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Gefangen I
Februar 1770
Seinen Berechnungen mit dem verknoteten Faden
zufolge war er seit fast drei Monaten in dem Mohawkdorf. Zuerst
hatte er nicht gewußt, wer sie waren; nur, daß sie einer anderen
Sorte von Indianern angehörten als seine Bewacher - und daß seine
Bewacher Angst vor ihnen hatten.
Er hatte taub vor Erschöpfung dagestanden, während
die Männer, die ihn hergebracht hatten, geredet und mit den Fingern
auf ihn gezeigt hatten. Die neuen Indianer waren anders; sie waren
gegen die Kälte in Felle und Leder gekleidet, und viele der Männer
hatten Tätowierungen im Gesicht.
Einer von ihnen stupste ihn mit der Messerspitze an
und wies ihn an, sich auszuziehen. Sie zwangen ihn, sich nackt in
die Mitte eines langen Holzhauses zu stellen, während mehrere
Männer - und Frauen - ihn herumstießen und sich über ihn lustig
machten. Sein rechter Fuß war stark geschwollen; die tiefe Wunde
hatte sich entzündet. Er konnte zwar noch laufen, doch bei jedem
Schritt fuhr ihm ein schmerzhafter Stich durch das ganze Bein, und
er hatte immer wieder Fieberanfälle.
Sie schubsten ihn herum und schoben ihn zur Tür des
Hauses. Draußen erscholl großer Lärm. Er erkannte, daß ihm ein
Spießrutenlauf bevorstand; die Wilden standen schreiend in einer
Zweierreihe, bewaffnet mit Stöcken und Knüppeln. Hinter ihm stach
ihm jemand eine Messerspitze in die Pobacke, und er spürte, wie ihm
ein warmes Blutrinnsal am Bein hinunterlief. »Cours!« sagten
sie. Lauf.
Der Boden war flachgetreten, der Schnee hatte sich
zu schmutzigem Eis verfestigt. Es verbrannte ihm die Füße, als ein
Stoß in seinem Rücken ihn jetzt in das Pandämonium stolpern
ließ.
Den Großteil des Weges über blieb er aufrecht,
machte einen Satz hierhin, dann einen dorthin, während ihn die
Knüppel hin- und herstießen und Stöcke ihm auf Beine und Rücken
hieben. Es gab keine
Möglichkeit, den Schlägen auszuweichen. Alles, was er tun konnte,
war weiterlaufen, und zwar so schnell wie möglich.
Kurz vor dem Ende schwang ein Knüppel geradewegs
auf ihn zu und erwischte ihn quer vor dem Bauch; er klappte
zusammen, und der nächste traf ihn hinter dem Ohr. Er rollte wie
gelähmt in den Schnee und spürte die Kälte kaum noch auf seiner
aufgeplatzten Haut.
Eine Rute stach ihm in die Beine, dann peitschte
sie ihn fest, knapp unter den Hoden. Er riß automatisch seine Beine
hoch, rollte sich weiter und fand sich dann auf Händen und Knien
wieder, immer noch irgendwie in Bewegung. Das Blut aus seiner Nase
und seinem Mund vermischte sich mit dem gefrorenen Schlamm.
Er erreichte das Ende, und während die letzten
Hiebe ihm immer noch in den Rücken bissen, ergriff er die Pfähle
eines Lagerhauses und zog sich langsam hoch. Er wandte sich ihnen
zu, immer noch an die Pfähle geklammert, um nicht zu fallen. Das
gefiel ihnen; sie lachten mit schrillen Jaulgeräuschen, die sie wie
ein Hunderudel klingen ließen. Er verbeugte sich tief und richtete
sich wieder auf, und alles drehte sich. Sie lachten noch lauter. Er
hatte immer schon gewußt, wie man sein Publikum unterhielt.
Dann führten sie ihn nach drinnen, gaben ihm Wasser
zum Waschen, etwas zu essen. Sie gaben ihm sein zerlumptes Hemd und
seine schmutzige Kniehose wieder, nicht aber seinen Rock. In dem
Haus war es warm; mehrere Feuer brannten in Abständen an der Wand
des langgezogenen Gebäudes, ein jedes mit seinem eigenen
Rauchabzug. Er kroch in eine Ecke und schlief ein, eine Hand auf
der unebenen Stelle in seiner Hosennaht.
