9
Der Zweidrittelgeist
Der Fluß glänzte wie Öl, und das Wasser strömte
sanft und völlig glatt an uns vorbei. Eine einzelne Laterne hing
steuerbord am Bug. Ich hatte mich auf dem Vordeck auf einen Schemel
gesetzt und konnte von dort aus sehen, wie sich das Licht unten
Seite an Seite mit dem Schiff bewegte, weniger vom Wasser
reflektiert als darunter gefangen.
Der Mond war eine dünne Sichel und zog müde seine
Bahn über die Baumspitzen. Jenseits der dichten Bäume am Ufer
senkte sich der Boden in breiten, dunklen Streifen zu den
Reisplantagen und Tabakfeldern hin. Die Erde hatte die Tageshitze
aufgesaugt, und nun glühte sie mit unsichtbarer Energie im
Erdreich. Hinter den Kiefern und Gummibäumen schimmerten die
reichen, fruchtbaren Ebenen in schwarzer Hitze und vollzogen ihre
Alchemie aus Wasser und gespeicherter Sonne.
Schon die kleinste Bewegung hatte zur Folge, daß
einem der Schweiß ausbrach. Ich konnte die Luft anfassen, spürte
jede kleine Wärmewelle als Liebkosung auf Gesicht und Händen.
Es raschelte leise hinter mir in der Dunkelheit,
und ich griff nach oben, ohne mich umzudrehen. Jamies große Hand
schloß sich sanft um die meine, drückte sie und ließ sie los.
Selbst von dieser kurzen Berührung wurden meine Finger
schweißnaß.
Seufzend ließ er sich neben mir nieder und zupfte
an seinem Hemdkragen.
»Ich glaube nicht, daß ich ein einziges Mal Luft
eingeatmet habe, seit wir Georgia verlassen haben«, sagte er.
»Jedesmal, wenn ich Atem hole, glaube ich, ich ertrinke.«
Ich lachte und spürte, wie mir ein Rinnsal aus
Schweiß zwischen den Brüsten heruntersickerte.
»In Cross Creek ist es kühler; das sagen alle.« Ich
holte tief Luft, nur um zu beweisen, daß ich es konnte. »Aber
riecht es nicht wunderbar?« Die Dunkelheit gab die durchdringenden
Gerüche der Bäume und Pflanzen am Wasserrand frei, die sich mit dem
feuchten
Uferschlamm und dem sonnenwarmen Holz des Schiffsdecks
vermischten.
»Du hättest einen guten Hund abgegeben, Sassenach.«
Er lehnte sich mit einem Seufzer an die Kabinenwand. »Kein Wunder,
daß das Vieh dich so bewundert.«
Zehennägel klickten auf den Planken und verkündeten
Rollos Ankunft. Vorsichtig näherte er sich der Reling, blieb
mißtrauisch einen halben Meter davor stehen und ließ sich
umständlich auf Deck nieder. Er legte die Nase auf seine Pfoten und
seufzte tief. Rollos Abneigung gegen Schiffe war fast genausogroß
wie Jamies.
»Na du«, sagte ich. Ich hielt ihm meine Hand zum
Beschnüffeln hin und er ließ sich höflich dazu herab, mich seine
Ohren kratzen zu lassen. »Und wo ist dein Herrchen, hm?«
»In der Kabine; läßt sich neue Tricks beibringen,
mit denen man beim Kartenspiel betrügen kann«, sagte Jamie
ironisch. »Weiß Gott, was aus dem Jungen einmal wird; wenn er nicht
erschossen wird oder in einer Wirtschaft eins über den Schädel
bekommt, kommt er wahrscheinlich demnächst mit einem Emu nach
Hause, den er beim Pharo gewonnen hat.«
»In den Bergen wird es doch wohl weder Emus noch
Pharospiele geben, oder? Wo es keine richtigen Städte gibt, gibt es
doch sicher auch keine richtigen Wirtshäuser.«
»Ich glaube es kaum«, gab er zu. »Doch wenn ein
Mann vor die Hunde gehen soll, dann findet er auch einen Weg
dorthin, egal, wo man ihn absetzt.«
»Ich bin mir sicher, daß Ian nicht vor die Hunde
geht«, sagte ich beruhigend. »Er ist ein guter Junge.«
»Er ist ein Mann«, verbesserte Jamie. Er neigte
sein Ohr zur Kabine, aus der gedämpftes Lachen und gelegentlich
eine behäbige Obszönität ertönten. »Allerdings ein verdammt junger,
und dickköpfig dazu.« Er sah mich an, und im Laternenschein sah ich
ein reumütiges Lächeln.
»Wenn er noch ein kleiner Junge wäre, könnte ich
ihn im Zaum halten. Aber so -« Er zuckte die Achseln. »Er ist alt
genug, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und er
wird es mir nicht danken, wenn ich meine Nase da
hineinstecke.«
»Er hört immer auf dich«, protestierte ich.
»Mmpf. Warte nur, bis ich ihm etwas sage, was er
nicht hören will.« Er lehnte den Kopf an die Wand und schloß die
Augen. Schweiß glänzte auf seinen hohen Wangenknochen, und ein
kleines Rinnsal lief ihm den Hals hinunter.
Ich streckte einen Finger aus und schnippte den
kleinen Tropfen vorsichtig weg, bevor er sein Hemd erreichte.
»Seit zwei Monaten sagst du ihm, daß er nach
Schottland zurück muß; ich glaube nicht, daß er das hören
will.«
Jamie öffnete die Augen und betrachtete mich
zynisch.
»Ist er in Schottland?«
»Äh…«
»Mmpf«, sagte er und schloß die Augen wieder.
Ich saß eine Weile still da und tupfte mir mit
einer Rockfalte den Schweiß aus dem Gesicht. Der Fluß hatte sich
hier verengt; das eine Ufer war kaum mehr als drei Meter entfernt.
Ich hörte eine raschelnde Bewegung in den Büschen, und ein
glänzendes Augenpaar reflektierte das Licht unserer Laterne.
Rollo hob mit einem leisen Wuff! den Kopf
und stellte die Ohren wachsam auf. Jamie öffnete die Augen, blickte
zum Ufer und setzte sich dann abrupt auf.
»Himmel! Das ist die größte Ratte, die ich je
gesehen habe.«
Ich lachte.
»Das ist keine Ratte, das ist ein Opossum. Siehst
du die Jungen auf dem Rücken?«
Jamie und Rollo bedachten das Opossum mit
berechnenden Blikken und versuchten, sein Gewicht und seine
Geschwindigkeit abzuschätzen. Vier kleine Opossums starrten ernst
und mit zuckenden Nasen zurück. Ihre Mutter hielt das Boot
offensichtlich nicht für eine Bedrohung, trank ungerührt zu Ende,
drehte sich um und wackelte langsam in den Busch zurück. Die Spitze
ihres nackten, rosafarbenen Schwanzes verschwand, als der
Laternenschein verblaßte.
Beide Jäger gaben einen Seufzer von sich und
entspannten sich wieder.
»Myers hat gesagt, man kann sie gut essen«,
bemerkte Jamie sehnsüchtig. Ich seufzte meinerseits leise, griff in
meine Rocktasche und gab ihm einen Stoffbeutel.
»Was ist das?« Er lugte interessiert in den Beutel
und schüttelte sich dann die kleinen, braunen Kügelchen in die
Handfläche.
»Geröstete Erdnüsse«, sagte ich. »Sie wachsen hier,
unter der Erde. Ich habe einen Bauern gesehen, der sie als
Schweinefutter verkaufte, und die Wirtin hat ein paar davon für
mich geröstet. Man entfernt die Schale, bevor man sie ißt.« Ich
grinste ihn an und genoß das völlig neue Gefühl, ausnahmsweise
einmal mehr über unsere Umgebung zu wissen als er.
