirbel auf dem Kopf, ein sanfter Strudel, der mir ein
leichtes Schwindelgefühl verursachte; Jamie hatte den gleichen
Wirbel an der gleichen Stelle.
»Ich habe mein Haarband verloren«, sagte er und
blickte sich unbestimmt um, als könnte ein solches aus dem
Brotkasten oder dem Tintenfaß auftauchen.
»Das macht nichts; ich leihe dir eins.« Ich flocht
sein Haar zu Ende und band es mit einem Stückchen gelbem Band
zusammen. Dabei empfand ich einen seltsamen
Beschützerinstinkt.
Ich hatte erst vor ein paar Jahren von seiner
Existenz erfahren, und wenn ich in der Zwischenzeit überhaupt an
ihn gedacht hatte, dann hatte ich höchstens leichte Neugier
gespürt, vermischt mit Ablehnung. Doch jetzt hatte etwas -
vielleicht seine Ähnlichkeit mit meinem eigenen Kind, seine
Ähnlichkeit mit Jamie, oder die schlichte Tatsache, daß ich mich
irgendwie um ihn gekümmert hatte - bei mir ein seltsames Gefühl
beinahe besitzergreifender Besorgnis für ihn geweckt.
Ich hörte das Gemurmel der Stimmen vor der Tür; das
Geräusch unvermittelten Gelächters, und meine Verärgerung über John
Grey kehrte mit einem Schlag zurück. Wie konnte er es wagen, Jamie
und William so in Gefahr zu bringen - und wozu? Warum war der
verdammte Kerl hier, in der Wildnis, die für einen Mann wie
ihn so unpassend war wie -
Die Tür ging auf und Jamie steckte den Kopf
herein.
»Alles in Ordnung hier?« fragte er. Seine Augen
ruhten auf dem Jungen, und sein Gesicht trug einen Ausdruck
höflicher Besorgnis, doch ich sah seine Hand, die zusammengeballt
auf dem Türrahmen ruhte, und die Linie der Anspannung, die sich von
seinen Beinen bis zu seinen Schultern zog. Er war gespannt wie ein
Flitzebogen; hätte ich ihn berührt, hätte er ein Geräusch wie eine
Saite gemacht.
»Völlig in Ordnung«, sagte ich freundlich. »Meinst
du, Lord John möchte eine Erfrischung zu sich nehmen?«
Ich setzte den Kessel mit Teewasser auf und holte -
mit einem kleinen Seufzer - meinen letzten Brotlaib hervor, den ich
eigentlich für die nächste Runde meiner Penizillinexperimente hatte
benutzen wollen. Da ich das Gefühl hatte, daß es durch den
vorliegenden Notfall gerechtfertigt war, holte ich auch die letzte
Flasche Brandy heraus. Dann stellte ich den Marmeladentopf auf den
Tisch und erklärte, daß sich die Butter zur Zeit unglücklicherweise
unter der Obhut des Schweins befand.
»Schwein?« fragte William und machte ein verwirrtes
Gesicht.
»In der Vorratskammer«, sagte ich und wies mit
einem Nicken auf die geschlossene Tür.
»Warum haltet Ihr -«, begann er, richtete sich dann
abrupt auf und schloß den Mund, da ihn offensichtlich sein
Stiefvater, der liebenswürdig über seinen Becher hinweglächelte,
unter dem Tisch getreten hatte.
»Es ist sehr freundlich von Euch, uns aufzunehmen,
Mrs. Fraser«, lenkte Lord John ab und warf seinem Stiefsohn einen
warnenden Blick zu. »Ich muß mich für unsere unerwartete Ankunft
entschuldigen;
ich hoffe, wir machen Euch keine allzu großen
Unannehmlichkeiten.«
»Überhaupt nicht«, sagte ich und fragte mich, wo
genau wir sie für die Nacht unterbringen sollten. William konnte
wohl mit Ian im Schuppen schlafen; es war auch nicht schlimmer, als
im Freien zu übernachten, wie er es in den vergangenen Tagen getan
hatte. Doch der Gedanke, ein Bett mit Jamie zu teilen, während Lord
John eine Armlänge weiter auf dem Rollbett lag…
An diesem prekären Punkt erschien Ian, der seinem
üblichen Instinkt für die Mahlzeiten folgte. Er wurde der Runde
vorgestellt, und das Durcheinander der Erklärungen und
gegenseitigen Verbeugungen auf engstem Raum war so groß, daß die
Teekanne umfiel.