Nach diesem Empfang behandelten ihn die Mohawk mit
allgemeiner Gleichgültigkeit, jedoch ohne große Grausamkeit. Er war
der Sklave des Langhauses und stand all seinen Bewohnern zur
Verfügung. Wenn er eine Anordnung nicht verstand, so zeigten sie es
ihm - einmal. Wenn er sich weigerte oder so tat, als verstünde er
nicht, schlugen sie ihn, und er weigerte sich nicht länger.
Immerhin bekam er einen gerechten Anteil von ihrem Essen, und man
wies ihm einen anständigen Schlafplatz am Ende des Hauses zu.
Da es Winter war, bestand die Hauptarbeit darin,
Holz zu sammeln und Wasser zu holen, obwohl ihn auch dann und wann
ein Trupp von Jägern mitnahm, damit er beim Zerlegen der Beute und
beim Transport des Fleisches half. Die Indianer bemühten sich nicht
sonderlich, mit ihm zu kommunizieren, doch durch aufmerksames
Zuhören eignete er sich ein wenig von ihrer Sprache an.
Er begann mit großer Vorsicht, ein paar Wörter
auszuprobieren. Für den Anfang suchte er sich ein kleines Mädchen
aus, da von ihr weniger Gefahr auszugehen schien. Sie starrte ihn
an und lachte dann, als hätte sie eine Krähe sprechen gehört. Sie
rief eine Freundin herbei, damit sie sich das anhörte, dann noch
eine, und die drei hockten sich vor ihn hin, lachten leise hinter
vorgehaltener Hand und warfen ihm Seitenblicke aus den Augenwinkeln
zu. Er sagte alle Wörter auf, die er kannte, und deutete auf die
entsprechenden Gegenstände - Feuer, Topf, Decke, Mais - dann zeigte
er über sich auf einen Strang mit Fischen und zog die Augenbrauen
hoch.
»Yona’kensyonk«, sagte seine neue Freundin
prompt und kicherte, als er es wiederholte. Im Lauf der nächsten
Tage und Wochen brachten die Mädchen ihm eine Menge bei; und sie
waren es, von denen er schließlich erfuhr, wo er sich befand. Oder
nicht exakt, wo, aber doch in wessen Händen.
Sie waren Kahnyen’kehaka, erklärten sie ihm
stolz und machten überraschte Gesichter, weil er es nicht wußte.
Mohawk. Hüter des Östlichen Tors des Irokesenbundes. Er dagegen war
Kakonhoaerhas. Es bedurfte einer gewissen Zeit der
Diskussion, um die genaue Bedeutung dieses Ausdrucks
herauszufinden; als eines der Mädchen zur Illustration eine
Promenadenmischung herbeischleifte, entdeckte er schließlich, daß
es »Hundegesicht« bedeutete.
»Danke«, sagte er und befühlte seinen dichten
Bartwuchs. Er zeigte ihnen seine gefletschten Zähne und knurrte,
und sie kreischten vor Lachen.
Die Mutter eines der Mädchen wurde auf ihn
aufmerksam; als sie sah, daß sein Fuß immer noch geschwollen war,
brachte sie ihm Salbe, badete ihn und verband ihn dann mit Flechten
und Maisblättern. Die Frauen begannen, sich mit ihm zu unterhalten,
wenn er ihnen Essen oder Wasser brachte.
Er unternahm keinen Fluchtversuch; noch nicht. Der
Winter hielt das Dorf in seinem Griff; es schneite oft, und der
Wind war bitterkalt. Er würde nicht weit kommen, unbewaffnet, lahm
und ohne Schutz vor dem Wetter. Er wartete ab. Und er träumte
nachts von verlorenen Welten, um in der Dämmerung mit dem Geruch
frischen Grases in der Nase zu erwachen, das Drängen seiner
Sehnsucht warm über seinen Bauch ergossen.
