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Und schütz’ uns in der Not auf See
Ein plötzliches, schweres Unwetter hielt die Passagiere drei Tage lang unter Deck fest und zwang die Seemänner, mit wenigen, kurzen Unterbrechungen zum Essen oder Ausruhen auf ihren Posten zu bleiben. Als die Gloriana am Ende sicher durch die Wogen und den ersterbenden Sturm glitt und dahinrasende Federwolken den Morgenhimmel erfüllten, stolperte Roger zu seiner Hängematte hinunter, zu erschöpft, um sich auch nur aus seinen feuchten Kleidern zu schälen.
Zerknittert, feucht, salzüberkrustet und reif für ein heißes Bad und eine Woche Schlaf folgte er nach vierstündiger Rast dem Pfeifen des Bootsmanns und tat schwankend seinen Dienst.
Bei Sonnenuntergang war er so müde, daß seine Muskeln zitterten, als er mithalf, ein neues Wasserfaß aus dem Frachtraum herauszuhieven. Er schlug den Deckel mit einem Beil ein und dachte dabei, daß er vielleicht gerade noch in der Lage sein würde, die Anstrengung der Wasserausteilung zu bewältigen, ohne kopfüber in das Faß zu fallen. Vielleicht aber auch nicht. Er spritzte sich eine kühle Handvoll frisches Wasser ins Gesicht, weil er hoffte, so das Brennen in seinen Augen zu lindern, und schluckte eine ganze Kelle voll hinunter, wobei er ausnahmsweise jenen konstanten Widerspruch mißachtete, der der See zu eigen war - stets zuviel und zu wenig Wasser zugleich.
Die Leute, die ihm ihre Krüge und Eimer zum Füllen brachten, sahen so aus, als ginge es ihnen noch schlechter als ihm; grün wie Pilze, voller blauer Flecken, weil es sie wie Billardkugeln im Zwischendeck hin- und hergeworfen hatte, und mit dem Geruch erneuter Seekrankheit und überlaufender Nachttöpfe behaftet.
In deutlichem Kontrast zu der allgemeinen Stimmung bleichgesichtiger Übelkeit sprang eine seiner alten Bekannten im Kreis um ihn herum und sang mit einer monotonen Stimme, die ihm auf die Nerven ging:
»Sieben Heringe machen einen Lachs satt.
Sieben Lachse machen einen Seehund satt.
Sieben Seehunde machen einen Wal satt.
Und sieben Wale einen Cirein Croin!«
Überschäumend vor Erleichterung, dem Zwischendeck endlich entkommen zu sein, hüpfte das kleine Mädchen wie eine übergeschnappte Kohlmeise herum, und Roger mußte trotz seiner Müdigkeit lächeln. Sie sprang zur Reling, stellte sich auf die Zehenspitzen und sah vorsichtig über den Rand.
»Meint Ihr, es war ein Cirein Croin, der den Sturm gemacht hat, Mr. MacKenzie? Opa meint, ganz bestimmt. Sie schlagen mit ihren Riesenschwänzen um sich, wußtet Ihr das?« informierte sie ihn. »Davon werden die Wellen so hoch.«
»Das glaube ich aber nicht. Wo sind denn deine Brüder, a leannan?«
»Haben Fieber«, sagte das Mädchen ungerührt. Das war nichts Ungewöhnliches; die Hälfte der Emigranten in der Warteschlange hustete und nieste, denn es hatte ihrem empfindlichen Gesundheitszustand nicht gerade gutgetan, drei Tage in feuchten Kleidern in der Dunkelheit zu verbringen.
»Habt Ihr denn schon einmal einen Cirein Croin gesehen?« fragte sie, während sie sich weit über die Reling beugte und mit der Hand ihre Augen überschattete. »Sind sie wirklich so groß, daß sie das Schiff verschlucken können?«
»Hab’ noch keinen gesehen.« Roger ließ die Kelle sinken und faßte sie am Schürzenband, um sie von der Reling wegzuziehen. »Vorsicht, aye? Um dich zu verschlucken, reicht schon’ne Makrele, Kleine!«
»Da!« kreischte sie und beugte sich trotz seines Griffes weiter über die Reling. »Da, es ist einer, es ist einer!«
Von dem Schrecken in ihrer Stimme wie auch durch ihre eigentlichen Worte getrieben, beugte sich Roger unwillkürlich über die Reling. Ein dunkler Schatten hing knapp unter der Wasseroberfläche, glatt und schwarz, elegant wie ein Geschoß - und halb so lang wie das Schiff. Einige Augenblicke lang hielt er mit dem dahinrasenden Schiff mit, dann überholte es ihn, und er fiel zurück.
»Hai«, sagte Roger, unerwartet erschüttert. Er schüttelte das Mädchen leicht, um ihr Dampfpfeifengekreische zu beenden. »Es ist nur ein Hai, hörst du? Du weißt doch, was ein Hai ist, oder? Wir haben erst letzte Woche einen gegessen!«
Sie hatte aufgehört zu schreien, doch ihr Gesicht war immer noch kreidebleich, ihre Augen weit aufgerissen, und ihr schmaler Mund zuckte.
»Seid Ihr sicher?« sagte sie. »Es - es war kein Cirein Croin?«
»Nein«, sagte Roger sanft und gab ihr eine Kelle Wasser, die sie ganz allein trinken durfte. »Nur ein Hai.« Der größte Hai, den er je gesehen hatte, und er strahlte eine blindwütige Heftigkeit aus, bei deren Anblick sich die Haare auf seinen Unterarmen sträubten - aber dennoch nur ein Hai. Sie umlagerten das Schiff, wann immer seine Geschwindigkeit nachließ, und gierten nach den Abfällen und Essensresten, die über Bord geworfen wurden.
