27
Aus der Mitte entspringt ein
Fluß
Die Reise begann nicht besonders vielversprechend.
Erstens regnete es. Zweitens ließ er Claire nicht gern allein,
schon gar nicht unter so schwierigen Umständen. Drittens machte er
sich große Sorgen um John; das Aussehen des Mannes hatte ihm
überhaupt nicht gefallen, als er sich von ihm verabschiedete; er
war kaum halb bei Bewußtsein und keuchte wie ein Nilpferd, und
seine Gesichtszüge waren durch den Ausschlag bis zur
Unkenntlichkeit entstellt.
Und viertens hatte ihm der neunte Graf von
Ellesmere gerade einen Kinnhaken versetzt. Er packte den Jungen
fest am Kragen und schüttelte ihn so kräftig, daß seine Zähne
heftig aneinanderklapperten.
»Also, jetzt«, sagte er und ließ los. Der Junge
stolperte und landete plötzlich auf dem Hosenboden, weil er das
Gleichgewicht verlor. Jamie starrte Willie an, der neben dem Pferch
im Schlamm saß. Sie hatten sich während der letzten vierundzwanzig
Stunden immer wieder über dieses Thema gestritten, und er hatte
genug davon.
»Ich weiß genau, was Ihr gesagt habt. Aber
ich habe gesagt, daß Ihr mitkommt. Ich habe Euch gesagt,
warum, und damit ist die Sache erledigt.«
Der Junge verzog das Gesicht zu einem finsteren
Blick. Er ließ sich nicht so leicht einschüchtern, doch Jamie
vermutete, daß ein Graf auch nicht daran gewöhnt war, daß es jemand
versuchte.
»Ich gehe nicht weg!« wiederholte der Junge.
»Ihr könnt mich nicht zwingen!« Er stand mit zusammengebissenen
Kinnbacken auf und wandte sich wieder zum Blockhaus.
Jamie streckte den Arm aus, ergriff den Jungen am
Kragen und zog ihn zurück. Als er sah, daß der Junge mit dem Fuß zu
einem Tritt ausholte, ballte er die Faust und versetzte ihm einen
gezielten Schlag in die Magengrube. Williams Augen quollen hervor;
er fiel vornüber und hielt sich den Bauch.
»Hört auf zu treten«, sagte Jamie gelassen. »Es
zeugt von schlechten Manieren. Und was das Zwingen angeht,
natürlich kann ich das.«
Das Gesicht des Grafen war leuchtend rot, und sein
Mund öffnete und schloß sich wie der eines verblüfften Goldfisches.
Der Hut war ihm vom Kopf gefallen, und der Regen klebte ihm dunkle
Haarsträhnen an den Kopf.
»Es ist sehr loyal von Euch, daß Ihr bei Eurem
Stiefvater bleiben wollt«, fuhr Jamie fort und wischte sich das
Wasser aus seinem eigenen Gesicht, »aber Ihr könnt ihm nicht
helfen, und Ihr könnt selbst zu Schaden kommen, wenn Ihr
hierbleibt. Also tut Ihr es nicht.« Aus dem Augenwinkel fing er
eine Bewegung auf, als sich die Ölhaut vor dem Fenster der Hütte
zur Seite bewegte und dann wieder herabfiel. Claire, die sich
zweifellos wunderte, wieso sie nicht schon lange fort waren.
Jamie ergriff den Grafen, der jetzt keinen
Widerstand mehr leistete, am Arm und führte ihn zu einem der
gesattelten Pferde.
»Hinauf mit Euch«, sagte er, und zu seiner
Genugtuung steckte der Junge zögernd einen Fuß in den Steigbügel
und schwang sich in den Sattel. Jamie warf dem Jungen seinen Hut
zu, zog seinen eigenen an und stieg ebenfalls auf. Vorsichtshalber
behielt er jedoch beim Aufbruch die Zügel beider Pferde in der
Hand.
»Ihr, Sir«, sagte eine atemlose, wutentbrannte
Stimme hinter ihm, »seid ein Rüpel!«
Er schwankte zwischen Verärgerung und dem Drang zu
lachen, gab aber keiner der beiden Regungen nach. Er blickte sich
über seine Schulter um und sah, daß William sich ebenfalls
umgewandt hatte und sich gefährlich zur Seite geneigt hatte, so daß
er halb aus dem Sattel hing.
»Versucht es nicht«, riet er dem Jungen, der sich
abrupt aufrichtete und ihn zornig anstarrte. »Ich würde Euch nur
ungern die Füße an die Steigbügel binden, aber ich tue es, und das
meine ich ernst.«
Die Augen des Jungen zogen sich zu leuchtenden,
blauen Dreiecken zusammen, doch offensichtlich nahm er Jamie beim
Wort. Er biß weiter die Zähne zusammen, doch seine Schultern fielen
zum Zeichen seiner einstweiligen Niederlage ein wenig
vornüber.
Den Großteil des Morgens über ritten sie schweigend
hintereinander her, während ihnen der Regen an den Hälsen
entlanglief und die Schultern ihrer Umhänge flachdrückte. William
mochte seine Niederlage akzeptiert haben, doch er hatte es nicht
sehr stilvoll getan. Er schmollte immer noch, als sie zum Essen
abstiegen, holte aber zumindest ohne Widerrede Wasser und packte
die Überreste ihrer Mahlzeit ein, während Jamie die Pferde
tränkte.
Jamie beobachtete ihn unauffällig, doch es gab
keine Anzeichen für
eine Maserninfektion. Das Gesicht des Grafen war zwar verkrampft,
aber frei von jedem Ausschlag, und seine Nasenspitze tropfte zwar,
doch dies schien einzig dem Wetter zuzuschreiben zu sein.
»Wie weit ist es?« Es wurde Nachmittag, bevor
Williams Neugier seine Sturheit besiegte. Jamie hatte ihm längst
die Zügel überlassen - jetzt bestand keine Gefahr mehr, daß der
Junge versuchen würde, sich allein auf den Rückweg zu machen.
»Vielleicht zwei Tage.« In dem bergigen Terrain,
das zwischen Fraser’s Ridge und Anna Ooka lag, würden sie zu Pferd
kaum schneller vorankommen als zu Fuß. Doch die Tatsache, daß sie
Pferde hatten, ermöglichte es ihnen, kleine Annehmlichkeiten
mitzunehmen wie einen Wasserkessel, zusätzliche Nahrung und ein
Paar selbstgemachter Angelruten. Und eine Anzahl kleiner Geschenke
für die Indianer, einschließlich eines Fäßchens mit selbstgebrautem
Whisky, das mithelfen sollte, den schlechten Nachrichten, die sie
überbrachten, die Spitze zu nehmen.