Die Ränder des Baches waren immer noch zugefroren,
als der Jesuit kam.
Roger konnte sich im Dorf frei bewegen; er war
draußen, als die
Hunde zu bellen begannen und das Jaulen der Wachtposten die
Ankunft von Besuchern signalisierte. Die Menschen begannen
zusammenzulaufen, und er ging neugierig mit.
Die Neuankömmlinge waren eine große Gruppe von
Mohawk, sowohl Männer als auch Frauen, alle zu Fuß, mit den
üblichen Bündeln der Reiseausrüstung bepackt. Das kam ihm
merkwürdig vor; alle Besucher, die bis jetzt ins Dorf gekommen
waren, waren auf der Jagd gewesen. Noch merkwürdiger war, daß die
Besucher einen Weißen dabei hatten - die blasse Wintersonne glänzte
auf dem hellen Haar des Mannes.
Begierig, etwas zu sehen, kam Roger näher, aber er
wurde von einigen der Dorfbewohner zurückgedrängt. Doch da hatte er
schon gesehen, daß der Mann ein Priester war; unter seinem
Bärenfellumhang waren die verschlissenen Überreste einer schwarzen
Robe zu sehen, die er über ledernen Leggings und Mokassins
trug.
Der Priester verhielt sich nicht wie ein
Gefangener, und er war auch nicht gefesselt. Und doch hatte Roger
den Eindruck, daß er unter Zwang mitreiste; Sorgenfalten durchzogen
sein ansonsten junges Gesicht. Der Priester und mehrere seiner
Begleiter verschwanden in dem Lagerhaus, in dem der Sachem
hofhielt; Roger hatte es noch nie betreten, doch er hatte die
Gespräche der Frauen mitgehört.
Eine der älteren Frauen sah ihn in der Menge
verweilen und befahl ihm scharf, noch mehr Holz zu holen. Er ging
und sah den Priester nicht wieder, obwohl sich die Gesichter der
Neuankömmlinge im Dorf zeigten, die sich auf die Langhäuser
verteilten, um an der Gastlichkeit ihrer Feuerstellen
teilzuhaben.
Irgend etwas ging im Dorf vor sich; er konnte
spüren, wie die Strömungen des Ereignisses ihn umwirbelten, doch er
verstand sie nicht. Die Männer blieben abends länger am Feuer
sitzen und redeten, und die Frauen unterhielten sich bei der Arbeit
im Flüsterton, doch die Diskussion entzog sich Rogers rudimentärem
Verständnis der Sprache. Er fragte eines der kleinen Mädchen nach
den Neuankömmlingen; sie konnte ihm nur sagen, daß sie aus einem
Dorf im Norden kamen - warum sie gekommen waren, wußte sie nicht,
außer, daß es mit dem Schwarzrock zu tun hatte, dem
Kahontsi’yatawi.
Über eine Woche später war es wieder soweit, daß
Roger mit auf die Jagd ging. Das Wetter war kalt, aber klar, und
sie wanderten weit, bis sie schließlich einen Elch fanden und
erlegten. Roger war verblüfft, nicht nur über die Größe des Tiers,
sondern auch über seine Dummheit. Er konnte die Einstellung der
Jäger verstehen: Es war nichts Ehrenhaftes dabei, ein solches Tier
zu erlegen; es war einfach nur Fleisch.
Es war eine Menge Fleisch. Er war beladen
wie ein Packesel, und das zusätzliche Gewicht belastete seinen
lahmen Fuß sehr; als sie zum Dorf zurückkehrten, humpelte er so
stark, daß er nicht mehr mit den Jägern mithalten konnte, sondern
weit hinterherhing und dabei verzweifelt versuchte, sie nicht aus
dem Auge zu verlieren, um sich nicht im Wald zu verlaufen.
Zu seiner Überraschung warteten mehrere Männer auf
ihn, als er schließlich in Sichtweite der Dorfpalisaden humpelte.
Sie ergriffen ihn, nahmen ihm seine Fleischladung ab und schoben
ihn ins Dorf. Sie brachten ihn nicht in sein eigenes Lagerhaus,
sondern in eine kleine Hütte, die am anderen Ende der zentralen
Lichtung stand.