»Isobeáil!« Ein ungeduldiger Ruf orderte seine Gefährtin zurück, um der Familie bei ihren Arbeiten zu helfen. Zögernden Schrittes und mit vorgeschobener Lippe schlich Isobeáil davon, um ihre Mutter bei den Wassereimern zu unterstützen, und Roger konnte seine Aufgabe ohne weitere Ablenkung beenden.
Zumindest keine weitere Ablenkung als seine Gedanken. Es gelang ihm zumeist zu vergessen, daß die Gloriana nichts unter sich hatte als meilenweise Wasser; daß das Schiff ganz und gar nicht die kleine, stabile Insel war, die es zu sein schien, sondern nur eine zerbrechliche Hülle in der Gewalt von Kräften, die es von einem Augenblick zum nächsten zerschmettern konnten - und mit ihm alle an Bord.
Hatte die Phillip Alonzo den Hafen sicher erreicht? fragte er sich. Es kam durchaus vor, daß Schiffe sanken, und zwar recht häufig; er hatte genug Berichte darüber gelesen. Nach den vergangenen drei Tagen konnte er sich nur noch wundern, daß die Mehrzahl nicht sank. Nun, und er konnte in dieser Hinsicht exakt gar nichts tun außer zu beten.
Und schütz’ uns in der Not auf See, o Herr, hab’ Erbarmen.
Plötzlich verstand er hautnah, was der Autor dieser Zeile aus einem Kirchenlied gemeint hatte.
Als er fertig war, ließ er die Kelle in das Faß fallen und ergriff ein Brett, um es damit zuzudecken; sonst bestand die Gefahr, daß eine Ratte hineinfiel und ertrank. Eine der Frauen ergriff ihn beim Arm, als er sich umdrehte. Sie deutete auf den kleinen Jungen, den sie auf dem Arm hatte und der sich an ihren Hals drückte.
»Mr. MacKenzie, ob der Kapitän uns mit seinem Ring abreibt? Unser Gibbie hat wunde Augen, weil er so lange im Dunkeln war.«
Roger zögerte, kam sich dann aber selbst lächerlich vor. Genau wie der Rest der Besatzung versuchte er, Bonnet aus dem Weg zu gehen, doch es gab keinen Grund, der Frau ihre Bitte zu versagen; der Kapitän hatte seinen Goldring, der ein begehrtes Heilmittel bei Augenschmerzen und Entzündungen war, schon öfter dafür hergegeben.
»Na klar«, sagte er und vergaß sich selbst für einen Augenblick. »Kommt nur.« Die Frau blinzelte überrascht, folgte ihm aber gehorsam. Der Kapitän war auf seinem Achterdeck in eine Unterhaltung mit dem Maat vertieft; Roger signalisierte der Frau, einen Augenblick zu warten, und sie nickte und zog sich bescheiden hinter ihn zurück.
Der Kapitän sah genauso müde aus wie sie alle, und die Übernächtigung grub ihm die Falten tiefer ins Gesicht. Luzifer, nachdem er eine Woche lang die Hölle regiert und festgestellt hatte, daß es kein Zuckerschlecken war, dachte Roger mit säuerlicher Belustigung.
»…beschädigte Teekisten?« sagte Bonnet gerade an den Maat gerichtet.
»Nur zwei, und sie sind nicht durch und durch naß«, erwiderte Dixon. »Wir können einen Teil retten und ihn vielleicht flußaufwärts in Cross Creek loswerden.«
»Aye, in Edenton oder New Bern nehmen sie’s genauer. Da bekommen wir aber auch die besten Preise; wir verkaufen, was wir können, bevor wir nach Wilmington weiterfahren.«
Bonnet drehte sich etwas zur Seite und erblickte Roger. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, entspannte sich aber wieder, als er die Bitte hörte. Kommentarlos langte er herab und rieb dem kleinen Gilbert sanft mit dem goldenen Ring, den er am kleinen Finger trug, über die geschlossenen Augen. Roger sah einen einfachen, breiten Ring; er sah fast aus wie ein Ehering, nur kleiner - vielleicht der Ring einer Frau. Der ehrfurchtgebietende Bonnet mit einem Liebespfand? Konnte sein, schätzte Roger; es mochte Frauen geben, die sich von der unterschwelligen Gewalt in der Ausstrahlung des Kapitäns angezogen fühlten.
»Das Kind ist krank«, bemerkte Dixon. Er zeigte mit dem Finger auf den Jungen, der einen roten Ausschlag hinter den Ohren hatte und auf dessen blassen Wangen das Fieber erblühte.
»Nur Milchfieber«, sagte die Frau und zog das Kind defensiv an ihre Brust. »Kommt wohl ein neuer Zahn.«
Der Kapitän nickte unbeteiligt und wandte sich ab. Roger begleitete die Frau zur Kombüse, wo er um ein Stück Schiffszwieback bat, auf dem das Kind herumkauen konnte, dann schickte er sie zurück zu den anderen aufs Vorderdeck.
Gilberts Zahnfleisch interessierte ihn jedoch nicht besonders; als er die Leiter zum Deck hochkletterte, beschäftigte ihn die Unterhaltung, die er zufällig gehört hatte.
Zwischenlandungen in New Bern und Edenton, dann erst Wilmington. Und Bonnet hatte sichtlich keine Eile; er würde nach guten Preisen für seine Fracht Ausschau halten und in aller Ruhe über die Arbeitsverträge seiner Passagiere verhandeln - Himmel, es konnte Wochen dauern, bevor sie Wilmington erreichten.
