27
Aus der Mitte entspringt ein Fluß
Die Reise begann nicht besonders vielversprechend. Erstens regnete es. Zweitens ließ er Claire nicht gern allein, schon gar nicht unter so schwierigen Umständen. Drittens machte er sich große Sorgen um John; das Aussehen des Mannes hatte ihm überhaupt nicht gefallen, als er sich von ihm verabschiedete; er war kaum halb bei Bewußtsein und keuchte wie ein Nilpferd, und seine Gesichtszüge waren durch den Ausschlag bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Und viertens hatte ihm der neunte Graf von Ellesmere gerade einen Kinnhaken versetzt. Er packte den Jungen fest am Kragen und schüttelte ihn so kräftig, daß seine Zähne heftig aneinanderklapperten.
»Also, jetzt«, sagte er und ließ los. Der Junge stolperte und landete plötzlich auf dem Hosenboden, weil er das Gleichgewicht verlor. Jamie starrte Willie an, der neben dem Pferch im Schlamm saß. Sie hatten sich während der letzten vierundzwanzig Stunden immer wieder über dieses Thema gestritten, und er hatte genug davon.
»Ich weiß genau, was Ihr gesagt habt. Aber ich habe gesagt, daß Ihr mitkommt. Ich habe Euch gesagt, warum, und damit ist die Sache erledigt.«
Der Junge verzog das Gesicht zu einem finsteren Blick. Er ließ sich nicht so leicht einschüchtern, doch Jamie vermutete, daß ein Graf auch nicht daran gewöhnt war, daß es jemand versuchte.
»Ich gehe nicht weg!« wiederholte der Junge. »Ihr könnt mich nicht zwingen!« Er stand mit zusammengebissenen Kinnbacken auf und wandte sich wieder zum Blockhaus.
Jamie streckte den Arm aus, ergriff den Jungen am Kragen und zog ihn zurück. Als er sah, daß der Junge mit dem Fuß zu einem Tritt ausholte, ballte er die Faust und versetzte ihm einen gezielten Schlag in die Magengrube. Williams Augen quollen hervor; er fiel vornüber und hielt sich den Bauch.
»Hört auf zu treten«, sagte Jamie gelassen. »Es zeugt von schlechten Manieren. Und was das Zwingen angeht, natürlich kann ich das.«
Das Gesicht des Grafen war leuchtend rot, und sein Mund öffnete und schloß sich wie der eines verblüfften Goldfisches. Der Hut war ihm vom Kopf gefallen, und der Regen klebte ihm dunkle Haarsträhnen an den Kopf.
»Es ist sehr loyal von Euch, daß Ihr bei Eurem Stiefvater bleiben wollt«, fuhr Jamie fort und wischte sich das Wasser aus seinem eigenen Gesicht, »aber Ihr könnt ihm nicht helfen, und Ihr könnt selbst zu Schaden kommen, wenn Ihr hierbleibt. Also tut Ihr es nicht.« Aus dem Augenwinkel fing er eine Bewegung auf, als sich die Ölhaut vor dem Fenster der Hütte zur Seite bewegte und dann wieder herabfiel. Claire, die sich zweifellos wunderte, wieso sie nicht schon lange fort waren.
Jamie ergriff den Grafen, der jetzt keinen Widerstand mehr leistete, am Arm und führte ihn zu einem der gesattelten Pferde.
»Hinauf mit Euch«, sagte er, und zu seiner Genugtuung steckte der Junge zögernd einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Jamie warf dem Jungen seinen Hut zu, zog seinen eigenen an und stieg ebenfalls auf. Vorsichtshalber behielt er jedoch beim Aufbruch die Zügel beider Pferde in der Hand.
»Ihr, Sir«, sagte eine atemlose, wutentbrannte Stimme hinter ihm, »seid ein Rüpel!«
Er schwankte zwischen Verärgerung und dem Drang zu lachen, gab aber keiner der beiden Regungen nach. Er blickte sich über seine Schulter um und sah, daß William sich ebenfalls umgewandt hatte und sich gefährlich zur Seite geneigt hatte, so daß er halb aus dem Sattel hing.
»Versucht es nicht«, riet er dem Jungen, der sich abrupt aufrichtete und ihn zornig anstarrte. »Ich würde Euch nur ungern die Füße an die Steigbügel binden, aber ich tue es, und das meine ich ernst.«
Die Augen des Jungen zogen sich zu leuchtenden, blauen Dreiecken zusammen, doch offensichtlich nahm er Jamie beim Wort. Er biß weiter die Zähne zusammen, doch seine Schultern fielen zum Zeichen seiner einstweiligen Niederlage ein wenig vornüber.
Den Großteil des Morgens über ritten sie schweigend hintereinander her, während ihnen der Regen an den Hälsen entlanglief und die Schultern ihrer Umhänge flachdrückte. William mochte seine Niederlage akzeptiert haben, doch er hatte es nicht sehr stilvoll getan. Er schmollte immer noch, als sie zum Essen abstiegen, holte aber zumindest ohne Widerrede Wasser und packte die Überreste ihrer Mahlzeit ein, während Jamie die Pferde tränkte.
Jamie beobachtete ihn unauffällig, doch es gab keine Anzeichen für eine Maserninfektion. Das Gesicht des Grafen war zwar verkrampft, aber frei von jedem Ausschlag, und seine Nasenspitze tropfte zwar, doch dies schien einzig dem Wetter zuzuschreiben zu sein.
»Wie weit ist es?« Es wurde Nachmittag, bevor Williams Neugier seine Sturheit besiegte. Jamie hatte ihm längst die Zügel überlassen - jetzt bestand keine Gefahr mehr, daß der Junge versuchen würde, sich allein auf den Rückweg zu machen.
»Vielleicht zwei Tage.« In dem bergigen Terrain, das zwischen Fraser’s Ridge und Anna Ooka lag, würden sie zu Pferd kaum schneller vorankommen als zu Fuß. Doch die Tatsache, daß sie Pferde hatten, ermöglichte es ihnen, kleine Annehmlichkeiten mitzunehmen wie einen Wasserkessel, zusätzliche Nahrung und ein Paar selbstgemachter Angelruten. Und eine Anzahl kleiner Geschenke für die Indianer, einschließlich eines Fäßchens mit selbstgebrautem Whisky, das mithelfen sollte, den schlechten Nachrichten, die sie überbrachten, die Spitze zu nehmen.
