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Unterhaltung um drei Ecken
Oktober 1769
Der Schock des Aufpralls vibrierte in seinen
Armen. Mit dem Rhythmusgefühl, das langjähriger Übung entstammte,
riß Jamie die Beilklinge frei, schwang sie zurück und ließ sie
wieder herabsausen. Mit einem Tschunk! flogen Rindensplitter
und gelbe Holzspäne umher. Er schob seinen Fuß auf dem Baumstamm
ein Stück zur Seite und schlug erneut zu, ein genau gezielter
Axthieb, der das scharfe Metall knappe fünf Zentimeter neben seinen
Zehen im Holz versenkte.
Er hätte Ian das Holzhacken auftragen und selbst
das Mehl in der kleinen Mühle am Woolams Point abholen können, doch
der Woolam-Junge verdiente den Besuch bei den drei unverheirateten
Töchtern, die zusammen mit ihrem Vater in der Mühle arbeiteten. Sie
waren Quäkermädchen, grau gekleidet wie Kirchenmäuse, jedoch
intelligent und hübsch, und sie verwöhnten Ian und übertrafen sich
gegenseitig darin, ihm bei seinen Besuchen Bier und Fleischpasteten
anzubieten.
Besser, der Junge flirtete mit tugendsamen
Quäkerinnen als mit den aufdringlichen Indianermädchen auf der
anderen Seite des Berges, dachte er etwas grimmig. Er hatte nicht
vergessen, was Myers über die Indianerfrauen erzählt hatte, die
sich die Männer ins Bett holten, wie es ihnen gefiel.
Er hatte das kleine Dienstmädchen mit Ian
losgeschickt, weil er hoffte, daß die kühle Herbstluft vielleicht
ein wenig Farbe in das Gesicht des Mädchens bringen würde. Die Haut
des Mädchens war so hell wie Claires, hatte aber den kränklichen,
blauweißen Schimmer entrahmter Milch, nicht Claires blasses
Leuchten, so satt und fehlerlos wie das seidenweiße Kernholz einer
Pappel.
Das Holzstück war fast gespalten; noch ein Hieb und
ein kräftiger Ruck an der Axt, und zwei ordentliche Scheite, die
einen klaren, scharfen Harzgeruch ausströmten, lagen für die
Feuerstelle bereit. Er legte sie sorgfältig auf den wachsenden
Holzstapel neben der Vorratskammer und rollte sich das nächste
Holzstück unter den Fuß.
Eigentlich hackte er gerne Holz. Es war etwas ganz
anderes als die feuchte, mörderische, fußerfrierende Arbeit des
Torfstechens, brachte aber dieselbe tiefe Genugtuung über einen
anständigen Brennstoffvorrat mit sich, die nur derjenige kennt, der
einmal einen Winter in dünnen Kleidern durchgezittert hat. Der
Holzstapel reichte jetzt fast bis an die Traufen des Hauses,
trockene Scheite aus Kiefernholz und Eiche, Hickory und Ahorn,
deren Anblick ihm die Seele genauso erwärmte, wie ihm später das
Holz den Körper wärmen würde.
Apropos Wärme; dafür, daß es später Oktober war,
war es ein warmer Tag, und sein Hemd klebte ihm schon an den
Schultern. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und
betrachtete den feuchten Fleck kritisch.
Wenn es so naß wurde, daß man es auswringen konnte,
würde Brianna darauf bestehen, es wieder zu waschen, auch wenn er
noch so sehr einwandte, daß der Schweiß ganz sauber war. »Puh«,
würde sie mit tadelnd geblähten Nasenlöchern sagen und wie ein
Opossum ihre lange Nase kräuseln. Er hatte laut gelacht, als er das
zum ersten Mal gesehen hatte; vor Überraschung genauso wie aus
Belustigung.
Seine Mutter war vor langer Zeit gestorben, als er
noch ein Kind war, und obwohl er sich manchmal in seinen Träumen an
sie erinnerte, hatte er ihre Gegenwart zum Großteil durch statische
Bilder, Augenblicke ersetzt, die in seinem Gedächtnis erstarrt
waren. Aber sie hatte auch immer »Puh!« zu ihm gesagt, wenn er
schmutzig nach Hause kam, und ihre lange Nase ganz genauso
gekräuselt - er hatte sich blitzartig daran erinnert, als er es bei
Brianna sah.
