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Rückkehr nach Fraser’s Ridge
Jocasta trennte sich nur ungern von ihrem jüngsten
Verwandten, doch wir waren schon sehr spät dran mit der
Frühjahrsaussaat, und unsere Niederlassung war furchtbar
vernachlässigt; wir mußten ohne Verzögerung auf den Berg
zurückkehren, und Brianna wollte nichts davon hören,
zurückzubleiben. Was auch gut so war, weil man Dynamit benötigt
hätte, um Jamie von seinem Enkelsohn zu trennen.
Lord John ging es wieder so gut, daß er reisen
konnte; er begleitete uns bis zur Great Buffalo Trail Road, wo er
Brianna und das Baby küßte, Jamie und - zu meinem Schrecken - mich
umarmte, bevor er sich nordwärts wandte, nach Virginia, zu
Willie.
»Ich vertraue darauf, daß Ihr gut auf sie aufpaßt«,
sagte er leise zu mir und wies kopfnickend auf den Wagen, wo sich
zwei leuchtende Köpfe in geteilter Faszination über das Bündel auf
Briannas Schoß beugten.
»Das könnt Ihr«, sagte ich und drückte ihm die
Hand. »Ich vertraue auch auf Euch.« Er hob meine Hand kurz an seine
Lippen, lächelte mich an und ritt fort, ohne sich noch einmal
umzublicken.
Eine Woche später rumpelten wir über die
grasüberwucherten Wagenspuren auf den Berghang, wo die wilden
Erdbeeren wuchsen, grün, weiß und rot, Beständigkeit und Mut, Süße
und Bitterkeit im Schatten der Bäume vermischt.
Das Blockhaus war schmutzig und vernachlässigt, die
Schuppen leer und mit toten Blättern gefüllt. Der Garten war ein
Gewirr aus vertrockneten, alten Stengeln und zufälligen
Schößlingen, die Pferdekoppel eine leere Umzäunung. Der Rohbau des
neuen Hauses stand als schwarzes Skelett vorwurfsvoll auf dem
Bergkamm. Das Ganze sah kaum bewohnbar aus, eine Ruine.
Ich hatte mich noch nie so gefreut, nach Hause zu
kommen.
Name, schrieb ich und hielt inne. Weiß
Gott, dachte ich. Sein Nachname stand ja noch zur Debatte; über
seinen Vornamen war noch nicht einmal nachgedacht worden.
Ich nannte ihn »mein Süßer« oder »Schätzchen«,
Lizzie nannte ihn »lieber Junge«, Jamie nannte ihn mit gälischer
Formalität entweder »Enkelsohn« oder »a Ruaidh«, den Roten -
seine schwarze Babywolle und die dunkle Haut waren einer flammenden
Röte gewichen, die es auch dem zufälligsten Betrachter klarmachte,
wer sein Großvater war -, wer auch immer sein Vater gewesen sein
mochte.
Brianna fand es nicht nötig, ihn irgendwie zu
bezeichnen; sie hatte ihn ständig bei sich und behütete ihn mit
einer Ausschließlichkeit, die keine Worte brauchte. Sie wollte ihm
keinen offiziellen Namen geben, sagte sie. Noch nicht.
»Wann denn?« hatte Lizzie gefragt, doch Brianna
antwortete nicht. Ich wußte, wann: wenn Roger kam.
»Und wenn er nicht kommt«, sagte Jamie unter vier
Augen zu mir, »dann nehme ich an, daß das arme Kind namenlos ins
Grab sinkt. Himmel, ist das Mädchen stur!«
»Sie vertraut Roger«, sagte ich ruhig. »Das
könntest du auch einmal versuchen.«
Er sah mich scharf an.
»Es gibt einen Unterschied zwischen Vertrauen und
Hoffnung, Sassenach, und das weißt du genausogut wie ich.«
»Na, dann versuch’s halt mit Hoffnung, ja?«
schnappte ich, drehte ihm den Rücken zu, tauchte meinen Kiel in die
Tinte und schüttelte ihn ausgiebig. Das kleine Fragezeichen hatte
einen Ausschlag am Po, der es - und damit alle anderen Bewohner des
Hauses - die ganze Nacht wachgehalten hatte. Ich konnte kaum aus
den Augen sehen und war geladen und nicht geneigt, irgendwelche
Anzeichen mangelnder Zuversicht zu dulden.