Er sprach nicht genug Mohawk, um Fragen zu stellen,
und er glaubte sowieso nicht, daß man sie beantworten würde. Sie
schoben ihn in die Hütte und ließen ihn allein.
Es brannte ein kleines Feuer, doch der Innenraum
war nach der Helligkeit des Tageslichtes so dunkel, daß er zunächst
geblendet war.
»Wer seid Ihr?« sagte eine erschrockene Stimme auf
Französisch.
Roger blinzelte mehrfach und machte eine
schmächtige Gestalt aus, die sich von ihrem Sitzplatz am Feuer
erhob. Der Priester.
»Roger MacKenzie«, sagte er. »Et vous?« Es
erfüllte ihn mit plötzlicher und unerwarteter Freude, einfach nur
seinen Namen auszusprechen. Den Indianern war es egal, wie er hieß;
sie nannten ihn Hundegesicht, wenn sie etwas von ihm wollten.
»Alexandre.« Der Priester trat vor und sah
gleichzeitig erfreut und ungläubig aus. »Père Alexandre Ferigault.
Vous êtes anglais?«
»Schotte«, sagte Roger und setzte sich plötzlich
hin, weil sein lahmes Bein nachgab.
»Schotte? Wie kommt Ihr hierher? Seid Ihr
Soldat?«
»Gefangener.«
Der Priester hockte sich neben ihn und betrachtete
ihn neugierig. Er war ziemlich jung - Ende Zwanzig oder
Anfang Dreißig, obwohl seine helle Haut von der Kälte aufgerissen
und verwittert war.
»Wollt Ihr mit mir essen?« Er deutete auf eine
kleine Ansammlung von Tontöpfen und Körben, die Essen und Wasser
enthielten.
Seine eigene Sprache zu benutzen, schien für den
Priester eine ebenso große Erleichterung zu bedeuten wie es das
ungehinderte Sprechen für Roger war. Am Ende ihrer Mahlzeit hatten
sie beide ein ansatzhaftes Wissen über die grundlegende
Vergangenheit des anderen erworben - wenn auch noch keine Erklärung
für ihre gegenwärtige Lage.
»Warum haben sie mich mit Euch hier
hineingesteckt?« fragte Roger, während er sich das Fett vom Mund
wischte. Er glaubte nicht,
daß es darum ging, daß er dem Priester Gesellschaft leisten
sollte. Rücksichtnahme gehörte nicht zu den herausragenden
Charaktereigenschaften der Mohawk, soweit er das beurteilen
konnte.
»Ich kann es nicht sagen. Eigentlich war ich sehr
erstaunt, einen anderen Weißen zu sehen.«
Roger warf einen Blick auf die Tür der Hütte. Sie
bewegte sich sacht; es war jemand draußen.
»Seid Ihr ein Gefangener?« fragte er einigermaßen
überrascht. Der Priester zögerte, dann zuckte er mit einem kleinen
Lächeln die Achseln.
»Auch das kann ich nicht sagen. Für die Mohawk ist
man Kahnyen’kehaka, oder man ist - anders. Und wenn man
anders ist, dann kann sich die Linie zwischen Gast und Gefangenem
von einem Moment zum nächsten verschieben. Lassen wir es dabei, daß
ich mehrere Jahre unter ihnen gelebt habe - doch ich bin nicht in
den Stamm aufgenommen worden. Ich bin immer noch ›anders‹.« Er
hustete und wechselte das Thema. »Wie ist es dazu gekommen, daß Ihr
gefangengenommen wurdet?«
Roger zögerte, da er nicht wirklich wußte, wie er
antworten sollte.
»Man hat mich verraten«, sagte er schließlich.
»Verkauft.«
Der Priester nickte mitfühlend.
»Gibt es jemanden, der Euch auslösen würde? Sie
werden sich Mühe geben, Euch am Leben zu erhalten, wenn sie auf ein
Lösegeld hoffen.«
Roger schüttelte den Kopf und fühlte sich hohl wie
eine Trommel.