Was für ein Rätsel doch die Blutsverwandtschaft war
- wie konnte eine winzige Geste, ein Tonfall die Generationen
genauso überdauern wie die handfesteren körperlichen Wahrheiten? Er
hatte es schon oft beobachtet, während er seine Nichten und Neffen
aufwachsen sah, und hatte ohne großes Nachdenken die Echos der
Eltern und Großeltern hingenommen, die sich für kurze Augenblicke
zeigten, den Schatten eines Gesichtes, das durch die Jahre hindurch
zurückblickte - und wieder im Gesicht der Gegenwart
verschwand.
Und doch, jetzt wo er es bei Brianna sah… er konnte
ihr stundenlang zusehen, dachte er, und fühlte sich dabei daran
erinnert, wie sich seine Schwester jedesmal voller Faszination
dicht über ihre Neugeborenen beugte. Vielleicht war das der Grund,
warum Eltern ihre Kinder mit solcher Verzauberung beobachteten,
dachte er; weil sie all die kleinen Bindeglieder entdeckten, die
die Kette des Lebens zwischen ihnen knüpften, von einer Generation
zur nächsten.
Er zuckte mit den Achseln und zog das Hemd aus. Er
war hier
schließlich zu Hause; es war niemand da, der die Narben auf seinem
Rücken sehen konnte, und niemand, den sie etwas angingen, wenn es
doch geschah. Die Luft traf kühl und unvermittelt auf seine feuchte
Haut, doch ein paar Axthiebe brachten sein Blut wieder zum
Pulsieren.
Er liebte Jennys Kinder sehr - vor allem Ian, den
kleinen Trottel, dessen Mischung aus Unvernunft und dickköpfiger
Courage ihn so sehr an sich selbst in diesem Alter erinnerte. Sie
alle waren schließlich mit ihm verwandt. Doch Brianna…
Brianna war sein eigen Fleisch und Blut. Ein
unausgesprochenes Versprechen an seine Eltern, das er eingelöst
hatte; sein Geschenk an Claire und ihres an ihn.
Nicht zum ersten Mal ertappte er sich dabei, daß er
sich Gedanken über Frank Randall machte. Was hatte sich Randall
gedacht, wenn er das Kind eines anderen Mannes im Arm hielt - eines
Mannes, den zu lieben er keinen Grund hatte.
Was das anging, war Randall ja vielleicht doch der
bessere Mensch gewesen - weil er ein Kind um seiner Mutter willen
angenommen hatte, nicht um seiner selbst willen; weil er sich an
ihrem Gesicht nur um seiner Schönheit willen erfreut hatte und
nicht, weil er sich selbst darin wiederfand. Er schämte sich vage
und schlug heftiger zu, um das Gefühl zu vertreiben.
Sein Verstand war vollständig mit seinen Gedanken
beschäftigt, nicht mit seiner Arbeit. Doch wenn er die Axt
benutzte, war sie ebenso ein Teil seines Körpers wie die Arme, die
sie schwangen. Genauso wie ein Ziehen in seinem Arm oder Ellbogen
ihn auf der Stelle vor einer Verletzung gewarnt hätte, bremste ihn
jetzt eine schwache Vibration, eine unmerkliche Gewichtsverlagerung
mitten im Schwung, so daß die gelockerte Klinge über die Lichtung
flog, ohne Schaden anzurichten, anstatt sich in seinen
verletzlichen Fuß zu rammen.
»Deo gratias«, murmelte er mit sehr viel
weniger Dankbarkeit, als die Worte suggerierten. Er bekreuzigte
sich mechanisch und ging, um das Metallstück aufzuheben. Verdammte
Trockenheit; es hatte seit fast einem Monat nicht mehr geregnet.
Das geschrumpfte Heft seiner Axt machte ihm weniger Sorgen als die
herabhängenden Köpfe der Pflanzen in Claires Garten am Haus.