Jamie ging bedächtig um den Tisch herum, setzte
sich mir gegenüber und legte das Kinn auf seine gekreuzten Arme, so
daß ich gezwungen war, ihn anzusehen.
»Das würde ich ja«, sagte er, eine Spur von Humor
in den Augen. »Wenn ich mich entscheiden könnte, ob ich hoffen
soll, daß er kommt oder nicht.«
Ich lächelte, dann langte ich über den Tisch und
strich ihm als Zeichen der Vergebung mit dem gefiederten Ende
meines Federkiels über die Nase. Er kräuselte die Nase und nieste,
dann setzte er sich gerade hin und blickte auf das Papier.
»Was machst du da eigentlich, Sassenach?«
»Ich stelle Klein Gizmos Geburtsurkunde aus -
soweit ich kann«, fügte ich hinzu.
»Gizmo?« sagte er skeptisch. »Ist das ein
Heiligenname?«
»Ich glaube nicht, obwohl, man weiß ja nie, wo es
doch Leute gibt, die Pantaleon und Onophrius heißen. Oder
Ferreolus.«
»Ferreolus? Ich glaube, den kenne ich nicht.« Er
lehnte sich zurück, die Hände über dem Knie verschränkt.
»Einer meiner Lieblingsheiligen«, erzählte ich ihm,
während ich sorgfältig das Geburtsdatum und die Geburtszeit
einsetzte - selbst diese war nur geschätzt, armer Wurm. Es befanden
sich exakt zwei unstrittige Informationen auf dieser Geburtsurkunde
- das Datum und der Name der Ärztin, die ihn entbunden hatte.
»Ferreolus«, fuhr ich genußvoll fort, »ist der
Schutzpatron des kranken Geflügels. Ein christlicher Märtyrer. Er
war ein römischer Tribun und heimlicher Christ. Nach seiner
Entdeckung kettete man ihn in der Jauchegrube des Gefängnisses an,
wo er auf seinen Prozeß wartete - die Zellen müssen wohl voll
gewesen sein. Scheint ein ziemlicher Teufelskerl gewesen zu sein;
er entschlüpfte seinen Ketten und entkam durch die Kanalisation.
Aber sie haben ihn eingeholt, ihn zurückgeschleift und
geköpft.«
Jamie machte ein verständnisloses Gesicht.
»Und was hat das mit Hühnern zu tun?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Das mußt du
mit dem Vatikan ausmachen«, schlug ich ihm vor.
»Mmpfm. Aye, tja, ich selbst habe immer sehr für
St. Guignol geschwärmt.« Ich konnte das Glitzern in seinen Augen
sehen, doch ich konnte nicht widerstehen.
»Und wofür ist der zuständig?«
»Man ruft ihn gegen die Impotenz an.« Das Glitzern
wurde stärker. »Ich habe einmal in Brest vor seiner Statue
gestanden; man sagte, sie stünde schon seit tausend Jahren da. Sie
war eine Wunderstatue - sie hatte einen Schwanz wie ein Gewehrlauf,
und -«
»Einen was?«
»Na ja, es war nicht die Länge, die das Wunder
war«, sagte er und winkte mir, zu schweigen. »Oder nicht nur. In
der Stadt erzählt man sich, daß seit tausend Jahren die Leute
kleine Stückchen davon als Reliquien abschlagen und der Schwanz
immer noch so lang ist wie eh und je.« Er grinste mich an. »Man
sagt, ein Mann, der ein Stückchen von St. Guignol in der Tasche
hat, kann eine Nacht und einen Tag durchhalten, ohne müde zu
werden.«
»Nur nicht mit derselben Frau, schätze ich«, sagte
ich trocken.
»Man fragt sich aber doch, was er getan hat, um die
Heiligsprechung zu verdienen, oder?«
Er lachte.