Das ging nicht, dachte Roger. Der Himmel wußte, wohin es Brianna verschlug - oder was ihr zustoßen konnte. Die Gloriana war trotz des Unwetters gut vorangekommen - so Gott wollte, würden sie nur acht Wochen bis North Carolina brauchen, wenn der Wind anhielt. Er wollte die wertvolle Zeit, die er so gewann, nicht in den nördlichen Häfen Carolinas vertun, um dann im Schneckentempo nach Süden zu dümpeln.
Er beschloß, im ersten Hafen, den sie erreichten, von Bord der Gloriana zu gehen und sich, so gut er konnte, nach Süden durchschlagen. Es stimmte, er hatte sein Wort gegeben, auf dem Schiff zu bleiben, bis die Fracht gelöscht war, doch andererseits würde er auch seinen Lohn nicht bekommen, daher erschien ihm der Tausch einigermaßen fair.
Die frische, kalte Luft an Deck weckte ihn ein wenig auf. Doch sein Kopf fühlte sich immer noch an, als wäre er mit feuchter Baumwolle gefüllt, und seine Kehle war vom Salz aufgerauht. Seine Wache dauerte noch drei Stunden; er machte sich auf, um sich noch eine Kelle Wasser zu holen, denn er hoffte, daß es ihm helfen würde, auf den Beinen zu bleiben.
Dixon hatte den Kapitän stehengelassen und wanderte zwischen den Grüppchen der Passagiere hindurch, nickte den Männern zu und blieb stehen, um ein paar Worte mit einer Frau mit Kindern zu wechseln. Merkwürdig, dachte Roger. Der Maat suchte kaum die Gesellschaft der Besatzung, ganz zu schweigen von den Passagieren, die er nur als eine ungewöhnlich sperrige Sorte Fracht betrachtete.
Es regte sich etwas in seinen Gedanken, etwas Unangenehmes, doch er konnte es nicht an die Oberfläche des Begreifens holen. Es hing im Schatten seiner Erschöpfung, gerade eben außer Sichtweite, fast so nah, daß er es riechen konnte. Ja, das war es, es hatte etwas mit einem Geruch zu tun. Aber was -
»MacKenzie!« Einer der Seeleute rief ihn vom Afterdeck und winkte ihn herbei, damit er beim Flicken der vom Sturm zerrissenen Segel half; riesige Stapel gefalteter Leinwand lagen wie schmutzige Schneewehen auf den Planken, und die oberen Lagen blähten sich im Wind.
Roger stöhnte und reckte seine schmerzenden Muskeln. Was auch immer in North Carolina geschah, er würde sehr froh sein, von diesem Schiff herunterzukommen.
 
Zwei Nächte darauf lag Roger tief im Traum, als ihn Geschrei weckte. Noch bevor sein Verstand die Tatsache registrierte, daß er wach war, waren seine Füße auf dem Deck gelandet und er war rasenden Herzens zum Fallreep unterwegs. Er machte einen Satz auf die Leiter zu, wo ihn ein Hieb gegen seine Brust zu Boden schleuderte.
»Bleib, wo du bist, Dummkopf!« knurrte Dixons Stimme von den obereren Sprossen. Der Kopf des Maates hob sich als Silhouette vor dem sternenbesäten Quadrat der Luke ab.
»Was ist los? Was ist passiert?« Er schüttelte die Verwirrung seines Traumes ab, stellte aber fest, daß das Wachsein nicht weniger verwirrend war.
Es waren noch andere Männer bei ihm im Dunkeln, er spürte, wie jemand über ihn stolperte, als er sich auf die Beine kämpfte. Doch der Lärm kam von oben; Füße donnerten über das Deck, und es erscholl ein Geschrei und Gekreische, wie er es noch nie gehört hatte.
»Mörder!« Eine Frauenstimme durchschnitt das Getöse, schrill wie eine Pfeife. »Hinterlistige Mör -« Die Stimme brach abrupt ab, und oben auf dem Deck ertönte ein schwerer Schlag.
»Was ist los?« Wieder auf den Beinen, schob sich Roger zwischen den Männern an der Leiter durch und schrie Dixon an. »Was? Werden wir gekapert?« Seine Worte ertranken in dem Geschrei von oben; dem Dampfpfeifengetöse der Frauen und Kinder, das das Gebell und Gefluche der Männer übertönte.
Irgendwo an Deck flackerte rotes Licht auf. Brannte das Schiff? Er schob sich durch das Gedränge der Männer, ergriff die Leiter, langte nach oben und packte Dixons Fuß.
»Weg!« Der Fuß riß sich los und trat nach seinem Kopf. »Bleibt da unten! Himmel, Mann, wollt Ihr Euch die Pocken einfangen?«
»Pocken? Was zum Teufel ist da oben los?« Rogers Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und er packte den tretenden Fuß und verdrehte ihn heftig mit einem Ruck nach unten. Dixon, der auf diesen Angriff nicht vorbereitet war, verlor seinen Halt auf der Leiter und fiel schwer zu Boden, wobei er über Rogers Kopf hinweg nach unten zwischen die Männer rutschte.
Roger ignorierte die Aufschreie der Wut und Überraschung hinter ihm und kletterte auf das Deck. Eine Gruppe von Männern drängte sich dicht um die vordere Luke. Laternen hingen oben im Tauwerk und verbreiteten rote, weiße und gelbe Lichtblitze, die sich im Glanz vieler Klingen fingen.
Er sah sich schnell nach einem anderen Schiff um, doch der Ozean war noch allen Seiten schwarz und leer. Keine Kaperer, keine Piraten; einen Kampf gab es nur bei der Luke, wo sich die halbe Besatzung mit Messern und Knüppeln bewaffnet zu einem Knäuel zusammengedrängt hatte.
