15
Edle Wilde
Am Morgen nahmen wir Abschied von den anderen,
wobei Jamie und Myers unser Zusammentreffen in zehn Tagen aufs
genaueste besprachen. Angesichts der verwirrend riesigen Ausmaße
der Wälder und Berge um mich herum konnte ich mir nicht vorstellen,
wie sich irgend jemand sicher sein konnte, daß er eine bestimmte
Stelle wiederfinden würde. Ich konnte mich nur auf Jamies
Orientierungssinn verlassen.
Sie wandten sich nach Norden, wir nach Südwesten,
indem wir dem Bach folgten, an dem wir übernachtet hatten. Zunächst
kam es mir sehr ruhig und merkwürdig einsam vor, nur zu zweit zu
sein. Doch innerhalb kürzester Zeit hatte ich mich an die
Einsamkeit gewöhnt und fing an, mich zu entspannen und die Umgebung
mit Interesse zu betrachten. Schließlich konnte dies unsere Heimat
werden.
Diese Vorstellung war ziemlich einschüchternd - die
Gegend war von erstaunlicher Schönheit und großem Reichtum, doch so
wild, daß es mir kaum möglich erschien, daß Menschen dort lebten.
Diesen Gedanken sprach ich jedoch nicht aus, sondern folgte nur
Jamies Pferd, während er uns tiefer und tiefer in die Berge führte
und schließlich am späten Nachmittag haltmachte, um ein kleines
Lager aufzuschlagen und Fische für das Abendessen zu fangen.
Das Licht verblaßte langsam und zog sich zwischen
den Bäumen zurück. Um die dicken, bemoosten Stämme sammelten sich
die Schatten. Oben waren sie immer noch in flüchtiges Licht
getaucht, das sich im Laub verbarg, und grüne Schatten schwankten
in der abendlichen Brise.
Ein kleines Licht glühte plötzlich neben mir im
Gras auf, kühl und hell. Ich sah noch eins und noch eins, und dann
war der Waldrand erfüllt davon. Sie sanken träge zu Boden und
verloschen, kalte Funken, die in der zunehmenden Dunkelheit
dahintrieben.
»Weißt du, daß ich Glühwürmchen zum erstenmal in
Boston gesehen habe?« sagte ich voll Freude über den Anblick der
glühenden
Smaragde und Topase im Gras. »In Schottland gibt es keine
Glühwürmchen, oder?«
Jamie schüttelte den Kopf und lehnte sich träge im
Gras zurück, einen Arm angewinkelt hinter dem Kopf.
»Hübsche kleine Dinger«, beobachtete er und seufzte
zufrieden. »Das ist meine liebste Tageszeit, glaube ich. Als ich
nach Culloden in der Höhle gelebt habe, bin ich immer zur Abendzeit
herausgekommen und habe mich auf einen Stein gesetzt und auf die
Dunkelheit gewartet.«
Mit halbgeschlossenen Augen beobachtete er die
Glühwürmchen. Die Schatten breiteten sich nach oben aus, als die
Nacht von der Erde zum Himmel aufstieg. Einen Moment zuvor hatte
ihn das Licht, das durch die Eichenblätter schien, noch wie ein
Rehkitz gesprenkelt; jetzt, da es dunkel wurde, lag er in einer Art
gedämpftem, grünem Leuchten da, das seine Gestalt fest und
substanzlos zugleich wirken ließ.
»All die kleinen Insekten kommen jetzt heraus -
Motten und Mücken; all die winzigen Tierchen, die in Wolken über
dem Wasser hängen. Man sieht die Schwalben nach ihnen jagen und
dann die Fledermäuse herabsausen. Und die Lachse, die aufsteigen,
wenn die Insekten am Abend schlüpfen und Ringe ins Wasser
zeichnen.«
Seine Augen waren jetzt offen und auf das wogende
Grasmeer auf dem Hügel gerichtet, doch ich wußte, daß er statt
dessen die gekräuselte Oberfläche des winzigen Lochs in der
Nähe von Lallybroch sah.
»Es dauert nur einen Augenblick, doch man meint,
daß es niemals enden wird. Seltsam, nicht wahr?« sagte er
gedankenverloren. »Man kann fast zusehen, wie das Licht schwindet -
und doch gibt es keinen Zeitpunkt, an dem man sagen könnte. ›Jetzt!
Jetzt ist es Nacht!‹« Er deutete auf die Lücke zwischen den Eichen
und das Tal, das sich mit Dunkelheit füllte.
»Nein.« Ich streckte mich neben ihm aus. Die warme
Feuchtigkeit des Grases drang durch meine Wildlederkleidung, so daß
sie sich an meinen Körper schmiegte. Die Luft unter den Bäumen war
schwer und kühl wie die Luft in einer Kirche, halbdunkel und voller
Erinnerungen an Weihrauchduft.
»Erinnerst du dich an Bruder Anselm in der Abtei?«
Ich blickte nach oben; die Farbe wich aus den Eichenblättern über
uns und ließ die weichen, silbernen Blattunterseiten so grau wie
Mäusefell zurück. »Er hat gesagt, jeder Tag hat eine Stunde, in der
die Zeit stillzustehen scheint - aber sie ist für jeden anders. Er
hat gemeint, es ist vielleicht die Stunde, in der man geboren
wurde.«
Ich wandte den Kopf und sah ihn an.
»Weißt du, wann du geboren bist?« fragte ich. »Die
Tageszeit, meine ich?«
Er blickte mich an und lächelte. Dann drehte er
sich um, so daß er mir gegenüber lag.
»Aye, das weiß ich. Vielleicht hat er recht gehabt,
denn ich bin zur Abendessenszeit geboren worden - am ersten Mai,
gerade als das Zwielicht kam.« Er strich ein dahinschwebendes
Glühwürmchen zur Seite und grinste mich an.
»Habe ich dir die Geschichte nie erzählt? Wie meine
Mutter einen Topf mit Haferbrei zum Kochen auf den Herd gestellt
hat, und ihre Wehen dann so schnell gekommen sind, daß sie keine
Zeit mehr gehabt hat, daran zu denken, und es ist auch keinem
anderen eingefallen, bis sie diesen Brandgeruch bemerkt haben, und
das Abendessen war ruiniert und der Topf auch? Es war nichts mehr
zum Essen im Haus außer einer Stachelbeertorte. Also haben sie alle
davon gegessen, aber die Küchenmagd war neu und die Stachelbeeren
unreif und alle - außer meiner Mutter natürlich - haben sich die
ganze Nacht mit Darmkrämpfen gewunden.«
Er schüttelte den Kopf und lächelte immer noch.