Er warf mir einen säuerlichen Blick zu, zerdrückte
eine Nußschale zwischen Daumen und Zeigefinger und brachte drei
Nüsse zum Vorschein.
»Ich bin unwissend, Sassenach«, sagte er. »Kein
Dummkopf. Das ist der Unterschied, aye?« Er steckte eine Nuß in den
Mund und biß zögernd zu. Seine skeptische Miene verwandelte sich in
erfreute Überraschung; er kaute mit wachsender Begeisterung und
schob sich die anderen Nüsse in den Mund.
»Schmeckt’s?« Ich lächelte und genoß sein
Vergnügen. »Ich mach’ dir Erdnußbutter fürs Brot, wenn wir uns
niedergelassen haben und ich meinen neuen Mörser ausgepackt
habe.«
Er lächelte zurück und schluckte, bevor er die
nächste Nuß knackte.
»Ich muß sagen, es ist zwar sumpfig hier, aber der
Boden ist gut. Ich habe noch nie so viele Dinge so mühelos wachsen
sehen.«
Er schob sich noch eine Nuß in den Mund.
»Ich habe nachgedacht, Sassenach«, sagte er und
blickte auf seine Handflächen hinab. »Was hältst du davon, uns hier
niederzulassen?«
Die Frage kam nicht völlig unerwartet. Ich hatte
gesehen, wie er die schwarzen Felder und ihre reiche Ernte mit den
glitzernden Augen des Ackerbauern sah, und mir war der sehnsüchtige
Ausdruck nicht entgangen, mit dem er die Pferde des Gouverneurs
bewunderte.
Wir konnten sowieso nicht sofort nach Schottland
zurückkehren. Ian ja, aber Jamie und ich nicht, dank gewisser
Komplikationen - von denen eine nicht unwesentliche den Namen
Laoghaire MacKenzie trug.
»Ich weiß nicht«, sagte ich langsam. »Auch wenn man
die Indianer und wilden Tiere einmal völlig außer acht läßt
-«
»Ooch, aber«, unterbrach er leicht verlegen. »Myers
hat mir gesagt, sie machen keine Schwierigkeiten, wenn man sich von
den Bergen fernhält.«
Ich unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, daß uns
das Angebot des Gouverneurs in die Nähe ebendieser Berge bringen
würde.
»Ja, aber du erinnerst dich doch noch an das, was
ich dir gesagt habe, oder? Über die Revolution? Jetzt haben wir
1767, und du hast die Gespräche am Tisch des Gouverneurs gehört.
Noch neun Jahre, Jamie, dann bricht hier die Hölle los.« Wir hatten
beide schon Kriege erlebt und nahmen diese Vorstellung nicht auf
die leichte Schulter. Ich legte eine Hand auf seinen Arm und zwang
ihn, mich anzusehen.
»Ich hatte schon einmal recht, das weißt du.« Ich
hatte gewußt, was auf dem Feld von Culloden geschehen würde, hatte
ihm das
Schicksal Charles Stuarts und seiner Männer vorausgesagt. Und
weder mein Wissen noch das seine hatte ausgereicht, um uns zu
retten. Zwanzig schmerzhafte Jahre der Trennung und der Geist einer
Tochter, die er niemals sehen würde, lagen hinter diesem
Wissen.
Er nickte langsam und hob die Hand, um meine Wange
zu berühren. Der sanfte Schein der kleinen Laterne über uns zog
scharenweise kleine Mücken an; von seiner Bewegung gestört,
wirbelten sie plötzlich auf.
»Aye, das stimmt«, sagte er leise. »Aber damals -
dachten wir, wir müßten die Dinge ändern. Oder es zumindest
versuchen. Aber hier -« Er drehte sich um und ließ den Arm über das
weite Land schweifen, das unsichtbar hinter den Bäumen lag. »Ich
würde es nicht für meine Sache halten«, sagte er schlicht. »Weder
dabei helfen noch es verhindern wollen.«
Ich verscheuchte die Mücken aus meinem
Gesicht.
»Es könnte unsere Sache werden, wenn wir
hier leben würden.«
Er rieb sich mit dem Finger unter der Unterlippe
entlang und überlegte. Sein Bart begann zu sprießen, ein Schimmer
roter Stoppeln mit Silberfunken im Schein der Laterne. Er war ein
hochgewachsener Mann, gutaussehend und kräftig, in den besten
Jahren, doch nicht länger jung, wie ich mit plötzlicher Dankbarkeit
begriff.
Highlandmänner wurden zum Kampf erzogen:
Highlandjungen wurden zu Männern, wenn sie ihre Schwerter erheben
und in den Krieg ziehen konnten. Jamie war nie leichtsinnig
gewesen, doch er hatte fast sein ganzes Leben als Krieger und
Soldat verbracht. Als junger Mann in den Zwanzigern hätte ihn
nichts von einem Kampf fernhalten können, ob es ihn etwas anging
oder nicht. Jetzt, in den Vierzigern, bremste der Verstand die
Leidenschaft - so hoffte ich zumindest.
Und es stimmte: Außer seiner Tante, die er nicht
kannte, hatte er keine Verwandten mehr, keine Verbindungen, die ihn
zur Einmischung zwingen konnten. Ob uns das Wissen um das, was auf
uns zukam, helfen konnte, uns aus dem Schlimmsten
herauszuhalten?
»Hier ist so viel Platz, Sassenach.« Er blickte
über den Bug des Schiffes hinaus auf das weite Land, verborgen in
der Dunkelheit. »Allein seit wir Georgia verlassen haben, haben wir
eine größere Strecke zurückgelegt als England und Schottland lang
sind.«
»Das stimmt«, gab ich zu. Selbst in den
entlegensten Bergen der Highlands hatte man in Schottland den
Kriegswirren nicht entkommen können. Hier war das anders; wenn wir
unseren Platz mit Bedacht aussuchten, konnten wir dem suchenden
Auge des Mars vielleicht entkommen.
Er legte den Kopf schief und sah zu mir hoch.
»Dich kann ich mir gut als Herrin einer Plantage
vorstellen, Sassenach. Wenn der Gouverneur einen Käufer für die
anderen Steine findet, habe ich wohl genug, um Laoghaire die Summe
zu schicken, die ich ihr versprochen habe, und uns trotzdem noch
ein gutes Grundstück zu kaufen - auf dem wir es zu Wohlstand
bringen können.«
Er nahm meine rechte Hand in die seine, und sein
Daumen strich sanft über meinen silbernen Ehering.
»Vielleicht werde ich dich eines Tages in Spitze
und Juwelen kleiden«, sagte er leise. »Das einzige, was ich dir je
habe geben können, war ein kleiner Silberring und die Perlen meiner
Mutter.«
»Du hast mir viel mehr als das gegeben«, sagte ich.
Ich legte meine Finger um seinen Daumen und drückte ihn. »Brianna
zum Beispiel.«
Er lächelte leise und sah auf das Deck.
»Aye, das ist wahr. Sie ist vielleicht der wahre
Grund - warum wir bleiben sollten, denke ich.«
Ich zog ihn an mich, und er lehnte den Kopf an mein
Knie.
»Das hier ist ihre Heimat, nicht wahr?« sagte er
leise. Er hob die Hand und deutete auf den Fluß, die Bäume und den
Himmel. »Sie wird hier geboren werden, hier leben.«
»Das stimmt«, sagte ich leise. Ich strich ihm über
das Haar und glättete die dichten Strähnen, die Briannas so sehr
ähnelten. »Das hier wird ihr Land.« Ihres auf eine Art, wie es
niemals das meine oder das seine sein würde, egal, wie lange wir
hier leben mochten.