Es gab keinen Grund zur Eile und einige zur Weile - Claire hatte ihm eindringlich aufgetragen, Willie nicht vor Ablauf von sechs Tagen zurückzubringen. Bis dahin würde von Lord John keine Ansteckungsgefahr mehr ausgehen. Er würde sich auf dem Weg der Besserung befinden - oder tot sein.
Claire war äußerlich zuversichtlich gewesen, als sie Willie versicherte, daß seinem Stiefvater nichts geschehen würde, doch er hatte den Schleier der Sorge in ihren Augen gesehen. Der Gedanke daran verursachte ihm ein hohles Gefühl genau unter den Rippen. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, daß er nicht da war; er konnte John doch nicht helfen, und jede Krankheit rief in ihm ein Gefühl der Hilflosigkeit hervor, das ihm zugleich angst machte und ihn zur Weißglut trieb.
»Diese Indianer - sie sind uns doch freundlich gesonnen?« Er konnte den Zweifel in Willies Stimme hören.
»Ja.« Er spürte, daß Willie von ihm erwartete, daß er ihn förmlich anredete und »Milord« hinzufügte und zog eine leise, perverse Genugtuung daraus, es nicht zu tun. Er lenkte sein Pferd zur Seite und verlangsamte seinen Schritt, eine Einladung an Willie, zu ihm aufzuschließen. Er lächelte den Jungen an, als dieser es tat.
»Wir kennen sie seit über einem Jahr und sind schon in ihren Langhäusern zu Gast gewesen - aye, die Menschen von Anna Ooka sind zuvorkommender und gastfreundlicher als die meisten Leute, denen ich in England begegnet bin.«
»Ihr habt in England gelebt?« Der Junge warf ihm einen überraschten Blick zu, und er verfluchte seine Unachtsamkeit, doch zum Glück interessierte sich der Junge viel mehr für die Rothäute als für die Vergangenheit des James Fraser und ging nach seiner vagen Antwort zur nächsten Frage über.
Er war froh zu sehen, daß der Junge seine Übellaunigkeit ablegte und anfing, sich für ihre Umgebung zu interessieren. Er tat sein Bestes, ihn darin zu bestärken, indem er ihm im Weiterreiten Indianergeschichten erzählte und ihn auf Tierspuren aufmerksam machte, und es freute ihn zu sehen, wie der Junge auftaute und höflicher wurde, wenn auch nicht mehr.
Die Ablenkung durch das Gespräch war ihm willkommen; sein Verstand war viel zu beschäftigt, als daß ihm die Stille hätte angenehm sein können. Wenn das Schlimmste geschah - wenn John starb -,was wurde dann aus Willie? Er würde zweifellos nach England und zu seiner Großmutter zurückkehren - und Jamie würde nie wieder von ihm hören.
John war der einzige andere Mensch, der neben Claire die ganze Wahrheit über Willies Abstammung kannte. Es war möglich, daß Willies Großmutter die Wahrheit zumindest vermutete, doch sie würde niemals, unter keinen Umständen zugeben, daß ihr Enkel womöglich der uneheliche Sohn eines jakobitischen Verräters und nicht der legitime Nachkomme des Grafen war.
Er bat in einem kurzen Gebet zu St. Bride um das Wohlergehen John Greys und versuchte, die nagende Sorge zu verdrängen. Trotz seiner Befürchtungen begann er, die Reise zu genießen. Der Regen hatte bis auf gelegentliche Spritzer nachgelassen, und der Wald duftete nach feuchten, frischen Blättern und fruchtbarem, dunklem Laubkompost.
»Seht Ihr die Kratzer, die da an dem Baumstamm herunterlaufen?« Er wies mit dem Kinn auf einen hohen Hickorybaum, dessen Rinde in Fetzen herabhing und knapp zwei Meter über dem Boden eine Anzahl langer, parallel verlaufender, weißer Risse aufwies.
»Ja.« Willie zog seinen Hut aus und klatschte sich damit gegen den Oberschenkel, um das Wasser auszuschlagen. Dann beugte er sich vor, um näher hinzusehen. »Ist das ein Tier gewesen?«
»Ein Bär«, sagte Jamie. »Ganz frisch - seht Ihr, das Harz in den Rissen ist noch nicht trocken.«
»Ist er noch in der Nähe?« Willie sah sich um, offenbar eher neugierig als alarmiert.
»Nicht unmittelbar«, sagte Jamie, »oder die Pferde würden nervös werden. Aber auch nicht weit weg, aye. Haltet die Augen offen; bestimmt sehen wir seinen Dung oder seine Spuren.«
Nein, wenn John starb, dann würde seine zarte Verbindung zu Willie abreißen. Er hatte sich seit langem mit der Situation abgefunden und ihre Notwendigkeit klaglos akzeptiert - doch es würde ein herber Verlust für ihn sein, wenn ihm die Masern nicht nur seinen besten Freund, sondern auch jegliche Verbindung mit seinem Sohn raubten.
Der Regen hatte aufgehört. Als sie um die Flanke eines Berges bogen und oberhalb eines Tales herauskamen, machte Willie einen leisen Ausruf überraschter Freude und richtete sich im Sattel auf. Vor dem Hintergrund regenschwarzer Wolken wölbte sich in der Ferne ein Regenbogen vom Abhang eines Berges und fiel in einem perfekten Leuchten auf den Boden des Tales unter ihnen.
»Oh, wie wunderbar!« sagte Willie. Er wandte sich mit einem breiten Lächeln an Jamie, und ihre Differenzen waren vergessen. »Habt Ihr so etwas schon einmal gesehen, Sir?«
»Noch nie«, sagte Jamie und erwiderte das Lächeln. Mit einem kleinen Schreck wurde ihm klar, daß diese wenigen Tage in der Wildnis möglicherweise das letzte waren, das er jemals von Willie sah oder hörte. Er hoffte, den Jungen nicht mehr schlagen zu müssen.
 
Im Wald war sein Schlaf immer leicht, und das Geräusch weckte ihn sofort. Einen Augenblick lang lag er völlig still, nicht ganz sicher, was es war. Dann hörte er das leise, gedämpfte Geräusch und erkannte den Klang erstickten Weinens.