Es gab keinen Grund zur Eile und einige zur Weile -
Claire hatte ihm eindringlich aufgetragen, Willie nicht vor Ablauf
von sechs Tagen zurückzubringen. Bis dahin würde von Lord John
keine Ansteckungsgefahr mehr ausgehen. Er würde sich auf dem Weg
der Besserung befinden - oder tot sein.
Claire war äußerlich zuversichtlich gewesen, als
sie Willie versicherte, daß seinem Stiefvater nichts geschehen
würde, doch er hatte den Schleier der Sorge in ihren Augen gesehen.
Der Gedanke daran verursachte ihm ein hohles Gefühl genau unter den
Rippen. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, daß er nicht da
war; er konnte John doch nicht helfen, und jede Krankheit rief in
ihm ein Gefühl der Hilflosigkeit hervor, das ihm zugleich angst
machte und ihn zur Weißglut trieb.
»Diese Indianer - sie sind uns doch
freundlich gesonnen?« Er konnte den Zweifel in Willies Stimme
hören.
»Ja.« Er spürte, daß Willie von ihm erwartete, daß
er ihn förmlich anredete und »Milord« hinzufügte und zog eine
leise, perverse Genugtuung daraus, es nicht zu tun. Er lenkte sein
Pferd zur Seite und verlangsamte seinen Schritt, eine Einladung an
Willie, zu ihm aufzuschließen. Er lächelte den Jungen an, als
dieser es tat.
»Wir kennen sie seit über einem Jahr und sind schon
in ihren Langhäusern zu Gast gewesen - aye, die Menschen von Anna
Ooka sind zuvorkommender und gastfreundlicher als die meisten
Leute, denen ich in England begegnet bin.«
»Ihr habt in England gelebt?« Der Junge warf ihm
einen überraschten
Blick zu, und er verfluchte seine Unachtsamkeit, doch zum Glück
interessierte sich der Junge viel mehr für die Rothäute als für die
Vergangenheit des James Fraser und ging nach seiner vagen Antwort
zur nächsten Frage über.
Er war froh zu sehen, daß der Junge seine
Übellaunigkeit ablegte und anfing, sich für ihre Umgebung zu
interessieren. Er tat sein Bestes, ihn darin zu bestärken, indem er
ihm im Weiterreiten Indianergeschichten erzählte und ihn auf
Tierspuren aufmerksam machte, und es freute ihn zu sehen, wie der
Junge auftaute und höflicher wurde, wenn auch nicht mehr.
Die Ablenkung durch das Gespräch war ihm
willkommen; sein Verstand war viel zu beschäftigt, als daß ihm die
Stille hätte angenehm sein können. Wenn das Schlimmste geschah -
wenn John starb -,was wurde dann aus Willie? Er würde zweifellos
nach England und zu seiner Großmutter zurückkehren - und Jamie
würde nie wieder von ihm hören.
John war der einzige andere Mensch, der neben
Claire die ganze Wahrheit über Willies Abstammung kannte. Es war
möglich, daß Willies Großmutter die Wahrheit zumindest vermutete,
doch sie würde niemals, unter keinen Umständen zugeben, daß ihr
Enkel womöglich der uneheliche Sohn eines jakobitischen Verräters
und nicht der legitime Nachkomme des Grafen war.
Er bat in einem kurzen Gebet zu St. Bride um das
Wohlergehen John Greys und versuchte, die nagende Sorge zu
verdrängen. Trotz seiner Befürchtungen begann er, die Reise zu
genießen. Der Regen hatte bis auf gelegentliche Spritzer
nachgelassen, und der Wald duftete nach feuchten, frischen Blättern
und fruchtbarem, dunklem Laubkompost.
»Seht Ihr die Kratzer, die da an dem Baumstamm
herunterlaufen?« Er wies mit dem Kinn auf einen hohen Hickorybaum,
dessen Rinde in Fetzen herabhing und knapp zwei Meter über dem
Boden eine Anzahl langer, parallel verlaufender, weißer Risse
aufwies.
»Ja.« Willie zog seinen Hut aus und klatschte sich
damit gegen den Oberschenkel, um das Wasser auszuschlagen. Dann
beugte er sich vor, um näher hinzusehen. »Ist das ein Tier
gewesen?«
»Ein Bär«, sagte Jamie. »Ganz frisch - seht Ihr,
das Harz in den Rissen ist noch nicht trocken.«
»Ist er noch in der Nähe?« Willie sah sich um,
offenbar eher neugierig als alarmiert.
»Nicht unmittelbar«, sagte Jamie, »oder die Pferde
würden nervös werden. Aber auch nicht weit weg, aye. Haltet die
Augen offen; bestimmt sehen wir seinen Dung oder seine
Spuren.«
Nein, wenn John starb, dann würde seine zarte
Verbindung zu Willie abreißen. Er hatte sich seit langem mit der
Situation abgefunden und ihre Notwendigkeit klaglos akzeptiert -
doch es würde ein herber Verlust für ihn sein, wenn ihm die Masern
nicht nur seinen besten Freund, sondern auch jegliche Verbindung
mit seinem Sohn raubten.
Der Regen hatte aufgehört. Als sie um die Flanke
eines Berges bogen und oberhalb eines Tales herauskamen, machte
Willie einen leisen Ausruf überraschter Freude und richtete sich im
Sattel auf. Vor dem Hintergrund regenschwarzer Wolken wölbte sich
in der Ferne ein Regenbogen vom Abhang eines Berges und fiel in
einem perfekten Leuchten auf den Boden des Tales unter ihnen.
»Oh, wie wunderbar!« sagte Willie. Er wandte sich
mit einem breiten Lächeln an Jamie, und ihre Differenzen waren
vergessen. »Habt Ihr so etwas schon einmal gesehen, Sir?«
»Noch nie«, sagte Jamie und erwiderte das Lächeln.
Mit einem kleinen Schreck wurde ihm klar, daß diese wenigen Tage in
der Wildnis möglicherweise das letzte waren, das er jemals von
Willie sah oder hörte. Er hoffte, den Jungen nicht mehr schlagen zu
müssen.
Im Wald war sein Schlaf immer leicht, und das
Geräusch weckte ihn sofort. Einen Augenblick lang lag er völlig
still, nicht ganz sicher, was es war. Dann hörte er das leise,
gedämpfte Geräusch und erkannte den Klang erstickten Weinens.