Meuterei? dachte er und verwarf den Gedanken wieder, noch während er sich vorwärtsschob; Bonnets Kopf war über der Menge zu sehen; er trug keinen Hut, und sein blondes Haar glänzte im Laternenschein. Roger mengte sich zwischen den Pöbel, wobei er ohne Rücksicht kleinere Seeleute zur Seite boxte.
Kreischen und Schreien hallte aus dem Frachtraum wider, und ein flackerndes Licht wies nach unten. Ein Lumpenbündel wurde heraufgereicht, schnell von Hand zu Hand gegeben und verschwand hinter der beweglichen Masse aus Gliedmaßen und Knüppeln. An Backbord ertönte ein lautes Klatschen, und dann noch einmal.
»Was ist los, was geht hier vor?« Er bellte in das Ohr des Bootsmanns, der mit einer Laterne neben der Luke stand. Der Mann fuhr herum und starrte ihn an.
»Ihr habt noch keine Pocken gehabt, oder? Hinunter mit Euch!« Hutchinson hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder der offenen Luke zugewandt.
»Doch, habe ich! Was hat das mit…«
Der Bootsmann fuhr überrascht herum.
»Ihr habt Pocken gehabt? Ihr habt keine Narben. Ach, was soll’s - dann hinunter mit Euch, wir brauchen jede Hand!«
»Wozu?« Roger beugte sich vor, um trotz des Lärms von unten gehört zu werden.
»Blattern!« brüllte der Bootsmann zurück. Er wies auf die offene Luke, als einer der Seeleute an der Spitze der Leiter erschien. Unter dem einen Arm trug er ein Kind, das schwach um sich trat. Hände zerrten und schlugen auf den gebückten Rücken des Mannes ein, und die Stimme einer Frau erhob sich schrill vor Entsetzen über die anderen Geräusche.
Sie fand Halt am Hemd des Seemanns und Roger sah zu, wie sie begann, am Körper des Mannes hochzuklettern und ihn zurückzuziehen, während sie darum kämpfte, an ihr Kind zu gelangen. Kreischend krallte sie sich an den Rücken des Mannes und grub sich mit ihren Händen in Stoff und Haut.
Der Mann schrie und schlug nach ihr, um sie loszuwerden. Die Leiter war fixiert, doch der Seemann, der nur eine Hand benutzen konnte und das Gleichgewicht verlor, schwankte wild, und die Wut in seinem Blick verwandelte sich in Erschrecken, als seine Füße auf der Sprosse ausrutschten.
Aus purem Reflex warf sich Roger nach vorn, und er fing das Kind wie einen Rugbyball, als der Seemann in einem letzten Versuch, sich zu retten, die Arme hochwarf. Ineinander verschlungen wie Liebende fielen Mann und Frau gemeinsam rückwärts in den offenen Schlund der Luke. Ein Aufprall und weitere Schreie erklangen von unten, dann folgte die plötzliche, vorübergehende Stille des Schreckens. Darauf begannen die Aufschreie von neuem, und um ihn herum setzte ein gemurmelter Wortwechsel ein.
Roger hob das Kind hoch und versuchte, sein Wimmern mit einem ungeschickten Tätscheln zu beenden. Es schien merkwürdig schlaff in seinen Armen zu liegen, und es fühlte sich noch durch die Lagen seiner Kleidung hindurch heiß an. Licht blitzte über Roger hinweg, als der Bootsmann seine Laterne hochhielt und das Kind mit dem Ausdruck des Abscheus ansah.
»Hoffe, Ihr habt die Pocken gehabt, MacKenzie«, sagte er.
Es war der kleine Gilbert, der Junge mit den wunden Augen - doch die zwei Tage hatten ihn so verändert, daß Roger ihn kaum wiedererkannte. Der Junge war so dünn wie ein Faden, sein rundes Gesicht so eingefallen, daß seine Schädelknochen durchschienen. Auch seine helle, schmutzfleckige Haut war verschwunden, verdrängt von einer Masse eiternder Pusteln, die so dick waren, daß die Augen in dem herunterhängenden Kopf nur noch Schlitze waren.
Es hatte kaum Zeit, den Anblick zu registrieren, bevor andere Hände ihm den kleinen, fiebernden Körper entrissen. Ehe er die plötzliche Leere in seinen Armen begriff, klatschte es an Backbord ein weiteres Mal.
Er drehte sich in einem vergeblichen Reflex zur Reling, die Hände erschrocken zu Fäusten geballt, wandte sich dann aber wieder um, als ein erneuter Aufschrei von der Luke erklang.
Die Passagiere hatten sich von der Überraschung der Attacke erholt. Ein Ansturm von Männern brodelte die Leiter hoch, bewaffnet mit allem, was zu finden war, und stürzte sich auf die Seemänner an Deck, die von der geballten Wut überwältigt wurden.
Jemand prallte donnernd mit Roger zusammen; er stürzte und rollte sich zur Seite, als neben seinem Kopf ein Stuhlbein auf das Deck knallte. Er kam auf Hände und Knie hoch, wurde in die Rippen getreten, scheute zurück und wurde herumgeschubst, rückwärts gegen ein Hindernis gedrückt und stürzte sich in einem günstigen Augenblick auf ein Paar Beine, ohne zu wissen, ob er mit der Besatzung oder einem Passagier kämpfte, denn ihm ging es nur um Platz zum Aufstehen und zum Atmen.
Der Gestank der Krankheit waberte aus dem Frachtraum heraus, ein süßer Verwesungsgeruch, der stärker war als der übliche, scharfe Geruch nach ungewaschenen Körpern und Gülle. Die Laternen schwangen im Wind, und Licht und Schatten schnitten die Szene in Stücke, so daß hier ein schreiendes Gesicht mit wildem Blick auftauchte, dort ein Arm aufragte und hier ein nackter Fuß, um gleich wieder in der Dunkelheit zu verschwinden und sogleich durch Ellbogen und Messer und zuckende Knie ersetzt zu werden, so daß das Deck von knochenlosen Körpern überflutet zu sein schien.