Er unterdrückte sein spontanes Bedürfnis, sich umzudrehen und dem Jungen tröstend die Hand aufzulegen. Willie gab sich größte Mühe, nicht gehört zu werden; er verdiente es, daß man ihm seinen Stolz ließ. Er lag still, hob den Blick zum weiten Nachthimmel über ihm und lauschte.
Es war keine Angst; Willie hatte keine Angst davor gezeigt, im dunklen Wald zu schlafen, und wäre ein großes Tier in der Nähe gewesen, so hätte der Junge etwas gesagt. Ging es ihm nicht gut? Die Geräusche waren kaum mehr als etwas lauteres Atmen, das ihm in der Kehle steckenblieb - vielleicht hatte der Junge Schmerzen und war zu stolz, es zu sagen. Es war Furcht, die ihn zum Sprechen trieb; wenn die Masern sie eingeholt hatten, durfte er keine Zeit verlieren; er mußte den Jungen sofort zu Claire zurückbringen.
»Milord?« sagte er leise.
Das Schluchzen verstummte abrupt. Er hörte ein Schlucken und das Rascheln von Stoff auf Haut, als sich der Junge mit dem Ärmel über das Gesicht wischte.
»Ja?« sagte der Graf, dessen tapferes Bemühen um Kühle nur durch seine belegte Stimme vereitelt wurde.
»Geht es Euch nicht gut, Milord?« Er konnte bereits erkennen, daß es etwas anderes war, aber es war ein guter Vorwand. »Habt Ihr vielleicht einen Krampf? Getrocknete Äpfel können einen Mann unglücklich erwischen.«
Auf der anderen Seite des Feuers war zu hören, wie jemand tief Luft holte und dann schniefte, während er versuchte, sich unauffällig seine laufende Nase zu putzen. Das Feuer war bis auf die Glut heruntergebrannt; dennoch konnte Jamie die dunkle Gestalt sehen, die sich zum Sitzen hochwand und dann auf der anderen Seite des Feuers hockte.
»Ich - äh - ja, ich glaube, so etwas… könnte es sein.«
Jamie setzte sich ebenfalls hin, und das Plaid glitt ihm von der Schulter.
»Es ist nichts Schlimmes«, sagte er tröstend. »Ich habe einen Trank, der alle möglichen Arten von Magenbeschwerden heilt. Keine Sorge, Milord; ich hole Wasser.«
Er stand auf und entfernte sich, wobei er darauf bedacht war, den Jungen nicht anzusehen. Als er mit dem gefüllten Kessel vom Bach zurückkam, hatte sich Willie die Nase geputzt und sich das Gesicht abgewischt. Er hatte im Sitzen die Knie angewinkelt und den Kopf daraufgelegt.
Er konnte nicht anders, als im Vorübergehen den Kopf des Jungen zu berühren. Zum Teufel mit der Zurückhaltung. Das dunkle Haar fühlte sich weich an, warm und etwas verschwitzt.
»Ein Grimmen im Bauch, ja?« sagte er freundlich, während er sich hinkniete und den Wasserkessel aufsetzte.
»Mm-hm.« Willies Stimme wurde von der Decke gedämpft, die über seinen Knien lag.
»Das geht bald vorbei«, sagte er. Er griff nach seinem Sporran und suchte zwischen der Vielzahl der kleinen Gegenstände herum, die dieser enthielt. Schließlich brachte er den kleinen Stoffbeutel mit der Mischung getrockneter Blätter und Blüten zum Vorschein, die Claire ihm mitgegeben hatte. Ihm war nicht klar, woher sie gewußt hatte, daß er den Tee brauchen würde, doch er stellte schon lange nichts mehr in Frage, was sie als Heilerin tat - ob für den Körper oder für die Seele.
Einen Augenblick lang war er ihr zutiefst dankbar. Es war ihm nicht entgangen, wie sie den Jungen ansah, und er ahnte, was sie fühlen mußte. Sie hatte natürlich von dem Jungen gewußt, aber keine Frau sollte es ertragen müssen, den Fleisch und Blut gewordenen Beweis dafür zu sehen, daß ihr Mann das Bett einer anderen geteilt hatte. Kein Wunder, daß sie John am liebsten mit heißen Nadeln gestochen hätte, hatte er ihr den Jungen doch einfach so vor die Nase gesetzt.
»Es dauert nur einen Moment, bis er durchgezogen ist«, versicherte er dem Jungen, während er die duftende Mischung zwischen seinen Fingern in einen Holzbecher zerrieb, wie er es bei Claire gesehen hatte.
Sie hatte ihm keine Vorwürfe gemacht. Zumindest nicht in diesem Fall, dachte er und erinnerte sich plötzlich, wie sie sich aufgeführt hatte, als sie von Laoghaire erfahren hatte. Da hatte sie sich wie eine Besessene auf ihn gestürzt, und doch, als sie später von Geneva Dunsany gehört hatte… vielleicht lag es nur daran, daß die Mutter des Jungen tot war?
Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Schwerthieb. Die Mutter des Jungen war tot. Nicht nur seine wirkliche Mutter, die am Tag seiner Geburt gestorben war - sondern auch die Frau, die er sein Leben lang Mutter gerufen hatte. Und jetzt lag sein Vater - oder zumindest der Mann, den er Vater nannte, dachte Jamie mit einem unbewußten Zucken seines Mundes - mit einer Krankheit darnieder, die nur wenige Tage zuvor einen anderen Mann vor den Augen des Jungen das Leben gekostet hatte.
Nein, es war nicht Angst, die den Jungen in der Dunkelheit vor sich hinweinen ließ. Es war Schmerz, und Jamie Fraser, der selbst als Kind seine Mutter verloren hatte, hätte das von Anfang an wissen sollen.
Nicht aus Sturheit, nicht einmal aus Loyalität hatte Willie darauf bestanden, in Fraser’s Ridge zu bleiben. Er hatte es aus Liebe zu John Grey getan und aus Angst davor, ihn zu verlieren. Und genau diese Liebe war es, die den Jungen in der Nacht zum Weinen brachte, verzweifelt vor Sorge um seinen Vater.
Ungewohnte Eifersucht sprang wie Unkraut in Jamies Herzen auf, beißend wie Brennesseln. Er zertrat sie entschlossen; was für ein Glück, daß er sicher sein konnte, daß sein Sohn eine liebevolle Beziehung zu seinem Stiefvater hatte. So, das Unkraut war zertreten. Doch die Fußtritte schienen eine kleine, wunde Stelle in seinem Herzen hinterlassen zu haben; er konnte sie beim Atmen spüren.