Er unterdrückte sein spontanes Bedürfnis, sich
umzudrehen und dem Jungen tröstend die Hand aufzulegen. Willie gab
sich größte Mühe, nicht gehört zu werden; er verdiente es, daß man
ihm seinen Stolz ließ. Er lag still, hob den Blick zum weiten
Nachthimmel über ihm und lauschte.
Es war keine Angst; Willie hatte keine Angst davor
gezeigt, im dunklen Wald zu schlafen, und wäre ein großes Tier in
der Nähe gewesen, so hätte der Junge etwas gesagt. Ging es ihm
nicht gut? Die Geräusche waren kaum mehr als etwas lauteres Atmen,
das ihm in der Kehle steckenblieb - vielleicht hatte der Junge
Schmerzen und war zu stolz, es zu sagen. Es war Furcht, die ihn zum
Sprechen trieb; wenn die Masern sie eingeholt hatten, durfte er
keine Zeit verlieren; er mußte den Jungen sofort zu Claire
zurückbringen.
»Milord?« sagte er leise.
Das Schluchzen verstummte abrupt. Er hörte ein
Schlucken und das Rascheln von Stoff auf Haut, als sich der Junge
mit dem Ärmel über das Gesicht wischte.
»Ja?« sagte der Graf, dessen tapferes Bemühen um
Kühle nur durch seine belegte Stimme vereitelt wurde.
»Geht es Euch nicht gut, Milord?« Er konnte bereits
erkennen, daß es etwas anderes war, aber es war ein guter Vorwand.
»Habt Ihr vielleicht einen Krampf? Getrocknete Äpfel können einen
Mann unglücklich erwischen.«
Auf der anderen Seite des Feuers war zu hören, wie
jemand tief Luft holte und dann schniefte, während er versuchte,
sich unauffällig seine laufende Nase zu putzen. Das Feuer war bis
auf die Glut heruntergebrannt; dennoch konnte Jamie die dunkle
Gestalt sehen, die sich zum Sitzen hochwand und dann auf der
anderen Seite des Feuers hockte.
»Ich - äh - ja, ich glaube, so etwas… könnte es
sein.«
Jamie setzte sich ebenfalls hin, und das Plaid
glitt ihm von der Schulter.
»Es ist nichts Schlimmes«, sagte er tröstend. »Ich
habe einen Trank, der alle möglichen Arten von Magenbeschwerden
heilt. Keine Sorge, Milord; ich hole Wasser.«
Er stand auf und entfernte sich, wobei er darauf
bedacht war, den Jungen nicht anzusehen. Als er mit dem gefüllten
Kessel vom Bach zurückkam, hatte sich Willie die Nase geputzt und
sich das Gesicht abgewischt. Er hatte im Sitzen die Knie
angewinkelt und den Kopf daraufgelegt.
Er konnte nicht anders, als im Vorübergehen den
Kopf des Jungen zu berühren. Zum Teufel mit der Zurückhaltung. Das
dunkle Haar fühlte sich weich an, warm und etwas verschwitzt.
»Ein Grimmen im Bauch, ja?« sagte er freundlich,
während er sich hinkniete und den Wasserkessel aufsetzte.
»Mm-hm.« Willies Stimme wurde von der Decke
gedämpft, die über seinen Knien lag.
»Das geht bald vorbei«, sagte er. Er griff nach
seinem Sporran und suchte zwischen der Vielzahl der kleinen
Gegenstände herum, die dieser enthielt. Schließlich brachte er den
kleinen Stoffbeutel mit der Mischung getrockneter Blätter und
Blüten zum Vorschein, die Claire ihm mitgegeben hatte. Ihm war
nicht klar, woher sie gewußt hatte, daß er den Tee brauchen würde,
doch er stellte schon lange nichts mehr in Frage, was sie als
Heilerin tat - ob für den Körper oder für die Seele.
Einen Augenblick lang war er ihr zutiefst dankbar.
Es war ihm nicht entgangen, wie sie den Jungen ansah, und er ahnte,
was sie fühlen mußte. Sie hatte natürlich von dem Jungen gewußt,
aber keine Frau sollte es ertragen müssen, den Fleisch und Blut
gewordenen Beweis
dafür zu sehen, daß ihr Mann das Bett einer anderen geteilt hatte.
Kein Wunder, daß sie John am liebsten mit heißen Nadeln gestochen
hätte, hatte er ihr den Jungen doch einfach so vor die Nase
gesetzt.
»Es dauert nur einen Moment, bis er durchgezogen
ist«, versicherte er dem Jungen, während er die duftende Mischung
zwischen seinen Fingern in einen Holzbecher zerrieb, wie er es bei
Claire gesehen hatte.
Sie hatte ihm keine Vorwürfe gemacht. Zumindest
nicht in diesem Fall, dachte er und erinnerte sich
plötzlich, wie sie sich aufgeführt hatte, als sie von Laoghaire
erfahren hatte. Da hatte sie sich wie eine Besessene auf ihn
gestürzt, und doch, als sie später von Geneva Dunsany gehört hatte…
vielleicht lag es nur daran, daß die Mutter des Jungen tot
war?
Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Schwerthieb.
Die Mutter des Jungen war tot. Nicht nur seine wirkliche Mutter,
die am Tag seiner Geburt gestorben war - sondern auch die Frau, die
er sein Leben lang Mutter gerufen hatte. Und jetzt lag sein Vater -
oder zumindest der Mann, den er Vater nannte, dachte Jamie mit
einem unbewußten Zucken seines Mundes - mit einer Krankheit
darnieder, die nur wenige Tage zuvor einen anderen Mann vor den
Augen des Jungen das Leben gekostet hatte.
Nein, es war nicht Angst, die den Jungen in der
Dunkelheit vor sich hinweinen ließ. Es war Schmerz, und Jamie
Fraser, der selbst als Kind seine Mutter verloren hatte, hätte das
von Anfang an wissen sollen.
Nicht aus Sturheit, nicht einmal aus Loyalität
hatte Willie darauf bestanden, in Fraser’s Ridge zu bleiben. Er
hatte es aus Liebe zu John Grey getan und aus Angst davor, ihn zu
verlieren. Und genau diese Liebe war es, die den Jungen in der
Nacht zum Weinen brachte, verzweifelt vor Sorge um seinen
Vater.
Ungewohnte Eifersucht sprang wie Unkraut in Jamies
Herzen auf, beißend wie Brennesseln. Er zertrat sie entschlossen;
was für ein Glück, daß er sicher sein konnte, daß sein Sohn eine
liebevolle Beziehung zu seinem Stiefvater hatte. So, das Unkraut
war zertreten. Doch die Fußtritte schienen eine kleine, wunde
Stelle in seinem Herzen hinterlassen zu haben; er konnte sie beim
Atmen spüren.