Es herrschte ein solches Durcheinander, daß Roger sich seiner eigenen Glieder beraubt fühlte; er blickte an sich herab, weil sein linker Arm sich taub anfühlte, und erwartete fast, das Glied abgehackt zu sehen. Doch es war an Ort und Stelle, und er hob es instinktiv, um einen vernichtenden Schlag abzuwehren.
Jemand griff ihm in die Haare; er riß sich los und wirbelte herum, stieß einem anderen fest die Ellbogen in die Rippen, wirbelte erneut herum und traf auf Luft. Einen Augenblick lang stand er außer Reichweite des Handgemenges und rang nach Atem. Zwei Gestalten kauerten vor ihm im Schatten der Reling; als er den Kopf schüttelte, um ihn frei zu bekommen, erhob sich die größere und stürzte sich auf ihn.
Die Wucht des Aufpralls ließ ihn zurücktaumeln, und er klammerte sich an den Angreifer. Sie stießen gegen den Vormast und stürzten zusammen hin, dann wälzten sie sich gemeinsam am Boden und hämmerten in blindwütiger Wut aufeinander los. Gefangen in einem Netz aus Lärm und Schlägen achtete er nicht auf die zusammenhanglosen Worte, die ihm ins Ohr gekeucht wurden.
Dann traf ihn ein Stiefel, und noch einer, und als er seinen Gegner losließ, traten zwei Besatzungsmitglieder sie auseinander. Jemand ergriff den anderen Mann und zog ihn hoch, und Roger sah die erhobene Laterne des Bootsmanns aufblitzen, die das Gesicht des hochgewachsenen, blonden Passagiers preisgab - Morag MacKenzies Mann, dessen grüne Augen sie dunkel und wutentbrannt anstarrten.
MacKenzie sah mitgenommen aus - Roger ebenfalls, wie er feststellte, als er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr und seine aufgeplatzte Lippe spürte -, doch seine Haut war frei von Eiterbeulen.
»In Ordnung«, sagte Hutchinson kurz, und der Mann wurde ohne Umschweife auf die Luke zu geschubst.
Rogers Kameraden halfen ihm rauh auf die Beine und ließen ihn dann schwankend, benommen und unbeachtet stehen, während sie ihre Arbeit beendeten. Der Widerstand war nur von kurzer Dauer gewesen; die Passagiere waren zwar mit der Wut der Verzweiflung bewaffnet, doch sechs Wochen unter Deck, Krankheit und Unterernährung hatten sie geschwächt. Die Stärkeren waren in die Unterwerfung geprügelt, die Schwächeren zurückgedrängt worden, und diejenigen, die an den Pocken erkrankt waren…
Roger blickte auf die Reling und den Korridor aus Mondlicht, der friedlich auf dem Wasser lag. Er ergriff die Reling und übergab sich. Er würgte so lange, bis nur noch Galle hochkam, die ihm in Nase und Kehle brannte. Das Wasser unten war schwarz und leer.
Erschöpft und zitternd vor Erschöpfung ging er langsam über das Deck. Die Seeleute, an denen er vorbeikam, schwiegen, doch aus der verschlossenen Vorderluke erhob sich eine einzelne, klagende Stimme, höher und höher, ein endloses Heulen, das kein Atemholen und keine Ruhe kannte.
Er fiel fast das Fallreep zum Mannschaftsquartier hinunter, ging zu seiner Hängematte, ohne irgendwelche Fragen zu beachten, und wickelte sich seine Decke um den Kopf, um den Klageton auszusperren - um alles auszusperren.
Doch er fand kein Vergessen in den erstickenden Wollfalten, und riß sich die Decke weg. Sein Herz klopfte, und seine Brust war so von dem Gefühl des Ertrinkens erfüllt, daß er die Luft geradezu hinunterschluckte, wieder und wieder, bis ihm schwindelig wurde, und immer noch atmete er tief ein, als müßte er für jene mitatmen, die es nicht mehr konnten.
»Es ist besser so, Junge«, hatte Hutchinson in schroffem Mitgefühl zu ihm gesagt, als er vorbeiging, während Roger sich über die Reling auskotzte. »Die Pocken verbreiten sich wie ein Waldbrand; keiner in dem Frachtraum würde lebend das Ziel erreichen, wenn wir die Kranken nicht herausholen würden.«
Und war das besser, als langsam an den Wunden und am Fieber zu sterben? Nicht für die, die zurückblieben; das Jammern ging weiter; es zerschnitt die Stille und durchbohrte Holz wie Herz.
Verstümmelte Bilder blitzten in seiner Erinnerung auf, gestutzte Szenen, eingefangen von unsichtbaren Blitzlichtern; das verzerrte Gesicht des Matrosen, als er in die Luke stürzte; der halboffene Mund des kleinen Jungen, dessen Inneres von Eiterbeulen übersät war. Bonnet, der über der Schlägerei stand und mit seinem Gesicht eines gefallenen Engels zusah. Und das dunkle, hungrige Wasser, leer unter dem Mond.
Irgend etwas glitt mit einem dumpfen Rumpeln an der Schiffshülle vorbei, und er rollte sich zitternd zusammen, nahm weder die erstickende Hitze unter Deck wahr noch die schläfrige Beschwerde seines Nebenmannes. Nein, nicht leer. Er hatte die Seeleute sagen hören, daß Haie niemals schlafen.
»O Gott«, sagte er laut. »O Gott!« Er hätte für die Toten beten sollen, doch er konnte es nicht.