Er nickte, und sein Bart kratzte sanft über meinen
Rock.
»Ich will nicht kämpfen oder dich irgendwie in
Gefahr bringen, Sassenach, aber wenn ich etwas tun kann… um daran
mitzubauen, vielleicht, es sicher zu machen, ein gutes Land für
sie…« Er zuckte mit den Achseln. »Es würde mir Freude machen«,
beendete er leise seinen Satz.
Wir saßen eine Weile still da, nah beieinander,
betrachteten den stumpfen Glanz des Wassers und sahen zu, wie der
versunkene Schein der Laterne langsam dahinzog.
»Ich habe ihr die Perlen dagelassen«, sagte ich
schließlich. »Es erschien mir richtig so, sie waren schließlich ein
Erbstück.« Ich zog meine beringte Hand über seine Lippen. »Und der
Ring ist alles, was ich brauche.«
Da nahm er meine Hände in die seinen und küßte sie
- die linke, die immer noch den goldenen Ring von meiner Ehe mit
Frank trug, dann die rechte mit Jamies Silberring.
»Da mi basia mille«, flüsterte er lächelnd.
Gib der Küsse mir tausend. Es war die Gravur in meinem Ring, ein
kurzes Zitat aus einem Liebesgedicht von Catull. Ich bückte mich
und küßte ihn wider.
»Dein mille altera«, sagte ich. Und noch
tausend mehr.
Es war beinahe Mitternacht, als wir am Rand eines
dichten Wäldchens zur Rast anlegten. Das Wetter hatte sich
geändert; es war immer noch heiß und schwül, doch es lag ein
Donnergrollen in der Luft, und es raschelte leise im Unterholz -
zufällige Luftströme oder das Getrappel der kleinen Nachtlebewesen,
die vor dem Sturm nach Hause hasteten.
Wir waren fast am Ende der Gezeitenwelle angelangt;
ab hier mußten wir segeln und staken, und Kapitän Freeman hoffte,
daß ihm die Schwingen des Sturms eine gute Brise brachten. Es würde
klug sein zu rasten, solange das noch möglich war. Ich kuschelte
mich in unser Nest am Heck, konnte aber nicht sofort einschlafen,
obwohl es spät war.
Nach Schätzung des Kapitäns würden wir Cross Creek
am nächsten Abend erreichen - mit Sicherheit am Tag danach. Ich war
überrascht festzustellen, wie ungeduldig ich unserer Ankunft
entgegensah; die zwei Monate, die wir unterwegs von der Hand in den
Mund gelebt hatten, hatten mich mit tiefer Sehnsucht nach einem
Zufluchtsort erfüllt, egal wie vorübergehend.
Da ich wußte, was man in den Highlands unter
Gastfreundschaft und Verwandtschaft verstand, hatte ich keine
Befürchtungen, was unsere Aufnahme betraf. Offensichtlich hielt
Jamie die Tatsache, daß er besagte Tante seit über vierzig Jahren
nicht gesehen hatte, nicht für einen Hinderungsgrund für unseren
herzlichen Empfang, und ich war mir völlig sicher, daß er recht
hatte. Gleichzeitig war ich überaus neugierig auf Jocasta
Cameron.
Die Geschwister MacKenzie waren zu fünft gewesen,
die Kinder des roten Jacob, der Castle Leoch erbaut hatte. Jamies
Mutter Ellen war die älteste gewesen, Jocasta die jüngste. Janet,
die dritte Schwester, und Ellen waren gestorben, lange bevor ich
Jamie kennenlernte, doch dafür hatte ich ihre beiden Brüder, Colum
und Dougal, sehr gut gekannt, und nach dem, was ich von ihnen
wußte, mußte ich mich einfach fragen, was für ein Mensch wohl die
letzte MacKenzie-Schwester von Leoch war.
Hochgewachsen, dachte ich mit einem Seitenblick auf
Jamie, der friedlich zusammengerollt neben mir auf Deck lag.
Hochgewachsen und vielleicht rothaarig. Sie waren alle groß -
selbst Colum, der das Opfer einer verkrüppelnden degenerativen
Erkrankung war, war anfangs
hochgewachsen gewesen -, hellhäutige Wikinger allesamt mit einer
rötlichen Glut im Haar, die von Jamies feurigem Rot bis hin zum
tiefen Kastanienbraun seines Onkels Dougal ging. Nur Colum war
wirklich dunkel gewesen.
Bei dem Gedanken an Colum und Dougal regte sich ein
plötzliches Gefühl der Beklommenheit. Colum war vor Culloden an
seiner Krankheit gestorben. Dougal war am Vorabend der Schlacht
gestorben - von Jamie umgebracht. Es war Notwehr gewesen - Jamie
hatte mich beschützt - und nur einer von vielen Toden in jenem
blutigen April. Dennoch fragte ich mich, ob Jamie sich schon
überlegt hatte, was er sagen würde, wenn wir die Begrüßung in River
Run hinter uns hatten und man beim Familienklatsch zu den Fragen
überging: »Oh, und wann hast du soundso zuletzt gesehen?«
Jamie seufzte und reckte sich im Schlaf. Er konnte
problemlos auf jeder Oberfläche schlafen, denn er war daran
gewöhnt, unter Bedingungen zu schlafen, die von feuchter Heide über
muffige Höhlen bis zu kalten Steinböden von Gefängniszellen
reichten. Das Holzdeck unter uns mußte ihm im Vergleich dazu durch
und durch komfortabel erscheinen.
Ich war weder so flexibel noch so abgehärtet wie
er, doch nach und nach überwältigte mich die Müdigkeit, und selbst
die Neugier auf unsere Zukunft konnte mich nicht mehr
wachhalten.
Ich erwachte verwirrt. Es war immer noch dunkel.
Überall um mich herum erscholl Lärm, Geschrei und Gebell, und das
Deck unter mir erzitterte von den Vibrationen stampfender Füße. Ich
fuhr hoch und hatte das dumpfe Gefühl, mich auf einem Segelschiff
zu befinden, das von Piraten geentert worden war.
Dann klärte sich mein Verstand und mit ihm meine
vernebelte Sicht, und ich stellte fest, daß wir tatsächlich von
Piraten geentert worden waren. Fremde Stimmen brüllten Flüche, und
Stiefeltritte hallten auf dem Deck wider. Jamie war fort.
Ich erhob mich auf alle viere, ohne mich um meine
Kleider oder sonst etwas zu kümmern. Es war kurz vor der Dämmerung;
es war zwar noch dunkel, aber doch schon so hell, daß die Kabine
sich als dunklerer Fleck vor dem Himmel abzeichnete. Ich richtete
mich unter Schwierigkeiten auf, indem ich mich auf das Kabinendach
stützte, und wurde fast von den Körpern umgeworfen, die plötzlich
darüber hinweggeflogen kamen.
Ich nahm ein verschwommenes Durcheinander von Fell
und weißen Gesichtern wahr, hörte einen Schrei, einen Schuß und
einen entsetzlichen Aufprall, und dann hockte Ian mit aschgrauem
Gesicht
auf dem Deck über Rollos schnaufendem Körper. Ein Unbekannter
rappelte sich zerzaust und ohne Kopfbedeckung auf die Füße.
»Verdammt. Er hat mich fast erwischt.« Dies hatte
den Piraten aus der Fassung gebracht, und mit zitternder Hand
machte er sich an der Ersatzpistole an seinem Gürtel zu schaffen.
Er zielte damit auf den Hund, das Gesicht zu einem häßlichen
Schielen verzogen.
»Nimm das, du Arschbeißer!«
Ein größerer Mann erschien aus dem Nichts und
schlug mit der Hand die Pistole herunter, bevor der Feuerstein
zuschnappen konnte.