Das Wasser begann, im Kessel zu rumoren. Er goß es vorsichtig über die Kräutermischung, und mit dem Dampf stieg ein süßer Duft auf. Baldrian, hatte sie gesagt, und Katzenminze. Die Wurzel einer Passionsblume, in Honig getränkt und fein gemahlen. Und schließlich der süße, etwas erdige Geruch des Lavendels.
»Trink ihn nicht selbst«, hatte sie beiläufig gesagt, als sie ihm den Tee gab. »Er enthält Lavendel.«
Eigentlich hatte er damit keine Probleme, wenn er gewarnt war. Nur, wenn ihn dann und wann ein unerwarteter Lavendelhauch traf, dann fuhr ihm eine Welle der Übelkeit durch den Unterleib. Claire hatte diese Wirkung zu oft an ihm erlebt, um sich dessen nicht bewußt zu sein.
»Hier.« Er beugte sich vor, gab dem Jungen den Becher und fragte sich, ob auch ihn der Duft des Lavendels von jetzt an für immer beunruhigen würde oder ob er darin eine tröstende Erinnerung finden würde. Das, so glaubte er, konnte sehr wohl davon abhängen, ob John Grey überlebte oder starb.
Durch die Atempause hatte Willie äußerlich seine Fassung wiedergefunden, doch der Schmerz war ihm immer noch ins Gesicht geschrieben. Jamie lächelte dem Jungen zu und verbarg seine eigene Sorge. So, wie er John und Claire kannte, hatte er weniger Angst als der Junge - doch die Furcht war nach wie vor da, hartnäckig wie ein Dorn in seiner Fußsohle.
»Das wird Euch helfen«, sagte er und wies mit einem Kopfnicken auf den Becher. »Meine Frau hat ihn gemacht, sie ist eine große Heilerin.«
»Ja?« Der Junge atmete den Dampf tief und zitternd ein und berührte die heiße Flüssigkeit vorsichtig mit der Zunge. »Ich habe gesehen, wie sie - etwas gemacht hat. Mit dem Indianer, der gestorben ist.« Die Anklage war deutlich; sie hatte etwas gemacht, und der Mann war dennoch gestorben.
Weder Claire noch Ian hatten viele Worte darüber verloren, und er hatte keine Gelegenheit gehabt, sie zu fragen, was geschehen war - sie hatte die Augenbraue hochgezogen und ihm einen kurzen, goldenen Blick zugeworfen, der ihn beschwor, nicht vor Willie davon zu reden, der blaßgesichtig und kalt mit ihr aus dem Maisspeicher zurückgekehrt war.
»Aye?« sagte er neugierig. »Was hat sie denn gemacht?«
Was zum Teufel hatte sie getan? fragte er sich. Sicher nichts, was den Tod den Mannes herbeigeführt hatte; das hätte er ihr sofort angesehen. Sie fühlte sich auch nicht schuldig oder hilflos - er hatte sie schon oft in den Armen gehalten und sie getröstet, während sie um jene weinte, die sie nicht retten konnte. Diesmal war sie still und niedergeschlagen gewesen - genau wie Ian -,aber nicht sehr verstört. Sie war ihm nur etwas verwirrt vorgekommen.
»Sie hatte Schlamm im Gesicht. Und sie hat ihm etwas vorgesungen. Ich glaube, es war ein Papistenlied; es war auf Lateinisch und es hatte irgend etwas mit Sakramenten zu tun.«
»Wirklich?« Jamie unterdrückte sein eigenes Erstaunen über diese Beschreibung. »Aye, na ja. Vielleicht wollte sie dem Mann nur etwas Trost spenden, weil sie gesehen hat, daß sie ihm nicht helfen konnte. Die Indianer sind viel anfälliger für die Nebenwirkungen der Masern, wißt Ihr; manche Infektionen, die für sie tödlich sind, entlocken einem Weißen nicht einmal ein Stirnrunzeln. Ich habe selbst als kleiner Junge die Masern gehabt, und sie haben mir überhaupt nicht geschadet.« Er lächelte und richtete sich auf, als wollte er seine offenkundige Gesundheit demonstrieren.
Die Linien der Anspannung im Gesicht des Jungen lockerten sich ein wenig, und er trank vorsichtig einen Schluck von dem heißen Tee.
»Das ist es auch, was Mrs. Fraser gesagt hat. Sie hat gesagt, daß Papa nichts passiert. Sie - sie hat mir ihr Wort darauf gegeben.«
»Dann kannst du dich auch darauf verlassen«, sagte Jamie bestimmt. »Mrs. Fraser ist eine Frau von Ehre.« Er hustete und zog sich das Plaid höher über die Schultern; die Nacht war nicht kalt, doch es wehte ein Luftzug vom Hügel herab. »Hilft der Tee denn etwas?«
Willie machte ein verständnisloses Gesicht und blickte dann auf den Becher in seiner Hand.
»Oh! Ja. Ja, danke; er ist sehr gut. Mir geht es schon viel besser. Vielleicht waren es doch nicht die getrockneten Äpfel.«
»Vielleicht nicht«, stimmte Jamie zu und senkte den Kopf, um sein Lächeln zu verbergen. »Aber ich glaube, daß wir morgen etwas Besseres zum Abendessen bekommen; wenn wir Glück haben, gibt es Forelle.«
Der Ablenkungsversuch gelang; Willies Kopf zuckte von seinem Becher hoch, und in seinem Gesicht lag großes Interesse.
»Forelle? Wir können angeln?«
»Habt Ihr in England schon viel geangelt? Ich kann mir nicht vorstellen, daß man die Forellengewässer mit diesen hier vergleichen kann, aber ich weiß, daß man im Lake District gut angeln kann - sagt jedenfalls Euer Vater.«
Er hielt den Atem an. Warum in Gottes Namen hatte er das gefragt? Er selbst hatte mit dem fünfjährigen Willie auf dem See in der Nähe von Ellesmere Rotforellen geangelt, als er dort seine Zwangsarbeit ableistete. Wollte er, daß sich der Junge daran erinnerte?