Er rollte sich erneut zusammen, wand sich und versuchte zu vergessen, und im Echo des vergeblichen Gebetes fand er seine Erinnerung wieder - jene wenigen, verzweifelten Worte, die er gehört hatte, ohne sie zu verstehen, als sie ihm in jenen Momenten blinder Wut ins Ohr gekeucht wurden.
Um Gottes willen, Mann, hatte der blonde Mann gesagt. Um Gottes willen, laßt sie!
Er rollte sich auseinander und lag in kalten Schweiß gebadet steif da.
Zwei Gestalten im Schatten. Und die offene Luke zum Lagerraum, vielleicht sechs Meter weiter.
»O Gott«, sagte er noch einmal, doch diesmal war es ein Gebet.
 
Erst in der Mitte der Hundewache bot sich Roger am nächsten Tag die Gelegenheit, in den Lagerraum hinunterzusteigen. Er versuchte erst gar nicht zu verhindern, daß man ihn sah; die Beobachtung seiner Schiffskameraden hatte ihn schnell gelehrt, daß in beengten Verhältnissen nichts so schnell Aufmerksamkeit erregte wie Heimlichtuerei.
Falls ihn jemand fragte, dann hatte er ein rumpelndes Geräusch gehört und sich gedacht, daß sich vielleicht die Fracht verlagert hatte. Das war ja auch nah genug an der Wahrheit.
Er ließ sich mit den Händen vom Rand der Luke schwingen; wenn er die Leiter nicht herunterließ, war es weniger wahrscheinlich, daß man ihm folgte. Er ließ sich in die Dunkelheit fallen und landete hart und mit einem krachenden Geräusch. Wenn hier unten jemand war, dann mußte er das gehört haben - und falls ihm jemand folgte, würde er selbst gleichermaßen gewarnt sein.
Er ließ sich einen Augenblick Zeit, um sich von seinem Aufprall zu erholen, und begann dann, sich vorsichtig zwischen den hohen, schwach erleuchteten Massen der aufgestapelten Fracht vorwärtszubewegen. Alles schien an den Rändern verschwommen zu sein. Es war nicht nur das schwache Licht; sämtliche Gegenstände im Frachtraum vibrierten leicht und trommelten im Rhythmus der zitternden Bordwand. Er konnte es wahrnehmen, wenn er genau hinhörte; es war der leiseste Ton im Gesang des Schiffes.
Durch die engen Gänge zwischen den Reihen der Kisten hindurch, vorbei an den massiven Bäuchen der dicht an dicht gereihten Wasserfässer. Er holte Atem, die Luft war vom Geruch feuchten Holzes erfüllt, den das schwache Parfüm des Tees überlagerte. Es raschelte und ächzte, viele seltsame Geräusche - doch keine Spur von der Anwesenheit eines Menschen. Dennoch war er sich sicher, daß jemand hier war.
Und warum bist du hier, Kumpel? dachte er. Was, wenn einer der Passagiere aus dem Zwischendeck hier Zuflucht gesucht hatte? Wenn jemand hier versteckt lag, hatte er wahrscheinlich die Pocken; Roger konnte nichts für ihn tun - warum sich also die Mühe machen und nachsehen?
Weil er es nicht lassen konnte, lautete die Antwort. Er machte sich keine Vorwürfe darüber, daß er es nicht geschafft hatte, die pockenkranken Passagiere zu retten; ihnen hätte sowieso nichts helfen können, und vielleicht war der schnelle Tod durch Ertrinken ja wirklich nicht schlimmer als die langsame Agonie der Krankheit. Das hätte er jedenfalls gern geglaubt.
Doch er hatte nicht geschlafen; die Ereignisse der Nacht hatten ihn mit einem solchen Gefühl des Entsetzens und der angewiderten Hilflosigkeit erfüllt, daß er keine Ruhe finden konnte. Ob er jetzt etwas tun konnte oder nicht, er mußte irgend etwas tun. Er mußte nachsehen.
Etwas Kleines bewegte sich im tiefen Schatten des Frachtraums. Ratte, dachte er und drehte sich automatisch um, um nach dem Tier zu treten. Diese Bewegung war seine Rettung; ein schwerer Gegenstand sauste an seinem Kopf vorbei und landete platschend unten im Kielraum.
Er senkte den Kopf und machte einen Satz in die Richtung, aus der die Bewegung gekommen war, die Schultern hochgezogen, um den Schlag abzuwehren, mit dem er rechnete. Es gab keine Fluchtmöglichkeit und nicht viel Platz zum Verstecken. Er sah es wieder, stürzte sich darauf und bekam Stoff zu fassen. Riß fest daran und stieß auf Haut. Ein schnelles Handgemenge im Dunkeln, ein erschrockener Aufschrei, und am Ende hielt er einen Körper fest gegen ein Schott gepreßt und umklammerte das magere Handgelenk von Morag MacKenzie.
»Was zum Teufel?« Sie trat nach ihm und versuchte zu beißen, doch er ignorierte es. Er packte sie fest am Kragen und zerrte sie aus dem Schatten in das gedämpfte, bräunliche Licht des Frachtraums. »Was macht Ihr hier?«
»Nichts! Laßt los! Laßt mich los, bitte! Bitte, ich flehe Euch an, Sir…« Da ihre Kraft nicht ausreichte, um sich zu befreien - sie wog vielleicht halb soviel wie er -, verlegte sie sich aufs Bitten, und ihre Worte sprudelten in einem halb geflüsterten Strom der Verzweiflung hervor. »Um Eurer eigenen Mutter willen, Sir! Ihr könnt es nicht tun, bitte, ihr könnt nicht zulassen, daß sie ihn umbringen, bitte!«
»Ich werde niemanden umbringen. Um Himmels willen, leiser!« sagte er und rüttelte sie leicht.