»Niemand.«
Das Gespräch verstummte, als das Licht, das durch
den Rauchabzug fiel, zu dämmern begann und sie am Boden in
Dunkelheit getaucht wurden. Es gab eine Feuerstelle, aber kein
Holz; das Feuer war erloschen. Die Hütte schien verlassen zu sein;
es stand ein aus Pfählen gezimmertes Bettgestell darin, sonst
jedoch war sie leer bis auf ein paar zerfetzte Hirschfelle und ein
Häufchen Haushaltsabfälle in einer Ecke.
»Seid Ihr schon - lange - in dieser Hütte?« fragte
Roger schließlich, um das Schweigen zu brechen. Er konnte den
anderen Mann kaum sehen, obwohl die letzten Überreste des
Zwielichts noch durch den Rauchabzug sichtbar waren.
»Nein. Sie haben mich heute hergebracht - kurz,
bevor Ihr gekommen seid.« Der Priester hustete und rutschte gequält
auf dem Boden aus festgetrampelter Erde hin und her.
Das kam ihm unheimlich vor, doch Roger hielt es für
taktvoller - und weniger beängstigend -, es nicht zu erwähnen. Der
Priester begriff zweifellos genausogut wie er, daß die Linie
zwischen »Gast« und »Gefangenem« überschritten worden war. Was
hatte der Mann getan?
»Ihr seid ein Christ?« Alexandre brach das
Schweigen.
»Ja. Mein Vater ist Pastor gewesen.«
»Ah. Darf ich um etwas bitten - wenn sie mich
holen, werdet Ihr für mich beten?«
Roger spürte plötzlich einen kalten Schauer, der
nicht das geringste mit seiner freudlosen Umgebung zu tun
hatte.
»Ja«, sagte er verlegen. »Natürlich. Wenn Ihr
wollt.«
Der Priester erhob sich und begann, ruhelos den
begrenzten Raum der Hütte abzuschreiten, unfähig
stillzuhalten.
»Vielleicht geht es ja gut«, sagte er, doch es war
die Stimme eines Mannes, der versuchte, sich selbst etwas
einzureden. »Sie überlegen immer noch.«
»Überlegen was?«
Er spürte das Achselzucken des Priesters mehr, als
daß er es sah.
»Ob sie mich leben lassen.«
Darauf schien keine passende Antwort möglich zu
sein, und sie verstummten erneut. Roger saß zusammengekauert an der
erkalteten Feuerstelle, während der Priester auf- und abschritt, um
sich schließlich neben ihm niederzulassen. Kommentarlos rückten sie
beide näher zusammen und teilten ihre Wärme; es würde eine kalte
Nacht werden.
Roger war eingedöst, eins der Hirschfelle über sich
gezogen, als plötzlich ein Geräusch an der Tür erscholl. Er setzte
sich und blinzelte in ein Flammenmeer.
Vier Mohawkkrieger standen in der Hütte; einer ließ
eine Ladung Holz in die Feuerstelle fallen und steckte seine Fackel
in den Haufen. Ohne Roger zu beachten, zogen die anderen Père
Ferigault hoch und entledigten ihn grob seiner Kleider.
Roger setzte sich automatisch in Bewegung und erhob
sich halb, doch da wurde er zu Boden geschlagen. Der Priester warf
ihm aus weit geöffneten Augen einen schnellen Blick zu, der ihn
anflehte, sich nicht einzumischen.
Einer der Krieger hielt seine Fackel dicht vor Père
Ferigaults Gesicht. Er sagte etwas, das wie eine Frage klang, und
als er keine Antwort erhielt, ließ er seine Fackel tiefer wandern,
so nah am Körper des Priesters vorbei, daß dessen weiße Haut rot
aufglühte.
In Alexandres Gesicht brach der Schweiß aus, als
das Feuer neben seinen Genitalien schwebte, doch sein Gesicht blieb
sorgsam ausdruckslos. Der Krieger stieß den Priester plötzlich mit
der Fackel an, und dieser fuhr automatisch zurück. Die Indianer
lachten und wiederholten es. Diesmal war er vorbereitet; Roger roch
angesengte Haare, doch der Priester bewegte sich nicht.