»Oh… ja. Sicher, es ist ganz nett auf den Seen - aber ganz anders als das.« Willie schwenkte den Arm in die ungefähre Richtung des Baches. Die Falten im Gesicht des Jungen hatten sich geglättet, und es war wieder ein leichtes, lebendiges Flackern in seine Augen zurückgekehrt. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist ganz anders als England.«
»Das stimmt«, pflichtete Jamie ihm belustigt bei. »Aber werdet Ihr England nicht vermissen?«
Willie dachte einen Augenblick lang darüber nach, während er den restlichen Tee schlürfte.
»Ich glaube nicht«, sagte er und schüttelte entschlossen den Kopf. »Manchmal vermisse ich Großmama und meine Pferde, aber das ist alles. Da hatte ich nur Tutoren und Tanzstunden und Latein und Griechisch - igitt!« Er zog die Nase kraus, und Jamie lachte.
»Dann hat Euch das Tanzen also keinen Spaß gemacht?«
»Nein. Das muß man ja mit Mädchen machen.« Er warf Jamie einen Blick unter seinen feinen, dunklen Augenbrauen hervor zu. »Mögt Ihr Musik, Mr. Fraser?«
»Nein«, sagte Jamie lächelnd. »Aber ich mag Mädchen.« Und die Mädchen würden diesen Jungen auch mögen, dachte er, und nahm unauffällig Notiz von dessen breiten Schultern, seinen langen Schenkeln und den langen, dunklen Wimpern, die seine schönen blauen Augen verbargen.
»Ja. Mrs. Fraser ist aber auch sehr hübsch«, sagte der Graf höflich. Sein Mundwinkel krümmte sich plötzlich. »Obwohl sie schon komisch ausgesehen hat mit dem Schlamm im Gesicht.«
»Das glaube ich. Wollt Ihr noch eine Tasse, Milord?«
Claire hatte gesagt, die Mixtur sei beruhigend; sie schien ihre Wirkung zu tun. Während sie eine belanglose Unterhaltung über die Indianer und ihren seltsamen Glauben führten, wurden Williams Augenlider schwerer, und er gähnte mehrfach. Schließlich beugte sich Jamie vor und nahm ihm den Becher aus der erschlafften Hand.
»Die Nacht ist kalt, Milord«, sagte er. »Möchtet Ihr Euch vielleicht neben mich legen und die Decke mit mir teilen?«
Die Nacht war kühl, aber alles andere als kalt. Dennoch hatte er richtig geraten; Willie akzeptierte den Vorwand begierig. Er konnte keinen Adligen in seine Arme nehmen, um ihm Trost zu spenden, und der junge Graf konnte seinerseits nicht zugeben, daß er sich diesen Trost wünschte. Doch zwei Männer konnten ohne Scham nah beieinanderliegen, um sich gegenseitig zu wärmen.
Willie schlief sofort ein, eng an seine Seite geschmiegt. Jamie lag noch lange wach, einen Arm leicht über den Körper seines schlafenden Sohnes gelegt.
 
»Jetzt die kleine Gefleckte. Nur an der Spitze, und mit dem Finger festhalten, aye?« Er wickelte den Faden fest um die kleine Rolle aus weißer Wolle, gerade eben an Willies Finger vorbei, aber so, daß er das Ende der Spechtdaune mitumwickelte und die flaumigen Härchen der Feder spitz abstanden und in der hellen Luft zitterten.
»Seht Ihr? Es sieht aus wie ein kleines Insekt, das gerade losfliegt.«
Willie nickte, ohne den Blick von der Fliege abzuwenden. Zwei winzige, gelbe Schwanzfedern lagen glatt unter der Daunenfeder und ahmten die gespreizten Deckflügel eines Käfers nach.
»Ich verstehe. Ist es die Farbe, die zählt, oder nur die Form?«
»Beides, aber die Form ist wichtiger, glaube ich.« Jamie lächelte den Jungen an. »Am meisten zählt, wie hungrig die Fische sind. Wenn man den richtigen Zeitpunkt wählt, dann beißen sie auf alles an - sogar auf einen nackten Haken. Wählt man den falschen, dann ist es, als würde man mit Nabelschmalz angeln. Das dürft Ihr aber keinem Fliegenfischer erzählen; er nimmt die ganze Ehre für sich in Anspruch und läßt den Fischen nichts.«
Willie lachte nicht - der Junge lachte nur selten -,doch er lächelte und ergriff die Weidenrute mit der frischgebundenen Fliege.
»Ist der Zeitpunkt jetzt gut, was meint Ihr, Mr. Fraser?« Er beschattete seine Augen und blickte über das Wasser. Sie standen im kühlen Schatten eines Hains aus Schwarzweiden, doch die Sonne stand immer noch über dem Horizont, und das Wasser des Baches glitzerte wie Metall.
»Aye, Forellen fressen bei Sonnenuntergang. Seht Ihr die Pünktchen auf dem Wasser? Der Teich wird gerade lebendig.«
Die Oberfläche des Teiches war unruhig; das Wasser selbst lag still da, doch es breiteten sich Dutzende kleiner Wellenringe aus. Sie überschnitten einander, Ringe aus Licht und Schatten, die sich in endloser Folge ausbreiteten und brachen.
»Die Ringe? Ja. Sind das Fische?«
»Noch nicht. Es sind Mücken und Schnaken, die aus ihren Larven ausschlüpfen und die Wasseroberfläche durchbrechen, um in die Luft zu steigen - die Forellen sehen sie dann und kommen, um sie zu fressen.«
Ohne Vorwarnung schoß ein Silberstreifen in die Luft und fiel platschend zurück. Willie schnappte nach Luft.
»Das war ein Fisch«, sagte Jamie überflüssigerweise. Er fädelte rasch seine Angelschnur durch die geschnitzten Führungen, band eine Fliege an der Schnur fest und trat vor. »Jetzt seht her.«
Er zog den Arm zurück und beugte das Handgelenk, vor und zurück. Mit jedem Kreisen seines Unterarms verlängerte er die Schnur, bis er mit einem Schwung seines Handgelenkes sie in einer weiten, trägen Schlinge fliegen ließ und die Fliege niederschwebte wie eine kreisende Mücke. Er spürte den Blick des Jungen auf sich und war froh, daß es ein guter Wurf gewesen war.