»Mein Vater hat gesagt, es hätte Monate gedauert, bis er mich
ansehen konnte, ohne Bauchgrimmen zu bekommen.«
Ich lachte, und er streckte die Hand aus, um mir
ein Blatt vom vorigen Jahr aus dem Haar zu zupfen.
»Und um welche Zeit bist du geboren,
Sassenach?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich mit dem leichten
Stich des Bedauerns, den mir der Gedanke an meine verschwundene
Familie immer versetzte. »Es hat nicht in meiner Geburtsurkunde
gestanden, und wenn Onkel Lamb es gewußt hat, so hat er es mir
nicht gesagt. Aber ich weiß, wann Brianna auf die Welt kam« fügte
ich etwas heiterer hinzu. »Sie ist um drei nach drei am Morgen
geboren worden. An der Wand des Kreissaals hat eine riesige Uhr
gehangen, da habe ich es gelesen.«
Trotz des gedämpften Lichtes konnte ich seine
Überraschung deutlich sehen.
»Du bist wach gewesen? Ich dachte, du hast mir
gesagt, daß man in deiner Zeit die Frauen betäubt, damit sie keine
Schmerzen spüren.«
»Die meisten, ja. Aber ich wollte nicht, daß sie
mir etwas geben.« Ich starrte nach oben. Um uns war es dunkel
geworden, doch der Himmel war immer noch klar und hell, ein
sanftes, leuchtendes Blau.
»Warum zum Teufel nicht?« wollte er ungläubig
wissen. »Ich habe noch nie gesehen, wie eine Frau ein Kind bekommt,
aber ich habe es schon mehr als einmal gehört, sag’ ich dir.
Da komme ich doch wirklich
nicht mit - warum sollte eine Frau, die halbwegs bei Verstand ist,
das tun, wenn sie die Wahl hätte?«
»Hm…« Ich hielt inne, denn ich wollte nicht
melodramatisch erscheinen. Doch es war die Wahrheit. »Nun«, sagte
ich ziemlich trotzig, »ich habe geglaubt, ich würde sterben, und
ich wollte nicht im Schlaf sterben.«
Er war nicht schockiert. Er zog nur eine Augenbraue
hoch und schnaubte leise vor Belustigung.
»Nicht?«
»Nein. Du?« Ich wandte den Kopf, um ihn anzusehen.
Er rieb sich das Nasenbein, immer noch belustigt über die
Frage.
»Aye, tja, vielleicht. Ich bin dem Tod am Galgen
nahe gewesen und fand das Warten furchtbar. Ich bin mehrere Male
fast in der Schlacht umgekommen, aber da habe ich mir keine großen
Sorgen ums Sterben gemacht, weil ich zu beschäftigt war, um darüber
nachzudenken. Und dann bin ich fast an Verletzungen und am Fieber
gestorben, und da ging es mir so elend, daß ich es kaum abwarten
konnte, tot zu sein. Aber wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich
im Großen und Ganzen nichts dagegen, im Schlaf zu sterben,
nein.«
Er beugte sich zu mir herüber und küßte mich sacht.
»Am liebsten im Bett neben dir. Natürlich in sehr hohem Alter.« Er
berührte meine Lippen sanft mit der Zunge, dann stand er auf und
strich sich trockene Eichenblätter von der Reithose.
»Am besten machen wir Feuer, solange wir noch genug
Licht haben, um den Feuerstein zu sehen«, sagte er. »Gehst du die
Fische holen?«
Ich überließ es ihm, sich mit Feuerstein und Zunder
zu beschäftigen, während ich den kleinen Hügel hinabstieg und zum
Bach ging, wo unsere frisch gefangenen Forellen an Drahtschnüren in
der eisigen Strömung baumelten. Als ich den Hügel wieder heraufkam,
war es so dunkel geworden, daß ich ihn nur schemenhaft über einem
glimmenden Häufchen Reisig kauern sah. Ein Rauchfaden stieg bleich
zwischen seinen Händen auf.
Ich legte die ausgenommenen Fische in das hohe
Gras, hockte mich neben ihn und sah zu, wie er neue Zweige auf das
Feuer legte und es geduldig anfachte, eine Barrikade gegen die
kommende Nacht.
»Was glaubst du, wie es sein wird?« fragte ich
plötzlich. »Zu sterben.«
Er starrte ins Feuer und dachte nach. Ein
brennender Zweig zersprang knisternd und funkensprühend. Die Funken
sanken herab und verloschen, bevor sie den Boden berührten.
»›Der Mensch ist wie das Gras, das verwelkt und ins
Feuer geworfen
wird; er ist wie ein Funke, der zum Himmel steigt… und seine
Heimat wird sich seiner nicht erinnern‹«, zitierte ich leise.
»Meinst du, danach kommt nichts mehr?«
Er schüttelte den Kopf und blickte ins Feuer. Ich
sah, wie seine Augen darüber hinwegwanderten, dorthin, wo die
kühlen, hellen Funken der Glühwürmchen zwischen den dunklen Halmen
aufleuchteten und verloschen.
»Ich kann es nicht sagen«, sagte er schließlich
leise. Seine Schulter berührte die meine, und ich lehnte den Kopf
an ihn. »Es gibt das, was die Kirche sagt, aber -« Sein Blick war
immer noch auf die Glühwürmchen gerichtet, die unermüdlich zwischen
den Grashalmen zwinkerten. »Nein, ich kann es nicht sagen. Aber ich
denke, es wird vielleicht alles gut.«
Er neigte den Kopf und drückte einen Moment lang
seine Wange auf mein Haar, dann stand er auf und griff nach seinem
Dolch.
»Das Feuer brennt jetzt gut.«
Die Luft war mit dem Herannahen der Dämmerung
weniger drükkend geworden, und ein leichter Abendwind blies mir die
feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich saß mit geschlossenen
Augen da, das Gesicht zum Himmel gewandt, und genoß die Kühle nach
der schweißtreibenden Hitze des Tages.
Ich konnte hören, wie Jamie sich raschelnd am Feuer
bewegte und mit schnellen Messerschnitten grüne Eichenzweige
schälte, um die Fische zu grillen.