Ich benutzte dieses kleine Unglück als Vorwand und
schickte Ian los, um William die Sehenswürdigkeiten von Wald und
Bach zu zeigen, und gab ihnen ein kleines Paket mit
Marmeladenbroten und eine Flasche Cidre mit. Von ihrer störenden
Gegenwart befreit, füllte ich die Becher mit Brandy, setzte mich
wieder hin und fixierte Lord John mit zusammengekniffenen
Augen.
»Was macht Ihr hier?« sagte ich ohne
Umschweife.
Er riß seine hellblauen Augen weit auf, senkte dann
seine ausgesprochen langen Wimpern und klimperte mich damit
an.
»Ich bin nicht in der Absicht hergekommen, Euren
Gatten zu verführen, das versichere ich Euch«, sagte er.
»John!« Jamies Faust schlug mit solcher Wucht auf
den Tisch, daß die Teetassen klapperten. Seine Wangen waren
dunkelrot angelaufen, und er verzog das Gesicht in verlegener
Wut.
»Entschuldigung.« Im Gegensatz zu ihm war Grey blaß
geworden, obwohl er ansonsten nicht sichtbar angegriffen war. Zum
ersten Mal kam mir der Gedanke, daß ihn dieses Zusammentreffen
möglicherweise genauso nervös machte wie Jamie.
»Entschuldigung, Ma’am«, sagte er und nickte mir
höflich zu. »Das war unverzeihlich. Ich würde Euch allerdings gern
darauf hinweisen, daß Ihr mich seit unserem Zusammentreffen anseht,
als hättet ihr mich vor einem berüchtigten Badehaus in der Gosse
gefunden.« Jetzt entflammte auch sein Gesicht in schwachem
Rot.
»Tut mir leid«, hauchte ich. »Sagt nächstes Mal
etwas eher Bescheid, dann bemühe ich mich um einen passenden
Gesichtsausdruck.«
Er stand plötzlich auf und ging zum Fenster, wo er
mit dem Rücken zum Zimmer stehenblieb, die Hände auf die
Fensterbank gestützt. Es gab eine zunehmend peinliche Pause. Ich
wollte Jamie nicht ansehen;
statt dessen gab ich großes Interesse an einer Flasche mit
Fenchelsamen vor, die auf dem Tisch stand.
»Meine Frau ist gestorben«, sagte er abrupt. »Auf
dem Schiff von England nach Jamaica. Sie war unterwegs, um dort zu
mir zu stoßen.«
»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte Jamie leise.
»Und der Junge ist bei ihr gewesen?«
»Ja.« Lord John drehte sich um und lehnte sich an
die Fensterbank, so daß die Frühlingssonne seinen ordentlich
frisierten Kopf umrahmte und ihn mit einem leuchtenden
Strahlenkranz umgab. »Willie hat… Isobel sehr nahegestanden. Sie
war die einzige Mutter, die er seit seiner Geburt hatte.«
Willies wirkliche Mutter, Geneva Dunsany, war bei
seiner Geburt gestorben; sein angeblicher Vater, der Graf von
Ellesmere, war am selben Tag durch einen Unfall ums Leben gekommen.
Soviel hatte Jamie mir bereits erzählt. Außerdem, daß Genevas
Schwester Isobel sich um den verwaisten Jungen gekümmert hatte und
daß Lord John Isobel geheiratet hatte, als Willie ungefähr sechs
war - zu der Zeit, als Jamie aus dem Dienst der Dunsanys
ausgeschieden war.
»Es tut mir sehr leid«, sagte ich aufrichtig und
meinte damit nicht nur den Tod seiner Frau.
Grey blickte mich an, und der Hauch eines Nickens
deutete an, daß er mich verstand.
»Meine Anstellung als Gouverneur war fast beendet;
ich hatte vorgehabt, mich vielleicht auf der Insel niederzulassen,
falls das Klima meiner Familie zusagte. So aber…« Er zuckte mit den
Achseln.