Er ließ die Fliege einen Moment lang treiben und beobachtete sie - in der glitzernden Helle war sie schwer zu sehen -,dann begann er langsam, die Schnur einzuholen. Blitzschnell ging die Fliege unter. Der Ring, der bei ihrem Verschwinden entstand, hatte noch nicht einmal begonnen, sich auszubreiten, als es fest an der Schnur ruckte und er als Antwort ein wütendes Ziehen spürte.
»Da ist einer! Da ist einer!« Er konnte Willie hören, der aufgeregt hinter ihm am Ufer tanzte, aber seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Fisch.
Er hatte keine Spule, nur den Zweig mit dem Rest seiner Angelschnur. Er zog die Spitze der Rute weit zurück, ließ sie wieder nach vorn fallen und wickelte die lose Schnur mit einer schwungvollen Handbewegung auf. Noch einmal Schnur aufwickeln, dann ein verzweifelter Ansturm, der ihn die ganze gewonnene Schnur kostete und mehr.
Zwischen den blitzenden Lichtfunken konnte er nichts sehen, doch das Zerren und Ziehen, das seine Arme durchfuhr, war so gut wie Sicht; ein Zittern, so lebendig wie die Forelle selbst, als hielte er das Tier in Händen, das hin und her schlug und sich wand und kämpfte…
Frei. Die Schnur erschlaffte; einen Moment lang stand er da, während die Vibrationen des Kampfes in seinen Armen verebbten, und atmete die Luft ein, an die er im Eifer des Gefechtes nicht gedacht hatte.
»Sie ist entwischt! Oh, so ein Pech, Sir!« Willie stieg am Ufer herunter, die Angel in der Hand, das Gesicht voll offener Sympathie.
»Glück für den Fisch.« Jamie grinste, immer noch von seinem Kampf erregt, und wischte sich mit der feuchten Hand über das Gesicht. »Willst du es versuchen, Junge?« Zu spät fiel ihm ein, wie er den Jungen eigentlich hätte anreden sollen, doch Willie war zu aufgeregt, um den Ausrutscher zu bemerken.
Willie bog seinen Arm zurück, das Gesicht zu einer entschlossenen Grimasse verzogen, blinzelte auf das Wasser und ließ sein Handgelenk mit einem mächtigen Ruck herumschwingen. Die Rute flog ihm aus den Fingern und segelte elegant in den Teich.
Der Junge gaffte ihr nach und wandte sich dann mit einem Ausdruck äußerster Bestürzung an Jamie, der gar nicht erst versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Der junge Graf machte ein durch und durch verblüfftes und nicht besonders zufriedenes Gesicht, doch einen Augenblick später kringelten sich die Winkel seines breiten Mundes in die Höhe, und er gestand ironisch sein Mißgeschick ein. Er wies auf die Angel, die in etwa drei Metern Entfernung vom Ufer dahintrieb.
»Verscheuche ich nicht die ganzen Fische, wenn ich sie holen gehe?«
»Doch. Nehmt meine; ich hole die andere später zurück.«
Willie leckte sich die Lippen und biß konzentriert die Zähne zusammen, als er die neue Angel fest in die Hände nahm und sie mit kleinen Peitschenschlägen und Rucken ausprobierte. Er drehte sich zum Teich um, wiegte seinen Arm vor und zurück und ließ dann fest sein Handgelenk zuschnappen. Er erstarrte, und die Spitze der Angel bildete eine perfekte Verlängerung seines Armes. Die lose Schnur wickelte sich um die Angelrute und drapierte sich um Willies Kopf.
»Ein wunderbarer Wurf, Milord«, sagte Jamie und rieb sich fest mit dem Knöchel über den Mund. »Aber ich glaube, wir müssen erst eine neue Fliege daran festmachen aye?«
»Oh.« Langsam entspannte sich Willies starre Haltung, und er sah Jamie verlegen an. »Daran habe ich nicht gedacht.«
Etwas ernüchtert durch seine Fehlversuche gestattete der Graf, daß Jamie eine neue Fliege an der Angel befestigte und ihn dann beim Handgelenk nahm, um ihm zu zeigen, wie man die Angel richtig auswarf.
Er stellte sich hinter Willie und ergriff dessen rechtes Handgelenk, wobei er Willies schlanken Arm und seine vorstehenden Knöchel bewunderte, die zukünftige Größe und Kraft verhießen. Die Haut des Jungen war mit kühlem Schweiß bedeckt, und sein Arm fühlte sich fast genauso an wie das Zittern der Forelle an der Schnur, gespannt und muskulös, lebendig unter seinen Fingern. Dann riß sich Willie los, und für einen Augenblick war er verwirrt und verspürte ein seltsames Verlustgefühl, als ihr kurzer Kontakt abriß.
»Das ist nicht richtig«, sagte Willie und wandte sich um, um ihn anzusehen. »Ihr habt mit der linken Hand geworfen. Ich habe Euch gesehen.«
»Aye, aber ich bin Linkshänder, Milord. Die meisten Männer würden die Angel mit der Rechten auswerfen.«
»Linkshänder?« Willies Mund verzog sich wieder nach oben.
»Ich kann die meisten Tätigkeiten mit der linken Hand besser ausführen als mit der rechten, Milord.«
»Ich habe mir gedacht, daß es das heißt. Ich bin genauso.« Bei dieser Aussage machte Willie ein sehr zufriedenes und leicht verschämtes Gesicht. »Meine - meine Mutter hat gesagt, es gehört sich nicht, und daß ich lernen sollte, die andere zu benutzen wie ein Gentleman. Aber Papa hat nein gesagt und dafür gesorgt, daß ich mit der linken Hand schreiben durfte. Er hat gesagt, es spielt keine große Rolle, wenn ich mit dem Gänsekiel ungeschickt aussehe; wenn es ums Kämpfen mit dem Schwert ginge, wäre ich im Vorteil.«
»Euer Vater ist ein weiser Mann.« Sein Herz verkrampfte sich mit einem Gefühl irgendwo zwischen Eifersucht und Dankbarkeit - doch die Dankbarkeit überwog bei weitem.
»Papa ist Soldat gewesen.« Willie stellte sich ein wenig gerader hin und richtete voll unbewußtem Stolz seine Schultern auf. »Er hat in Schottland gekämpft, beim Auf - oh.« Er hustete, und sein Gesicht errötete leicht, als ein Blick auf Jamies Kilt fiel und ihm klar wurde, daß er sich wahrscheinlich gerade mit einem besiegten Teilnehmer ebendieser Auseinandersetzung unterhielt. Er spielte an der Angelrute herum und wußte nicht, wohin er blicken sollte.