Er warf einen Blick auf den halbfertigen Brunnen
und zuckte verärgert mit den Achseln. Noch eine Arbeit, die getan
werden mußte, für die er aber keine Zeit hatte. Doch sie würde
einfach warten müssen; sie konnten immer Wasser vom Bach
hochschleppen oder Schnee schmelzen, aber ohne Brennholz würden sie
verhungern oder erfrieren - oder beides.
Die Tür ging auf und Claire kam heraus, durch ihren
Umhang vor der Kühle der herbstlichen Schatten geschützt, ihren
Korb über dem Arm. Brianna war hinter ihr, und bei ihrem Anblick
vergaß er seine Verärgerung.
»Was hast du gemacht?« fragte Claire sogleich, als
sie ihn mit der Axtklinge in der Hand sah. Ihr Blick überflog ihn
schnell und suchte nach Blut.
»Nein, ich bin nicht verletzt«, beruhigte er sie.
»Ich muß nur den Griff reparieren. Geht ihr Kräuter suchen?« Er
wies kopfnickend auf Claires Korb.
»Ich dachte, wir könnten flußaufwärts Holunderpilze
suchen.«
»Ah? Geht nicht zu weit weg, aye? Es sind Indianer
weiter hinten auf dem Berg auf der Jagd. Ich habe sie heute morgen
auf dem Grat gerochen.«
»Du hast sie gerochen?« fragte Brianna.
Sie zog fragend ihre rote Augenbraue hoch. Er sah,
wie Claire von Brianna zu ihm blickte und schwach lächelte; also
war es eine seiner eigenen Gesten. Er zog die Augenbrauen hoch, sah
Claire an, und ihr Lächeln wurde breiter.
»Es ist Herbst, und sie räuchern Wild«, erklärte er
Brianna. »Man kann die Räucherfeuer weit riechen, wenn der Wind
richtig steht.«
»Wir gehen nicht weit weg«, versicherte ihm Claire.
»Nur am Forellenteich vorbei.«
»Aye, gut. Ich schätze, das ist wohl sicher.« Es
widerstrebte ihm etwas, die Frauen gehen zu lassen, doch er konnte
sie kaum im Haus einsperren, nur weil Wilde in der Nähe waren - die
Indianer waren zweifelsohne friedlich mit ihren
Wintervorbereitungen beschäftigt, genau wie er.
Wenn er nur sicher wüßte, ob es Nacognawetos Leute
waren, dann würde er sich keine Sorgen machen, doch es war so, daß
die Jäger oft weit ins Land zogen und es genausogut Cherokee sein
konnten oder jener seltsame kleine Stamm, der sich das Hundevolk
nannte. Nur eins ihrer Dörfer war übriggeblieben, und sie waren
weißen Fremden gegenüber zutiefst mißtrauisch - und das nicht ohne
Grund.
Briannas Augen ruhten einen Augenblick lang auf
seiner entblößten Brust und dem kleinen Knoten aus vorspringendem
Narbengewebe, doch sie zeigte keinerlei Abscheu oder Neugier - auch
dann nicht, als sie ihm kurz die Hand auf die Schulter legte und
ihn zum Abschied auf die Wange küßte, obwohl er wußte, daß sie die
verheilten Schwielen unter ihren Fingern spüren mußte.
Claire hatte es ihr wohl erzählt, dachte er - alles
über Jack Randall
und die Zeit vor dem Aufstand. Oder vielleicht doch nicht alles.
Ein kleiner Schauer, der nicht von der Kühle herrührte, lief ihm an
der Wirbelsäule hoch, und er trat zurück, aus ihrer Reichweite
heraus, obwohl er sie weiter anlächelte.
»Es ist Brot im Schrank und ein bißchen Eintopf im
Kessel für dich und Ian und Lizzie.« Claire streckte die Hand aus
und schnippte ihm einen verirrten Holzsplitter aus dem Haar. »Bitte
nicht den Pudding in der Vorratskammer essen; der ist fürs
Abendessen.«
Er fing ihre Finger in den seinen auf und küßte
sacht ihre Knöchel. Sie machte ein überraschtes Gesicht, dann
erschien ein schwaches, warmes Glühen unter ihrer Haut. Sie stellte
sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf den Mund, dann eilte
sie Brianna nach, die schon am Rand der Lichtung war.