Ich denke, es wird vielleicht alles gut. Das
dachte ich auch. Niemand konnte sagen, was nach dem Tod kam, doch
ich hatte schon oft jene Stunde erlebt, in der die Zeit stillsteht,
ohne zu denken, mit ruhiger Seele, im Angesicht… wessen? Es war
etwas, das weder einen Namen noch ein Gesicht hatte, das mir jedoch
gut erschien und voller Frieden. Wenn dort der Tod lag…
Jamies Hand berühte im Vorbeigehen meine Schulter,
und ich lächelte, ohne die Augen zu öffnen.
»Autsch!« schimpfte er auf der anderen Seite des
Feuers. »Hab’ mich geschnitten, ich dummer Trottel.«
Ich öffnete die Augen. Er war gute zweieinhalb
Meter von mir entfernt und hatte den Kopf gesenkt, um an einem
kleinen Schnitt an seinem Daumengelenk zu lutschen. Plötzlich lief
mir eine Gänsehaut über den Rücken.
»Jamie«, sagte ich. Meine Stimme hörte sich
merkwürdig an, sogar in meinen Ohren. Ich hatte eine kleine, kalte
Stelle im Nacken, die sich wie eine Zielscheibe anfühlte.
»Aye?«
»Ist da -« Ich schluckte und spürte, wie sich die
Haare auf meinen Unterarmen aufstellten. »Jamie, ist… jemand…
hinter mir?«
Seine Augen huschten zu den Schatten in meinem
Rücken und öffneten sich weit. Ich blickte mich nicht erst um,
sondern warf mich gleich flach auf den Boden, eine Reaktion, die
mir wahrscheinlich das Leben rettete.
Ein lautes Brummen ertönte, und dann roch es
plötzlich nach Ammoniak und Fisch. Irgend etwas traf mich mit
solcher Gewalt im Rücken, daß mir die Luft wegblieb, und trat dann
schwer auf meinen Kopf, wobei es mein Gesicht in den Boden
bohrte.
Ich fuhr hoch, schnappte nach Luft und schüttelte
mir den Laubkompost aus den Augen. Ein großer Schwarzbär torkelte
fauchend wie eine Katze über die Lichtung und verstreute mit den
Tatzen brennende Zweige.
Halb blind vor Schmutz konnte ich Jamie im ersten
Moment überhaupt nicht sehen. Dann erblickte ich ihn. Er war vor
dem Bären, hatte einen Arm um dessen Hals geschlungen und den Kopf
genau unter dem geifernden Maul an dessen Schulter gepreßt.
Sein Fuß schoß unter dem Bären hervor, trat
verzweifelt um sich und grub sich haltsuchend in den Boden. Er
hatte seine Schuhe und Strümpfe ausgezogen, als wir unser Lager
aufschlugen; ich hielt den Atem an, als er mit dem nackten Fuß ins
glimmende Feuer geriet, daß die Funken sprühten.
Sein Unterarm war vor Anstrengung zerfurcht und
halb in dem dichten Pelz vergraben. Mit dem freien Arm hieb und
stieß er um sich. Wenigstens hatte er seinen Dolch noch.
Gleichzeitig zerrte er mit aller Kraft am Hals des Bären und
versuchte, ihn zu Boden zu ziehen.
Der Bär machte einen Satz, schlug mit einer Tatze
um sich und versuchte das Gewicht abzuschütteln, das sich fest an
seinen Hals klammerte. Er schien das Gleichgewicht zu verlieren und
fiel unter lautem Wutgeheul schwerfällig nach vorn. Ich hörte ein
ersticktes Uff!, das nicht von dem Bären zu kommen schien,
und sah mich verzweifelt nach etwas um, was ich als Waffe
gebrauchen konnte.
Der Bär kämpfte sich wieder auf die Pfoten und
schüttelte sich heftig.
Für eine Sekunde erblickte ich Jamies vor
Anstrengung verzerrtes Gesicht. Ein hervorquellendes Auge weitete
sich, als er mich sah, und er befreite seinen Mund aus dem
Zottelpelz.
»Lauf weg!« schrie er. Dann ließ sich der Bär
wieder auf ihn fallen, und er verschwand unter dreihundert Pfund
Fell und Muskeln.
Ich erinnerte mich vage an Mowgli und die Rote
Blume und suchte wie wahnsinnig die feuchte Erde der Lichtung ab,
fand aber nur kleine, verkohlte Zweige und glühende Holzkohlen, an
denen ich mir Brandblasen holte, die aber zu klein zum Anfassen
waren.
Ich hatte immer gedacht, Bären würden brüllen, wenn
sie wütend waren. Dieser hier machte einen Heidenlärm, doch das
durchdringende Gekreische und Gezeter, durchsetzt mit
haarsträubendem Grollen, hörte sich eher nach einem Riesenschwein
an. Jamie machte ebenfalls eine Menge Lärm, was unter den Umständen
beruhigend war.
Meine Hand berührte etwas Feuchtes und Klammes -
die Fische, die wir am Feuer abgelegt hatten.
»Zum Teufel mit der Roten Blume«, brummte ich. Ich
packte eine der Forellen am Schwanz, rannte los und hieb sie dem
Bären, so fest ich konnte, über die Nase.
Der Bär schloß das Maul und machte ein überraschtes
Gesicht. Dann schwenkte er den Kopf in meine Richtung und tat einen
Satz. Er bewegte sich schneller, als ich es für möglich gehalten
hätte. Ich fiel rückwärts hin, landete auf dem Hintern und
versetzte dem Bären einen letzten, tapferen Hieb mit meinem Fisch,
bevor er mich angriff. Jamie klammerte sich immer noch unerbittlich
an seinen Hals.
Ich kam mir vor wie in einem Fleischwolf - für
einen kurzen Moment herrschte totales Chaos, akzentuiert von
ziellosen, schmerzhaften Schlägen auf meinen Körper und dem Gefühl,
von einer großen, stinkenden, haarigen Decke erstickt zu werden.
Dann war es vorbei, und ich blieb angeschlagen auf dem Rücken im
Gras zurück. Ich roch kräftig nach Bärenpisse und blinzelte den
Abendstern an, der friedlich am Himmel leuchtete.
Am Boden ging es sehr viel weniger friedlich zu.
Ich kämpfte mich auf alle viere und rief »Jamie!« in Richtung der
Bäume, wo eine große, formlose Masse hin- und herrollte,
Eichenschößlinge zermalmte und Grollaute und gälisches Gekreische
von sich gab.
