59
Erpressung
Der Nachtstuhl war großartig, ein wunderbares, aus glattem Walnußholz geschnitztes Stück, das das Schöne mit dem Praktischen verband. Besonders praktisch in einer regnerischen, kalten Nacht wie dieser hier. Schläfrig fingerte sie im Dunkeln an seinem Deckel herum, von den Blitzen beleuchtet, deren Licht durchs Fenster fiel, dann setzte sie sich hin und seufzte vor Erleichterung, als der Druck in ihrer Blase nachließ.
Offenbar erfreut über den zusätzlichen Platz, der dadurch entstand, vollführte Osbert eine Reihe von trägen Purzelbäumen und ließ ihren Bauch unter dem weißen Flanellnachthemd geisterhafte Wellen schlagen. Sie stand langsam auf - sie tat jetzt fast alles langsam - und fühlte sich angenehm vom Schlaf betäubt.
Sie blieb neben ihrem zerwühlten Bett stehen und blickte hinaus auf die kahle Schönheit der Hügel und der regengepeitschten Bäume. Das Fensterglas fühlte sich eisig an, und die Wolken wälzten sich schwarzbäuchig und donnergrollend von den Bergen herab. Es schneite nicht, doch die Nacht war auch so scheußlich genug.
Und wie war es jetzt im Hochgebirge? Hatten sie ein Dorf erreicht, das ihnen Schutz bot? Hatten sie Roger gefunden? Sie erschauerte unwillkürlich, obwohl die Glut immer noch rot im Kamin glühte und es warm im Zimmer war. Sie spürte die unwiderstehliche Anziehungskraft ihres Bettes, das ihr Wärme versprach, und stärker noch den Lockruf der Träume, in denen sie vielleicht dem chronischen Nagen von Furcht und Schuld entkommen konnte.
Doch sie wandte sich zur Tür und zog ihren Umhang vom Haken an ihrer Rückseite. Der Drang der Schwangerschaft mochte es ja nötig machen, daß sie den Nachtstuhl in ihrem Zimmer benutzte, doch sie war fest entschlossen, daß kein Sklave jemals einen Nachttopf für sie tragen würde - nicht, solange sie noch laufen konnte. Sie hüllte sich fest in den Umhang, nahm die zugedeckte Zinnschale aus ihrem Fach und schritt leise durch den Korridor.
Es war sehr spät; alle Kerzen waren gelöscht, und der abgestandene Geruch heruntergebrannter Feuer hing im Treppenhaus, doch im Geflacker der Blitze konnte sie deutlich genug sehen, als sie die Treppe hinunterging. Die Küchentür war entriegelt, eine Unvorsichtigkeit, für die sie dem Koch inständig dankte; so brauchte sie keinen Lärm zu machen, indem sie einhändig mit dem schweren Riegel kämpfte.
Eiskalter Regen schlug ihr ins Gesicht und spritzte unter dem Saum ihres Nachthemdes hoch, so daß sie nach Luft schnappte. Doch als sie den ersten Kälteschock überwunden hatte, genoß sie es; die Gewalt des Wetters war aufregend, der Wind so stark, daß er ihren Umhang in Wogen aufblähte und sie sich zum ersten Mal seit Monaten leichtfüßig fühlte.
Sie wirbelte in einen Schwung bis zum Abort, spülte den Topf in dem Regenguß aus, der von dessen Traufen herabströmte, und blieb dann auf dem gepflasterten Hof stehen und ließ sich den frischen Wind in ihr Gesicht wehen, ließ ihre Wangen vom Regen peitschen. Sie war sich nicht sicher, ob es Buße oder Lobpreis war - ein Bedürfnis, die Unannehmlichkeiten zu teilen, mit denen es ihre Eltern wahrscheinlich zu tun hatten, oder mehr ein heidnischer Ritus -, das Bedürfnis, sich selbst zu verlieren, indem sie mit der wilden Macht der Elemente verschmolz. So oder so, es spielte keine Rolle; sie stellte sich mit Absicht unter den Wasserstrahl der Dachrinne und ließ das Wasser gegen ihre Kopfhaut hämmern, ihr Haar und ihre Schultern durchnässen.
Sie schnappte nach Luft, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar wie ein Hund und trat zurück - und hielt inne, weil ein plötzlich aufblitzendes Licht ihre Aufmerksamkeit erregte. Kein Blitz; ein beständiger Strahl, der einen Moment lang leuchtete und dann verschwand.
Die Tür eines der Sklavenquartiere öffnete sich für einen Moment und schloß sich dann wieder. Kam da jemand? Ja; sie konnte Schritte auf dem Kies hören und trat noch einen Schritt zurück in den Schatten - das letzte, was sie wollte, war zu erklären, was sie hier draußen trieb.
Ein Blitz zeigte ihn ihr deutlich im Vorübergehen, und sie erkannte ihn schlagartig. Lord John Grey, der in Hemdsärmeln und ohne Kopfbedeckung vorbeieilte; sein blondes Haar, das nicht zusammengebunden war, wehte im Wind, und offensichtlich bemerkte er weder die Kälte noch den Regen. Er ging vorbei, ohne sie zu entdecken, und verschwand unter dem Überhang der Küchenveranda.
Sie erkannte, daß sie in Gefahr war, ausgesperrt zu werden, und rannte hinter ihm her. Er war gerade dabei, die Tür zu schließen, als sie mit der Schulter dagegenprallte. Sie platzte in die Küche und stand triefend da, während Lord John sie ungläubig anglotzte.
»Schöne Nacht für einen Spaziergang«, sagte sie, halb außer Atem. »Nicht wahr?« Sie strich sich das feuchte Haar zurück, glitt mit einem höflichen Nicken an ihm vorbei, hinaus und die Treppe hinauf. Ihre nackten Füße hinterließen feuchte, halbmondförmige Abdrücke auf dem dunklen, polierten Holz. Sie lauschte, doch sie hörte keine Schritte hinter sich, als sie an ihrem Zimmer angelangte.
Sie ließ Umhang und Nachthemd vor dem Feuer zum Trocknen liegen und stieg nackt ins Bett, nachdem sie sich Haare und Gesicht abgetrocknet hatte. Sie zitterte, doch das Gefühl der Baumwollaken auf ihrer nackten Haut war wundervoll. Sie räkelte sich und wackelte mit den Zehen, dann drehte sie sich auf die Seite, rollte sich fest um ihren Schwerpunkt zusammen und ließ die beständige Wärme aus ihrem Inneren nach außen weichen, wo sie nach und nach ihre Haut erreichte und einen kleinen Kokon der Wärme um sie bildete.