»Aye, ich weiß. Da bin ich ihm zum ersten Mal begegnet.« Jamie achtete darauf, seine Stimme von jeglicher Belustigung freizuhalten. Er fühlte sich versucht, dem Jungen zu erzählen, unter welchen Umständen diese erste Begegnung stattgefunden hatte, doch das wäre eine armselige Belohnung gewesen für das unbezahlbare Geschenk, das John ihm gemacht hatte, diese wenigen, kostbaren Tage mit seinem Sohn.
»Er war wirklich ein sehr tapferer Soldat«, stimmte Jamie mit unbewegtem Gesicht zu. »Und in bezug auf die Hände hatte er auch recht. Habt Ihr denn schon Eure Ausbildung mit dem Schwert begonnen?«
»Nur ein bißchen.« Vor lauter Begeisterung über dieses neue Thema vergaß Willie seine Verlegenheit. »Ich habe einen kleinen Degen, seit ich acht bin, und kann täuschen und parieren. Papa sagt, ich bekomme ein richtiges Schwert, wenn wir nach Virginia kommen, jetzt bin ich groß genug, um Terzen und Ausfallschritte zu lernen.«
»Ah. Na dann, wenn Ihr ein Schwert mit links führen könnt, dann glaube ich auch nicht, daß es Euch Schwierigkeiten macht, auf dieselbe Weise mit einer Angel umzugehen. Hier, wir wollen es noch einmal versuchen, sonst gibt es kein Abendessen.«
Beim dritten Versuch senkte sich die Fliege perfekt herab und war kaum mehr als eine Sekunde auf dem Wasser getrieben, als eine kleine, aber hungrige Forelle an die Oberfläche rauschte und sie verschlang. Willie tat einen aufgeregten Schrei und riß so fest an der Rute, daß die verblüffte Forelle an seinem Kopf vorbei durch die Luft flog und platschend hinter ihm auf dem Ufer landete.
»Ich hab’s geschafft! Ich hab’s geschafft! Ich habe einen Fisch gefangen!« Willie schwenkte die Angel und rannte unter Freudengeheul in kleinen Kreisen herum, wobei er die seinem Titel angemessene Würde völlig vergaß.
»Das stimmt.« Jamie hob die Forelle auf, die von der Nase bis zum Schwanz vielleicht fünfzehn Zentimeter maß, und klopfte dem herumtanzenden Grafen zur Gratulation auf den Rücken. »Gut gemacht, Junge! Sieht so aus, als ob sie heute abend gut beißen; wir wollen es noch ein-,zweimal versuchen, aye?«
Die Forellen bissen tatsächlich gut. Als die Sonne hinter dem Rand der weit entfernten, schwarzen Berge versunken und das Silberwasser zu blindem Zinn verblichen war, hatte jeder von ihnen eine ansehnliche Reihe von Fischen gefangen. Sie waren beide naß bis auf die Knochen, erschöpft, halb blind vom grellen Sonnenlicht und durch und durch glücklich.
»Ich habe noch nie etwas gegessen, das auch nur halb so köstlich war«, sagte Willie verträumt. »Nie.« Er saß nackt in eine Decke gehüllt, und sein Hemd, seine Kniehosen und Strümpfe hingen zum Trocknen über einem Ast. Er legte sich mit einem zufriedenen Seufzen zurück und rülpste sacht.
Jamie hängte sein feuchtes Plaid über einen Busch und legte noch ein Holzscheit auf das Feuer. Das Wetter war gut, Gott sei Dank, doch es war kühl jetzt, wo die Sonne nicht mehr schien, der Nachtwind sich erhob und er ein feuchtes Hemd anhatte. Er stellte sich nah ans Feuer und ließ die heiße Luft unter seinem Hemd aufsteigen. Die Wärme stieg ihm an den Oberschenkeln hoch und berührte ihn an Brust und Bauch, angenehm wie Claires Hände auf der kühlen Haut zwischen seinen Beinen.
Er stand eine Zeitlang still da und beobachtete den Jungen, scheinbar, ohne ihn anzusehen. Auch wenn er seine Eitelkeit vergaß und gerecht urteilte, hielt er William für ein hübsches Kind. Dünner, als er sein sollte; man konnte jede Rippe sehen - aber mit sehnigen, muskulösen Gliedmaßen und am ganzen Körper wohlgeformt.
Der Junge hatte den Kopf abgewandt und blickte in das Feuer, so konnte er ihn offener ansehen. Ein Harztropfen zerplatzte knisternd im Kiefernholz und überflutete Willies Gesicht einen Moment lang mit goldenem Licht.
Jamie stand völlig still, spürte sein Herz schlagen, sah zu. Es war einer von diesen seltsamen Augenblicken, die er selten erlebte, aber nie wieder vergaß. Ein Augenblick, der sich in Herz und Verstand prägte und den er sich für den Rest seines Lebens jederzeit bis ins kleinste Detail wieder vor Augen rufen konnte.
Unmöglich zu sagen, was einen solchen Augenblick von allen anderen unterschied, doch er erkannte ihn, wenn er kam. Er hatte schon viel grauenhaftere oder auch schönere Anblicke gesehen, und doch waren sie ihm nur flüchtig und verschwommen in Erinnerung geblieben. Doch diese - die Zeitstillstände, wie er sie insgeheim nannte -, sie kamen ohne Vorwarnung, um ihm ein zufälliges Bild von den alltäglichsten Dingen unauslöschlich ins Hirn zu brennen. Sie waren wie die Fotografien, die Claire ihm mitgebracht hatte, nur trugen diese Augenblicke mehr in sich als nur den visuellen Eindruck.
Er hatte einen von seinem Vater, wie er verschmiert und schmutzig auf der Mauer eines Kuhstalls saß und ihm ein kalter, schottischer Wind durchs Haar fuhr. Er konnte diesen Augenblick heraufbeschwören und das trockene Heu und den Dunggeruch riechen, spüren, wie ihm der Wind die Finger kühlte und das Licht in den Augen seines Vaters ihm das Herz wärmte.
Er hatte solche Bilder von Claire, von seiner Schwester, von Ian… kurze Augenblicke, aus der Zeit ausgestanzt und durch eine seltsame Alchemie perfekt konserviert, in seiner Erinnerung erstarrt wie ein Insekt in Bernstein. Und jetzt hatte er noch eins.