Am Boden war es jetzt vollständig dunkel, doch der
Himmel spendete noch genug Licht, daß ich die Vorgänge verfolgen
konnte. Der Bär war hingefallen, doch anstatt sich wieder
aufzurichten und zuzuschlagen, rollte er sich jetzt auf den Rücken
und fuchtelte mit den Hinterpfoten, um einen Ansatzpunkt für seine
Krallen zu finden. Seine Vordertatze landete mit einem heftigen
Klatschen, gefolgt von einem lauten Grunzen, das mir nicht von dem
Bären zu kommen schien. In der Luft hing Blutgeruch.
»Jamie!« kreischte ich.
Es kam keine Antwort. Der zuckende Haufen rollte
weiter und
kippte langsam seitwärts in die tieferen Schatten unter den
Bäumen. Die gemischten Geräusche gingen in heftiges Grunzen und
Japsen über, unterbrochen von leisem, wimmerndem Stöhnen.
»JAMIE!«
Die Hiebe und das Ästeknacken erstarben zu einem
Rascheln. Etwas bewegte sich unter den Zweigen und schwankte
schwerfällig auf allen vieren hin und her.
Ganz langsam, unter stöhnenden, stockenden
Atemzügen kam Jamie auf die Lichtung gekrochen.
Ohne meine eigenen Verletzungen zu beachten, rannte
ich zu ihm und sank neben ihm auf die Knie.
»Mein Gott, Jamie! Geht’s dir gut?«
»Nein«, sagte er kurz angebunden und brach leise
keuchend auf dem Boden zusammen.
Sein Gesicht war ein bleicher Fleck im Licht der
Sterne; der übrige Körper war so dunkel, daß er fast unsichtbar
war. Den Grund dafür fand ich heraus, als ich rasch meine Hände
über ihn gleiten ließ. Seine Kleider waren so blutdurchtränkt, daß
sie ihm am Körper klebten, und als ich an seinem Jagdhemd zog,
löste es sich mit einem ekligen, leisen Sauggeräusch.
»Du riechst nach Schlachthof«, sagte ich, während
ich nach dem Puls unter seinem Kinn suchte. Er ging schnell - was
mich nicht überraschte -, aber kräftig. Mir fiel ein Stein vom
Herzen. »Ist das dein Blut oder das des Bären?«
»Wenn es meins wäre, Sassenach, wäre ich tot«,
sagte er gereizt und öffnete die Augen. »Nicht dein Verdienst, daß
ich es nicht bin.« Er rollte sich unter Schmerzen auf die Seite und
richtete sich langsam und stöhnend auf Hände und Knie auf. »Was hat
dich nur geritten, Frau, mir mit einem Fisch auf den Kopf zu
schlagen, während ich um mein Leben kämpfe?«»
»Halt still, zum Kuckuck!« Er konnte nicht allzu
schlimm verletzt sein, wenn er versuchte, mir zu entwischen. Ich
umklammerte seine Hüften, um ihn aufzuhalten. Ich kniete mich
hinter ihn und befühlte vorsichtig seinen Oberkörper. »Gebrochene
Rippen?«
»Nein. Aber kitzle mich bloß nicht«, sagte er
keuchend.
»Das tue ich nicht«, versicherte ich ihm. Ich ließ
die Hände langsam und mit sanftem Druck über seinen Brustkorb
wandern. Keine zersplitterten Enden, die die Haut durchbohrten,
keine unheilvollen Vertiefungen oder weichen Stellen - vielleicht
war ja etwas angeknackst, doch er hatte recht, es war nichts
gebrochen. Er schrie auf und zuckte unter meiner Hand. »Tut es hier
weh?«
»Ja«, stieß er durch die Zähne hervor. Er begann zu
zittern, daher holte ich schnell sein Plaid und legte es ihm um die
Schultern.
»Mit mir ist alles in Ordnung, Sassenach«, sagte er
und winkte ab, als ich versuchte, ihm beim Hinsetzen zu helfen.
»Sieh nach den Pferden; sie sind bestimmt nervös.« Das stimmte. Wir
hatten den Pferden, in kurzer Entfernung von der Lichtung entfernt,
die Vorderbeine gefesselt; dem gedämpften Stampfen und Wiehern
nach, das ich in der Ferne hören konnte, hatten sie diese
Entfernung in ihrer Panik beträchtlich vergrößert.
Aus den Schatten unter den Bäumen kam immer noch
leises, pfeifendes Stöhnen - das Geräusch klang so menschlich, daß
sich meine Nackenhaare sträubten. Indem ich einen vorsichtigen
Bogen um die Geräusche machte, ging ich los, um die Pferde zu
suchen, die ich ein paar hundert Meter weiter in einem Birkenhain
fand. Sie wieherten, als sie mich witterten; trotz der Bärenpisse
waren sie entzückt, mich zu sehen.
Als ich die Pferde beruhigt und sie dazu bewegt
hatte, auf die Lichtung zurückzukehren, waren die mitleiderregenden
Geräusche im Schatten verstummt. Ein schwaches Glühen kam von der
Lichtung. Jamie hatte das Feuer wieder angefacht.
Er hockte neben der winzigen Flamme und zitterte
immer noch unter seinem Plaid. Ich legte genug Zweige nach, um
sicherzugehen, daß es nicht verlosch, dann kümmerte ich mich wieder
um ihn.
»Bist du wirklich nicht schwer verletzt?« fragte
ich immer noch besorgt.
Er lächelte mich schief an.
»Geht schon. Er hat mir eins über den Rücken
gebrummt, aber ich glaube nicht, daß es sehr schlimm ist. Willst
du’s dir ansehen?« Er zuckte zusammen, als er sich aufrichtete und
vorsichtig seine Seite betastete. Ich trat hinter ihn.
»Warum hat er das wohl gemacht?« sagte er und sah
sich nach dem Bärenkadaver um. »Myers hat gesagt, Schwarzbären
greifen selten an, wenn man sie nicht irgendwie provoziert.«
»Vielleicht hat ihn jemand anders provoziert«,
schlug ich vor. »Und ist dann so schlau gewesen, ihm aus dem Weg zu
gehen.« Ich hob das Plaid und pfiff dann leise.
Sein Hemd hing in Fetzen, es war voll Schmutz und
Asche und mit Blut befleckt. Diesmal war es sein Blut, nicht das
des Bären, aber glücklicherweise nicht viel. Sanft zog ich die
zerrissenen Teile des Hemdes auseinander und legte seinen Rücken
frei. Vier lange Krallenspuren zogen sich von seinem Schulterblatt
bis zu seiner Achselhöhle,
tiefe, schlimme Furchen, die zu oberflächlichen Kratzern
ausliefen.