Das Wasser begann, im Kessel zu rumoren. Er goß es
vorsichtig über die Kräutermischung, und mit dem Dampf stieg ein
süßer Duft auf. Baldrian, hatte sie gesagt, und Katzenminze. Die
Wurzel einer Passionsblume, in Honig getränkt und fein gemahlen.
Und schließlich der süße, etwas erdige Geruch des Lavendels.
»Trink ihn nicht selbst«, hatte sie beiläufig
gesagt, als sie ihm den Tee gab. »Er enthält Lavendel.«
Eigentlich hatte er damit keine Probleme, wenn er
gewarnt war. Nur, wenn ihn dann und wann ein unerwarteter
Lavendelhauch traf, dann fuhr ihm eine Welle der Übelkeit durch den
Unterleib. Claire hatte diese Wirkung zu oft an ihm erlebt, um sich
dessen nicht bewußt zu sein.
»Hier.« Er beugte sich vor, gab dem Jungen den
Becher und fragte sich, ob auch ihn der Duft des Lavendels von
jetzt an für immer beunruhigen würde oder ob er darin eine
tröstende Erinnerung finden würde. Das, so glaubte er, konnte sehr
wohl davon abhängen, ob John Grey überlebte oder starb.
Durch die Atempause hatte Willie äußerlich seine
Fassung wiedergefunden, doch der Schmerz war ihm immer noch ins
Gesicht geschrieben. Jamie lächelte dem Jungen zu und verbarg seine
eigene Sorge. So, wie er John und Claire kannte, hatte er weniger
Angst als der Junge - doch die Furcht war nach wie vor da,
hartnäckig wie ein Dorn in seiner Fußsohle.
»Das wird Euch helfen«, sagte er und wies mit einem
Kopfnicken auf den Becher. »Meine Frau hat ihn gemacht, sie ist
eine große Heilerin.«
»Ja?« Der Junge atmete den Dampf tief und zitternd
ein und berührte die heiße Flüssigkeit vorsichtig mit der Zunge.
»Ich habe gesehen, wie sie - etwas gemacht hat. Mit dem Indianer,
der gestorben ist.« Die Anklage war deutlich; sie hatte etwas
gemacht, und der Mann war dennoch gestorben.
Weder Claire noch Ian hatten viele Worte darüber
verloren, und er hatte keine Gelegenheit gehabt, sie zu fragen, was
geschehen war - sie hatte die Augenbraue hochgezogen und ihm einen
kurzen, goldenen Blick zugeworfen, der ihn beschwor, nicht vor
Willie davon zu reden, der blaßgesichtig und kalt mit ihr aus dem
Maisspeicher zurückgekehrt war.
»Aye?« sagte er neugierig. »Was hat sie denn
gemacht?«
Was zum Teufel hatte sie getan? fragte er sich.
Sicher nichts, was den Tod den Mannes herbeigeführt hatte; das
hätte er ihr sofort angesehen. Sie fühlte sich auch nicht schuldig
oder hilflos - er hatte sie schon oft in den Armen gehalten und sie
getröstet, während sie um jene weinte, die sie nicht retten konnte.
Diesmal war sie still und niedergeschlagen gewesen - genau wie Ian
-,aber nicht sehr verstört. Sie war ihm nur etwas verwirrt
vorgekommen.
»Sie hatte Schlamm im Gesicht. Und sie hat ihm
etwas vorgesungen.
Ich glaube, es war ein Papistenlied; es war auf Lateinisch und es
hatte irgend etwas mit Sakramenten zu tun.«
»Wirklich?« Jamie unterdrückte sein eigenes
Erstaunen über diese Beschreibung. »Aye, na ja. Vielleicht wollte
sie dem Mann nur etwas Trost spenden, weil sie gesehen hat, daß sie
ihm nicht helfen konnte. Die Indianer sind viel anfälliger für die
Nebenwirkungen der Masern, wißt Ihr; manche Infektionen, die für
sie tödlich sind, entlocken einem Weißen nicht einmal ein
Stirnrunzeln. Ich habe selbst als kleiner Junge die Masern gehabt,
und sie haben mir überhaupt nicht geschadet.« Er lächelte und
richtete sich auf, als wollte er seine offenkundige Gesundheit
demonstrieren.
Die Linien der Anspannung im Gesicht des Jungen
lockerten sich ein wenig, und er trank vorsichtig einen Schluck von
dem heißen Tee.
»Das ist es auch, was Mrs. Fraser gesagt hat. Sie
hat gesagt, daß Papa nichts passiert. Sie - sie hat mir ihr Wort
darauf gegeben.«
»Dann kannst du dich auch darauf verlassen«, sagte
Jamie bestimmt. »Mrs. Fraser ist eine Frau von Ehre.« Er hustete
und zog sich das Plaid höher über die Schultern; die Nacht war
nicht kalt, doch es wehte ein Luftzug vom Hügel herab. »Hilft der
Tee denn etwas?«
Willie machte ein verständnisloses Gesicht und
blickte dann auf den Becher in seiner Hand.
»Oh! Ja. Ja, danke; er ist sehr gut. Mir geht es
schon viel besser. Vielleicht waren es doch nicht die getrockneten
Äpfel.«
»Vielleicht nicht«, stimmte Jamie zu und senkte den
Kopf, um sein Lächeln zu verbergen. »Aber ich glaube, daß wir
morgen etwas Besseres zum Abendessen bekommen; wenn wir Glück
haben, gibt es Forelle.«
Der Ablenkungsversuch gelang; Willies Kopf zuckte
von seinem Becher hoch, und in seinem Gesicht lag großes
Interesse.
»Forelle? Wir können angeln?«
»Habt Ihr in England schon viel geangelt? Ich kann
mir nicht vorstellen, daß man die Forellengewässer mit diesen hier
vergleichen kann, aber ich weiß, daß man im Lake District gut
angeln kann - sagt jedenfalls Euer Vater.«
Er hielt den Atem an. Warum in Gottes Namen hatte
er das gefragt? Er selbst hatte mit dem fünfjährigen Willie auf dem
See in der Nähe von Ellesmere Rotforellen geangelt, als er dort
seine Zwangsarbeit ableistete. Wollte er, daß sich der Junge
daran erinnerte?