Sie ließ die Szene auf dem Gartenweg noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen, und ganz allmählich nahmen die verschwommenen Gedanken, die ihr im Kopf herumgerattert waren, eine rationale Gestalt an.
Lord John begegnete ihr stets aufmerksam und respektvoll - oft belustigt oder bewundernd -, doch irgend etwas fehlte. Sie war nicht in der Lage gewesen, es zu identifizieren - lange Zeit war es ihr nicht einmal aufgefallen -, doch jetzt wußte sie, was es war, ohne jeden Zweifel.
Wie die meisten auffallend schönen Frauen war auch sie an die offene Bewunderung der Männer gewöhnt, und auch Lord John brachte ihr diese entgegen. Doch unter der Bewunderung lag für gewöhnlich eine tiefere Aufmerksamkeit, subtiler als Blick oder Geste, eine Vibration wie der entfernte Klang einer Glocke, eine instinktive Bestätigung, daß man sie als Frau wahrnahm. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie geglaubt, dies bei Lord John zu spüren, doch bei den darauffolgenden Begegnungen war es fortgewesen, und sie war zu dem Schluß gekommen, daß sie es anfangs irrtümlich angenommen hatte.
Sie hätte es schon eher erraten können, dachte sie; sie hatte diese innere Gleichgültigkeit schon einmal erlebt, beim Zimmergenossen eines beiläufigen Freundes. Andererseits verbarg Lord John es sehr gut; sie wäre nie darauf gekommen, wäre sie ihm nicht zufällig im Hof begegnet. Nein, sie brachte ihn nicht zum Klingen. Doch als er aus dem Dienstbotenquartier gekommen war, da hatte er gedröhnt wie eine Alarmglocke.
Sie fragte sich kurz, ob ihr Vater es wußte, verwarf die Möglichkeit dann aber wieder. Nach seinen Erfahrungen im Gefängnis von Wentworth konnte er unmöglich solch liebevolle Hochachtung, wie er sie für Lord John empfand, für einen Mann mit dessen Vorlieben hegen.
Sie drehte sich auf den Rücken. Die glänzende Baumwolle des Lakens glitt liebkosend über die nackte Haut ihrer Brüste und Oberschenkel. Sie bemerkte das Gefühl unbewußt, und als sich ihre Brustwarze versteifte, hob sie automatisch die Hand, um ihre Brust zu umfassen, spürte in der Erinnerung Rogers große, warme Hand - und eine unvermittelte Welle des Verlangens. Dann fühlte sie in der Erinnerung den plötzlichen Griff groberer Hände, die sie kniffen und rieben, und das Verlangen verwandelte sich augenblicklich in ohnmächtige Wut. Sie warf sich auf den Bauch, die Arme unter den Brüsten gekreuzt und das Gesicht in ihrem Kissen vergraben, die Beine zusammengeklemmt und die Zähne in sinnloser Selbstverteidigung zusammengebissen.
Das Baby war ein großer, unbequemer Kloß; inzwischen war es unmöglich geworden, so zu liegen. Mit einem leisen, halb ausgesprochenen Fluch drehte sie sich um und wälzte sich aus dem Bett, fort von den verräterischen, verführerischen Laken.
Sie ging nackt durch das halbdunkle Zimmer, stellte sich erneut ans Fenster und blickte hinaus auf den niederprasselnden Regen. Ihr Haar hing ihr feucht über den Rücken, und Kälte kam durch das Glas und überzog die weiße Haut auf ihren Armen, Beinen und ihrem Bauch mit einer Gänsehaut. Sie machte weder Anstalten, sich zu bedecken, noch zurück ins Bett zu gehen, sondern stand einfach nur da und blickte hinaus, eine Hand auf ihrem Kugelbauch, in dem es sanft zappelte.
Bald würde es zu spät sein. Schon als sie aufbrachen, hatte sie gewußt, daß es zu spät war - und ihre Mutter auch. Doch keine von ihnen hatte es der anderen eingestehen wollen; sie hatten beide so getan, als würde Roger rechtzeitig zurückkehren, als würde er mit ihr nach Hispaniola segeln, als würden sie den Rückweg durch die Steine finden - zusammen.
Sie legte ihre andere Hand auf das Glas; sogleich bildete sich ein Nebel aus Kondenswasser entlang der Umrisse ihrer Finger. Es war Anfang März; vielleicht blieben ihr noch drei Monate, vielleicht weniger. Die Reise zur Küste würde eine Woche dauern, vielleicht zwei. Doch kein Schiff würde im März die verräterischen Outer Banks riskieren. Anfang April, frühestens, bevor die Reise unternommen werden konnte. Wie lange bis zu den Westindischen Inseln? Zwei Wochen, drei?
Also Ende April. Und ein paar Tage, um ins Landesinnere zu gelangen, die Höhle zu finden; es würde langsam vorangehen, sich im achten Monat durch den Dschungel zu kämpfen. Und gefährlich sein, obwohl das eine relativ geringe Rolle spielte.
So könnte es geschehen, wenn Roger jetzt hier wäre. Doch das war er nicht. Vielleicht würde er auch nicht kommen, doch sie focht hart dagegen an, sich diese Möglichkeit auszumalen. Wenn sie nicht darüber nachdachte, auf wie viele Arten er sterben konnte, dann würde er auch nicht sterben; das war einer der Grundsätze ihres hartnäckigen Glaubens; die anderen lauteten, daß er noch nicht tot war und daß ihre Mutter zurückkommen würde, bevor das Kind geboren war. Was ihren Vater anging - wieder kochte ihre Wut hoch, wie immer, wenn sie an ihn dachte - ihn oder Bonnet - also gab sie sich Mühe, so wenig wie möglich an sie zu denken.
Sie betete natürlich, so fest sie konnte, doch Beten und Warten war nicht ihre Sache; sie war zum Handeln geboren. Hätte sie doch nur mit ihnen gehen können, um Roger zu suchen!
Doch in dieser Hinsicht hatte sie keine Wahl gehabt. Sie biß die Zähne zusammen und breitete ihre Hand flach über ihren Bauch. Sie hatte in vielen Dingen keine Wahl gehabt. Doch sie hatte die eine Wahl getroffen - ihr Kind zu behalten -, und jetzt würde sie mit den Konsequenzen leben müssen.
Sie fing an zu zittern. Abrupt wandte sie sich vom Anblick des Sturms ab und ging zum Feuer. Eine kleine Flammenzunge spielte über die geschwärzte Rückseite eines rotknisternden Scheites, und das Herz der Holzkohlen glühte rot und weiß.