»Seid vorsichtig!« rief er ihnen nach. Sie winkten
und verschwanden im Wald, und er blieb zurück, ihre Küsse sanft in
seinem Gesicht.
»Deo gratias«, murmelte er noch einmal,
während er ihnen nachsah, und diesmal sagte er es aus aufrichtiger
Dankbarkeit. Dann machte er sich wieder an die Arbeit.
Er saß auf dem Hackklotz, neben sich auf dem Boden
eine Handvoll Nägel mit eckigen Köpfen, die er nacheinander
vorsichtig mit dem Hammer in das Ende des Axtstiels trieb. Das
trockene Holz spaltete sich und ging auseinander, konnte aber nicht
zersplittern, da die Eisenklammer der Axtklinge es
zusammenhielt.
Er drehte an der Klinge, und da sie ihm fest
vorkam, stand er auf und ließ sie probehalber mit einem mächtigen
Hieb auf den Hackklotz sausen. Sie hielt.
Vom Sitzen war ihm jetzt kalt geworden, und er zog
sich das Hemd wieder an. Hunger hatte er auch, doch er würde auf
die jungen Leute warten. Nicht, daß die sich nicht schon selber
vollgestopft hätten, dachte er zynisch. Er konnte die
Fleischpasteten, die Sarah Woolam machte, beinahe riechen, und ihr
würziger Geruch verwob sich in seinen Gedanken mit den realen
Herbstgerüchen nach toten Blättern und feuchter Erde.
Der Gedanke an Fleischpasteten blieb ihm weiter im
Hinterkopf, als er mit seiner Arbeit fortfuhr, zusammen mit dem
Gedanken an den Winter. Die Indianer sagten, er würde hart werden,
der Winter, nicht so wie der letzte. Wie würde es sein, im tiefen
Schnee zu jagen? Natürlich gab es in Schottland Schnee, doch oft
lag er nur ganz dünn auf dem Boden, und die ausgetretenen
Wildwechsel waren schwarz auf den steilen, kahlen Berghängen zu
sehen.
Der letzte Winter war so gewesen. Doch diese
Wildnis neigte zu Extremen. Er hatte Geschichten von Schneedecken
gehört, die fast zwei Meter dick waren, von Tälern, wo man bis zu
den Achseln einsinken konnte, davon, daß das Eis auf den Flüssen so
dick gefror, daß ein Bär hinüberspazieren konnte. Er lächelte
leicht grimmig bei dem Gedanken an Bären. Tja, sie würden einen
ganzen Winter davon essen können, wenn er noch einen erlegen
könnte, und das Fell könnte er auch brauchen.
Sein Bewußtsein driftete langsam in den Rhythmus
seiner Arbeit ab, und ein Teil seiner Gedanken war dumpf von dem
Text von »Daddy’s Gone A-Hunting« eingenommen, während sich der
andere mit einem verlockend lebendigen Bild von Claires Haut
beschäftigte, so blaß und berauschend wie Rheinwein auf dem
glänzenden Schwarz eines Bärenfells.
»Daddy’s gone to fetch a skin / To wrap his baby
bunting in«, murmelte er tonlos vor sich hin.
Er fragte sich, wieviel Claire Brianna wirklich
erzählt hatte. Sie war merkwürdig, wenn auch nicht unangenehm,
diese Art, sich um drei Ecken zu unterhalten; er und das Mädchen
waren noch ein wenig schüchtern im Umgang miteinander - sie neigten
dazu, persönliche Dinge statt dessen lieber Claire zu sagen und
darauf zu bauen, daß diese die Essenz ihrer Worte schon weitersagen
würde; daß sie in dieser neuen und umständlichen Herzenssprache
ihre Dolmetscherin sein würde.
So dankbar er auch für das Wunder seiner Tochter
war, er würde gern wieder in seinem Bett mit seiner Frau schlafen.