»Oh… ja. Sicher, es ist ganz nett auf den Seen -
aber ganz anders als das.« Willie schwenkte den Arm in die
ungefähre Richtung des Baches. Die Falten im Gesicht des Jungen
hatten sich geglättet, und
es war wieder ein leichtes, lebendiges Flackern in seine Augen
zurückgekehrt. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist ganz
anders als England.«
»Das stimmt«, pflichtete Jamie ihm belustigt bei.
»Aber werdet Ihr England nicht vermissen?«
Willie dachte einen Augenblick lang darüber nach,
während er den restlichen Tee schlürfte.
»Ich glaube nicht«, sagte er und schüttelte
entschlossen den Kopf. »Manchmal vermisse ich Großmama und meine
Pferde, aber das ist alles. Da hatte ich nur Tutoren und
Tanzstunden und Latein und Griechisch - igitt!« Er zog die Nase
kraus, und Jamie lachte.
»Dann hat Euch das Tanzen also keinen Spaß
gemacht?«
»Nein. Das muß man ja mit Mädchen machen.« Er warf
Jamie einen Blick unter seinen feinen, dunklen Augenbrauen hervor
zu. »Mögt Ihr Musik, Mr. Fraser?«
»Nein«, sagte Jamie lächelnd. »Aber ich mag
Mädchen.« Und die Mädchen würden diesen Jungen auch mögen, dachte
er, und nahm unauffällig Notiz von dessen breiten Schultern, seinen
langen Schenkeln und den langen, dunklen Wimpern, die seine schönen
blauen Augen verbargen.
»Ja. Mrs. Fraser ist aber auch sehr hübsch«, sagte
der Graf höflich. Sein Mundwinkel krümmte sich plötzlich. »Obwohl
sie schon komisch ausgesehen hat mit dem Schlamm im Gesicht.«
»Das glaube ich. Wollt Ihr noch eine Tasse,
Milord?«
Claire hatte gesagt, die Mixtur sei beruhigend; sie
schien ihre Wirkung zu tun. Während sie eine belanglose
Unterhaltung über die Indianer und ihren seltsamen Glauben führten,
wurden Williams Augenlider schwerer, und er gähnte mehrfach.
Schließlich beugte sich Jamie vor und nahm ihm den Becher aus der
erschlafften Hand.
»Die Nacht ist kalt, Milord«, sagte er. »Möchtet
Ihr Euch vielleicht neben mich legen und die Decke mit mir
teilen?«
Die Nacht war kühl, aber alles andere als kalt.
Dennoch hatte er richtig geraten; Willie akzeptierte den Vorwand
begierig. Er konnte keinen Adligen in seine Arme nehmen, um ihm
Trost zu spenden, und der junge Graf konnte seinerseits nicht
zugeben, daß er sich diesen Trost wünschte. Doch zwei Männer
konnten ohne Scham nah beieinanderliegen, um sich gegenseitig zu
wärmen.
Willie schlief sofort ein, eng an seine Seite
geschmiegt. Jamie lag noch lange wach, einen Arm leicht über den
Körper seines schlafenden Sohnes gelegt.
»Jetzt die kleine Gefleckte. Nur an der Spitze,
und mit dem Finger festhalten, aye?« Er wickelte den Faden fest um
die kleine Rolle aus weißer Wolle, gerade eben an Willies Finger
vorbei, aber so, daß er das Ende der Spechtdaune mitumwickelte und
die flaumigen Härchen der Feder spitz abstanden und in der hellen
Luft zitterten.
»Seht Ihr? Es sieht aus wie ein kleines Insekt, das
gerade losfliegt.«
Willie nickte, ohne den Blick von der Fliege
abzuwenden. Zwei winzige, gelbe Schwanzfedern lagen glatt unter der
Daunenfeder und ahmten die gespreizten Deckflügel eines Käfers
nach.
»Ich verstehe. Ist es die Farbe, die zählt, oder
nur die Form?«
»Beides, aber die Form ist wichtiger, glaube ich.«
Jamie lächelte den Jungen an. »Am meisten zählt, wie hungrig die
Fische sind. Wenn man den richtigen Zeitpunkt wählt, dann beißen
sie auf alles an - sogar auf einen nackten Haken. Wählt man den
falschen, dann ist es, als würde man mit Nabelschmalz angeln. Das
dürft Ihr aber keinem Fliegenfischer erzählen; er nimmt die ganze
Ehre für sich in Anspruch und läßt den Fischen nichts.«
Willie lachte nicht - der Junge lachte nur selten
-,doch er lächelte und ergriff die Weidenrute mit der
frischgebundenen Fliege.
»Ist der Zeitpunkt jetzt gut, was meint Ihr, Mr.
Fraser?« Er beschattete seine Augen und blickte über das Wasser.
Sie standen im kühlen Schatten eines Hains aus Schwarzweiden, doch
die Sonne stand immer noch über dem Horizont, und das Wasser des
Baches glitzerte wie Metall.
»Aye, Forellen fressen bei Sonnenuntergang. Seht
Ihr die Pünktchen auf dem Wasser? Der Teich wird gerade
lebendig.«
Die Oberfläche des Teiches war unruhig; das Wasser
selbst lag still da, doch es breiteten sich Dutzende kleiner
Wellenringe aus. Sie überschnitten einander, Ringe aus Licht und
Schatten, die sich in endloser Folge ausbreiteten und
brachen.
»Die Ringe? Ja. Sind das Fische?«
»Noch nicht. Es sind Mücken und Schnaken, die aus
ihren Larven ausschlüpfen und die Wasseroberfläche durchbrechen, um
in die Luft zu steigen - die Forellen sehen sie dann und kommen, um
sie zu fressen.«
Ohne Vorwarnung schoß ein Silberstreifen in die
Luft und fiel platschend zurück. Willie schnappte nach Luft.
»Das war ein Fisch«, sagte Jamie
überflüssigerweise. Er fädelte rasch seine Angelschnur durch die
geschnitzten Führungen, band eine Fliege an der Schnur fest und
trat vor. »Jetzt seht her.«
Er zog den Arm zurück und beugte das Handgelenk,
vor und zurück.
Mit jedem Kreisen seines Unterarms verlängerte er die Schnur, bis
er mit einem Schwung seines Handgelenkes sie in einer weiten,
trägen Schlinge fliegen ließ und die Fliege niederschwebte wie eine
kreisende Mücke. Er spürte den Blick des Jungen auf sich und war
froh, daß es ein guter Wurf gewesen war.