»Verschwende deinen Schuß nicht, du Dummkopf.« Er
deutete auf Eutroclus und Kapitän Freeman, die gerade zu mir
gedrängt wurden, letzterer unter wortreichen Wutausbrüchen. »Wie
willst du sie denn mit einem leeren Schießeisen in Schach
halten?«
Der kleinere Mann warf Rollo einen giftigen Blick
zu, richtete die Pistole aber auf Freemans Taille.
Rollo gab merkwürdige Geräusche von sich, ein
tiefes Grollen, vermischt mit jaulenden Schmerzenslauten, und unter
seinem zuckenden Körper sah ich einen feuchten, dunklen Flecken auf
den Planken. Ian war tief über ihn gebeugt, und seine Hände
streichelten hilflos Rollos Kopf. Er blickte auf, und auf seinen
feuchten Wangen glitzerten Tränen.
»Hilf ihm, Tante Claire«, sagte er. »Bitte hilf
ihm.«
Ich setzte mich impulsiv in Bewegung, doch der
hochgewachsene Mann trat einen Schritt vor und streckte den Arm
aus, um mich aufzuhalten.
»Ich will dem Hund helfen«, sagte ich.
»Was?« sagte der kleine Pirat empört.
Der hochgewachsene Mann war maskiert - sie waren
alle maskiert, stellte ich fest, als sich meine Augen an das
Zwielicht anpaßten. Wie viele waren es? Es war wegen seiner Maske
schwer zu sagen, aber ich hatte den deutlichen Eindruck, daß der
hochgewachsene Mann lächelte. Er antwortete nicht, doch ein kurzer
Ruck seiner Pistole erteilte mir die Erlaubnis.
»Hallo, alter Junge«, sagte ich leise und kniete
neben dem Hund nieder. »Nicht beißen, braver Hund. Wo ist er
verletzt, weißt du das, Ian?«
Ian schüttelte schniefend den Kopf.
»Auf seiner Unterseite; ich kriege ihn nicht dazu,
sich umzudrehen.«
Ich hatte ebenfalls nicht vor, den riesigen Körper
des Hundes herumzuhieven. Ich tastete nach dem Puls an seinem Hals,
doch meine
Finger versanken in Rollos dichtem Pelz und suchten vergebens.
Einer Eingebung folgend, hob ich statt dessen sein Vorderbein hoch
und tastete es der Länge nach ab, bis meine Finger die Höhlung
erreichten, wo das Bein in den Körper überging.
Und da war er auch; ein regelmäßiger Puls, der
beruhigend unter meinen Fingern schlug. Aus Gewohnheit begann ich
zu zählen, gab es aber schnell auf, da ich keine Ahnung von der
normalen Pulsfrequenz eines Hundes hatte. Doch er ging regelmäßig -
kein Flattern, keine Arrhythmie, keine Schwäche. Das war ein sehr
gutes Zeichen.
Ein weiteres gutes Zeichen war, daß Rollo das
Bewußtsein nicht verloren hatte; das lange Bein, das ich mir unter
den Ellbogen geklemmt hatte, war gespannt wie ein Sprungfeder,
anstatt schlaff vor Schock herunterzubaumeln. Der Hund gab einen
langen, gellenden Laut von sich, irgendwo zwischen Jaulen und
Heulen, dann begann er, mit den Klauen zu scharren, und entzog mir
sein Bein während er versuchte, sich aufzurichten.
»Ich glaube nicht, daß es schlimm ist, Ian«, sagte
ich erleichtert. »Sieh mal, er dreht sich um.«
Rollo stand schwankend auf. Er schüttelte heftig
den Kopf, wobei sein struppiges Fell von Kopf bis Fuß zuckte, und
ein Schauer von Blutstropfen ging prasselnd auf das Deck nieder.
Die großen, gelben Augen fixierten den kleinen Mann mit einem
Blick, den auch der Dümmste noch verstand.
»Da! Haltet ihn fest, sonst erschieß ich ihn, ich
schwör’s!« Panik und Entsetzen schwangen in der Stimme des Piraten
mit, während die Mündung der Pistole unsicher zwischen der kleinen
Gefangenengruppe und Rollos zähnefletschender Miene hin und her
schwankte.
Ian, der hektisch sein Hemd geöffnet hatte, riß es
sich vom Leib und warf es Rollo über den Kopf, um den Hund
vorübergehend auszuschalten. Dieser schüttelte wie verrückt den
Kopf und grollte in seiner Falle. Blutflecken erschienen auf dem
gelben Leinen - doch jetzt konnte ich sehen, daß sie von einem
kleinen Kratzer an der Schulter des Hundes kamen; offensichtlich
hatte das Geschoß ihn nur gestreift.
Ian umklammerte ihn entschlossen, zwang Rollo auf
die Hinterbeine und brummte dem eingewickelten Hundekopf Befehle
zu.
»Wie viele an Bord?« Die scharfen Augen des
größeren Mannes richteten sich auf Kapitän Freeman, dessen Mund so
fest zusammengepreßt war, daß er nur noch wie eine Naht im grauen
Pelz eines Gesichts aussah, dann auf mich.
Ich erkannte ihn, erkannte seine Stimme. Er mußt es
an meinem
Gesicht gesehen haben, denn er hielt einen Moment inne, ruckte
dann mit dem Kopf und ließ das Tuch vor seinem Gesicht
fallen.
»Wie viele?« fragte Stephen Bonnet noch
einmal.
»Sechs«, sagte ich. Es gab keinen Grund, nicht zu
antworten; ich sah Fergus mit erhobenen Händen am Ufer, während ein
dritter Pirat ihn mit erhobener Pistole zum Schiff dirigierte;
Jamie war neben mir aus der Dunkelheit aufgetaucht und machte ein
grimmiges Gesicht.
»Mr. Fraser«, sagte Bonnet liebenswürdig bei seinem
Anblick. »Was für ein Vergnügen, unsere Bekanntschaft zu vertiefen.
Aber hattet Ihr nicht noch einen weiteren Begleiter, Sir? Den
einarmigen Herrn?«
»Nicht hier«, erwiderte Jamie kurz.
»Ich gehe nachsehen«, brummte der kleine Pirat und
wandte sich zum Gehen, doch Bonnet bremste ihn mit einer
Handbewegung.
»Also, du willst doch nicht das Wort eines Herrn
wie Mr. Fraser anzweifeln? Nein, du paßt auf diese feinen
Herrschaften hier auf, ich werde mich umsehen.« Er nickte seinem
Begleiter zu und verschwand.
Die Sorge um Rollo hatte mich kurzfristig von dem
Lärm am anderen Ende des Bootes abgelenkt. Aus der Kabine erklangen
Geräusche der Zerstörung. Mir fiel meine Medizinkiste ein, und ich
sprang auf die Füße.
»He! Wo wollt Ihr hin? Halt! Ich schieße!« In der
Stimme des Piraten klang Entschlossenheit mit, aber auch
Unsicherheit. Anstatt stehenzubleiben und mich zu ihm umzudrehen,
duckte ich mich in die Kabine, wo ich auf einen vierten Piraten
prallte, der in der Tat in meiner Medizinkiste herumwühlte.
Durch die Kollision stolperte ich zunächst
rückwärts, doch dann ergriff ich mit einem Schrei der Empörung
seinen Arm. Er hatte achtlos Schachteln und Fläschchen geöffnet,
den Inhalt ausgeschüttet und sie zu Boden geworfen; ein
Durcheinander von Flaschen, viele davon zerbrochen, lag zwischen
den verstreuten Überbleibseln von Dr. Rawlings’
Arzneisammlung.