»Ooh!« sagte ich mitfühlend.
»Na ja, es ist ja nicht so, als wäre mein Rücken
vorher ein hübscher Anblick gewesen«, witzelte er schwach. »Im
Ernst, ist es schlimm?« Er verdrehte den Kopf und versuchte, etwas
zu sehen, hielt dann aber grunzend inne, weil ihm bei dieser
Bewegung die angeschlagenen Rippen weh taten.
»Nein. Aber schmutzig, ich muß sie auswaschen.« Das
Blut hatte schon angefangen zu gerinnen; die Wunden mußten
unverzüglich gereinigt werden. Ich legte das Plaid wieder darüber
und setzte einen Topf mit Wasser zum Kochen auf, während ich
überlegte, was ich sonst noch nehmen konnte.
»Ich habe unten am Bach etwas Pfeilkraut gesehen«,
sagte ich. »Ich glaube, ich kann es aus dem Gedächtnis
wiederfinden.« Ich reichte ihm die Aleflasche, die ich aus der
Satteltasche geholt hatte, und nahm seinen Dolch.
»Kommst du zurecht?« Ich blieb stehen und sah ihn
an. Er war sehr bleich und zitterte immer noch. Das Feuer warf
einen roten Widerschein auf seine Stirn und hob die Linien seines
Gesichtes deutlich hervor.
»Aye.« Er brachte ein schwaches Grinsen zustande.
»Mach dir keine Sorgen, Sassenach, die Vorstellung, im Schlaf in
meinem Bett zu sterben, gefällt mir jetzt noch besser als vor einer
Stunde.«
Die Mondsichel ging hell über den Bäumen auf, und
es bereitete mir kaum Schwierigkeiten, die Stelle wiederzufinden,
die ich im Sinn hatte. Der Bach floß kalt und silbern im Mondschein
und kühlte mir Hände und Füße, während ich bis zu den Waden im
Wasser stand und nach dem Pfeilkraut suchte.
Überall um mich herum quakten kleine Frösche, und
die Rohrkolben raschelten leise im Abendwind. Es war sehr, sehr
friedlich, und ganz plötzlich überkam mich ein so starkes Zittern,
daß ich mich am Ufer hinsetzen mußte.
Jederzeit. Es konnte jederzeit geschehen, und just
so schnell. Ich war mir nicht sicher, was mir unwirklicher vorkam:
der Angriff des Bären oder das hier, diese sanfte, verheißungsvolle
Sommernacht.
Ich legte den Kopf auf die Knie und ließ die
Übelkeit, die Nachwirkungen des Schocks vorübergehen. Es spielte
keine Rolle, redete ich mir ein. Nicht nur jederzeit, sondern auch
überall. Krankheit, Autounfall, verirrte Kugel. Es gab kein
Entkommen, doch wie die meisten anderen Menschen schaffte ich es,
die meiste Zeit nicht darüber nachzudenken.
Ich erschauerte, als ich an die Krallenspuren auf
Jamies Rücken dachte. Hätte er langsamer reagiert oder wäre er
schwächer gewesen… wären die Wunden auch nur etwas tiefer gegangen…
Was das betraf, so stellte eine Infektion immer noch eine große
Bedrohung dar. Doch diese Gefahr konnte ich wenigstens
bekämpfen.
Der Gedanke brachte mich in die Realität zurück, zu
den zerdrückten Blättern und Wurzeln, die kühl und feucht in meiner
Hand lagen. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und machte
mich hügelaufwärts auf den Weg zum Lagerfeuer. Es ging mir etwas
besser.
Durch eine durchlässige Wand von Schößlingen sah
ich Jamie aufrecht dasitzen. Seine Gestalt zeichnete sich wie ein
Scherenschnitt vor dem Feuer ab. Er saß kerzengerade da, was
schmerzhaft sein mußte, wenn man seine Verletzungen bedachte.
Gerade als ich argwöhnisch stehenblieb, sprach er
mich an.
»Claire?« Er drehte sich nicht um, und seine Stimme
war ruhig. Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern sprach mit
kühler, fester Stimme weiter.
»Komm hinter mich, Sassenach, und leg dein Messer
in meine linke Hand. Dann bleib hinter mir.«
Mit klopfendem Herzen tat ich die drei Schritte
hügelaufwärts, die mir noch fehlten, damit ich ihm über die
Schulter blicken konnte. Auf der anderen Seite der Lichtung, gerade
eben im Licht des Feuers, standen drei schwerbewaffnete Indianer.
Offenbar war der Bär wirklich provoziert worden.
Die Indianer betrachteten uns mit lebhaftem
Interesse, das wir mehr als erwiderten. Sie waren zu dritt, ein
älterer Mann, dessen federngeschmückter Haarschopf reichlich graue
Strähnen enthielt, und zwei jüngere, vielleicht in den Zwanzigern.
Vater und Söhne, dachte ich - sie ähnelten einander, wenn auch mehr
im Körperbau als im Gesicht: Sie waren alle drei relativ klein und
hatten breite Schultern, O-Beine und lange, kraftvolle Arme.
Ich beäugte verstohlen ihre Waffen. Der ältere Mann
hielt ein Gewehr in der Armbeuge, eine uralte französische
Radschloßflinte, deren sechseckiger Lauf mit Rost verkrustet war.
Es sah aus, als würde sie ihm um die Ohren fliegen, wenn er sie
abfeuerte, doch ich hoffte, er würde es gar nicht erst
versuchen.
Einer der jüngeren hielt einen Bogen in der Hand
und hatte lässig einen Pfeil aufgelegt. Alle drei trugen unheimlich
aussehende Tomahawks und Häutemesser in ihren Gürteln. Obgleich er
so lang war, erschien Jamies Dolch im Vergleich dazu reichlich
inadäquat.
Da er offensichtlich zu demselben Schluß kam,
beugte er sich vor und legte den Dolch vorsichtig neben seine Füße.
Er setzte sich wieder aufrecht hin, breitete seine leeren Hände aus
und zuckte mit den Achseln.
Die Indianer kicherten. Es klang derart
unkriegerisch, daß ich halb lächeln mußte, obwohl mein Magen, der
sich nicht so leicht entwaffnen ließ, sich noch vor Anspannung
verkrampfte.