Sie sank auf den Teppich vor dem Kamin und schloß die Augen, als die Hitze des Feuers wohlige Wellen über ihre kalte Haut aussandte, liebkosend wie das Streicheln einer Hand. Diesmal unterdrückte sie jeden Gedanken an Bonnet, verweigerte ihm den Einlaß in ihren Kopf und konzentrierte sich statt dessen mit aller Gewalt auf die wenigen kostbaren Erinnerungen, die sie an Roger hatte.
… leg deine Hand auf mein Herz. Sag mir, ob es stehenbleibt… Sie konnte ihn hören, halb atemlos, halb erstickt zwischen Lachen und Leidenschaft.
Woher zum Teufel weißt du das? Das rauhe Gefühl lockiger Haare unter ihren Handflächen, die glatten, harten Rundungen seiner Schultern, sein Pulsschlag an der Seite seines Halses, als sie ihn zu sich herunterzog und ihren Mund auf ihn legte, weil sie ihn am liebsten vor Verlangen gebissen hätte, ihn schmecken wollte, das Salz und den Staub seiner Haut atmen wollte.
Seine dunklen und geheimen Stellen, die sie nur vom Gefühl her kannte, an die sie sich als ein sanftes Gewicht erinnerte, das verletzlich in ihrer Handfläche herumrollte, komplexe Kurven und Vertiefungen, die sich zögernd ihren tastenden Fingerspitzen hingaben (Oh, Gott, hör nicht auf, aber vorsichtig, aye? Oh!), jene seltsame, faltige Seide, die sich spannte und glättete, aufsteigend ihre Hand füllte, still und wunderbar wie der Stengel einer nachtblühenden Pflanze, deren Blüte sich beim Zusehen öffnet.
Seine Sanftheit, als er sie berührte (Himmel, ich wünschte, ich könnte dein Gesicht sehen, damit ich weiß, wie es für dich ist, ob ich es richtig mache. Ist das gut, hier? Sag’s mir, Brianna, sprich mit mir…), als sie ihn erkundete, und dann der Moment, an dem sie ihn zu weit gedrängt hatte, ihr Mund auf seiner Brustwarze. Sie spürte noch einmal den erstaunlichen Sog der Kraft in ihm, als er jegliche Beherrschung aufgab und sie packte, sie hochhob, als wöge sie nichts, sie gegen das Stroh zurückrollte und sie nahm. Halb zögerte er, als er sich auf ihr frisch zerrissenes Häutchen besann, dann erfüllte er die Forderung ihrer Fingernägel in seinem Rücken, mit aller Kraft zu ihr zu kommen, drängte sie über die Furcht vor seinem Eindringen hinaus dazu, ihn aufzunehmen, ihn willkommen zu heißen, und schließlich zu einem Rausch, der genauso stark war wie der seine, während er die letzte Membran der Zurückhaltung zwischen ihnen zerriß und sie für immer in einer Flut aus Schweiß und Moschus und Blut und Samen verband.
Sie stöhnte laut auf, erschauerte und lag dann still, zu schwach, um auch nur ihre Hand wegzunehmen. Ihr Herz schlug ganz langsam. Ihr Bauch war gespannt wie eine Trommel, während die letzte der Zuckungen ihren geschwollenen Unterleib langsam wieder freigab. Eine Hälfte ihres Körpers glühte vor Hitze, die andere war kühl und dunkel.
Nach einer Weile rollte sie sich auf Hände und Knie und kroch vom Feuer fort. Sie hievte sich auf das Bett wie ein verwundetes Tier, lag halb betäubt da und ignorierte die kalten und heißen Luftströmungen, die über sie hinwegspielten.
Schließlich regte sie sich, zog eine Decke über sich und drehte sich zur Wand, die Hände schützend über ihrem Baby gekreuzt. Ja, es war zu spät. Sie mußte Empfindung und Sehnsucht beiseite schieben, zusammen mit Liebe und Wut. Sie mußte dem blinden Drängen ihres Körpers und ihrer Emotionen widerstehen. Es galt, Entscheidungen zu treffen.
 
Sie brauchte drei Tage, um sich von den Erfolgsaussichten ihres Plans zu überzeugen, ihre Skrupel zu überwinden und schließlich einen geeigneten Zeitpunkt und Ort ausfindig zu machen, an dem sie ihn allein antreffen konnte.
Am Dienstag kam schließlich ihre Gelegenheit. Jocasta hatte sich mit Duncan Innes und den Büchern ins Studierzimmer zurückgezogen, Ulysses war - nach einem kurzen, unergründlichen Blick auf die geschlossene Tür des Studierzimmers - in die Küche gegangen, um die Vorbereitungen für ein weiteres, üppiges Abendessen zu Ehren Seiner Lordschaft zu beaufsichtigen, und sie war Phaedre losgeworden, indem sie sie per Pferd nach Barra Meadows geschickt hatte, um ein Buch abzuholen, daß Jenny Ban Campbell ihr versprochen hatte.
Angetan mit einem frischen, blauen Kamelottkleid, das zu ihrer Augenfarbe paßte, und hämmernden Herzens hatte sie sich aufgemacht, um ihrem Opfer aufzulauern. Sie fand ihn in der Bibliothek, wo er an einer der Glastüren die Selbstbetrachtungen des Marc Aurel las, während die Morgensonne, die über seiner Schulter hereinströmte, sein glattes, helles Haar glänzen ließ wie Buttertoffee.
Er sah von seinem Buch auf, als sie hereinkam - ein Nilpferd hätte einen eleganteren Auftritt zustande gebracht, dachte sie aufgebracht, als sich ihr Rock durch ihre Nervosität an der Ecke eines Nippestischchens verfing -, dann legte er es graziös beiseite und sprang auf, um sich über ihre Hand zu beugen.
»Nein, ich möchte mich nicht hinsetzen, danke.« Sie schüttelte den Kopf, als er ihr einen Platz anbot. »Ich habe mich gefragt - also, ich habe mir gedacht, ich gehe spazieren. Möchtet Ihr mich begleiten?«
Die unteren Scheiben der Glastür waren von Frost überzogen, eine steife Brise heulte um das Haus, und innen gab es weiche Sessel, Brandy und ein loderndes Feuer. Doch Lord John war ein Gentleman. »Nichts, was ich lieber täte«, versicherte er ihr galant und ließ Marc Aurel im Stich, ohne ihm auch nur einen weiteren Blick zu schenken.