Er ließ die Fliege einen Moment lang treiben und
beobachtete sie - in der glitzernden Helle war sie schwer zu sehen
-,dann begann er langsam, die Schnur einzuholen. Blitzschnell ging
die Fliege unter. Der Ring, der bei ihrem Verschwinden entstand,
hatte noch nicht einmal begonnen, sich auszubreiten, als es fest an
der Schnur ruckte und er als Antwort ein wütendes Ziehen
spürte.
»Da ist einer! Da ist einer!« Er konnte Willie
hören, der aufgeregt hinter ihm am Ufer tanzte, aber seine ganze
Aufmerksamkeit galt dem Fisch.
Er hatte keine Spule, nur den Zweig mit dem Rest
seiner Angelschnur. Er zog die Spitze der Rute weit zurück, ließ
sie wieder nach vorn fallen und wickelte die lose Schnur mit einer
schwungvollen Handbewegung auf. Noch einmal Schnur aufwickeln, dann
ein verzweifelter Ansturm, der ihn die ganze gewonnene Schnur
kostete und mehr.
Zwischen den blitzenden Lichtfunken konnte er
nichts sehen, doch das Zerren und Ziehen, das seine Arme durchfuhr,
war so gut wie Sicht; ein Zittern, so lebendig wie die Forelle
selbst, als hielte er das Tier in Händen, das hin und her schlug
und sich wand und kämpfte…
Frei. Die Schnur erschlaffte; einen Moment lang
stand er da, während die Vibrationen des Kampfes in seinen Armen
verebbten, und atmete die Luft ein, an die er im Eifer des
Gefechtes nicht gedacht hatte.
»Sie ist entwischt! Oh, so ein Pech, Sir!« Willie
stieg am Ufer herunter, die Angel in der Hand, das Gesicht voll
offener Sympathie.
»Glück für den Fisch.« Jamie grinste, immer noch
von seinem Kampf erregt, und wischte sich mit der feuchten Hand
über das Gesicht. »Willst du es versuchen, Junge?« Zu spät fiel ihm
ein, wie er den Jungen eigentlich hätte anreden sollen, doch Willie
war zu aufgeregt, um den Ausrutscher zu bemerken.
Willie bog seinen Arm zurück, das Gesicht zu einer
entschlossenen Grimasse verzogen, blinzelte auf das Wasser und ließ
sein Handgelenk mit einem mächtigen Ruck herumschwingen. Die Rute
flog ihm aus den Fingern und segelte elegant in den Teich.
Der Junge gaffte ihr nach und wandte sich dann mit
einem Ausdruck
äußerster Bestürzung an Jamie, der gar nicht erst versuchte, das
Lachen zu unterdrücken. Der junge Graf machte ein durch und durch
verblüfftes und nicht besonders zufriedenes Gesicht, doch einen
Augenblick später kringelten sich die Winkel seines breiten Mundes
in die Höhe, und er gestand ironisch sein Mißgeschick ein. Er wies
auf die Angel, die in etwa drei Metern Entfernung vom Ufer
dahintrieb.
»Verscheuche ich nicht die ganzen Fische, wenn ich
sie holen gehe?«
»Doch. Nehmt meine; ich hole die andere später
zurück.«
Willie leckte sich die Lippen und biß konzentriert
die Zähne zusammen, als er die neue Angel fest in die Hände nahm
und sie mit kleinen Peitschenschlägen und Rucken ausprobierte. Er
drehte sich zum Teich um, wiegte seinen Arm vor und zurück und ließ
dann fest sein Handgelenk zuschnappen. Er erstarrte, und die Spitze
der Angel bildete eine perfekte Verlängerung seines Armes. Die lose
Schnur wickelte sich um die Angelrute und drapierte sich um Willies
Kopf.
»Ein wunderbarer Wurf, Milord«, sagte Jamie und
rieb sich fest mit dem Knöchel über den Mund. »Aber ich glaube, wir
müssen erst eine neue Fliege daran festmachen aye?«
»Oh.« Langsam entspannte sich Willies starre
Haltung, und er sah Jamie verlegen an. »Daran habe ich nicht
gedacht.«
Etwas ernüchtert durch seine Fehlversuche
gestattete der Graf, daß Jamie eine neue Fliege an der Angel
befestigte und ihn dann beim Handgelenk nahm, um ihm zu zeigen, wie
man die Angel richtig auswarf.
Er stellte sich hinter Willie und ergriff dessen
rechtes Handgelenk, wobei er Willies schlanken Arm und seine
vorstehenden Knöchel bewunderte, die zukünftige Größe und Kraft
verhießen. Die Haut des Jungen war mit kühlem Schweiß bedeckt, und
sein Arm fühlte sich fast genauso an wie das Zittern der Forelle an
der Schnur, gespannt und muskulös, lebendig unter seinen Fingern.
Dann riß sich Willie los, und für einen Augenblick war er verwirrt
und verspürte ein seltsames Verlustgefühl, als ihr kurzer Kontakt
abriß.
»Das ist nicht richtig«, sagte Willie und wandte
sich um, um ihn anzusehen. »Ihr habt mit der linken Hand geworfen.
Ich habe Euch gesehen.«
»Aye, aber ich bin Linkshänder, Milord. Die meisten
Männer würden die Angel mit der Rechten auswerfen.«
»Linkshänder?« Willies Mund verzog sich wieder nach
oben.
»Ich kann die meisten Tätigkeiten mit der linken
Hand besser ausführen als mit der rechten, Milord.«
»Ich habe mir gedacht, daß es das heißt. Ich bin
genauso.« Bei dieser Aussage machte Willie ein sehr zufriedenes und
leicht verschämtes Gesicht. »Meine - meine Mutter hat gesagt, es
gehört sich nicht, und daß ich lernen sollte, die andere zu
benutzen wie ein Gentleman. Aber Papa hat nein gesagt und dafür
gesorgt, daß ich mit der linken Hand schreiben durfte. Er hat
gesagt, es spielt keine große Rolle, wenn ich mit dem Gänsekiel
ungeschickt aussehe; wenn es ums Kämpfen mit dem Schwert ginge,
wäre ich im Vorteil.«
»Euer Vater ist ein weiser Mann.« Sein Herz
verkrampfte sich mit einem Gefühl irgendwo zwischen Eifersucht und
Dankbarkeit - doch die Dankbarkeit überwog bei weitem.
»Papa ist Soldat gewesen.« Willie stellte sich ein
wenig gerader hin und richtete voll unbewußtem Stolz seine
Schultern auf. »Er hat in Schottland gekämpft, beim Auf - oh.« Er
hustete, und sein Gesicht errötete leicht, als ein Blick auf Jamies
Kilt fiel und ihm klar wurde, daß er sich wahrscheinlich gerade mit
einem besiegten Teilnehmer ebendieser Auseinandersetzung
unterhielt. Er spielte an der Angelrute herum und wußte nicht,
wohin er blicken sollte.