Ich sah, wie sich Jamies Schultern entspannten und
wurde nun meinerseits etwas ruhiger.
»Bonsoir, messieurs«, sagte er.
»Parlez-vous français?«
Die Indianer kicherten erneut und warfen einander
schüchterne Blicke zu. Der ältere Mann trat zögernd einen Schritt
vor und neigte den Kopf, was die Perlen in seinem Haar in
Schwingung versetzte.
»Kein… Franz«, sagte er.
»Englisch?« fragte ich hoffnungsvoll. Er sah mich
mit Interesse an, schüttelte aber den Kopf. Er warf einem seiner
Söhne über die Schulter hinweg eine Bemerkung zu. Der Sohn
antwortete in derselben unverständlichen Sprache. Der ältere Mann
wandte sich wieder an Jamie und stellte ihm eine Frage, die er mit
hochgezogenen Augenbrauen unterstrich.
Jamie schüttelte verständnislos den Kopf, und einer
der jungen Männer trat in den Schein des Feuers. Er beugte die Knie
und ließ die Schultern hängen, streckte den Kopf vor und begann in
derart perfekter Bärenweise zu schwanken, und kurzsichtig zu
blinzeln, daß Jamie laut auflachte. Die anderen Indianer
grinsten.
Der junge Mann richtete sich auf und deutete mit
einem fragenden Laut auf Jamies blutgetränkten Hemdsärmel.
»Oh, aye, er ist da drüben«, sagte Jamie und wies
auf das Dunkel unter den Bäumen.
Ohne weitere Umschweife verschwanden alle drei
Männer in der Dunkelheit, von wo bald aufgeregtes Rufen und
Gemurmel erklang.
»Es ist in Ordnung, Sassenach«, sagte Jamie. »Sie
werden uns nichts tun. Es sind nur Jäger.« Er schloß kurz die
Augen, und ich sah den leichten Schweißfilm auf seinem Gesicht.
»Das ist auch gut so, weil ich glaube, daß ich jetzt in Ohnmacht
falle.«
»Untersteh dich. Wage es ja nicht, ohnmächtig zu
werden und mich mit ihnen allein zu lassen.« Egal, was die Wilden
für Absichten haben mochten, bei dem Gedanken, ihnen allein über
Jamies bewußtlosem Körper gegenüberzustehen, krampften sich meine
Eingeweide erneut in Panik zusammen. Ich legte ihm die Hand in den
Nacken und drückte ihm den Kopf zwischen die Knie.
»Atme«, sagte ich, während ich kaltes Wasser aus
meinem Taschentuch preßte und es ihm über den Nacken laufen ließ.
»Du kannst später in Ohnmacht fallen.«
»Darf ich mich übergeben?« fragte er mit von seinem
Plaid gedämpfter Stimme. Ich erkannte den ironischen Tonfall und
atmete erleichtert auf.
»Nein«, sagte ich. »Setz dich, sie kommen
zurück.«
Sie kamen und schleiften den Bärenkadaver hinter
sich her. Jamie hob den Kopf wieder und wischte sich mit dem
feuchten Taschentuch über das Gesicht. Obwohl die Nacht warm war,
zitterte er leicht vor Schock, saß aber einigermaßen
aufrecht.
Der ältere Mann kam zu uns herüber und wies mit
hochgezogenen Augenbrauen zuerst auf das Messer, das neben Jamies
Füßen lag, dann auf den toten Bären. Jamie nickte bescheiden.
»Es war aber nicht einfach«, sagte er.
Die Augenbrauen des Indianers hoben sich noch
weiter. Dann neigte er den Kopf und breitete seine Hände zu einer
respektvollen Geste aus. Er winkte einen der jüngeren Männer heran,
der herüberkam und einen Beutel von seinem Gürtel band.
Der junge Mann schob mich ohne Umschweife zur
Seite, riß Jamies Hemd am Hals auf, zog ihm die Reste von der
Schulter und betrachtete die Wunde. Er schüttete sich ein klumpiges
Pulver in die Hand, spuckte kräftig darauf und verrührte es zu
einer übelriechenden Paste, die er großzügig auf den Wunden
verschmierte.
»Jetzt übergebe ich mich wirklich«, sagte Jamie und
zuckte unter den unsanften Zuwendungen zusammen. »Was ist das für
ein Zeug?«
»Ich würde sagen, getrocknetes Trillium vermischt
mit sehr ranzigem Bärenfett«, sagte ich und versuchte, die
durchdringenden Dämpfe nicht einzuatmen. »Ich glaube nicht, daß es
dich umbringt, zumindest hoffe ich es nicht.«
»Dann sind wir ja schon zu zweit«, sagte er leise.
»Nein, das reicht jetzt, danke vielmals.« Er wehrte weitere
Zuwendungen ab und lächelte dem Möchtegern-Doktor höflich zu.
Auch wenn er noch scherzte - im gedämpften Licht
des Feuers waren seine Lippen weiß. Ich legte meine Hand auf seine
unverletzte Schulter und fühlte, daß seine Muskeln vor Anspannung
ganz hart waren.
»Hol den Whisky, Sassenach. Ich brauche ihn
dringend.«
Einer der Indianer griff nach der Flasche, als ich
sie aus der Tasche zog, doch ich schob ihn rüde zur Seite. Er
grunzte überrascht, folgte mir aber nicht. Statt dessen ergriff er
die Tasche und begann, darin
herumzuwühlen wie ein Schwein auf Trüffelsuche. Ich machte keinen
Versuch, ihn daran zu hindern, sondern eilte mit dem Whisky zu
Jamie zurück.
Er trank einen kleinen Schluck, dann einen
größeren, erschauerte und öffnete die Augen. Er atmete ein- oder
zweimal tief durch, trank noch einmal, wischte sich dann über den
Mund und hielt dem älteren Mann einladend die Flasche hin.
»Hältst du das für klug?« fragte ich, da ich an
Myers’ finstere Geschichten über Massaker und die Wirkung von
Feuerwasser auf Indianer dachte.
»Ich kann ihnen den Whisky geben oder darauf
warten, daß sie ihn sich nehmen, Sassenach«, sagte er ein wenig
gereizt. »Sie sind zu dritt, aye?«
Der ältere Mann führte die Flasche unter seiner
Nase vorbei, die sich wie in Anerkennung eines seltenen Bouquets
weitete. Ich konnte den Alkohol von dort riechen, wo ich stand, und
ich war überrascht, daß er ihm nicht die Nasenhaare
versengte.