Aus dem finstersten Schatten hinter der Ankerkette erklang das hohe, dünne Jammern eines quengeligen Säuglings.
Sie schnappte leise nach Luft und blickte gehetzt zu ihm auf. »Sie werden ihn hören! Gott, Mann, laßt mich zu ihm gehen!« Sie war so verzweifelt, daß es ihr gelang, sich von ihm loszureißen. Sie flüchtete dem Geräusch entgegen und kletterte über die großen, rostigen Glieder der Ankerkette, ohne sich am Schmutz zu stören.
Er folgte ihr, langsamer; sie konnte ja nirgendwo hin. Er fand sie an der dunkelsten Stelle, wo sie an einer der Rippen des Schiffes kauerten, jener riesigen, winkelförmigen Balken, die das Gerüst der Schiffshülle bildeten. Zwischen dem rauhen Holz der Bordwand und den aufgehäuften Massen der Ankerkette war kaum ein halber Meter Platz; sie war nur ein dunklerer Fleck in der stygischen Schwärze.
»Ich tue Euch nichts«, sagte er leise. Der Schatten schien vor ihm zurückzuweichen, doch sie antwortete nicht.
Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit; ein schwacher Lichtschein von der Luke drang sogar bis hier hinten. Ein weißer Fleck - ihre Brust war entblößt, sie stillte das Kind. Er hörte die kleinen, feuchten Geräusche, die es beim Trinken machte.
»Was zum Teufel macht Ihr hier?« fragte er, obwohl er es genau wußte. Sein Magen krampfte sich zusammen, und das nicht nur wegen des fauligen Geruchs aus dem Kielraum. Er hockte sich neben sie und paßte gerade eben in den winzigen Freiraum.
»Ich verstecke mich!« sagte sie heftig. »Das könnt Ihr doch wohl sehen, oder?«
»Ist das Kind krank?«
»Nein!« Sie beugte sich über das Kind und wandte sich von ihm ab.
»Dann…«
»Es ist nur ein harmloser Ausschlag! Den kriegen alle Kinder, das sagt meine Mutter auch!« Unter den wütenden Leugnungen hörte er die Angst in ihrer Stimme.
»Seid Ihr sicher?« sagte er, so sanft er konnte. Er streckte zögernd die Hand nach dem dunklen Flecken aus, den sie im Arm hielt.
Sie hieb nach ihm, ungeschickt, da sie nur eine Hand benutzen konnte, und er zischte vor Schmerz auf und zuckte zurück.
»Himmel! Ihr habt auf mich eingestochen!«
»Bleibt mir vom Leib! Ich hab’ den Dolch von meinem Mann«, sagte sie warnend. »Ich lasse nicht zu, daß Ihr ihn nehmt, vorher bring’ ich Euch um, das schwör’ ich!«
Er glaubte ihr. Er nahm die Hand in den Mund und konnte sein Blut schmecken, süß und salzig auf der Zunge. Es war nur ein Kratzer, doch er glaubte ihr. Sie würde ihn umbringen - oder selbst sterben, was sehr viel wahrscheinlicher war, wenn ein Mitglied der Besatzung sie fand.
Aber nein, dachte er. Sie war bares Geld wert. Bonnet würde sie nicht umbringen - würde sie nur an Deck zerren lassen und sie zwingen zuzusehen, während man ihr das Kind aus den Armen riß und es ins Meer warf. Er erinnerte sich an die dunklen Schatten, die das Schiff umlagerten, und erschauerte vor Kälte, die nicht von seiner feuchtkalten Umgebung herrührte.
»Ich nehme ihn nicht. Aber wenn es die Pocken sind…« »Sie sind es nicht! Ich schwöre zu St. Bride, sie sind es nicht!« Eine kleine Hand schoß aus dem Schatten hervor und packte ihn am Ärmel. »Es ist so, wie ich es Euch sage, es ist nur von der Milch, ich habe so etwas schon öfter gesehen, Mann - schon hundert Mal! Ich bin das älteste von neun Kindern, ich weiß genau, wann ein Kind krank ist und wann es nur zahnt!«
Er zögerte und faßte dann abrupt seinen Entschluß. Wenn sie sich irrte und das Kind die Blattern hatte, dann hatte sie sich wahrscheinlich schon angesteckt; sie zum Zwischendeck zurückzubringen, würde nur bedeuten, die Krankheit weiterzuverbreiten. Und wenn sie recht hatte - dann wußte er genausogut wie sie, daß es keine Rolle spielte; jede Art von Ausschlag würde das Kind auf den ersten Blick zum Tod verurteilen.
Er konnte spüren, wie sie zitterte, am Rande der Hysterie. Er hätte sie gern zur Beruhigung berührt, überlegte es sich aber anders. Sie würde ihm nicht vertrauen, und das war ja auch kein Wunder.
»Ich verrate Euch nicht«, flüsterte er.
Die Antwort war argwöhnisches Schweigen.
»Ihr braucht etwas zu essen, nicht wahr? Und frisches Wasser. Ohne das habt Ihr bald keine Milch mehr, und was ist dann mit dem Kind?«
Er hörte ihren Atem, abgehackt und zugeschleimt. Sie war krank, doch es waren nicht die Pocken; alle Passagiere im Zwischendeck husteten und keuchten - die Feuchtigkeit war ihnen von Anfang an auf die Lungen geschlagen.
»Zeigt ihn mir.«
»Nein!« Ihre Augen blitzten im Dunkeln auf wie die Augen einer in die Enge getriebenen Ratte, und der Rand ihrer Lippen hob sich von den kleinen, weißen Zähnen.