»Aye, ich weiß. Da bin ich ihm zum ersten Mal
begegnet.« Jamie achtete darauf, seine Stimme von jeglicher
Belustigung freizuhalten. Er fühlte sich versucht, dem Jungen zu
erzählen, unter welchen Umständen diese erste Begegnung
stattgefunden hatte, doch das wäre eine armselige Belohnung gewesen
für das unbezahlbare Geschenk, das John ihm gemacht hatte, diese
wenigen, kostbaren Tage mit seinem Sohn.
»Er war wirklich ein sehr tapferer Soldat«, stimmte
Jamie mit unbewegtem Gesicht zu. »Und in bezug auf die Hände hatte
er auch recht. Habt Ihr denn schon Eure Ausbildung mit dem Schwert
begonnen?«
»Nur ein bißchen.« Vor lauter Begeisterung über
dieses neue Thema vergaß Willie seine Verlegenheit. »Ich habe einen
kleinen Degen, seit ich acht bin, und kann täuschen und parieren.
Papa sagt, ich bekomme ein richtiges Schwert, wenn wir nach
Virginia kommen, jetzt bin ich groß genug, um Terzen und
Ausfallschritte zu lernen.«
»Ah. Na dann, wenn Ihr ein Schwert mit links führen
könnt, dann glaube ich auch nicht, daß es Euch Schwierigkeiten
macht, auf dieselbe Weise mit einer Angel umzugehen. Hier, wir
wollen es noch einmal versuchen, sonst gibt es kein
Abendessen.«
Beim dritten Versuch senkte sich die Fliege perfekt
herab und war kaum mehr als eine Sekunde auf dem Wasser getrieben,
als eine kleine, aber hungrige Forelle an die Oberfläche rauschte
und sie verschlang.
Willie tat einen aufgeregten Schrei und riß so fest an der Rute,
daß die verblüffte Forelle an seinem Kopf vorbei durch die Luft
flog und platschend hinter ihm auf dem Ufer landete.
»Ich hab’s geschafft! Ich hab’s geschafft! Ich habe
einen Fisch gefangen!« Willie schwenkte die Angel und rannte unter
Freudengeheul in kleinen Kreisen herum, wobei er die seinem Titel
angemessene Würde völlig vergaß.
»Das stimmt.« Jamie hob die Forelle auf, die von
der Nase bis zum Schwanz vielleicht fünfzehn Zentimeter maß, und
klopfte dem herumtanzenden Grafen zur Gratulation auf den Rücken.
»Gut gemacht, Junge! Sieht so aus, als ob sie heute abend gut
beißen; wir wollen es noch ein-,zweimal versuchen, aye?«
Die Forellen bissen tatsächlich gut. Als die Sonne
hinter dem Rand der weit entfernten, schwarzen Berge versunken und
das Silberwasser zu blindem Zinn verblichen war, hatte jeder von
ihnen eine ansehnliche Reihe von Fischen gefangen. Sie waren beide
naß bis auf die Knochen, erschöpft, halb blind vom grellen
Sonnenlicht und durch und durch glücklich.
»Ich habe noch nie etwas gegessen, das auch nur
halb so köstlich war«, sagte Willie verträumt. »Nie.« Er saß nackt
in eine Decke gehüllt, und sein Hemd, seine Kniehosen und Strümpfe
hingen zum Trocknen über einem Ast. Er legte sich mit einem
zufriedenen Seufzen zurück und rülpste sacht.
Jamie hängte sein feuchtes Plaid über einen Busch
und legte noch ein Holzscheit auf das Feuer. Das Wetter war gut,
Gott sei Dank, doch es war kühl jetzt, wo die Sonne nicht mehr
schien, der Nachtwind sich erhob und er ein feuchtes Hemd anhatte.
Er stellte sich nah ans Feuer und ließ die heiße Luft unter seinem
Hemd aufsteigen. Die Wärme stieg ihm an den Oberschenkeln hoch und
berührte ihn an Brust und Bauch, angenehm wie Claires Hände auf der
kühlen Haut zwischen seinen Beinen.
Er stand eine Zeitlang still da und beobachtete den
Jungen, scheinbar, ohne ihn anzusehen. Auch wenn er seine Eitelkeit
vergaß und gerecht urteilte, hielt er William für ein hübsches
Kind. Dünner, als er sein sollte; man konnte jede Rippe sehen -
aber mit sehnigen, muskulösen Gliedmaßen und am ganzen Körper
wohlgeformt.
Der Junge hatte den Kopf abgewandt und blickte in
das Feuer, so konnte er ihn offener ansehen. Ein Harztropfen
zerplatzte knisternd im Kiefernholz und überflutete Willies Gesicht
einen Moment lang mit goldenem Licht.
Jamie stand völlig still, spürte sein Herz
schlagen, sah zu. Es war
einer von diesen seltsamen Augenblicken, die er selten erlebte,
aber nie wieder vergaß. Ein Augenblick, der sich in Herz und
Verstand prägte und den er sich für den Rest seines Lebens
jederzeit bis ins kleinste Detail wieder vor Augen rufen
konnte.
Unmöglich zu sagen, was einen solchen Augenblick
von allen anderen unterschied, doch er erkannte ihn, wenn er kam.
Er hatte schon viel grauenhaftere oder auch schönere Anblicke
gesehen, und doch waren sie ihm nur flüchtig und verschwommen in
Erinnerung geblieben. Doch diese - die Zeitstillstände, wie er sie
insgeheim nannte -, sie kamen ohne Vorwarnung, um ihm ein
zufälliges Bild von den alltäglichsten Dingen unauslöschlich ins
Hirn zu brennen. Sie waren wie die Fotografien, die Claire ihm
mitgebracht hatte, nur trugen diese Augenblicke mehr in sich als
nur den visuellen Eindruck.
Er hatte einen von seinem Vater, wie er verschmiert
und schmutzig auf der Mauer eines Kuhstalls saß und ihm ein kalter,
schottischer Wind durchs Haar fuhr. Er konnte diesen Augenblick
heraufbeschwören und das trockene Heu und den Dunggeruch riechen,
spüren, wie ihm der Wind die Finger kühlte und das Licht in den
Augen seines Vaters ihm das Herz wärmte.
Er hatte solche Bilder von Claire, von seiner
Schwester, von Ian… kurze Augenblicke, aus der Zeit ausgestanzt und
durch eine seltsame Alchemie perfekt konserviert, in seiner
Erinnerung erstarrt wie ein Insekt in Bernstein. Und jetzt hatte er
noch eins.