Es war ein heller Tag, wenn auch sehr kalt. In dicken Umhängen vermummt wandten sie sich zum Gemüsegarten, dessen hohe Mauern ihnen ein wenig Schutz vor dem Wind gewährten. Sie tauschten kurze, atemlose Bemerkungen über die Helligkeit des Tages aus, versicherten sich gegenseitig, daß sie nicht im mindesten froren, und gelangten so durch einen kleinen Torbogen in den ummauerten Kräutergarten. Brianna sah sich um; sie waren völlig allein, und sie würde jeden sehen können, der den Weg entlangkam. Am besten also keine Zeit verlieren.
»Ich habe Euch einen Vorschlag zu machen«, sagte sie.
»Ich bin mir sicher, daß jede Idee, die von Euch kommt, nur erfreulich sein kann, meine Liebe«, sagte er mit dem Hauch eines Lächelns.
»Na, ich weiß nicht«, sagte sie und holte tief Luft. »Aber hier ist sie. Ich will, daß Ihr mich heiratet.«
Er lächelte weiter und wartete offensichtlich auf die Pointe.
»Ich meine es ernst«, sagte sie.
Das Lächeln verschwand nicht ganz, doch es veränderte sich. Sie war sich nicht sicher, ob er über ihre Taktlosigkeit bestürzt war oder nur versuchte, nicht zu lachen, doch sie vermutete letzteres.
»Ich will nichts von Eurem Geld«, versicherte sie ihm. »Ich werde es Euch schriftlich geben. Und Ihr braucht auch nicht mit mir zusammenzuleben, obwohl es wahrscheinlich nicht dumm wäre, wenn ich mit Euch nach Virginia gehen würde, zumindest eine Zeitlang. Was ich für Euch tun könnte…« Sie zögerte, denn sie wußte daß ihr Beitrag zu diesem Handel der weniger zugkräftige war. »Ich bin kräftig, aber das spielt für Euch keine Rolle, da Ihr Dienstboten habt. Aber ich bin eine gute Verwalterin - ich kann Bücher führen, und ich glaube, ich weiß, wie man eine Plantage betreibt. Ich weiß, wie man Dinge baut. Ich könnte Euer Anwesen in Virginia verwalten, wenn Ihr in England seid. Und… Ihr habt einen kleinen Sohn, nicht wahr? Ich kümmere mich um ihn; ich würde ihm eine gute Mutter sein.«
Lord John war während dieses Vortrags abrupt auf dem Weg stehengeblieben. Jetzt lehnte er sich langsam mit dem Rücken an die Steinmauer und drehte die Augen mit einem stummen Gebet um Verständnis zum Himmel.
»Lieber Gott im Himmel«, sagte er. »Daß ich es noch erleben darf, ein solches Angebot zu hören!« Dann senkte er den Kopf und sah sie direkt und durchdringend an.
»Habt Ihr den Verstand verloren?«
»Nein«, sagte sie, während sie sich bemühte, die Fassung zu behalten. »Es ist doch ein absolut vernünftiger Vorschlag.«
»Ich habe ja schon davon gehört«, sagte er mit großer Vorsicht, wobei er ihren Bauch ins Auge faßte, »daß Frauen in anderen Umständen leicht… erregbar sind, als Folge ihres Zustandes. Ich gestehe jedoch, daß meine Erfahrungen furchtbar begrenzt sind, was… das heißt - vielleicht sollte ich Dr. Fentiman rufen lassen?«
Sie richtete sich zu voller Größe auf, legte eine Hand auf die Mauer und beugte sich zu ihm hinüber. Sie sah ganz bewußt auf ihn hinunter und setzte ihre Größe ein, um ihm zu drohen.
»Nein, das solltet Ihr nicht«, sagte sie in gemäßigtem Tonfall. »Hört mir zu, Lord John. Ich bin nicht verrückt, ich treibe keine Spielchen, und ich möchte Euch auch in keiner Weise zur Last fallen - aber ich meine es völlig ernst.«
Die Kälte hatte seine blasse Haut gerötet, und ein feuchter Tropfen glitzerte an seiner Nasenspitze. Er wischte ihn mit einer Falte seines Umhangs ab und betrachtete sie mit einem Ausdruck zwischen Interesse und Grauen. Immerhin hatte er aufgehört zu lachen.
Ihr war ein bißchen übel, doch sie würde es tun müssen. Sie hatte gehofft, daß es vermeidbar sein würde, doch es schien keine andere Möglichkeit zu geben.
»Wenn Ihr Euch nicht einverstanden erklärt, mich zu heiraten«, sagte sie, »dann stelle ich Euch bloß.«
»Dann tut Ihr was?« Seine übliche Maske der Weltläufigkeit war verschwunden, und Verwunderung und aufkeimender Argwohn waren an ihrer Stelle zurückgeblieben.
Sie trug Wollhandschuhe, doch ihre Finger fühlten sich gefroren an - genau wie alles andere, außer dem warmen Gewicht ihres schlafenden Kindes.
»Ich weiß, was Ihr gemacht habt - neulich nachts, in der Dienstbotenunterkunft. Ich sage es allen; meiner Tante, Mr. Campbell, dem Sheriff. Ich werde Briefe schreiben«, sagte sie, und ihre Lippen fühlten sich taub an, während sie ihre lächerliche Drohung aussprach. »An den Gouverneur, und den Gouverneur von Virginia. Man stellt Päderasten hier an den Pranger; Mr. Campbell hat es mir erzählt.«
Ein Stirnrunzeln zog seine Brauen zusammen; sie waren so hell, daß sie sich kaum von seiner Haut abhoben, wenn er in kräftigem Licht stand. Sie erinnerten sie an Lizzies.
»Hört bitte auf, so auf mich herabzusehen.«
Er ergriff ihr Handgelenk und setzte sie in Bewegung, fort vom Haus. Ihr kam der Gedanke, daß er sie vielleicht zum Fluß hinunterbringen wollte, außer Sichtweite, und versuchen wollte, sie zu ertränken. Sie hielt es für unwahrscheinlich, wehrte sich aber dennoch gegen die Richtung, in die er sie drängte, und wandte sich zu den rechtwinklig angelegten Pfaden des Gemüsegartens zurück.
Er erhob keinen Widerspruch, sondern ging mit ihr, auch wenn das bedeutete, geradewegs gegen den Wind zu marschieren. Er sagte nichts, bis sie eine weitere Wendung gemacht und eine windgeschützte Ecke neben dem Zwiebelbeet erreicht hatten.
»Ich bin fast versucht, Eurem empörenden Vorschlag zuzustimmen«, sagte er schließlich, und sein Mundwinkel zuckte - ob aus Wut oder vor Belustigung, das konnte sie nicht sagen.