»Willie war untröstlich über den Verlust seiner
Mutter; es schien ratsam, ihn irgendwie abzulenken. Es bot sich
fast augenblicklich die Gelegenheit dazu; der Besitz meiner Frau
umfaßt ein großes Anwesen in Virginia, das sie William vermacht
hatte. Nach ihrem Tod erreichte mich eine Anfrage des Verwalters
der Plantage, der um Instruktionen bat.«
Er entfernte sich vom Fenster und kehrte langsam
zum Tisch zurück, wo wir saßen.
»Ich konnte kaum entscheiden, was ich mit dem
Anwesen tun sollte, ohne es gesehen zu haben und die Verhältnisse
dort einschätzen zu können. Also beschloß ich, mit Willie nach
Charleston zu segeln und von dort auf dem Landweg nach Virginia zu
reisen. Ich vertraute drauf, daß die ungewohnte Erfahrung William
von seinem Schmerz ablenken würde - und ich beobachte mit Freude,
daß das gelungen zu sein scheint. Er ist in den letzten Wochen viel
fröhlicher gewesen.«
Ich öffnete den Mund, um zu sagen, daß Fraser’s
Ridge so oder so nicht gerade an seinem Weg lag, überlegte es mir
dann aber anders.
Er schien meine Gedanken zu erraten, denn er
lächelte mich kurz ironisch an. Ich mußte mir in bezug auf mein
Gesicht wirklich etwas einfallen lassen, dachte ich. Daß Jamie
meine Gedanken las, war eine Sache und im großen und ganzen gar
nicht unangenehm. Daß völlig Fremde in meiner Gedankenwelt ein und
aus gingen, war etwas anderes.
»Wo ist die Plantage?« fragte Jamie mit etwas mehr
Takt, hinter dem aber dieselbe Andeutung steckte.
»Die nächste irgendwie geartete Stadt heißt
Lynchburg - am James River.« Lord John sah mich an, immer noch voll
Ironie, doch seine gute Laune war offensichtlich wiederhergestellt.
»Es war eigentlich nur ein Umweg von ein paar Tagen,
hierherzukommen, trotz der Abgelegenheit Eures Horstes.«
Er wandte seine Aufmerksamkeit Jamie zu, die Stirn
leicht gerunzelt.
»Ich habe Willie erzählt, daß du ein alter
Bekannter aus meiner Soldatenzeit bist - ich hoffe, du hast keine
Einwände gegen diese Lüge?«
Jamie schüttelte den Kopf, und sein Mundwinkel
verzog sich etwas nach oben. »Lüge, wie? Ich schätze, unter den
gegebenen Umständen kann ich kaum etwas dagegen haben, wie du mich
nennst. Und das zumindest stimmt ja schließlich.«
»Meinst du nicht, daß er sich an dich erinnert?«
fragte ich Jamie. Er war Reitknecht auf dem Anwesen von Willies
Familie gewesen, als Kriegsgefangener nach dem
Jakobitenaufstand.
Er zögerte, schüttelte dann aber den Kopf.
»Ich glaube nicht. Er war kaum sechs, als ich
Helwater verlassen habe; das ist für so einen Jungen ein halbes
Leben - und eine andere Welt. Und es gibt keinen Grund, warum er
sich an einen Reitknecht namens MacKenzie erinnern, geschweige denn
den Namen mit mir in Verbindung bringen sollte.«
Willie hatte Jamie nicht auf Anhieb erkannt, das
war sicher, doch schließlich war er zu sehr mit den Blutegeln
beschäftigt gewesen, um irgend jemand anderen zu beachten. Mir kam
ein Gedanke, und ich wandte mich an Lord John, der an einer
Schnupftabakdose herumnestelte, die er aus der Tasche gezogen
hatte.
»Sagt mir«, sagte ich, einer plötzlichen Eingebung
folgend. »Ich will Euren Schmerz nicht wieder aufwühlen - aber wißt
Ihr, woran Eure Frau gestorben ist?«
»Woran?« Bei dieser Frage machte er ein
erschrockenes Gesicht, riß sich aber sofort zusammen. »Sie ist an
der roten Ruhr gestorben, hat ihr Dienstmädchen gesagt.« Sein Mund
verzog sich etwas. »Es war… kein schöner Tod, glaube ich.« Rote
Ruhr, wie? Das war die Standardbezeichnung für alles mögliche von
Amöbenruhr bis hin zur Cholera.