Es wurde zu kühl, um es im Kräuterschuppen oder im Wald zu tun -
obwohl er zugeben mußte, daß es einen gewissen Charme hatte, nackt
in einem riesigen Haufen aus gelbem Kastanienlaub herumzustrampeln,
wenn es auch an Würde zu wünschen übrigließ.
»Aye, ach was«, brummte er und lächelte schwach vor
sich hin. »Und wann hat sich ein Mann jemals dabei Sorgen um
seine Würde gemacht?«
Er blickte nachdenklich auf einen Stapel langer,
gerader Kiefernstämme, die am Rand der Lichtung lagen, dann auf die
Sonne. Wenn Ian schnell genug zurückkam, konnten sie vielleicht
noch vor Sonnenuntergang ein gutes Dutzend davon abvieren und
einkerben.
Er stellte die Axt fürs erste ab und ging zum Haus
hinüber. Dort schritt er die Maße des neuen Zimmers ab, das er
plante, damit sie zurechtkamen, solange das große Haus noch im Bau
war. Sie war eine erwachsene Frau, Brianna - sie sollte ihr eigenes
Zimmer haben, in
das sie sich zurückziehen konnte, sie und ihre Magd. Und wenn er
dann außerdem wieder mit Claire ungestört sein konnte, nun, um so
besser, aye?
Er hörte die leisen Knistergeräusche im trockenen
Laub auf dem Hof, drehte sich aber nicht um. Hinter ihm ertönte
leises Husten wie von einem niesenden Eichhörnchen.
»Mrs. Lizzie«, sagte er, die Augen immer noch am
Boden. »Hat dir die Fahrt gefallen? Ich hoffe, bei Woolams war
alles bestens.« Wo war Ian mit dem Wagen? fragte er sich. Er hatte
ihn unten auf der Straße nicht gehört.
Sie sagte nichts, sondern machte ein
unartikuliertes Geräusch, daß ihn überrascht herumfahren ließ, um
sie anzusehen.
Sie war bleich, ihr Gesicht verkrampft, und sie sah
aus wie eine verschreckte weiße Maus. Das war nichts
Ungewöhnliches; er wußte, daß er ihr mit seiner Größe und seiner
tiefen Stimme Angst einjagte, daher sprach er sie so sanft und
langsam an, wie er es mit einem mißhandelten Hund getan
hätte.
»Hast du einen Unfall gehabt, Kleine? Ist etwas mit
dem Wagen oder den Pferden geschehen?«
Sie schüttelte den Kopf, immer noch wortlos. Ihre
Augen waren fast rund und so grau wie der Saum ihres verwaschenen
Kleides, und ihre Nasenspitze war leuchtend rot geworden.
»Ist mit Ian alles in Ordnung?« Er wollte sie nicht
noch weiter in Aufregung versetzen, doch sie begann, ihn zu
beunruhigen. Irgend etwas war geschehen, soviel war
sicher.
»Mir geht’s gut, Onkel Jamie. Den Pferden auch.«
Lautlos wie ein Indianer bog Ian um die Ecke des Blockhauses. Er
trat an Lizzies Seite, bot ihr seine schützende Gegenwart an, und
sie ergriff automatisch seinen Arm.
Er blickte von ihm zu ihr; Ian war äußerlich ruhig,
doch seine innere Aufregung war deutlich zu sehen.
»Was ist geschehen?« fragte er schärfer als
beabsichtigt. Das Mädchen zuckte zusammen.
»Sag’s ihm lieber«, sagte Ian. »Möglicherweise
haben wir nicht viel Zeit.« Er berührte zur Ermutigung ihre
Schulter, und sie schien Kraft aus seiner Hand zu ziehen; sie
stellte sich gerader hin und nickte.
»Ich - da war - ich habe einen Mann gesehen. Bei
der Mühle, Sir.«
Sie versuchte, weiterzureden, doch ihr war der Mut
ausgegangen; ihre Zungenspitze lugte bemüht zwischen ihren Zähnen
hervor, doch es kamen keine Worte.