»Eure Tante würde es mit Sicherheit freuen. Eure Mutter würde es empören. Und es würde Euch lehren, mit dem Feuer zu spielen, das versichere ich Euch.« Sie entdeckte einen Glanz in seinem Blick, der sie ruckartig an ihren Schlußfolgerungen über seine Vorlieben zweifeln ließ. Sie wich ein wenig vor ihm zurück.
»Oh. Ich hatte nicht bedacht - daß Ihr vielleicht… Männer und Frauen, meine ich.«
»Ich bin verheiratet gewesen«, erinnerte er sie mit triefendem Sarkasmus.
»Ja, aber ich dachte, das wäre vielleicht etwas Ähnliches gewesen wie das, was ich Euch vorschlage - nur eine Formsache, meine ich. Das hat mich überhaupt auf den Gedanken gebracht, als ich erst einmal erkannt hatte, daß Ihr -« Sie brach mit einer ungeduldigen Geste ab. »Wollt Ihr mir sagen, daß Ihr wirklich mit Männern und mit Frauen ins Bett geht?«
Er zog eine Augenbraue hoch.
»Würde das einen großen Unterschied für Eure Pläne bedeuten?«
»Tja…«, sagte sie unsicher. »Ja. Ja, das würde es. Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich den Vorschlag nicht gemacht.«
»›Vorschlag‹, sagt sie«, brummte er. »Öffentliche Denunziation? Der Pranger? Vorschlag
Das Blut brannte so heiß in ihren Wangen, daß es sie überraschte, die Luft um ihr Gesicht herum nicht verdampfen zu sehen.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich hätte es nicht getan. Ihr müßt mir glauben, ich hätte wirklich zu niemandem ein Wort gesagt. Es ist nur, als Ihr gelacht habt, da dachte ich - egal, es spielt keine Rolle. Wenn Ihr mit mir schlafen wolltet, dann könnte ich Euch nicht heiraten - es wäre nicht richtig.«
Er schloß die Augen ganz fest und hielt sie einen Augenblick lang zugekniffen. Dann öffnete er eines seiner hellblauen Augen und sah sie an.
»Warum nicht?« fragte er.
»Wegen Roger«, sagte sie und war erbost zu hören, wie ihre Stimme sich bei dem Namen überschlug. Und noch wütender darüber, daß sie spürte, wie ihr eine heiße Träne entwischte und über die Wange lief.
»Verdammt!« sagte sie. »Gottverdammt! Ich wollte nicht einmal an ihn denken
Sie wischte die Träne wütend fort und biß die Zähne zusammen.
»Vielleicht habt Ihr recht«, sagte sie. »Vielleicht liegt es an der Schwangerschaft. Ich weine andauernd ohne Grund.«
»Ich bezweifle sehr, daß es keinen Grund gibt«, sagte er trocken.
Sie holte tief Luft, und die kalte Luft höhlte ihr die Brust aus. Sie hatte also noch eine letzte Karte zu verspielen.
»Wenn Ihr Frauen begehrt… könnte ich nicht - ich meine, ich will nicht regelmäßig mit Euch schlafen. Und es würde mir nichts ausmachen, wenn Ihr mit jemand anderem schlaft - Mann oder Frau -«
»Oh, vielen Dank«, brummte er, doch sie ignorierte ihn und konzentrierte sich nur auf den Drang, alles herauszubringen.
»Aber ich verstehe, daß Ihr Euch vielleicht ein eigenes Kind wünscht. Es wäre nicht recht, wenn ich Euch davon abhalten würde, eins zu bekommen. Das kann ich Euch geben, glaube ich.« Sie sah an sich herunter, die Arme über ihrem Kugelbauch verschränkt.
»Alle sagen, ich bin zum Gebären gemacht«, fuhr sie unbeirrt fort, den Blick auf ihre Füße gerichtet. »Ich würde - aber nur, bis ich wieder schwanger würde. Das müßtet Ihr auch in den Vertrag setzen - Mr. Campbell könnte ihn aufsetzen.«
Lord John massierte sich die Stirn. Offensichtlich litt er an einer massiven Kopfschmerzattacke. Dann ließ er seine Hand sinken und faßte sie am Arm.
»Kommt und setzt Euch, Kind«, sagte er ruhig. »Am besten erzählt Ihr mir, was zum Teufel Ihr vorhabt.«
Sie holte tief und heftig Luft, um ihre Stimme zu kräftigen.
»Ich bin kein Kind«, sagte sie. Er blickte zu ihr hoch und schien seine Meinung über irgend etwas zu ändern.
»Nein, das seid Ihr nicht - Gott steh uns beiden bei. Aber bevor Ihr
Farquard Campbell mit Eurer Vorstellung von einem passenden Ehevertrag den Schreck seines Lebens einjagt, bitte ich Euch, Euch einen Augenblick zu mir zu setzen und die Gedankengänge Eures überaus bemerkenswerten Gehirns mit mir zu teilen.« Er schob sie durch den Torbogen in den Ziergarten, wo sie vom Haus aus nicht zu sehen sein würden.
Der Garten war kahl, aber gepflegt; die toten Stengel des vergangenen Jahres waren herausgezogen, die trockenen Stiele kleingehackt und als Mulch auf den Beeten verstreut worden. Nur das Rundbeet, das den trockenen Springbrunnen umgab, zeigte Lebenszeichen; grüne Krokusspitzen lugten wie winzige Rammböcke aus dem Boden hervor, leuchtend und unnachgiebig.
Sie setzten sich hin, doch sie konnte nicht stillsitzen. Nicht stillsitzen und ihn dabei ansehen. Er stand gemeinsam mit ihr auf und ging neben ihr her. Er berührte sie nicht, hielt aber mit ihr Schritt, während der Wind ihm die hellen Haarsträhnen ins Gesicht wehte, sagte kein Wort, hörte aber zu, hörte zu, während sie ihm fast alles erzählte.
»Also habe ich nachgedacht und nachgedacht«, endete sie verzweifelt. »Und es führt nirgendwohin. Versteht Ihr? Mutter und - und Pa, sie sind irgendwo da draußen -« Sie schwenkte den Arm in Richtung der fernen Berge. »Ihnen könnte alles mögliche zugestoßen sein. Und ich sitze hier, werde dicker und dicker, und es gibt nichts, was ich tun kann!«
Sie blickte zu ihm herunter und fuhr sich mit dem Rücken ihres Handschuhs unter der tropfenden Nase entlang.
»Ich weine nicht«, versicherte sie ihm, obwohl sie es doch tat.
»Natürlich nicht«, sagte er. Er ergriff ihre Hand und legte sie über seinen Arm.
»Ringel, Ringel, Rose«, murmelte er, den Blick auf das bunte Pflaster des Weges gerichtet, während sie den Brunnen umkreisten.