»War ein Arzt dabei? War jemand an Bord, der sich
um sie gekümmert hat?«
»Ja«, sagte er ein wenig scharf. »Worauf wollt Ihr
hinaus, Ma’am?«
»Auf gar nichts», sagte ich. »Ich habe mich nur
gefragt, ob Willie vielleicht dort gesehen hat, wie jemand Blutegel
benutzt hat.«
In seinem Gesicht flackerte Verständnis auf.
»Oh, ich verstehe. Ich habe nicht daran gedacht
-«
An dieser Stelle bemerkte ich Ian, der sich im
Eingang herumdrückte und uns offensichtlich nur ungern unterbrach,
in dessen Blick jedoch ein deutliches Drängen lag.
»Wolltest du etwas, Ian?« fragte ich und unterbrach
Lord John.
Er schüttelte den Kopf und ließ sein braunes Haar
fliegen.
»Nein danke, Tante Claire. Es ist nur -« Er warf
Jamie einen hilflosen Blick zu. Ȁh, es tut mir leid, Onkel Jamie,
ich weiß, daß ich nicht hätte zulassen dürfen, daß er es getan hat,
aber -«
»Was?« Alarmiert von Ians Tonfall war Jamie bereits
auf den Beinen. »Was hast du gemacht?«
Der Junge verschränkte seine großen Hände
ineinander und knackte verlegen mit den Gelenken.
»Na ja, weißt du, Seine Lordschaft hat nach dem
Abort gefragt, also habe ich ihm von der Schlange erzählt und daß
er besser in den Wald gehen sollte. Das hat er auch getan, aber
dann wollte er die Schlange sehen, und… und…«
»Er ist doch nicht gebissen worden?« fragte Jamie
ängstlich. Lord John, der offensichtlich im Begriff gewesen war,
dasselbe zu fragen, warf ihm einen Blick zu.
»Oh, nein!« Ian machte ein überraschtes Gesicht.
»Anfangs konnten wir sie nicht sehen, weil es unten zu dunkel war.
Also haben wir die Bank hochgeklappt, um besseres Licht zu haben.
Dann konnten wir die Schlange gut sehen und haben ein bißchen mit
einem langen Ast nach ihr gestoßen, und sie hat um sich geschlagen,
genau wie es in dem Buch steht, aber es hat nicht so ausgesehen,
als wollte sie sich selber beißen. Und - und -« Er warf Lord John
einen Blick zu und schluckte hörbar.
»Es ist meine Schuld«, sagte er und richtete tapfer
die Schultern
auf, um die Schuld besser auf sich nehmen zu können. »Ich habe
erwähnt, daß ich schon anfangs daran gedacht habe, sie zu
erschießen, daß wir aber das Pulver nicht verschwenden wollten.
Also hat Seine Lordschaft gesagt, er würde Papas Pistole aus der
Satteltasche holen und das Biest sofort erledigen. Und dann
-«
»Ian«, sagte Jamie mit zusammengebissenen Zähnen.
»Hör sofort auf herumzuquasseln und sag mir geradeheraus, was du
mit dem Jungen gemacht hast. Du hast ihn nicht aus Versehen
angeschossen, hoffe ich?«
Bei diesem Seitenhieb auf seine Schießkünste machte
Ian ein beleidigtes Gesicht.
»Natürlich nicht!« sagte er.
Lord John hustete höflich und unterband damit
weitere gegenseitige Anschuldigungen.
»Vielleicht würdest du so gut sein, mir zu sagen,
wo sich mein Sohn zur Zeit befindet?«
Ian holte tief Luft und empfahl sichtbar seine
Seele dem Herrn.
»Er ist unten im Abort«, sagte er. »Hast du ein
Stück Seil, Onkel Jamie?«
Mit einem bewundernswert ökonomischen Aufwand an
Worten und Bewegungen gelangte Jamie in zwei Schritten an die Tür
und verschwand, dicht gefolgt von Lord John.
»Ist er mit der Schlange da drin?« fragte
ich und durchwühlte hastig den Wäschekorb nach irgend etwas, das
ich im Fall des Falles als Tourniquet benutzen konnte.