Ein Lächeln seliger Zufriedenheit breitete sich auf
dem zerfurchten Gesicht des Mannes aus. Er sagte etwas zu seinen
Söhnen, das sich anhörte wie »Haruh!«, und der Indianer, der
gerade unsere Taschen durchforstete, kam sofort herbei, ein paar
Maiskuchen in der Faust.
Der ältere Mann erhob sich mit der Flasche in der
Hand, doch anstatt zu trinken, trug er sie zu der Stelle, wo der
Bärenkadaver schwarz wie ein Tintenfleck auf dem Boden lag. Ganz
bedächtig goß er sich etwas Whisky in die Hand, bückte sich und
ließ die Flüssigkeit in das halb geöffnete Maul des Bären tropfen.
Dann drehte er sich langsam im Kreis und versprühte feierlich
einige Whiskytropfen. Im Flug sahen die Tropfen golden und
bernsteinfarben aus, wenn sich das Licht in ihnen fing, und sie
landeten mit leisem Zischen im Feuer.
Jamie setzte sich gerade hin und vergaß vor
Interesse sein Schwindelgefühl.
»Nun sieh dir das an«, sagte er.
»Was denn?« sagte ich, doch er antwortete nicht.
Das Verhalten der Indianer nahm seine ganze Aufmerksamkeit
gefangen.
Einer der jüngeren Männer hatte einen kleinen,
perlenbestickten Beutel hervorgezogen, der Tabak enthielt.
Sorgfältig stopfte er den Kopf einer kleinen Tonschieferpfeife,
entzündete sie an einem trockenen Zweig, den er in unser Feuer
gehalten hatte und nahm einen kräftigen Zug. Der Tabak glomm auf,
und bald darauf verbreitete sich aromatischer Rauch über der
Lichtung.
Jamie hatte sich an mich gelehnt, sein Rücken ruhte
an meinen
Oberschenkeln. Meine Hand lag wieder auf seiner unverletzten
Schulter, und ich spürte, wie das Zittern nachließ, als der Whisky
sich warm in seinem Magen auszubreiten begann. Er war nicht schwer
verletzt, doch der Kampf und die fortdauernde Wachsamkeit forderten
ihren Tribut.
Der ältere Mann ergriff die Pfeife und nahm mehrere
tiefe, entspannte Züge, die er mit sichtlichem Genuß wieder
ausblies. Dann kniete er nieder, nahm noch einen Zug und hauchte
den Rauch vorsichtig in die Nüstern des toten Bären. Er wiederholte
diesen Vorgang mehrere Male, wobei er beim Ausatmen etwas vor sich
hin murmelte.
Dann erhob er sich ohne jedes Zeichen von Steifheit
und hielt Jamie die Pfeife hin.
Jamie rauchte genau wie die Indianer - ein oder
zwei zeremonielle Züge -, dann hob er die Pfeife und wandte sich
um, um sie mir zu reichen.
Ich ergriff die Pfeife und zog vorsichtig daran.
Sofort füllte mir brennender Rauch Augen und Nase, und meine Kehle
zog sich zu einem überwältigenden Hustenreiz zusammen. Ich würgte
ihn hinunter und gab Jamie hastig die Pfeife. Ich spürte, wie ich
rot wurde, als sich der Rauch träge durch meine Brust kringelte und
mich kitzelte und verbrannte, als er sich seinen Weg durch meine
Lunge bahnte.
»Man atmet ihn nicht ein, Sassenach«,
murmelte er. »Man läßt ihn sich nur hinten in der Nase
hochsteigen.«
»Das sagst du… mir… jetzt«, sagte ich, während ich
mir Mühe gab, nicht zu ersticken.
Die Indianer beobachteten mich höchst interessiert.
Der ältere Mann legte den Kopf schief und runzelte die Stirn, als
versuchte er, ein Rätsel zu lösen. Er sprang auf, umrundete das
Feuer und hockte sich vor mich, um mich neugierig anzusehen. Er war
mir so nah, daß ich den seltsamen Rauchgeruch wahrnahm, der von
seiner Haut aufstieg. Er trug nur einen Lendenschurz und eine Art
kurzer Lederschürze, doch seine Brust war von einer großen,
reichverzierten Kette bedeckt, in die Muscheln, Steine und die
Zähne eines großen Tieres eingearbeitet waren.
Ohne Vorwarnung streckte er plötzlich die Hand aus
und drückte meine Brust. Die Geste hatte nichts auch nur entfernt
Lüsternes an sich, doch ich fuhr zusammen. Jamie tat dasselbe, und
seine Hand fuhr an sein Messer.
Der Indianer setzte sich ruhig auf die Fersen
zurück und winkte ab. Er legte die Hand flach auf seine Brust,
wölbte sie dann und zeigte auf mich. Es hatte nichts zu bedeuten -
er hatte sich nur vergewissern
wollen, daß ich wirklich eine Frau war. Er zeigte von mir auf
Jamie und zog eine Augenbraue hoch.
»Aye, sie gehört zu mir«, nickte Jamie und ließ den
Dolch sinken, hielt ihn aber weiter fest und sah den Indianer
stirnrunzelnd an. »Benimm dich, ja?«
Unbeeindruckt von diesem Zwischenspiel, sagte einer
der jüngeren Indianer etwas und deutete ungeduldig auf den Kadaver
am Boden. Der ältere Mann, der Jamies Verärgerung nicht beachtet
hatte, antwortete und zog das Häutemesser aus seinem Gürtel, als er
sich umwandte.
»Halt - das ist meine Sache.«
Die Indianer drehten sich überrascht um, als Jamie
sich erhob. Er deutete mit dem Dolch auf den Bären und wies dann
mit der Spitze fest auf seine eigene Brust.
Ohne auf eine Reaktion zu warten, kniete er sich
neben dem Kadaver auf den Boden und sagte etwas auf Gälisch, wobei
er das Messer über dem reglosen Körper erhoben hielt. Ich kannte
den Wortlaut nicht genau, aber ich hatte ihn schon einmal dabei
beobachtet, als er auf der Reise von Georgia ein Reh getötet
hatte.
Es war das Grallochgebet, das man ihm beigebracht
hatte, als er in den schottischen Highlands als Junge das Jagen
lernte. Es war alt, hatte er mir erzählt, so alt, daß einige der
Worte nicht mehr gebräuchlich waren, daher klang es ungewohnt. Doch
man mußte es über jedem getöteten Tier sprechen, das größer als ein
Hase war, bevor man ihm die Kehle oder die Bauchdecke
aufschlitzte.