»Sie kannte ihn, Onkel Jamie«, sagte Ian. Er sah
verstört aus, aber
nicht angstvoll; eher aufgeregt auf eine völlig neue Art und
Weise. »Sie hatte ihn schon einmal gesehen - mit Brianna.«
»Aye?« Er versuchte, ermutigend zu klingen, doch
seine Nackenhaare sträubten sich ahnungsvoll.
»In Wilmington«, brachte Lizzie hervor. »MacKenzie
war sein Name; ich habe gehört, wie ein Seemann ihn so genannt
hat.«
Jamie warf Ian einen schnellen Blick zu, doch
dieser schüttelte den Kopf.
»Er hat nicht gesagt, wo er herkam, doch ich kenne
niemanden aus Leoch, der so aussieht wie er. Ich habe ihn gesehen
und ihn sprechen gehört; vielleicht ist er ein Highlander, aber im
Süden erzogen, würde ich sagen - ein gebildeter Mann.«
»Und es hat so ausgesehen, als würde dieser
MacKenzie meine Tochter kennen?« fragte er. Lizzie nickte und
runzelte konzentriert die Stirn.
»Oh, aye, Sir! Und sie kannte ihn auch - sie hatte
Angst vor ihm.«
»Angst? Warum?« Er sprach scharf, und sie
erbleichte, doch inzwischen hatte sie sich warmgeredet, und ihre
Worte kamen zwar stotternd und stolpernd, aber sie kamen.
»Ich weiß es nicht, Sir. Aber sie ist bei seinem
Anblick bleich geworden, Sir, und hat leise aufgeschrien. Dann ist
sie rot geworden, dann weiß, dann wieder rot - oh, sie war ziemlich
aufgeregt, das konnte jeder sehen!«
»Was hat er getan?«
»Also - also - nichts, zunächst. Er ist zu ihr
gekommen und hat sie bei den Armen gepackt und ihr gesagt, sie
müßte mit ihm kommen. Alle Augen im Schankraum waren auf sie
gerichtet. Dann hat sie sich losgerissen, leichenblaß, aber sie hat
zu mir gesagt, es wäre alles in Ordnung, und ich sollte warten, und
sie würde zurückkommen. Und - und dann ist sie mit ihm
hinausgegangen.«
Lizzie holte kurz und tief Luft und wischte sich
ihre Nasenspitze ab, die angefangen hatte zu tropfen.
»Und du hast sie gehen lassen?«
Die kleine Magd schrak zurück und zog den Kopf
ein.
»Ooh, ich hätte ihr folgen sollen, ich weiß, daß
ich das gesollt hätte, Sir!« rief sie, das Gesicht vor lauter Elend
verzogen. »Aber ich hatte Angst, Sir, und möge Gott mir
vergeben!«
Mühsam glättete Jamie seine gerunzelte Stirn und
sprach so geduldig weiter, wie er konnte.
»Aye, nun gut. Und was ist dann passiert?«
»Oh, ich bin nach oben gegangen, wie sie mir gesagt
hatte, und ich habe im Bett gelegen, Sir, und aus Leibeskräften
gebetet!«
»Oh, ja, das war bestimmt sehr hilfreich!«
»Onkel Jamie…« Ians Stimme war leise, aber nicht im
mindesten zurückhaltend, und seine braunen Augen ruhten fest auf
Jamie. »Sie ist doch nur ein kleines Mädchen, Onkel Jamie; sie hat
ihr Bestes getan.«
Jamie rieb sich fest mit der Hand über die
Kopfhaut.
»Aye«, sagte er. »Aye, tut mir leid, Kleine; ich
hatte nicht vor, dir den Kopf abzureißen. Aber kannst du nicht auf
den Punkt kommen?«
Ein heißer, roter Fleck hatte auf jeder ihrer
Wangen zu brennen begonnen.
»Sie - sie ist erst kurz vor der Dämmerung
zurückgekommen. Und - und…«
Jamie war mit seiner Geduld fast am Ende, und
zweifellos konnte man seinem Gesicht das ansehen.