»Oh, nein, Tante Claire«, versicherte mir Ian. »Du
glaubst doch nicht, daß ich ihn allein gelassen hätte, wenn die
Schlange noch da wäre, oder? Vielleicht gehe ich besser helfen«,
fügte er hinzu und verschwand ebenfalls.
Ich eilte ihm nach und fand Jamie und Lord John,
die Schulter an Schulter im Eingang des Aborts ein Gespräch mit der
Tiefe führten. Als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um einen
Blick über Lord Johns Schulter zu werfen, sah ich das zerfaserte,
stumpfe Ende eines langen, schlanken Hickoryastes ein paar
Zentimeter über den Rand des rechteckigen Loches hinausragen. Ich
hielt den Atem an; Lord Ellesmeres Anstrengungen hatten den Inhalt
des Abortes aufgewühlt, und der Geruch war stark genug, um mir die
Nasenhaare wegzuätzen.
»Er sagt, er sei nicht verletzt«, versicherte mir
Jamie, indem er sich von dem Loch abwandte und sich eine Seilrolle
von seiner Schulter hob.
»Gut«, sagte ich. »Aber wo ist die Schlange?« Ich
blickte nervös in
das Häuschen, konnte aber nichts sehen außer den silbrigen
Zederbohlen und den dunklen Tiefen der Sickergrube.
»Da lang«, sagte Ian mit einer vagen Geste auf den
Pfad, den ich entlanggekommen war. »Der Junge bekam sie nicht vors
Ziel, also habe ich dem Biest’nen kleinen Stups mit dem Stock
verpaßt, und da ist es doch einfach auf mich losgegangen,
geradewegs den Ast hoch! Es hat mir einen solchen Schreck
eingejagt, daß ich losgebrüllt hab’ und mir der Ast hingefallen
ist, und ich bin an den Jungen gestoßen und - na ja, so ist es
passiert«, schloß er schwach.
Er schlich näher an die Grube, wobei er darauf
achtete, Jamies Blick auszuweichen, beugte sich vor und rief
befangen: »Hallo! Ich bin froh, daß ich dir nicht den Hals
gebrochen habe!«
Jamie warf ihm einen Blick zu, der ganz deutlich
besagte, daß, wenn hier ein Hals gebrochen wurde… enthielt sich
dann aber im Interesse einer prompten Befreiung Williams aus seiner
Oubliette weiterer Bemerkungen. Diese Prozedur wurde ohne weiteren
Zwischenfall durchgeführt und der Möchtegern-Schütze aus der Grube
gehoben, wobei er sich an den Strick klammerte wie einen Raupe an
ihren Faden.
Glücklicherweise war genug Jauche in der Grube
gewesen, um seinen Aufprall zu dämpfen. Seinem Aussehen nach war
der neunte Graf von Ellesmere mit dem Gesicht nach unten gelandet.
Lord John stand einen Moment lang auf dem Pfad, wischte sich mit
den Händen über seine Kniehosen und betrachtete das verkrustete
Objekt vor sich. Er rieb sich mit dem Handrücken über den Mund,
vielleicht, weil er versuchte, ein Lächeln zu verbergen, oder auch,
um seinen Geruchssinn zu dämpfen.
Dann begannen sich seine Schultern zu
schütteln.
»Was gibt’s Neues in der Unterwelt, Persephone?«
sagte er, unfähig, das bebende Gelächter in seiner Stimme zu
unterdrücken.
Ein Paar schrägstehender Augen strahlte in blauer
Mordlust aus der Schmutzmaske, die die Gesichtszüge Seiner
Lordschaft verbarg. Es war ein durch und durch Fraser-typischer
Ausdruck, und ich spürte, wie mich bei dem Anblick ein Schauer
durchlief. Ian fuhr neben mir plötzlich zusammen. Er blickte
schnell vom Grafen zu Jamie und zurück, fing dann meinen Blick auf,
und sein Gesicht wurde vollständig und unnatürlich
ausdruckslos.
Jamie sagte irgend etwas auf Griechisch, worauf
Lord John in derselben Sprache antwortete und beide Männer wie die
Verrückten loslachten. Ich richtete meinen Blick auf Jamie und gab
mir Mühe, Ian nicht zu beachten. Während seine Schultern noch vor
unterdrückter Schadenfreude bebten, war er so freundlich, mich
aufzuklären.