»Ich schwöre, ich nehme ihn Euch nicht weg. Aber ich muß ihn sehen.«
»Worauf schwört Ihr?«
Er suchte in seinem Gedächtnis nach einem passenden keltischen Eid, doch dann gab er auf und sagte einfach, was ihm auf der Zunge lag.
»Auf das Leben meiner eigenen Frau«, sagte er, »und auf meine ungeborenen Söhne.«
Er spürte ihre Zweifel, und dann ließ ihre Anspannung ein wenig nach; das runde Knie, das gegen sein Bein gepreßt war, machte eine kleine Bewegung, als sie sich entspannte. Neben ihnen raschelte es leise zwischen den Ketten. Diesmal waren es echte Ratten.
»Ich kann ihn hier nicht allein lassen, um Essen stehlen zu gehen.« Er sah, wie sie den Kopf schwach dem Geräusch zuneigte. »Sie fressen ihn bei lebendigem Leib; sie haben mich schon im Schlaf gebissen, die dreckigen Biester.«
Er streckte die Hände aus, denn er war sich ständig der Geräusche auf dem Deck bewußt. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß jemand hier herunterkommen würde, doch wie lange würde es dauern, bis man ihn oben vermißte?
Sie zögerte immer noch, griff aber schließlich mit einem Finger nach ihrer Brust und löste den Mund des Kindes mit einem leisen Plop! Es machte ein leises Protestgeräusch und strampelte ein bißchen, als er es nahm.
Er hatte noch nicht viele Babys gehalten; das schmutzige, kleine Bündel fühlte sich überraschend an - träge und trotzdem lebendig, weich und dennoch robust.
»Vorsicht mit seinem Kopf!«
»Ich hab’ ihn.« Er umschloß den warmen, runden Schädel behutsam mit einer Hand, ging gebückt ein paar Schritte rückwärts und hielt das Gesicht des Kindes in das Dämmerlicht.
Seine Wangen waren mit rötlichen Pusteln übersät, die weiße Stippchen hatten - für Roger sahen sie genau wie Pocken aus, und er spürte, wie ein Zittern des Abscheus seine Handflächen durchlief. Auch, wenn man immun war, brauchte man Mut, um die Seuche zu berühren und nicht zurückzuschrecken.
Er sah das Kind mit zusammengekniffenen Augen an und löste dann vorsichtig seine Windeltücher, ohne den gezischten Protest der Mutter zu beachten. Er ließ seine Hand unter die Kleidung des Babys gleiten und spürte zuerst das durchnäßte Tuch, das ihm zwischen den stämmigen Beinchen hing, und dann die glatte, seidige Haut von Brust und Bauch.
Das Kind kam ihm wirklich nicht sehr krank vor; seine Augen waren klar, nicht trübe. Und der winzige Junge schien zwar zu fiebern, doch es war nicht die sengende Hitze, die er in der vergangenen Nacht gespürt hatte. Das Baby jammerte und wand sich, das stimmte, doch es trat mit der ganzen, wütenden Kraft seiner winzigen Glieder um sich, nicht in den schwachen Krämpfen eines sterbenen Kindes.
Die Jüngsten sterben schnell, hatte Claire gesagt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schnell sich eine Seuche ausbreitet, wenn es nichts gibt, womit man sie bekämpfen kann. Die letzte Nacht hatte ihm eine Vorstellung davon vermittelt.
»Gut«, flüsterte er schließlich. »Wahrscheinlich habt Ihr recht.« Er spürte mehr, als daß er es sah, wie sie den Arm sinken ließ - sie hatte den Dolch bereitgehalten.
Vorsichtig gab er ihr das Kind zurück und fühlte dabei eine Mischung aus Erleichterung und Bedauern. Und die erschreckende Erkenntnis der Verantwortung, die er auf sich genommen hatte.
Morag gurrte dem Jungen etwas zu und kuschelte ihn an ihre Brust, während sie ihn hastig wieder einwickelte.
»Süßer Jemmy, aye, bist ein lieber Junge. Psst, Schätzchen, psst, ist ja schon gut, Mami ist ja hier.«
»Wie lange?« flüsterte Roger und legte ihr die Hand auf den Arm. »Wie lange hält sich der Ausschlag, wenn er von der Milch kommt?«
»Vielleicht vier Tage, vielleicht fünf«, flüsterte sie zurück. »Aber es dürfte nur noch zwei dauern, bis sich der Ausschlag verändert - bis er nachläßt. Dann kann jeder sehen, daß es nicht die Pocken sind. Dann kann ich herauskommen.«
Zwei Tage. Wenn es die Pocken waren, würde das Kind bis dahin tot sein. Aber wenn nicht - dann könnte er es vielleicht ganz knapp schaffen. Und sie ebenfalls.
»Könnt Ihr so lange wach bleiben? Die Ratten…«
»Aye, das kann ich«, sagte sie heftig. »Ich kann tun, was ich muß. Dann helft Ihr mir also?«
Er holte tief Luft, ohne den Gestank zu beachten.
»Aye, das tue ich.« Er stand auf und gab ihr die Hand. Sie zögerte einen Augenblick, dann ergriff sie sie und stellte sich ebenfalls hin. Sie war klein; sie reichte ihm kaum bis zur Schulter, und die Hand, die er in der seinen hielt, war so groß wie eine Kinderhand - im Schatten sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das seine Puppe wiegt.
»Wie alt seid Ihr?« fragte er plötzlich.
Er sah ihre Augen vor Überraschung aufleuchten, dann blitzten ihre Zähne auf.
»Gestern war ich noch zweiundzwanzig«, sagte sie trocken. »Heute bin ich wohl eher hundert.«
Ihre kleine, feuchte Hand befreite sich aus der seinen, und sie verschmolz wieder mit der Dunkelheit.
Der Ruf Der Trommel
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