»Wage es ja nicht, die anzufassen!« sagte
ich, riß das nächstbeste Fläschchen aus der Kiste, zog den Korken
heraus und schleuderte ihm den Inhalt ins Gesicht.
Wie die meisten von Rawlings’ Mixturen enthielt er
einen hohen Anteil an Alkohol. Er schnappte nach Luft, als ihn die
Flüssigkeit traf, und taumelte mit tränenden Augen rückwärts.
Das nutzte ich aus, indem ich eine Steingutflasche
aus dem Scherbenhaufen ergriff und ihm damit auf den Kopf schlug.
Sie landete mit
einem höchst zufriedenstellenden Geräusch, doch ich hatte nicht
fest genug zugeschlagen. Er stolperte, blieb aber auf den Beinen
und griff schwankend nach mir.
Ich holte zum nächsten Schlag aus, doch jemand
ergriff von hinten mit eiserner Faust mein Handgelenk.
»Mit Verlaub, meine liebe Mrs. Fraser«, sagte eine
vertraute irische Stimme höflich. »Aber ich kann es wirklich nicht
zulassen, daß Ihr ihm den Schädel einschlagt. Es stimmt zwar, er
ist nicht besonders dekorativ, aber er braucht ihn noch als
Hutständer.«
»Verfluchtes Miststück! Sie hat mich
geschlagen!« Der Mann, den ich geschlagen hatte, hielt sich
mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf.
Bonnet zerrte mich an Deck und hielt meinen Arm
schmerzhaft hinter dem Rücken verdreht. Es war jetzt fast hell, der
Fluß glänzte wie eine Silberplatte. Ich starrte unsere Angreifer
durchdringend an, denn ich wollte sie erkennen, wenn ich sie
wiedertraf, maskiert oder unmaskiert.
Unglücklicherweise erlaubte die Dämmerung auch den
Piraten bessere Sicht. Der Mann, den ich geschlagen hatte und der
mir das sehr übelzunehmen schien, nahm meine Hand und drehte an
meinem Ring.
»Hier, gib mir den!«
Ich entriß ihm meine Hand und setzte an, ihn zu
ohrfeigen, wurde aber durch ein bedeutsames Husten aus Bonnets
Richtung daran gehindert. Er hatte sich neben Ian gestellt und
hielt dem Jungen die Pistole im Abstand von zwei Zentimetern an das
linke Ohr.
»Gebt sie ihm lieber, Mrs. Fraser«, sagte er
höflich. »Ich fürchte, Mr. Roberts bedarf der Kompensation für den
Schaden, den Ihr ihm zugefügt habt.«
Ich zog mir den Goldring vom Finger, und meine
Hände zitterten vor Furcht und Wut. Der Silberring ließ sich
schwieriger entfernen; er blieb an meinem Fingerknöchel stecken,
als wollte er sich nicht von mir trennen. Beide Ringe waren feucht
und schlüpfrig vom Schweiß, und das Metall fühlte sich wärmer an
als meine plötzlich kalten Finger.
»Her damit.« Der Mann stieß mir grob gegen die
Schulter und hielt mir dann seine breite, schmierige Handfläche
entgegen. Ich steckte die Hand aus, widerstrebend, die Finger um
die Ringe geschlossen - und dann schlug ich mir in einem
unreflektierten Impuls die Hand vor den Mund.
Mein Kopf prallte mit einem Knall gegen die
Kabinenwand, als der
Mann mich zurückstieß. Seine rauhen Finger stachen in meine Wangen
und stocherten in meinem Mund herum, wo sie unsanft nach den Ringen
suchten. Ich wand mich und schluckte; mein Mund füllte sich mit
Speichel und Silbergeschmack, der sowohl vom Metall der Ringe als
auch von Blut hätte stammen können…
Ich biß zu, und er riß mit einem Schrei die Hand
zurück. Dabei mußte mir einer der Ringe aus dem Mund geflogen sein,
denn ich hörte irgendwo ein schwaches, metallisches Ping,
dann würgte und schluckte ich, und der zweite Ring rutschte mir in
die Kehle, hart und rund.
»Miststück! Ich schlitz’ dir die verdammte Kehle
auf! Du fährst ohne deine Ringe zur Hölle, du verschlagenes Biest!«
Ich sah das wutverzerrte Gesicht des Mannes und dann das Aufblitzen
einer blanken Messerklinge. Dann traf mich ein harter Schlag und
warf mich um, und ich fand mich, flachgedrückt von Jamies Körper,
auf Deck liegend wieder.
Ich war zu überrumpelt, um mich zu bewegen, obwohl
ich mich sowieso nicht hätte bewegen können. Jamies Brust war gegen
meinen Hinterkopf gedrückt und quetschte mein Gesicht auf das Deck.
Ich hörte Schreie und Verwirrung, gedämpft von den feuchten
Leinenfalten um meinen Kopf. Es gab einen dumpfen Schlag, und Jamie
fuhr zusammen und stöhnte.
O, Gott, sie haben auf ihn eingestochen!
dachte ich, vor Schreck wie gelähmt. Ein weiterer dumpfer Schlag
und ein lauteres Stöhnen kündeten allerdings nur von einem Tritt in
die Rippen. Jamie bewegte sich nicht; er preßte sich nur fester
gegen das Deck und drückte mich flach wie einen
Sandwichbelag.
»Laß das! Roberts! Ich habe gesagt, laß ihn!«
ertönte Bonnets Stimme, autoritär und scharf genug, um den
dämpfenden Stoff zu durchdringen.
»Aber sie -«, begann Roberts, doch sein nörgelndes
Gejammer endete abrupt in einem scharfen, kräftigen
Klatschen.
»Erhebt euch, Mr. Fraser. Eure Frau ist sicher -
nicht, daß sie das verdient hätte.« In Bonnets heiserem Bariton
schwangen Belustigung und Verärgerung mit.
Jamie erhob sich langsam von mir, und ich setzte
mich auf. Von dem Schlag auf den Kopf war mir schwindelig und ein
bißchen übel. Stephen Bonnet stand da, sah auf mich herab und
betrachtete mich mit einer Spur von Abscheu, als wäre ich ein
räudiges Fell, das man ihm zum Kauf angeboten hatte. Neben ihm
starrte mich Roberts böse an und betupfte eine Blutspur an seinem
Haaransatz.
Schließlich kniff Bonnet die Augen zusammen und
richtete den Blick auf Jamie, der wieder auf den Beinen war.
»Eine Närrin«, sagte Bonnet kalt, »aber das stört
Euch wohl nicht.« Er nickte und ließ ein schwaches Lächeln sehen.
»Ich bin dankbar für die Gelegenheit, Euch meine Schulden
zurückzuzahlen, Sir. Ein Leben für ein Leben, wie die Bibel
sagt.«
»Zurückzahlen?« sagte Ian aufgebracht. »Nach allem,
was wir für Euch getan haben, plündert Ihr uns aus, legt Hand an
meine Tante und meinen Hund und besitzt dann die Unverfrorenheit,
von Rückzahlung zu sprechen?«
Bonnet fixierte Ian. Seine Augen waren grün, grün
wie abgehäutete Trauben. Er hatte ein tiefes Grübchen in der einen
Wange, als hätte Gott bei seiner Erschaffung einen Daumenabdruck
dort hinterlassen, doch seine Augen waren so kalt wie Flußwasser in
der Morgendämmerung.
»Na, du bist wohl nicht besonders bibelfest, was,
Junge?« Bonnet schüttelte tadelnd den Kopf und schnalzte mit der
Zunge. »Wem ein tugendsam Weib beschert ist, die ist viel edler
denn Rubine und die köstlichsten Perlen.«
Er öffnete die Hand, immer noch lächelnd, und der
Schein der Laterne brach sich in drei Edelsteinen: Einem Smaragd,
einem Saphir und dem dunklen Feuer eines schwarzen Diamanten. »Ich
bin sicher, daß Mr. Fraser meiner Meinung ist, nicht wahr, Sir?« Er
ließ die Hand in seinen Rock gleiten und zog sie leer wieder
hervor.