»Ja, Ringel, Ringel, Rose, Butter in die Dose«, pflichtete sie ihm bei. »Und in drei Monaten macht die Dose Peng! Ich muß irgend etwas tun«, schloß sie elend.
»Glaubt es oder nicht, in Eurem Fall tut Ihr etwas, wenn Ihr wartet, auch wenn ich zugebe, daß es nicht danach aussehen mag«, antwortete er trocken. »Warum wollt Ihr nicht abwarten, ob die Suche Eures Vaters erfolgreich ist? Liegt es daran, daß Euer Ehrgefühl es Euch nicht gestattet? Oder -«
»Nicht meine Ehre«, sagte sie. »Seine. Rogers. Er ist - er ist mir gefolgt. Er hat - alles aufgegeben - und er ist mir hinterhergereist, als ich hierherkam, um meinen Vater zu suchen. Ich wußte, daß er es tun würde, und so war es auch.«
»Wenn er das hier herausfindet«, sie zog eine Grimasse und legte eine Hand um ihren Kugelbauch, »dann wird er mich heiraten; er wird glauben, daß er das muß. Und das kann ich nicht zulassen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihn liebe. Ich will nicht, daß er mich aus Pflichtgefühl heiratet. Und ich -« Sie preßte ihre Lippen über dem Rest zusammen. »Es geht nicht«, schloß sie bestimmt. »Ich habe mich entschieden, und es geht nicht.«
Lord John zog seinen Umhang fester, als ein frischer Windstoß wie eine Rakete vom Fluß herangestoben kam. Es roch nach Eis und totem Laub, doch es lag ein Hauch von Frische darin; der Frühling war im Anmarsch.
»Ich verstehe«, sagte er. »Tja, ich stimme völlig mit Eurer Tante überein, daß Ihr einen Ehemann braucht. Aber warum ich?« Er zog seine bleiche Augenbraue hoch. »Liegt es an meinem Titel oder meinem Reichtum?«
»Keins von beidem. Es war, weil ich mir sicher war, daß Ihr keine Frauen mögt«, sagte sie und warf ihm einen dieser unverhüllten, blauen Blicke zu.
»Ich mag Frauen«, sagte er entnervt. »Ich bewundere und ehre sie, und ich hege beträchtliche Zuneigung für diverse Mitglieder des weiblichen Geschlechts - darunter auch Eure Mutter, auch wenn ich bezweifle, daß dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht. Doch ich suche kein Vergnügen in ihren Betten. Drücke ich mich deutlich genug aus?«
»Ja«, sagte sie, und die kleinen Linien zwischen ihren Augen verschwanden wie durch Zauberei. »Das dachte ich auch. Versteht Ihr, es wäre nicht recht von mir, Mr. MacNeill oder Barton McLachlan oder einen anderen dieser Männer zu heiraten, weil ich damit etwas versprechen würde, was ich ihnen nicht geben könnte. Aber ich will sie sowieso nicht, also gibt es keinen Grund, warum ich Euch nicht heiraten könnte.«
Er unterdrückte ein starkes Bedürfnis, seinen Kopf gegen die Mauer zu donnern.
»Aber sicher gibt es den.«
»Was denn?«
»Um nur den offensichtlichsten zu nennen, würde mir Euer Vater zweifellos den Hals brechen!«
»Warum denn das?« wollte sie stirnrunzelnd wissen. »Er hat Euch gern; er sagt, Ihr seid einer seiner besten Freunde.«
»Ich habe die Ehre, in seiner Hochachtung zu stehen«, sagte er kurz. »Allerdings würde diese Hochachtung sehr schnell aufhören zu existieren, wenn Jamie Fraser entdecken würde, daß seine Tochter einem abartigen Sodomiten als Gespielin und Zuchtstute dient.«
»Und wie sollte er das herausbekommen?« wollte sie wissen. »Ich würde es ihm nicht sagen.« Dann errötete sie, und als sie jetzt seinem empörten Blick begegnete, brach sie in Gelächter aus, in das er hilflos einfiel.
»Also, es tut mir leid, aber das habt Ihr gesagt«, japste sie schließlich, während sie sich hinsetzte und sich die tränenden Augen mit dem Saum ihres Umhangs trocknete.
»Oh, Himmel. Ja, das habe ich.« Abwesend strich er sich eine Haarsträhne aus dem Mund und wischte sich erneut die laufende Nase an seinem Ärmel ab. »Verdammt, warum habe ich kein Taschentuch? Ich habe es gesagt, weil es stimmt. Und was Euren Vater angeht, so ist er sich der Tatsache sehr wohl bewußt.«
»Ja?« Sie schien unverhältnismäßig überrascht zu sein. »Aber ich dachte, er würde niemals -«
Das Aufleuchten einer gelben Schürze unterbrach sie; eine der Küchenmägde befand sich in einem angrenzenden Garten. Kommentarlos stand Lord John auf und reichte ihr die Hand; sie erhob sich schwerfällig, und sie liefen auf die trockene, braune Kruste der Rasenfläche hinaus, von ihren aufgeblähten Umhängen wie von Segeln umweht.
Die Steinbank unter der Weide war um diese Jahreszeit ihres üblichen Charmes beraubt, doch immerhin war sie vor den eisigen Windstößen geschützt, die vom Fluß herauftobten. Lord John wartete, bis sie saß, setzte sich dann ebenfalls und nieste heftig. Sie öffnete ihren Umhang, nestelte im Ausschnitt ihres Kleides herum und brachte schließlich ein zerknittertes Taschentuch zum Vorschein, das sie ihm unter Entschuldigungen reichte.
Es war warm und roch nach ihr - ein verwirrender Geruch nach Mädchenhaut, mit Nelken und Lavendel gewürzt.
»Was Ihr gesagt habt, daß Ihr mich lehren wolltet, mit dem Feuer zu spielen«, sagte sie. »Was genau habt Ihr damit gemeint?«
»Nichts«, sagte er, doch jetzt war es an ihm zu erröten.
»Nichts, hm?« sagte sie und schenkte ihm den Hauch eines ironischen Lächelns. »Das war eine Drohung, wenn ich je eine gehört habe.«
Er seufzte und wischte sich noch einmal mit dem Taschentuch über das Gesicht.
»Ihr seid offen zu mir gewesen«, sagte er. »Bis zur Schmerzgrenze und weit darüber hinaus. Gut, ja, ich schätze, ich - nein, es war eine Drohung.« Er ergab sich mit einer kleinen Geste. »Ihr seht aus wie Euer Vater, versteht Ihr das nicht?«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an; offensichtlich sagten seine Worte ihr nichts. Dann flackerte die Erkenntnis auf und erwachte zu vollem Leben. Sie saß kerzengerade da und starrte zu ihm hinunter.