»Ich konnte ihn an ihr riechen«, flüsterte sie und
senkte die Stimme so weit, daß sie fast unhörbar wurde. »Seinen…
Samen.«
Die Wut überrannte ihn unvorbereitet, wie ein
weißglühender Blitz, der ihm durch Brust und Bauch fuhr. Sie
erstickte ihn fast, doch er unterdrückte sie fest und hielt sie
unter Kontrolle wie die Kohlen in einer Feuerstelle.
»Also hat er sie in sein Bett geholt; bist du dir
sicher?«
Durch und durch verlegen über seine Direktheit,
konnte die kleine Magd nur nicken.
Lizzie vergrub ihre Hände im Stoff ihres Kleides;
ihr Rock war völlig zerbeult und zerknittert. Ihre Blässe war
tiefem Erröten gewichen; sie sah aus wie eine von Claires Tomaten.
Sie konnte ihm nicht ins Gesicht sehen, sondern ließ den Kopf
hängen und starrte zu Boden.
»Oh, Sir. Sie bekommt ein Kind, könnt Ihr das nicht
sehen? Es muß von ihm sein - sie war eine Jungfrau, als er sie
genommen hat. Er ist ihr gefolgt - und sie hat Angst vor
ihm.«
Ganz plötzlich konnte er es sehen und
spürte, wie ihm die Haare auf den Armen und Schultern zu Berge
standen. Der Herbstwind blies ihm eisig durchs Hemd, und seine Wut
verwandelte sich in Übelkeit. All die kleinen Dinge, die er halb
gesehen und halb gedacht hatte, ohne ihnen zu erlauben, an die
Oberfläche seines Bewußtseins zu steigen, ergaben auf einmal ein
logisches Muster.
Ihr Aussehen und die Art, wie sie sich verhielt; im
einen Augenblick lebendig und im nächsten in sorgenvollen Gedanken
verloren. Und das Leuchten in ihrem Gesicht, auch wenn die Sonne
nicht schien. Er wußte genau, wie eine Frau in anderen Umständen
aussah; wenn er sie vorher schon gekannt hätte, hätte er die
Veränderung gesehen; aber so…
Claire. Claire wußte es. Der Gedanke überkam ihn
mit kalter Gewißheit.
Sie kannte ihre Tochter, und sie war Ärztin. Sie mußte es wissen -
und hatte es ihm nicht gesagt.
»Bist du dir da sicher?« Die Kälte ließ seine Wut
gefrieren. Er konnte spüren, wie sie in seiner Brust steckte - ein
gefährliches, gezacktes Objekt, das in alle Richtungen zu zeigen
schien.
Lizzie nickte wortlos, und errötete noch stärker,
sofern das überhaupt noch möglich war.
»Ich bin ihr Dienstmädchen, Sir«, flüsterte sie,
die Augen zu Boden gerichtet.
»Sie meint, Brianna hat seit zwei Monaten ihre
Regel nicht mehr gehabt«, sprang Ian nüchtern ein. Er war das
jüngste Kind in einer Familie mit mehreren Schwestern, und ihn
hemmte kein Feingefühl, wie es Lizzie hatte. »Sie ist sich
sicher.«
»Ich - ich hätte nie etwas gesagt, Sir«, fuhr das
Mädchen am Boden zerstört fort. »Nur, als ich den Mann gesehen
habe…«
»Meinst du, er ist gekommen, um Anspruch auf
Brianna zu erheben, Onkel Jamie?« unterbrach Ian. »Wir müssen ihn
aufhalten, aye?« Der Junge sah jetzt deutlich wütend und aufgeregt
aus, und seine Wangen wurden davon rot.
Jamie holte tief Luft und merkte jetzt erst, daß er
sie angehalten hatte.
»Ich weiß es nicht«, sagte er, überrascht über die
Ruhe in seinem Tonfall. Er hatte kaum Zeit gehabt, um die Neuigkeit
zu verdauen, geschweige denn, irgendwelche Schlüsse daraus zu
ziehen, doch der Junge hatte recht, es war eine Gefahr, um die man
sich kümmern mußte.