»Und schließlich«, sagte er und ließ seine kalten
Augen noch einmal zu Ian wandern, »gibt es verschiedene Arten von
Rückzahlungen.« Er lächelte, nicht besonders angenehm. »Obwohl ich
denke, daß du noch zu jung bist, um das zu wissen. Sei froh, daß
ich nicht in der Stimmung bin, dir eine Lektion zu erteilen.«
Er wandte sich ab und winkte seinen Kameraden
zu.
»Wir haben, was wir wollten«, sagte er abrupt.
»Kommt.« Er trat auf die Reling, sprang und landete grunzend auf
dem schlammigen Ufer. Seine Helfershelfer folgten ihm, wobei
Roberts mir einen giftigen Blick zuwarf, bevor er ungeschickt in
die Untiefe und dann ans Ufer platschte.
Die vier Männer verschwanden augenblicklich im
Unterholz, und ich hörte, wie schrilles Pferdegewieher sie irgendwo
in der Dunkelheit begrüßte. An Bord war alles still.
Der Himmel hatte die Farbe von Holzkohle. In der
Ferne ertönte schwaches Donnergrollen, und Blitze flackerten dicht
über dem Horizont.
»Schweinehunde!«
Kapitän Freeman spuckte zum Abschied über Bord und
wandte sich an seinen Maat.
»Hol die Staken, Eutroclus«, sagte er, schlurfte
zur Ruderpinne und zog sich im Gehen die Hosen hoch.
Langsam regten sich die anderen und wurden wieder
lebendig. Fergus zündete mit einem Blick auf Jamie die Laterne an
und verschwand in der Kabine, wo ich hörte, wie er mit dem
Aufräumen begann. Ian kauerte auf Deck. Sein dunkler Kopf war über
Rollo gebeugt, während er den Hals des Hundes mit seinem
zusammengeknüllten Hemd abtupfte.
Ich wollte Jamie nicht ansehen. Ich drehte mich um
und kroch langsam zu Ian herüber. Rollo beobachtete mich
argwöhnisch, beanstandete meine Gegenwart aber nicht.
»Wie geht es ihm?« sagte ich ziemlich heiser. Ich
spürte den Ring als unangenehmes Hindernis in meiner Kehle und
schluckte mehrmals krampfhaft.
Ian blickte sofort auf; sein Gesicht war bleich und
entschlossen, doch sein Blick war wachsam.
»Ich glaube, ihm geht es gut«, sagte er leise.
»Tante Claire, was ist mit dir? Du bist doch nicht verletzt,
oder?«
»Nein«, sagte ich und versuchte, beruhigend zu
lächeln. »Mir fehlt nichts.« An meinem Hinterkopf befand sich eine
schmerzende Stelle, und mir klangen die Ohren immer noch ein
bißchen, der gelbe Ring aus Licht, der die Laterne umgab, schien zu
oszillieren und sich im Rhythmus meines Herzschlages auszudehnen
und zusammenzuziehen, ich hatte einen Kratzer auf der Wange, einen
angeschlagenen Ellbogen und einen großen Splitter in der Hand, doch
im großen und ganzen schien ich keinen körperlichen Schaden
genommen zu haben. Was den Rest anging, hatte ich meine
Zweifel.
Ich drehte mich nicht zu Jamie um, der zwei Meter
hinter mir stand, doch ich spürte seine Gegenwart, unheilvoll wie
eine Gewitterwolke. Ian, der ihn über meine Schulter hinweg
deutlich sehen konnte, machte ein besorgtes Gesicht.
Das Deck ächzte leise, und Ians Gesichtsausdruck
entspannte sich. Jamies Stimme drang aus der Kabine, äußerlich
ruhig, als er Fergus eine Frage stellte. Dann wurde sie von dem
allgemeinen Gerumpel übertönt, als die Männer Möbelstücke
zurechtrückten und verstreute Gegenstände einsammelten. Ich atmete
langsam aus.
»Keine Sorge, Tante Claire«, sagte Ian und
versuchte, mich zu trösten. »Ich glaube nicht, daß Onkel Jamie Hand
an dich legen würde.«
Ich war mir da nicht so sicher, wenn ich die
Vibrationen aus Jamies Richtung bedachte, doch ich hoffte, daß er
recht hatte.
»Meinst du, daß er sehr wütend ist?« fragte ich mit
leiser Stimme.
Ian zuckte beklommen mit den Achseln.
»Tja, letztesmal, als er mich so angesehen hat, hat
er mich hinters Haus gebracht und mich verprügelt. Das würde er mit
dir aber nicht tun, da bin ich mir sicher«, fügte er hastig
hinzu.
»Wohl nicht«, sagte ich etwas trostlos. Ich war mir
nicht sicher, ob ich es nicht vielleicht sogar vorgezogen
hätte.
»Es ist allerdings auch nicht besonders angenehm,
wenn Onkel Jamie einem die Meinung sagt«, sagte Ian und schüttelte
mitfühlend den Kopf. »Da wäre mir eine Tracht Prügel lieber.«
Ich brachte Ian mit einem Blick zum Schweigen und
beugte mich über den Hund.
»Ein jeglicher Tag hat seine eigene Plage. Hat er
aufgehört zu bluten?«
Das hatte er; abgesehen von dem blutverklebten Fell
hielt sich der Schaden überraschend in Grenzen; kaum mehr als eine
tiefe Kerbe in der Haut und den Muskeln neben der Schulter. Rollo
legte die Ohren an und entblößte die Zähne, als ich ihn
untersuchte, legte aber keinen hörbaren Protest ein.
»Braver Hund«, murmelte ich. Hätte ich ein
Betäubungsmittel gehabt, hätte ich die Wunde genäht, doch wir
mußten ohne solche Annehmlichkeiten auskommen. »Wir sollten hier
etwas Salbe auftragen, um die Fliegen fernzuhalten.«
»Ich hole sie, Tante Claire, ich weiß, wo deine
Kiste ist.« Ian schob Rollos Nase sanft von seinem Knie und stand
auf. »Ist es das grüne Zeug, das du auf Fergus’ Zeh geschmiert
hast?« Auf mein Nicken verschwand er in der Kabine, und ich konnte
mich meinem rumorenden Magen, meinem brummenden Kopf und meiner
blockierten Kehle widmen. Ich schluckte mehrmals, doch ohne
nennenswerten Erfolg. Ich berührte zögernd meinen Hals, während ich
mich fragte, welcher meiner Ringe mir geblieben war.
Eutroclus bog um die Kabinenecke. Er trug einen
langen, dicken Staken aus hellem Holz, der an einem Ende dunkel
gefleckt war und so von häufigem Gebrauch zeugte. Er stieß den
Staken jenseits der Bordwand in den Boden, stemmte sich mit seinem
ganzen Gewicht dagegen und wuchtete ihn mit einer ausgedehnten
Kraftanstrengung wieder hoch.
Ich fuhr zusammen, als Jamie mit einem weiteren
Staken aus dem Schatten trat. Inmitten all der Geräusche und Rufe
hatte ich ihn nicht
gehört. Er sah mich nicht an, sondern zog sich das Hemd aus und
stieß auf ein Zeichen des Matrosen ebenfalls mit seinem Staken
zu.
Beim vierten Versuch spürte ich, wie die Bordwand
vibrierte, ein leichtes Zittern, als sich etwas verlagerte. Dadurch
ermutigt, drückten Jamie und der Matrose fester zu, und ganz
plötzlich kam das Schiff mit einem dumpfen Knarren frei, worauf
Rollo mit einem aufgeschreckten Wuff! den Kopf hob.