»Nicht Ihr - nicht Pa! Das würde er nicht tun!«
»Nein«, sagte Lord John sehr trocken. »Das würde er nicht tun. Obwohl Euer Erschrecken kaum ein Kompliment für mich ist. Und was diese Aussage auch immer wert ist, ich würde Eure Ähnlichkeit mit ihm unter keinen Umständen ausnutzen - das war eine ebenso leere Drohung wie die Eure, mich bloßzustellen.«
»Wo habt Ihr… meinen Vater kennengelernt?« fragte sie vorsichtig, und ihre eigenen Sorgen traten für einen Moment hinter ihre Neugier zurück.
»Im Gefängnis. Ihr wißt, daß er nach dem Aufstand eine Zeit im Gefängnis verbracht hat?«
Sie nickte mit einem leichten Stirnrunzeln.
»Ja. Gut. Lassen wir es einfach dabei, daß ich Gefühle besonderer Zuneigung für Jamie Fraser hege, und zwar schon seit Jahren.« Er schüttelte den Kopf und seufzte.
»Und jetzt kommt Ihr und bietet mir Euren unschuldigen Körper an, mit all seinen Anklängen an seinen Körper - und versprecht mir noch dazu ein Kind, das mein Blut mit dem seinen vermischen würde - und das alles, weil Eure Ehre nicht zuläßt, daß Ihr den Mann heiratet, den Ihr liebt, oder den Mann liebt, den Ihr heiratet.« Er brach ab und ließ den Kopf in seine Hände sinken.
»Kind, Ihr würdet einen Engel zum Weinen bringen, und ich bin weiß Gott kein Engel!«
»Meine Mutter findet aber, daß Ihr einer seid.«
Er blickte aufgeschreckt zu ihr hoch.
»Sie findet was
»Vielleicht würde sie nicht ganz soweit gehen«, verbesserte sie sich immer noch stirnrunzelnd. »Aber sie sagt, Ihr seid ein guter Mensch. Ich glaube, sie mag Euch, wenn auch etwas widerstrebend. Natürlich verstehe ich das jetzt; sie muß ja wissen - was Ihr… äh… empfindet…« Sie hustete und verbarg ihr Erröten in einer Falte ihres Umhangs.
»Teufel noch mal«, brummte er. »Oh, Tod und Teufel. Ich hätte niemals mit Euch ins Freie kommen sollen. Ja, das weiß sie. Obwohl ich mir ehrlich gesagt nicht sicher bin, warum sie mich mit Argwohn betrachtet. Es kann ja wohl nicht aus Eifersucht sein.«
Brianna schüttelte den Kopf und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum.
»Ich glaube, sie befürchtet, daß Ihr ihn irgendwie verletzen werdet. Sie hat Angst um ihn, versteht Ihr?«
Er blickte aufgeschreckt zu ihr hoch.
»Ihn verletzen? Wie? Glaubt sie, daß ich über ihn herfallen und entwürdigende Verwerflichkeiten an seiner Person begehen werde?«
Er sagte es scherzhaft, doch ein Flackern in ihren Augen ließ die Worte in seiner Kehle ersticken. Er umklammerte ihren Arm fester. Sie biß sich auf die Lippe, dann entfernte sie sanft seine Hand und legte sie auf sein Knie.
»Habt Ihr meinen Vater jemals ohne Hemd gesehen?«
»Meint Ihr die Narben auf seinem Rücken?«
Sie nickte.
Er trommelte unruhig mit den Fingern auf seine Knie, geräuschlos auf dem guten Wollstoff.
»Ja, das habe ich gesehen. Das war ich.«
Ihr Kopf fuhr zurück, die Augen weit aufgerissen. Ihre Nasenspitze war kirschrot, doch ansonsten war ihre Haut so bleich, daß ihr Haar und ihre Augenbrauen ihr das ganze Leben ausgesaugt zu haben schienen.
»Nicht alles«, sagte er und starrte auf ein Beet mit abgestorbenen Stockrosen. »Es war nicht das erste Mal, daß er ausgepeitscht wurde, was es um so schlimmer machte - daß er wußte, was er tat, als er es getan hat.«
»Was… tat?« fragte sie. Langsam änderte sie ihre Position auf der Bank, doch es sah nicht so aus, als ob sie sich ihm zuwandte, sondern vielmehr so, als ob sie in ihren Kleidern dahintrieb wie eine Wolke, die im Wind die Form ändert.
»Ich war der Befehlshaber im Gefängnis vom Ardsmuir; hat er Euch das erzählt? Nein, das habe ich mir gedacht.« Er machte eine ungeduldige Handbewegung, um sich das helle Haar zurückzustreichen, das ihm ins Gesicht peitschte.
»Er war ein Offizier, ein Gentleman. Der einzige Offizier dort. Er war der Sprecher der gefangenen Jakobiten. Wir haben in meinem Quartier zusammen zu Abend gegessen. Wir haben Schach gespielt, uns über Bücher unterhalten. Wir… sind Freunde geworden. Und… auch wieder nicht.«
Er verstummte.
Sie wich vor ihm zurück, und Abscheu lag in ihrem Blick.
»Ihr meint - Ihr habt ihn auspeitschen lassen, weil er nicht -«
»Nein, verdammt, das habe ich nicht!« Er schnappte nach dem Taschentuch und schrubbte wütend über seine Nase. Er schleuderte es zwischen ihnen auf die Sitzbank und funkelte sie an. »Wie könnt Ihr es wagen, eine solche Vermutung zu äußern!«
»Aber Ihr habt doch selbst gesagt, daß Ihr es getan habt!«
»Er hat es getan.«
»Man kann sich nicht selber auspeitschen.«
Er setzte zu einer Antwort an und prustete dann. Immer noch wütend zog er eine Augenbraue hoch, bekam seine Gefühle jedoch wieder unter Kontrolle.
»Was man nicht alles kann. Nach allem, was Ihr mir erzählt habt, tut Ihr genau das seit Monaten.«
»Wir sprechen aber nicht über mich.«
»Natürlich tun wir das!«
»Nein, tun wir nicht!« Sie beugte sich zu ihm herüber, die dichten Brauen zusammengezogen. »Was zum Teufel meint Ihr damit, er hat es getan?«
Der Wind blies ihm ins Gesicht. Seine Augen brannten und tränten davon, und er wandte den Blick ab.