Dann wurde ihnen diese Freizeitbeschäftigung
langweilig, und zwei der Krieger packten den Priester bei den Armen
und zerrten ihn aus der Hütte.
Wenn sie mich holen, betet für mich. Roger
setzte sich langsam auf, und an seinem ganzen Körper prickelten die
Haare vor Entsetzen. Er konnte die Stimmen der Indianer hören, die
sich unterhielten und in der Ferne verschwanden; kein Ton von dem
Priester.
Alexandres abgelegte Kleider waren in der Hütte
verstreut; Roger hob sie auf, entstaubte sie sorgfältig und faltete
sie zusammen. Seine Hände zitterten.
Er versuchte zu beten, stellte aber fest, daß es
ihm schwerfiel, sich mit der nötigen Hingabe zu konzentrieren.
Zwischen und unter den Worten des Gebetes konnte er eine leise,
kalte Stimme hören, die sagte: Und wenn sie mich holen - wer
betet dann für mich?
Sie hatten ihm ein Feuer angelassen; er versuchte
zu glauben, daß dies bedeutete, daß sie nicht vorhatten, ihn sofort
umzubringen. Es war ebenfalls nicht die Art der Mohawk, einem
abgeurteilten Gefangenen Annehmlichkeiten zu gewähren. Nach einer
Weile legte er sich unter die Hirschfelle, rollte sich auf der
Seite zusammen und sah den Flammen zu, bis er einschlief, vom
Schrecken erschöpft.
Er wurde durch das Geräusch vieler Stimmen und das
Schlurfen von Füßen aus seinem unruhigen Schlaf gerissen. Er wurde
wach, rollte sich vom Feuer weg und hockte sich hin, während er
sich verzweifelt nach einem Mittel zur Verteidigung umsah.
Der Türvorhang hob sich, und der nackte Körper des
Priesters stürzte in die Hütte. Die Geräusche auf der Außenseite
entfernten sich.
Alexandre regte sich und stöhnte. Roger kam schnell
und kniete sich neben ihn. Er konnte frisches Blut riechen, einen
scharfen Kupfergeruch, den er vom Zerlegen des Elches
wiedererkannte.
»Seid Ihr verletzt? Was haben sie gemacht?«
Die Antwort darauf kam schnell. Er drehte den halb
bewußtlosen Priester um und sah, daß Blut dessen Gesicht und Hals
mit einem leuchtend roten Glanz überzog. Er griff nach der
abgelegten Robe des
Priesters, um das Blut zu stillen, schob das verklebte, blonde
Haar zurück und stellte fest, daß das rechte Ohr des Priesters
fehlte. Ein scharfer Gegenstand hatte ihm genau hinter dem Kiefer
ein Stück Haut von etwa acht Zentimetern Kantenlänge entfernt und
das Ohr und ein Stück Kopfhaut abgeschnitten.
Rogers Magenwände verkrampften sich, und er preßte
den Stoff fest gegen die rohe Wunde. Dort hielt er ihn fest, zog
den reglosen Körper zum Feuer und türmte die Überreste der Kleider
und beide Hirschfelle über Père Ferigault auf.
Der Mann stöhnte jetzt. Roger wusch ihm das
Gesicht, ließ ihn ein wenig Wasser trinken.
»Ist ja gut«, murmelte er wieder und wieder, obwohl
er sich nicht sicher war, ob der andere ihn hören konnte. »Ist ja
gut, sie haben Euch nicht umgebracht.« Er fragte sich allerdings
unwillkürlich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie es getan
hätten; war dies nur als Warnung für den Priester gedacht, oder nur
das Vorspiel zu größeren Torturen?
Das Feuer war bis auf die Glut heruntergebrannt; in
dem rötlichen Licht war das durchsickernde Blut schwarz.
Père Alexandre bewegte sich in ständigen, kleinen
Zuckungen, und der Schmerz seiner Wunde war zugleich der Grund für
die Ruhelosigkeit seines Körpers als auch ein ständiger Hemmschuh.