Eutroclus, der unter seiner glänzenden
Schweißschicht strahlte, nickte Jamie zu und nahm seinen Staken
entgegen. Jamie nickte lächelnd zurück, hob sein Hemd auf und
wandte sich mir zu.
Ich erstarrte, und Rollos Ohren zuckten wachsam,
doch Jamie schien nicht vorzuhaben, mich auszuschimpfen oder über
Bord zu werfen. Statt dessen bückte er sich und sah mich
stirnrunzelnd im Licht der schwankenden Laterne an.
»Wie fühlst du dich, Sassenach? Ich kann nicht
sagen, ob du wirklich grün bist oder ob es nur das Licht
ist.«
»Mir geht’s gut. Ein bißchen wacklig vielleicht.«
Mehr als nur ein bißchen - meine Hände waren immer noch klamm, und
ich wußte, daß meine zitternden Knie mich nicht tragen würden,
falls ich versuchte aufzustehen. Ich schluckte fest, hustete und
schlug mir auf die Brust.
»Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber es fühlt
sich so an, als wäre mir der Ring im Hals steckengeblieben.«
Er blinzelte mich nachdenklich an und wandte sich
dann an Fergus, der aus der Kabine aufgetaucht war und abwartend
neben uns stand.
»Frag den Kapitän, ob er mir kurz seine Pfeife
leiht, Fergus.« Er wandte sich ab, zog sich das Hemd über den Kopf
und verschwand seinerseits nach achtern. Einen Augenblick später
kehrte er mit einem Becher Wasser zurück.
Ich griff dankbar danach, doch er hielt ihn außer
Reichweite.
»Jetzt noch nicht Sassenach«, sagte er. »Hast du
sie? Aye, danke, Fergus. Jetzt hol einen leeren Eimer, ja?« Er nahm
dem verblüfften Fergus die verdreckte Pfeife ab, fuhr mit dem
Daumen in den Kopf und begann, die verbrannten, klebrigen
Rückstände abzukratzen.
Er drehte die Pfeife um und klopfte sie über dem
Wasserbecher aus. Braune Flocken und feuchte Krümel halbverbrannten
Tabaks rieselten herab, und er rührte sie mit seinem geschwärzten
Daumen ins Wasser. Als er mit seinen Vorbereitungen fertig war,
warf er mir über den Becherrand hinweg einen ausgesprochen
unheilsschwangeren Blick zu.
»Nein«, sagte ich. »O nein.«
»O doch«, sagte er. »Komm schon, Sassenach, danach
geht’s dir besser.«
»Ich… warte lieber«, sagte ich. Ich verschränkte
die Arme vor der Brust. »Trotzdem danke.«
Fergus war inzwischen mit dem Eimer zurückgekehrt
und zog die Augenbrauen hoch. Jamie nahm ihm den Eimer ab und
stellte ihn geräuschvoll auf den Boden.
»So habe ich es auch schon gemacht, Sassenach«,
informierte er mich, »und es ist eine größere Schweinerei, als du
denkst. Es ist außerdem nicht besonders angenehm auf dem Schiff, so
dicht, wie wir hier aufeinanderhocken, aye?« Er legte mir eine Hand
auf den Hinterkopf und hielt mir den Becher an die Lippen. »Das
hier geht schnell. Komm schon, ein kleiner Schluck genügt.«
Ich preßte die Lippen fest zusammen; der Gestank
aus dem Becher reichte schon aus, daß sich mir der Magen umdrehte,
denn ich verband den Geruch des billigen Tabaks und den Anblick der
widerlichen Flüssigkeit, in der die Krümel schwammen, mit dem
Gedanken an Kapitän Freemans braune Speicheltropfen auf den
Planken.
Jamie verlor keine Zeit mit Diskussionen oder
Überredungsversuchen. Er ließ einfach meinen Kopf los, kniff mir
die Nase zu, und als ich den Mund zum Atmen öffnete, schüttete er
den übelriechenden Inhalt des Bechers hinein.
»Mmmfff!«
»Schlucken«, sagte er, hielt mir fest die Hand vor
den Mund und ignorierte sowohl die Tatsache, daß ich mich
verzweifelt wand, als auch meine erstickten Protestlaute. Er war
viel stärker als ich, und er hatte nicht die Absicht, mich
loszulassen. Ich hatte die Wahl zwischen schlucken oder
ersticken.
Ich schluckte.
»So gut wie neu.« Jamie polierte den Silberring an
seinem Hemdschoß fertig, hielt ihn hoch und bewunderte ihn im
Schein der Laterne.
»Das kann man von mir nicht behaupten«, erwiderte
ich kalt. Ich lag zusammengesunken auf dem Deck, das trotz der
ruhigen Strömung immer noch ganz leicht unter mir zu schlingern
schien. »Du bist ein ausgewachsener, waschechter, sadistischer,
verdammter Schweinehund, Jamie Fraser.«
Er beugte sich über mich und strich mir das feuchte
Haar aus der Stirn.
»Kann schon sein. Wenn es dir so gut geht, daß du
mich beschimpfen kannst, Sassenach, dann wirst du’s überleben. Ruh
dich ein bißchen aus, aye?«
Nachdem die Aufregung vorüber und die Ordnung auf
dem durchwühlten Schiff wiederhergestellt war, hatten sich die
anderen Männer in die Kabine begeben, um sich mit Hilfe einer
Flasche Apfeltrester zu erholen, die der Kapitän vor den Piraten
gerettet hatte, indem er sie in das Wasserfaß fallen ließ. Ein
kleiner Becher dieses Getränks stand neben meinem Kopf auf dem
Deck; mir war immer noch zu schummrig, um ans Schlucken auch nur zu
denken, doch der warme, fruchtige Duft war angenehm
beruhigend.
Wir hatten das Segel gesetzt; wir alle brannten
darauf, vom Ort des Angriffs fortzukommen, als lauerte dort immer
noch Gefahr. Wir kamen jetzt schneller voran; die kleine
Insektenwolke, die sonst über den Laternen hing, war verschwunden.
Nur ein paar Florfliegen saßen noch auf dem Querbalken, und ihre
zarten grünen Körper warfen winzige Schatten. Aus der Kabine
erklang eine kurze Lachsalve, und Rollo antwortete vom Seitendeck
mit einem Knurren - alles war wieder normal.
Eine leichte, willkommene Brise tanzte über das
Deck, ließ den feuchtkalten Schweiß in meinem Gesicht verdunsten,
hob Jamies Haarspitzen an und wehte sie ihm ins Gesicht. Die kleine
senkrechte Falte zwischen seinen Augenbrauen und sein gesenkter
Kopf verrieten tiefe Nachdenklichkeit.
Kein Wunder, wenn er nachdenklich war. Mit einem
Schlag waren unsere Reichtümer - unsere potentiellen Reichtümer -
und all unsere Vorräte auf einen Sack Bohnen und eine gebrauchte
Medizinkiste reduziert worden. So viel zu seinem Wunsch, nicht als
Bettler an Jocasta Camerons Tür zu klopfen - jetzt waren wir kaum
noch mehr als das.
Mein Hals schmerzte um seinetwillen, Mitleid trat
an die Stelle meiner Verärgerung. Abgesehen von der konkreten Frage
seines Stolzes war das unbekannte Land namens Zukunft jetzt wüst
und leer. Natürlich war unsere Zukunft auch zuvor voller
Fragezeichen gewesen, doch das beruhigende Wissen, daß wir Geld zur
Verwirklichung unserer Ziele hatten - was auch immer sie sein
würden - hatte diesen Fragen die Schärfe genommen.