»Was mache ich hier eigentlich?« murmelte er vor sich hin. »Ich muß wahnsinnig sein, mit Euch eine solche Unterredung zu führen!«
»Es ist mir egal, ob Ihr wahnsinnig seid oder nicht«, sagte sie und packte ihn beim Ärmel. »Ihr sagt mir jetzt, was geschehen ist!«
Er preßte die Lippen fest zusammen, und für einen Augenblick dachte sie, er würde es nicht tun. Doch er hatte schon zu viel gesagt, um jetzt noch aufzuhören, und er wußte es. Seine Schultern hoben und senkten sich unter seinem Umhang und fielen zusammen, als er sich in sein Schicksal ergab.
»Wir waren Freunde. Dann… hat er meine Gefühle für ihn entdeckt. Er beschloß, unsere Freundschaft zu beenden. Doch das reichte ihm nicht; er wünschte eine endgültige Trennung. Also führte er absichtlich eine Gelegenheit herbei, die so drastisch war, daß sie unsere Beziehung unwiderruflich verändern und jede Chance einer Freundschaft zwischen uns unterbinden mußte. Also hat er gelogen. Während einer Durchsuchung der Gefangenenquartiere behauptete er in aller Öffentlichkeit, ein Stück Tartanstoff, das man gefunden hatte, gehöre ihm. Der Besitz derartiger Dinge war damals gegen das Gesetz - in Schottland ist es immer noch so.«
Er holte tief Luft und atmete wieder aus. Er vermied es, sie anzusehen, sondern konzentrierte seinen Blick auf den Fransenrand der kahlen Bäume am anderen Flußufer, die sich nackt vor dem blassen Frühlingshimmel abzeichneten.
»Ich war der Gouverneur, und es war meine Aufgabe, dieses Gesetz durchzusetzen. Ich war gezwungen, ihn auspeitschen zu lassen. Und er wußte verdammt genau, daß ich das sein würde.«
Er legte den Kopf zurück und lehnte ihn an die gemeißelte Steinlehne der Bank. Seine Augen waren zum Schutz vor dem Wind geschlossen.
»Ich konnte ihm verzeihen, daß er mich nicht begehrte«, sagte er voll stiller Bitterkeit. »Aber ich konnte ihm nicht verzeihen, daß er mich zwang, ihn so zu mißbrauchen. Mich nicht nur zwang, ihm Schmerzen zuzufügen, sondern auch, ihn zu degradieren. Er konnte sich einfach nicht einfach nur weigern, mein Gefühl anzuerkennen; er mußte es vernichten. Es war zu viel.«
Auf der Oberfläche der Flut kochte Treibgut an ihnen vorbei; vom Sturm geknickte Zweige und Äste, eine zerbrochene Planke von der Außenhülle eines Bootes, das irgendwo flußaufwärts Schiffbruch erlitten hatte. Sie bedeckte seine Hand, die auf seinem Knie ruhte, mit der ihren. Sie war etwas größer als seine und warm, weil sie in ihrem schützenden Umhang gesteckt hatte.
»Er hat einen Grund gehabt. Es hat nicht an Euch gelegen. Doch das muß er Euch selbst erzählen, wenn er es will. Doch Ihr habt ihm verziehen«, sagte sie leise. »Warum?«
Jetzt richtete er sich auf und zuckte mit den Achseln, schob ihre Hand aber nicht fort.
»Ich mußte es.« Er sah sie an, sein Blick direkt und ruhig. »Ich habe ihn gehaßt, solange ich konnte. Aber dann wurde mir klar, daß, ihn zu lieben… daß das ein Teil von mir war, und zwar einer der besten Teile. Es spielte keine Rolle, daß er mich nicht lieben konnte, das hatte nichts damit zu tun. Aber wenn ich ihm nicht verzeihen konnte, dann konnte ich ihn auch nicht lieben und hatte diesen Teil von mir verloren. Und irgendwann habe ich festgestellt, daß ich ihn wiederhaben wollte.« Er lächelte schwach. »Ihr seht also, eigentlich war es pure Selbstsucht.«
Dann drückte er ihre Hand, stand auf und zog sie hoch.
»Kommt, meine Liebe. Wir werden beide hier festfrieren, wenn wir noch länger sitzenbleiben.«
Sie gingen zum Haus zurück, sprachen nicht, gingen aber dicht nebeneinander her, Arm in Arm. Als sie wieder die Gärten durchquerten, ergriff er abrupt das Wort.
»Ich glaube, daß Ihr recht habt. Mit jemandem zusammenzuleben, den man liebt, obwohl man weiß, daß er die Beziehung nur aus Pflichtgefühl duldet - nein, das würde ich auch nicht tun. Wenn es auf beiden Seiten nur mit praktischen Gründen und Respekt zu tun hat, dann ja; eine solche Ehe ist ehrenvoll. Solange beide Partner völlig aufrichtig sind«, sein Mund zuckte kurz, während er zum Dienstbotenquartier hinüberblickte, »braucht sich keiner zu schämen.«
Sie sah auf ihn herab und strich sich mit der freien Hand eine zerzauste, kupferne Haarsträhne aus den Augen.
»Dann nehmt Ihr meinen Antrag an?« Das hohle Gefühl in ihrer Brust fühlte sich gar nicht wie die Erleichterung an, mit der sie gerechnet hatte.
»Nein«, sagte er geradeheraus. »Ich mag Jamie Fraser verziehen haben, was er in der Vergangenheit getan hat - doch er würde mir niemals verzeihen, wenn ich Euch heiraten würde.« Er lächelte sie an und tätschelte die Hand, die in seiner Armbeuge steckte.
»Aber ich kann Euch zu einer Atempause von Euren Freiern und Eurer Tante verhelfen.« Er blickte auf das Haus, dessen Vorhänge reglos hinter den Scheiben hingen.
»Würdet Ihr annehmen, daß uns jemand beobachtet?«
»Ich würde sagen, Ihr könnt darauf wetten«, sagte sie ein wenig grimmig.
»Gut.« Er zog sich den Saphirring vom Finger, wandte sich ihr zu und ergriff ihre Hand. Er zog ihr den Handschuh aus und ließ ihr den Ring feierlich auf den kleinen Finger gleiten - den einzigen, auf den er paßte. Dann stellte er sich elegant auf die Zehenspitzen und küßte sie auf die Lippen. Ohne ihr Zeit zu lassen, sich von ihrer Überraschung zu erholen, umfaßte er ihre Hand und wandte sich erneut zum Haus. Sein Gesicht war ausdruckslos.
»Kommt, meine Liebe«, sagte er. »Wir wollen unsere Verlobung bekanntgeben.«
Der Ruf Der Trommel
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