Denn er würde sich diesen Augenblick zurückholen
können, solange er lebte. Er würde den kalten Wind in seinem
Gesicht spüren und das knisternde Gefühl der Haare auf seinen
Oberschenkeln, vom Feuer halb versengt. Er würde den kräftigen Duft
der in Maismehl gebratenen Forellen riechen und spüren, wie ihn
eine verschluckte Gräte haarfein in die Kehle stach.
Er würde die dunkle Stille des Waldes hinter sich
hören und das sanfte Rauschen des nahen Baches. Und für immer würde
er sich jetzt an den goldenen Feuerschein im geliebten, klaren
Gesicht seines Sohnes erinnern.
»Deo gratias«, murmelte er, und nur daran,
daß der Junge sich aufgeschreckt zu ihm umdrehte, merkte er, daß er
es laut gesagt hatte.
»Was?«
»Nichts.« Er wandte sich ab, um den Augenblick zu
überbrücken, und nahm sein halbtrockenes Plaid von dem Busch
herunter. Selbst völlig durchnäßt isolierte die Highlandwolle noch
die Körperwärme und schützte vor Kälte.
»Ihr solltet schlafen, Milord«, sagte er, während
er sich hinsetzte
und die feuchten Plaidfalten um sich herum arrangierte. »Wir haben
morgen einen langen Tag vor uns.«
»Ich bin nicht müde.« Wie zum Beweis setzte Willie
sich hin und fuhr sich heftig mit der Hand durch das Haar, so daß
die dichte, rostbraune Masse wie eine Mähne um seinen Kopf
herumstand.
Jamie spürte einen Stich der Bestürzung; er
erkannte die Geste nur zu gut als seine eigene. Mehr noch, er war
gerade im Begriff gewesen, exakt dasselbe zu tun, und er konnte
seine Hände nur mit Mühe stillhalten.
Er versuchte sein Herz zu beruhigen, das wild in
seinem Hals pochte, und griff nach seinem Sporran. Nein. Sicher
käme der Junge nie auf den Gedanken - Jungen in seinem Alter
achteten herzlich wenig auf das, was die Erwachsenen sagten oder
taten, geschweige denn, daß sie sie genau beobachteten. Dennoch war
es für sie alle ein höllisches Risiko gewesen; Claires
Gesichtsausdruck hatte ausgereicht, um ihm zu zeigen, wie
auffallend die Ähnlichkeit war.
Er holte tief Luft und fing an, die kleinen
Stoffbündel hervorzuholen, die seine Materialien zur
Fliegenherstellung enthielten. Sie hatten all seine fertigen
Fliegen aufgebraucht, und wenn er zum Frühstück angeln wollte, dann
mußte er noch ein paar vorbereiten.
»Kann ich mithelfen?« Willie wartete keine
Erlaubnis ab, sondern sauste um das Feuer herum und setzte sich
neben ihn. Wortlos schob er dem Jungen die kleine Holzdose mit den
Federn hin und zog einen Angelhaken aus dem Korkstück, in dem diese
steckten.
Sie arbeiteten eine Zeitlang still vor sich hin und
pausierten nur, um einen fertigen Silver Doctor oder
Broom Eye zu bewundern, oder wenn Jamie dem Jungen einen
Ratschlag gab oder ihm beim Festbinden half. Doch Willie wurde der
mühsamen Kleinarbeit bald überdrüssig. Er legte seinen halbfertigen
Green Whisker hin und stellte Jamie zahllose Fragen über das
Angeln, die Jagd, den Wald und die Indianer, zu denen sie unterwegs
waren.
»Nein«, beantwortete Jamie eine dieser Fragen. »Ich
habe noch nie einen Skalp im Dorf gesehen. Meistens sind sie sehr
liebenswürdig. Wenn ihnen allerdings Unrecht widerfährt, dann läßt
ihre Rache nicht lange auf sich warten.« Er lächelte ironisch. »In
dieser Hinsicht erinnern sie mich ein bißchen an die
Highlander.«
»Großmama sagt, die Schotten vermehren sich w -«
Der beiläufig begonnene Satz erstickte abrupt. Jamie blickte auf
und sah, daß Willie sich mit aller Kraft auf die halbfertige Fliege
zwischen seinen Fingern konzentrierte, das Gesicht so rot, daß es
unmöglich nur vom Feuerschein kommen konnte.
»Wie die Karnickel?« Jamie ließ Ironie und ein
Lächeln in seiner Stimme mitklingen. Willie warf einen vorsichtigen
Seitenblick in seine Richtung.
»Schottische Familien sind manchmal groß, aye.«
Jamie zupfte eine Zaunkönigsdaune aus der kleinen Dose und legte
sie vorsichtig an den Schaft des Angelhakens. »Für uns sind Kinder
ein Segen.«
Die leuchtende Farbe auf Willies Wangen verblaßte.
Er setzte sich etwas gerader hin.
»Ach so. Habt Ihr auch viele Kinder, Mr.
Fraser?«
Jamie fiel die Daune aus der Hand.
»Nein, nicht viele«, sagte er und hielt seinen
Blick auf das gesprenkelte Laub gerichtet.
»Entschuldigung. Ich habe nicht daran gedacht - das
heißt…« Jamie blickte auf und sah, daß Willie erneut rot geworden
war und die halbfertige Fliege in seiner Hand zerdrückte.
»Woran gedacht?« sagte er verwundert.
Willie holte tief Luft.
»Also - die… die… Krankheit; die Masern. Ich habe
keine Kinder bei Euch gesehen, aber ich habe nicht daran gedacht,
als ich sagte… ich meine… daß Ihr vielleicht welche hattet, aber
daß sie…«
»Och, nein.« Jamie lächelte ihn beruhigend an.
»Meine Tochter ist erwachsen; sie lebt schon lange weit weg in
Boston.«
»Oh.« Willie atmete extrem erleichtert auf. »Mehr
nicht?«
Ein Lufthauch bewegte die herabgefallene Daune und
gab ihre Position im Dunkeln preis. Jamie schnappte mit Daumen und
Zeigefinger zu und hob sie sachte auf.
»Doch, ich habe auch einen Sohn«, sagte er und
blickte auf den Haken, der sich irgendwie in seinen Daumen gebohrt
hatte. Ein kleiner Blutstropfen quoll um das glänzende Metall herum
auf. »Ein Prachtjunge, und ich liebe ihn sehr, aber im Augenblick
ist er nicht zu Hause.«