Sogar die ärmlichen Bedingungen unserer Reise nach
Norden waren uns wie ein Abenteuer vorgekommen, weil wir uns sicher
waren, daß wir ein Vermögen besaßen, ob wir es nun ausgeben konnten
oder nicht. Ich hätte nie gedacht, daß mir Geld einmal so viel
bedeuten
würde, doch die Tatsache, daß uns unser Gefühl der Sicherheit so
brutal genommen worden war, hatte bei mir einen plötzlichen und
völlig unerwarteten Anfall von Schwindel ausgelöst.
Wie mochte es erst Jamie gehen, der nicht nur sich
und mich in Gefahr sah, sondern die erdrückende Verantwortung für
so viele andere Menschen trug? Ian, Fergus, Marsali, Duncan, die
Bewohner von Lallybroch - sogar die verdammte Nervensäge Laoghaire.
Ich wußte nicht, ob ich bei dem Gedanken an das Geld, das Jamie ihr
geschickt hatte, lachen oder weinen sollte; die rachsüchtige
Kreatur war im Moment sehr viel besser dran als wir. Bei dem
Gedanken an Rache durchfuhr mich etwas, was all meine anderen
Befürchtungen verblassen ließ. Jamie war zwar nicht sonderlich
rachsüchtig - für einen Schotten -, doch kein Highlander würde
einen solchen Verlust, den Verlust nicht nur seines Vermögens,
sondern auch seiner Ehre, in stiller Resignation erdulden.
Jamie starrte unbeweglich in das dunkle Wasser,
sein Mund war zusammengepreßt; sah er wieder den Friedhof vor sich,
wo er sich einverstanden erklärt hatte, Bonnet bei der Flucht zu
helfen, von Duncan in alkoholisierter Sentimentalität
überredet?
Erst jetzt kam mir der Gedanke, daß die
finanziellen Aspekte dieser Katastrophe Jamie wahrscheinlich noch
gar nicht in den Sinn gekommen waren - er war ganz mit seinen
bitteren Erinnerungen beschäftigt. Er war es gewesen, der Bonnet
geholfen hatte, der Schlinge des Henkers zu entwischen, er hatte es
ihm ermöglicht, wieder Unschuldigen nachzustellen. Wie viele
Menschen würden außer uns noch deswegen leiden müssen?
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte ich und berührte
sein Knie.
»Wessen Schuld denn sonst?« fragte er still, ohne
mich anzusehen. »Ich wußte, was er für ein Mensch war. Ich hätte
ihn seinem verdienten Schicksal überlassen können - und habe es
nicht getan. Ich war ein Narr.«
»Du hast eine gute Tat getan. Das ist nicht
dasselbe.«
»Aber fast.«
Er atmete tief ein; die Luft war frisch und
enthielt eine Spur von Ozon: Bald würde es regnen. Er griff nach
dem Becher mit Apfeltrester und trank, dann sah er mich zum ersten
Mal an und hielt den Becher fragend hoch.
»Ja, gern.« Ich kämpfte mich hoch, doch Jamie half
mir auf, so daß ich an ihm lehnte. Er hielt den Becher fest, so daß
ich trinken konnte, und die Flüssigkeit glitt mir sanft und warm
wie Blut über die Zunge, fing Feuer, als sie mir durch die Kehle
lief, brannte die Spuren der
Übelkeit und des Tabaks fort und hinterließ an ihrer Stelle den
nachhaltigen Geschmack gebrannten Zuckerrohrs.
»Besser?«
Ich nickte und hielt die rechte Hand hoch. Er
steckte mir den Ring an den Finger, das Metall noch warm von seiner
Hand. Dann bog er meine Finger um, drückte meine Faust und hielt
sie fest.
»Ob er uns wohl seit Charleston gefolgt ist?«
fragte ich mich laut.
Jamie schüttelte den Kopf. Sein Haar war immer noch
offen und fiel in üppigen Wellen nach vorn, die sein Gesicht
verbargen.
»Ich glaube nicht. Wenn er gewußt hätte, daß wir
die Steine haben, hätte er uns auf der Straße aufgelauert, bevor
wir nach Wilmington kamen. Nein, er wird es wohl von einem von
Lillingtons Bediensteten erfahren haben. Ich hatte gedacht, wir
wären einigermaßen sicher, weil wir in Cross Creek sein würden,
bevor jemand von den Steinen erfährt. Aber irgend jemand hat
geplaudert - ein Lakai, oder vielleicht die Schneiderin, die dein
Kleid abgeändert hat.«
Sein Gesicht war äußerlich ruhig, doch das war es
immer, wenn er starke Gefühle verbarg. Ein plötzlicher Windstoß
fuhr von der Seite über das Deck - der Regen war im Anmarsch. Der
Wind peitschte Jamie die Haare übers Gesicht, und er strich die
dichten Locken zurück.
»Tut mir leid um deinen anderen Ring«, sagte er
einen Augenblick später.
»Oh. Es ist -« Ich hatte sagen wollen: »Es ist
nicht so schlimm«, doch die Worte blieben mir im Hals stecken,
erstickt von der plötzlichen Erkenntnis des Verlustes.
Ich hatte diesen Goldring fast dreißig Jahre lang
getragen, als Zeichen eines Versprechens, das ich gemacht,
gebrochen, erneuert und von dem ich zuletzt losgesprochen worden
war. Ein Zeichen meiner Ehe, meiner Familie, ein Zeichen, das für
einen Großteil meines Lebens stand. Und die letzte Spur von Frank -
den ich trotz allem geliebt hatte.
Jamie sagte nichts, sondern nahm meine linke Hand
in die seine, hielt sie fest und strich mir mit dem Daumen über die
Fingerknöchel. Ich schwieg ebenfalls. Ich seufzte tief und drehte
das Gesicht nach steuerbord. Die Bäume am Ufer zitterten
erwartungsvoll im auffrischenden Wind, und ihre Blätter rauschten
so laut, daß sie unser Schiff übertönten.
Ein kleiner Tropfen traf meine Wange, doch ich
bewegte mich nicht. Meine Hand lag regungslos und weiß in der
seinen und sah ungewohnt zerbrechlich aus - es erschreckte mich,
sie so zu sehen.
Ich hatte meinen Händen schon immer große
Aufmerksamkeit geschenkt. Sie waren meine Werkzeuge, meine
Tastinstrumente, in ihnen verbanden sich die Sanftheit und die
Kraft meiner Heilkunst. Sie waren von einer gewissen Schönheit, die
ich auf eine distanzierte Weise bewunderte, doch es war die
Schönheit der Kraft und der Kompetenz, die Gewißheit ihrer Stärke,
die mir an ihnen gefiel.
Die Hand war dieselbe, blaß, mit langen Fingern und
knochigen Gelenken - seltsam nackt ohne den Ring, aber eindeutig
meine Hand. Und doch lag sie in einer Hand, die so viel größer und
rauher war, daß sie mir klein erschien und vergleichsweise
zerbrechlich.
Seine andere Hand drückte fester zu, preßte mir den
Silberring in die Haut und erinnerte mich an das, was mir blieb.
Ich hob seine Faust und drückte sie fest an mein Herz. Es begann zu
regnen, in großen, nassen Tropfen, doch keiner von uns regte
sich.
Der Regen setzte urplötzlich ein, warf einen
Schleier über Schiff und Ufer und gab uns für einen Augenblick die
Illusion, verborgen zu sein. Er lief kühl und weich über meine Haut
und linderte vorübergehend die Wunden der Furcht und des
Verlustes.
Ich fühlte mich furchtbar verletzlich und zugleich
völlig sicher. Doch schließlich hatte ich mich in Jamie Frasers
Nähe immer so gefühlt.