»Epicharmus«, erklärte er. »Wer am Orakel von
Delphi nach der Wahrheit suchte, der warf eine tote Python in die
Grube und verweilte dann und atmete ihre Verwesungsdämpfe
ein.«
Lord John deklamierte mit ausladender Gestik. »›Der
Geist himmelwärts, der Körper zur Erde.‹«
William atmete heftig durch die Nase aus, exakt auf
dieselbe Weise, wie Jamie es tat, wenn man seine Geduld auf eine
allzu harte Probe stellte. Ian zuckte neben mir zusammen. Lieber
Himmel, dachte ich, erneut aus der Fassung gebracht. Hat der Junge
denn nichts von seiner Mutter?
»Und hast du als Ergebnis deiner jüngsten
m-mystischen Erfahrung irgendwelche spirituellen Einsichten
erlangt, William?« fragte Lord John und machte einen mißlungenen
Versuch, seine Selbstkontrolle wiederzuerlangen. Er und Jamie waren
rot angelaufen vor Lachen, was meiner Meinung nach ihrer
nachlassenden Nervosität nicht minder zuzuschreiben war als dem
Brandy oder ihrer Ausgelassenheit.
Seine Lordschaft zog unter vernichtenden Blicken
sein Halstuch aus und schleuderte es mit einem Platschen auf den
Weg. Jetzt kicherte auch Ian nervös, denn er konnte sich nicht mehr
zusammenreißen. Meine Bauchmuskeln zitterten ebenfalls vor
Anspannung, doch ich konnte sehen, daß die freiliegenden
Hautstellen über Williams Kragen die Farbe der reifen Tomaten neben
dem Abort angenommen hatten. Da ich nur zu gut wußte, was
passierte, wenn ein Fraser diesen Grad der Weißglut erreichte,
hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, die Festivität zu
beenden.
»He-em«, sagte ich und räusperte mich. »Wenn die
Herren erlauben? Wenn ich auch in der griechischen Philosophie
nicht bewandert bin, so gibt es doch ein kleines Epigramm, das ich
auswendig kenne.«
Ich reichte William das Gefäß mit der Seife, das
ich anstatt eines Tourniquets mitgenommen hatte.
»Pindar«, sagte ich. »›Nichts geht über
Wasser.‹«
Unter dem Schlamm zeigte sich so etwas wie
Dankbarkeit. Seine Lordschaft verbeugte sich mit äußerster
Korrektheit vor mir, wandte sich dann um, warf Ian einen kalten
Blick zu und stampfte triefend durch das Gras zum Bach. Er schien
seine Schuhe verloren zu haben.
»Der arme Teufel«, sagte Ian mitleidig. »Es wird
Tage dauern, bis er den Gestank wieder los wird.«
»Zweifelsohne.« Lord Johns Lippen zuckten immer
noch, doch der Drang, griechische Lyrik zu deklamieren, schien ihn
verlassen zu haben und weniger abgehobenen Sorgen gewichen zu
sein.
»Übrigens, weißt du, was aus meiner Pistole
geworden ist? Derjenigen, welche Wiliam vor seinem Unglück benutzt
hat?«
»Oh.« Ian sah unangenehm berührt aus. Er wies mit
dem Kinn auf den Abort. »Ich… äh… also, ich fürchte sehr -«
»Ich verstehe.« Lord John rieb sich das makellos
rasierte Kinn.
Jamie fixierte Ian mit einem langen Blick.
»Äh«, sagte Ian und wich ein paar Schritte
zurück.
»Hol sie«, sagte Jamie in einem Tonfall, der keinen
Widerspruch zuließ.
»Aber -«, sagte Ian.
»Sofort«, sagte sein Onkel, und ließ den
schleimigen Strick vor seinen Füßen zu Boden fallen.
Ians Adamsapfel zuckte - ein einziges Mal. Er sah
mich mit großen Augen wie ein Kaninchen an.
»Zieh aber vorher deine Kleider aus«, sagte ich
hilfsbereit. »Du willst doch nicht, daß wir sie verbrennen müssen,
oder?«