Wenn dieser MacKenzie es wollte, dann konnte er
nach gültigem Gesetz Anspruch darauf erheben, Brianna zur Frau zu
nehmen. Ein Gerichtshof würde eine Frau nicht notwendigerweise dazu
zwingen, einen Vergewaltiger zu heiraten, doch jeder Magistrat
würde das Recht eines Mannes auf seine Frau und sein Kind schützen
- egal, was die Frau darüber dachte.
Seine eigenen Eltern hatten so geheiratet: sie
waren geflohen und hatten sich so lange in den Hügeln der Highlands
versteckt, bis seine Mutter hochschwanger war, so daß ihre Brüder
gezwungen waren, die unerwünschte Heirat zuzulassen. Ein Kind war
ein dauerhaftes, unleugbares Band zwischen Mann und Frau, und er
hatte allen Grund, das zu wissen.
Er blickte auf den Pfad, der von unten aus dem Wald
heraufkam. »Ist er euch denn nicht direkt auf den Fersen? Die
Woolams werden ihm doch den Weg erklärt haben.«
»Nein«, sagte Ian nachdenklich. »Das glaube ich
nicht. Wir haben
sein Pferd gestohlen, aye?« Er grinste Lizzie plötzlich an, und
diese erwiderte es mit einem leisen Kichern.
»Aye? Und was hindert ihn daran, den Wagen oder
eins der Maultiere zu nehmen?«
Das Grinsen in Ians Gesicht verbreiterte sich
beträchtlich.
»Ich habe Rollo auf der Ladefläche gelassen«, sagte
er. »Ich glaube, er wird laufen, Onkel Jamie.«
Jamie sah sich ebenfalls zu einem grimmigen Grinsen
gezwungen.
»Gut mitgedacht, Ian.«
Ian zuckte bescheiden mit den Achseln.
»Na ja, ich wollte nicht, daß der Mistkerl uns
überrascht. Und obwohl ich Kusine Brianna lange nicht mehr von
ihrem Freund habe reden hören - von diesem Wakefield, aye?« Er
hielt vorsichtig inne. »Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie
diesen MacKenzie sehen will. Vor allem, wenn…«
»Ich würde sagen, Mr. Wakefield hat sich etwas viel
Zeit mit seiner Ankunft gelassen«, sagte Jamie. »Vor allem, wenn.«
Kein Wunder, daß sie sich nicht länger auf Wakefields Ankunft
freute - nachdem sie es erst einmal gemerkt hatte. Wie sollte eine
Frau schließlich einem Mann, der sie zuletzt als Jungfrau gesehen
hatte, ihren schwangeren Bauch erklären?
Er öffnete langsam und bedächtig seine Fäuste. Für
all das würde später genug Zeit sein. Im Augenblick mußte er sich
nur um eines kümmern.
»Hol meine Pistolen aus dem Haus«, sagte er an Ian
gewandt. »Und du, Kleine…« Er lächelte Lizzie angestrengt zu und
griff nach dem Rock, den er an die Kante des Holzstapels gehängt
hatte.
»Bleib hier und warte auf deine Herrin. Sag meiner
Frau - sag ihr, ich bin weggegangen, um Fergus bei seinem
Schornstein zu helfen. Und sag kein Wort hiervon zu meiner Frau
oder meiner Tochter - oder es passiert etwas.« Er hatte die
abschließende Drohung halb im Scherz ausgesprochen, doch das
Mädchen erbleichte, als hätte er es ernst gemeint.
Lizzie sank auf den Hackklotz, denn ihre Knie gaben
unter ihr nach. Sie griff nach dem winzigen Medaillon um ihren Hals
und suchte Trost bei dem kalten Metall. Sie sah zu, wie Mr. Fraser
den Pfad hinunterging, bedrohlich wie ein großer, roter Wolf. Sein
Schatten streckte sich schwarz vor ihm aus, und die späte
Herbstsonne tauchte ihn in Feuer.
Das Medaillon in ihrer Hand war so kalt wie
Eis.
»Oh, liebste Mutter«, murmelte sie wieder und
wieder. »Oh, heilige Mutter, was habe ich getan?«