»Jeder Mann, dessen Gebet erhört worden ist, könnte
dir das sagen, Sassenach.« Er schwenkte auf seinem Sitz herum und
blickte durch die offene Tür ins Freie. Brianna und Lizzie saßen im
Gras, von ihren Röcken wie Blüten umgeben, und sahen dem Baby zu,
das nackt auf einem alten Schultertuch auf dem Bauch lag mit einem
Hintern, der so rot war wie der eines Pavians.
Brianna Ellen, schrieb ich ordentlich, dann
hielt ich inne.
»Brianna Ellen Randall, was meinst du?« fragte ich.
»Oder Fraser? Oder beides?«
Er drehte sich nicht um, doch er zuckte ganz leicht
mit den Achseln.
»Spielt das eine Rolle?«
»Vielleicht.« Ich blies über die Seite und sah zu,
wie die glänzenden, schwarzen Buchstaben stumpf wurden, während die
Tinte trocknete. »Wenn Roger zurückkäme - ob er nun bleibt oder
nicht -, wenn er sich dazu entschließt, unseren kleinen Anonymus
anzuerkennen, dann wird er wohl MacKenzie heißen. Wenn nicht, dann
denke ich, daß das Baby den Namen seiner Mutter bekommt.«
Er schwieg einen Augenblick und sah den beiden
jungen Frauen zu. Sie hatten sich am Morgen die Haare im Bach
gewaschen; Lizzie kämmte gerade Briannas Mähne durch, und die
langen Strähnen schimmerten wie rote Seide in der
Sommersonne.
»Sie nennt sich Fraser«, sagte er leise. »Oder sie
hat es zumindest getan.«
Ich legte meinen Federkiel hin und langte über den
Tisch, um meine Hand auf seinen Arm zu legen.
»Sie hat dir verziehen«, sagte ich. »Das weißt du
genau.«
Seine Schultern bewegten sich; kein richtiges
Achselzucken, sondern der unbewußte Versuch, seine innere Spannung
etwas zu lösen.
»Fürs erste«, sagte er. »Aber wenn der Mann nicht
kommt?«
Ich zögerte. Er hatte völlig recht; Brianna hatte
ihm seinen ursprünglichen Fehler verziehen. Doch wenn Roger nicht
bald auftauchte, würde sie zwangsläufig Jamie die Schuld daran
geben - nicht ohne Grund, das mußte ich zugeben.
»Nimm beide«, sagte er abrupt. »Laß ihr die Wahl.«
Ich hatte nicht den Eindruck, daß er Nachnamen meinte.
»Er kommt schon noch«, sagte ich mit Bestimmtheit,
»und alles wird gut.«
Ich ergriff den Kiel und fügte nicht ganz lautlos
hinzu. »Hoffe ich.«
Er bückte sich, um zu trinken. Das Wasser plätscherte über
dunkelgrüne Felsen. Es war ein warmer Tag; Frühling diesmal, nicht
Herbst, doch das Moos unter seinen Füßen war unverändert
smaragdgrün.
Er wußte kaum noch, wie eine Rasierklinge aussah;
sein Bart war dicht, und sein Haar hing ihm über die Schultern
herab. Er hatte in der vergangenen Nacht im Bach gebadet, aber er
machte sich keine Illusionen über seine Erscheinung. Doch sie
kümmerte ihn auch nicht, redete er sich ein. Sein Aussehen spielte
keine Rolle.
Er wandte sich humpelnd auf den Weg zurück, wo er
sein Pferd stehengelassen hatte. Sein Fuß schmerzte, doch auch das
spielte keine Rolle.
Er ritt langsam über die Lichtung, auf der er Jamie
Fraser zum ersten Mal begegnet war. Die Blätter waren frisch und
grün, und in der Ferne konnte er die heiseren Rufe der Raben hören.
Nur die wilden Gräser regten sich zwischen den Bäumen. Er holte
tief Luft und spürte einen Stich der Erinnerung, ein zerbrochenes
Überbleibsel aus einem früheren Leben, einen Splitter so scharf wie
Glas.
Er wandte den Kopf des Pferdes zum Gipfel des
Berghanges und trieb es an, indem er es sanft mit seinem gesunden
Fuß anstieß. Bald. Er hatte keine Ahnung, wie man ihn empfangen
würde, doch das spielte keine Rolle.
Das einzige, was jetzt zählte, war die Tatsache,
daß er hier war.