Denn er würde sich diesen Augenblick zurückholen können, solange er lebte. Er würde den kalten Wind in seinem Gesicht spüren und das knisternde Gefühl der Haare auf seinen Oberschenkeln, vom Feuer halb versengt. Er würde den kräftigen Duft der in Maismehl gebratenen Forellen riechen und spüren, wie ihn eine verschluckte Gräte haarfein in die Kehle stach.
Er würde die dunkle Stille des Waldes hinter sich hören und das sanfte Rauschen des nahen Baches. Und für immer würde er sich jetzt an den goldenen Feuerschein im geliebten, klaren Gesicht seines Sohnes erinnern.
»Deo gratias«, murmelte er, und nur daran, daß der Junge sich aufgeschreckt zu ihm umdrehte, merkte er, daß er es laut gesagt hatte.
»Was?«
»Nichts.« Er wandte sich ab, um den Augenblick zu überbrücken, und nahm sein halbtrockenes Plaid von dem Busch herunter. Selbst völlig durchnäßt isolierte die Highlandwolle noch die Körperwärme und schützte vor Kälte.
»Ihr solltet schlafen, Milord«, sagte er, während er sich hinsetzte und die feuchten Plaidfalten um sich herum arrangierte. »Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.«
»Ich bin nicht müde.« Wie zum Beweis setzte Willie sich hin und fuhr sich heftig mit der Hand durch das Haar, so daß die dichte, rostbraune Masse wie eine Mähne um seinen Kopf herumstand.
Jamie spürte einen Stich der Bestürzung; er erkannte die Geste nur zu gut als seine eigene. Mehr noch, er war gerade im Begriff gewesen, exakt dasselbe zu tun, und er konnte seine Hände nur mit Mühe stillhalten.
Er versuchte sein Herz zu beruhigen, das wild in seinem Hals pochte, und griff nach seinem Sporran. Nein. Sicher käme der Junge nie auf den Gedanken - Jungen in seinem Alter achteten herzlich wenig auf das, was die Erwachsenen sagten oder taten, geschweige denn, daß sie sie genau beobachteten. Dennoch war es für sie alle ein höllisches Risiko gewesen; Claires Gesichtsausdruck hatte ausgereicht, um ihm zu zeigen, wie auffallend die Ähnlichkeit war.
Er holte tief Luft und fing an, die kleinen Stoffbündel hervorzuholen, die seine Materialien zur Fliegenherstellung enthielten. Sie hatten all seine fertigen Fliegen aufgebraucht, und wenn er zum Frühstück angeln wollte, dann mußte er noch ein paar vorbereiten.
»Kann ich mithelfen?« Willie wartete keine Erlaubnis ab, sondern sauste um das Feuer herum und setzte sich neben ihn. Wortlos schob er dem Jungen die kleine Holzdose mit den Federn hin und zog einen Angelhaken aus dem Korkstück, in dem diese steckten.
Sie arbeiteten eine Zeitlang still vor sich hin und pausierten nur, um einen fertigen Silver Doctor oder Broom Eye zu bewundern, oder wenn Jamie dem Jungen einen Ratschlag gab oder ihm beim Festbinden half. Doch Willie wurde der mühsamen Kleinarbeit bald überdrüssig. Er legte seinen halbfertigen Green Whisker hin und stellte Jamie zahllose Fragen über das Angeln, die Jagd, den Wald und die Indianer, zu denen sie unterwegs waren.
»Nein«, beantwortete Jamie eine dieser Fragen. »Ich habe noch nie einen Skalp im Dorf gesehen. Meistens sind sie sehr liebenswürdig. Wenn ihnen allerdings Unrecht widerfährt, dann läßt ihre Rache nicht lange auf sich warten.« Er lächelte ironisch. »In dieser Hinsicht erinnern sie mich ein bißchen an die Highlander.«
»Großmama sagt, die Schotten vermehren sich w -« Der beiläufig begonnene Satz erstickte abrupt. Jamie blickte auf und sah, daß Willie sich mit aller Kraft auf die halbfertige Fliege zwischen seinen Fingern konzentrierte, das Gesicht so rot, daß es unmöglich nur vom Feuerschein kommen konnte.
»Wie die Karnickel?« Jamie ließ Ironie und ein Lächeln in seiner Stimme mitklingen. Willie warf einen vorsichtigen Seitenblick in seine Richtung.
»Schottische Familien sind manchmal groß, aye.« Jamie zupfte eine Zaunkönigsdaune aus der kleinen Dose und legte sie vorsichtig an den Schaft des Angelhakens. »Für uns sind Kinder ein Segen.«
Die leuchtende Farbe auf Willies Wangen verblaßte. Er setzte sich etwas gerader hin.
»Ach so. Habt Ihr auch viele Kinder, Mr. Fraser?«
Jamie fiel die Daune aus der Hand.
»Nein, nicht viele«, sagte er und hielt seinen Blick auf das gesprenkelte Laub gerichtet.
»Entschuldigung. Ich habe nicht daran gedacht - das heißt…« Jamie blickte auf und sah, daß Willie erneut rot geworden war und die halbfertige Fliege in seiner Hand zerdrückte.
»Woran gedacht?« sagte er verwundert.
Willie holte tief Luft.
»Also - die… die… Krankheit; die Masern. Ich habe keine Kinder bei Euch gesehen, aber ich habe nicht daran gedacht, als ich sagte… ich meine… daß Ihr vielleicht welche hattet, aber daß sie…«
»Och, nein.« Jamie lächelte ihn beruhigend an. »Meine Tochter ist erwachsen; sie lebt schon lange weit weg in Boston.«
»Oh.« Willie atmete extrem erleichtert auf. »Mehr nicht?«
Ein Lufthauch bewegte die herabgefallene Daune und gab ihre Position im Dunkeln preis. Jamie schnappte mit Daumen und Zeigefinger zu und hob sie sachte auf.
»Doch, ich habe auch einen Sohn«, sagte er und blickte auf den Haken, der sich irgendwie in seinen Daumen gebohrt hatte. Ein kleiner Blutstropfen quoll um das glänzende Metall herum auf. »Ein Prachtjunge, und ich liebe ihn sehr, aber im Augenblick ist er nicht zu Hause.«
Der Ruf Der Trommel
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