Er hatte überhaupt keine Möglichkeit, sich dem Schlaf zu
überlassen, und demzufolge ging es Roger genauso. Er war sich jeder
unaufhaltsam verstreichenden Minute fast genauso schmerzhaft wie
der Priester bewußt.
Roger verfluchte sich für seine Hilflosigkeit; er
hätte alles gegeben, um den Schmerz des anderen Mannes zu lindern,
und sei es nur für einen Augenblick. Es war nicht nur Mitgefühl,
und er wußte es; Père Alexandres kurze, atemlose Geräusche hielten
das Bewußtsein seiner Verstümmelung in Roger wach und den Schrecken
in seinen Adern lebendig. Wenn der Priester nur schlafen könnte,
dann würden die Geräusche aufhören - und vielleicht würde im
Dunkeln das Grauen ein wenig zurückweichen.
Zum ersten Mal glaubte er zu verstehen, was Claire
Randall antrieb; was sie bewegte, auf Schlachtfelder zu gehen und
Verwundeten ihre Hände aufzulegen. Anderen die Schmerzen und den
Tod zu erleichtern bedeutete, die eigene Angst zu lindern - und er
würde beinahe alles tun, um seine Angst zu mindern.
»Psst«, sagte er, die Lippen nah an Père Alexandres
Kopf. Er hoffte, daß er die Seite mit dem Ohr hatte. »Beruhigt
Euch. Reposez-vous.«
Der magere Körper des Priesters erzitterte neben
dem seinen, die Muskeln vor Kälte und Agonie verkrampft. Roger
massierte dem Mann fest den Rücken, scheuerte mit den Handflächen
über seine unterkühlten Gliedmaßen und zog die beiden zerlumpten
Hirschfelle über sie beide.
»Euch geschieht nichts.« Roger sprach Englisch,
denn ihm war klar, daß es keine Rolle spielte, was er sagte, nur
daß er überhaupt etwas sagte. »Aber, aber, es ist alles in Ordnung.
Ja, macht ruhig weiter.« Seine Worte dienten mindestens so sehr
seiner eigenen Ablenkung wie der des anderen Mannes; Alexandres
nackten Körper zu spüren, war vage schockierend - weil es sich
nicht unnatürlich anfühlte und es gleichzeitig doch tat.
Der Priester klammerte sich an ihn, den Kopf an
seine Schulter gepreßt. Er sagte nichts, doch Roger konnte die
Feuchtigkeit von Tränen auf seiner Haut spüren. Er überwand sich
dazu, den Priester fest in den Arm zu nehmen, massierte ihn entlang
der Wirbelsäule mit ihren kleinen, knochigen Vorsprüngen und zwang
sich dazu, nur daran zu denken, wie er das fürchterliche Zittern
stoppen konnte.
»Ihr könntet ein Hund sein«, sagte Roger.
»Irgendein mißhandelter Streuner. Ich würde es tun, wenn Ihr ein
Hund wärt, natürlich würde ich das. Nein, würde ich nicht«,
murmelte er vor sich hin. »Sondern den verdammten Tierschutzverein
anrufen, schätze ich.«
Er streichelte Alexandres Kopf, achtete sorgsam
darauf, wohin seine Finger wanderten, zitternd vor Gänsehaut bei
der Vorstellung, zufällig jene rohe, blutige Stelle zu berühren.
Das Haar im Nacken des Priesters war schweißverklebt, obwohl sich
die Haut an seinem Hals und seinen Schultern wie Eis anfühlte. Sein
Unterkörper war wärmer, aber nicht viel.
»Niemand würde einen Hund so behandeln«, brummte
er. »Verdammte Wilde. Man sollte ihnen die Polizei auf den Hals
schicken. Ihre verdammten Bilder in der Times bringen. Sich
beim Petitionsausschuß beschweren.«
Etwas, das viel zu verängstigt war, um sich Lachen
zu nennen, durchlief ihn in einer Welle. Er packte den Priester
heftig und wiegte ihn im Dunkeln vor und zurück.
»Reposez-vous, mon ami. C’est bien, là, c’est
bien.«