Ohne zu zögern, machte er einen flachen Einschnitt
quer über die Brust des Bären - er brauchte den Kadaver nicht
auszubluten, denn das Herz stand schon lange still - und riß die
Haut zwischen den Beinen auf, so daß die Eingeweide bleich aus dem
schwarzen Pelz hervorquollen und im Licht aufglänzten.
Man braucht sowohl Kraft als auch beträchtliche
Erfahrung, um die zähe Haut aufzuschneiden und abzuziehen, ohne
Gekröse und Eingeweidesack zu durchbohren. Da ich schon sehr viel
nachgiebigere menschliche Körper geöffnet hatte, erkannte ich
chirurgische Kompetenz, wenn ich sie sah. Dasselbe galt für die
Indianer, die die Vorgänge mit kritischem Interesse
beobachteten.
Doch es war nicht Jamies Geschick beim Abhäuten,
das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte - das war hier sicherlich eine
recht verbreitete Fähigkeit. Nein, es war das Grallochgebet - ich
hatte gesehen, wie sich die Augen des älteren Mannes weiteten und
wie er seinen Söhnen einen Blick zuwarf, als Jamie bei dem Kadaver
kniete. Wenn
sie auch nicht verstanden, was er sagte, so zeigten ihre Gesichter
doch klar, daß sie wußten, was er tat - und daß sie zugleich
überrascht und positiv beeindruckt waren.
Eine kleine Schweißspur lief hinter Jamies Ohr
herab. Ein großes Tier abzuhäuten ist Schwerstarbeit, und Jamies
Wunden begannen erneut zu bluten.
Bevor ich ihm jedoch anbieten konnte, das Messer zu
nehmen, setzte er sich auf die Fersen zurück und hielt einem der
Indianer den Dolch mit dem Griff zuerst hin.
»Mach nur«, sagte er und wies einladend auf den
halbzerlegten Fleischberg. »Ich hoffe, du hast nicht gedacht, ich
wollte das alles selber essen.«
Ohne zu zögern, nahm der Mann das Messer, kniete
sich hin und fuhr mit dem Abhäuten fort. Die beiden anderen
blickten Jamie an, und als sie sein Nicken sahen, schlossen sie
sich an.
Er ließ es geschehen, daß ich ihn ein weiteres Mal
auf den Baumstamm setzte und verstohlen seine Schulter säuberte und
verband, während er zusah, wie die Indianer den Bären blitzschnell
abhäuteten und zerlegten.
»Was hat er mit dem Whisky gemacht?« fragte ich
leise. »Weißt du das?«
Er nickte, wobei er das blutige Werk am Feuer im
Blick behielt.
»Es ist eine Beschwörungsformel. Man versprüht
heiliges Wasser in alle vier Himmelsrichtungen, um sich vor dem
Bösen zu schützen. Und unter diesen Umständen ist Whisky wohl ein
ganz annehmbarer Ersatz für heiliges Wasser.«
Ich blickte zu den Indianern hinüber, die bis zu
den Ellbogen mit dem Blut des Bären befleckt waren und sich lässig
unterhielten. Einer von ihnen baute ein kleines Podest am Feuer,
indem er eine grobe Lage Äste über quadratisch angeordnete Steine
legte. Ein anderer schnitt Fleischstreifen zurecht und reihte sie
zum Garen auf einem geschälten grünen Zweig auf.
»Vor dem Bösen? Meinst du, sie haben vor uns
Angst?«
Er lächelte.
»Ich glaube nicht, daß wir so furchterregend sind,
Sassenach; nein, vor Geistern.«
Mir hatte der Auftritt der Indianer einen solchen
Schrecken eingejagt, daß ich gar nicht auf die Idee gekommen war,
unser Erscheinen hätte sie ähnlich aus der Fassung bringen können.
Doch als ich mir Jamie jetzt ansah, dachte ich, daß man es ihnen
nicht hätte verdenken können, wenn sie nervös geworden wären.
Da ich so an ihn gewöhnt war, war mir nur selten
bewußt, wie er auf andere wirkte. Doch selbst müde und verwundet
war er noch eindrucksvoll - eine aufrechte und breitschultrige
Gestalt mit schrägen Augen, in denen das Feuer blau wie das Herz
der Flamme glitzerte.
Er saß jetzt locker da, entspannt, und seine großen
Hände lagen lose zwischen seinen Oberschenkeln. Doch es war die
Reglosigkeit einer großen Katze, deren Augen unter der Ruhe ständig
wachsam waren. Er war groß, er war schnell, doch darüber hinaus
hatte er unleugbar einen Hauch von Wildheit an sich - er war
genauso in diesen Wäldern zu Hause, wie es der Bär gewesen
war.
Die Engländer hatten die Schotten aus dem Hochland
immer für Barbaren gehalten; nie zuvor hatte ich in Betracht
gezogen, daß andere dasselbe empfinden könnten. Doch diese Männer
hatten einen grimmigen Wilden gesehen und sich ihm mit der
gebotenen Vorsicht und gezückten Waffen genähert. Und Jamie, den
bisher der Gedanke an die wilden Indianer so erschreckt hatte,
hatte ihre Rituale gesehen - die den seinen so ähnelten - und sie
sogleich als Jäger erkannt, wie er einer war, als zivilisierte
Menschen.
Jetzt sprach er ganz selbstverständlich mit ihnen,
erklärte in ausladenden Gesten, wie der Bär über uns hergefallen
war und wie er ihn getötet hatte. Sie folgten ihm mit großer
Aufmerksamkeit und äußerten an genau den richtigen Stellen ihre
Anerkennung. Als er die Überreste des zertrampelten Fisches aufhob
und meine Rolle bei den Vorgängen demonstrierte, sahen sie mich an
und kicherten haltlos.
Ich blickte alle vier vernichtend an.
»Das Abendessen«, sagte ich laut, »ist
angerichtet.«
Wir aßen gemeinsam halb durchgebratenes Fleisch und
Maiskuchen und tranken Whisky dazu, während uns der Bärenkopf, der
feierlich auf der Plattform thronte, aus glasigen Augen
beobachtete.
Ich lehnte mich leicht benebelt an einen Baumstamm
und lauschte mit halbem Ohr der Unterhaltung. Nicht, daß ich viel
von dem verstand, was gesagt wurde. Einer der Söhne, der ein
begabter Pantomime war, gab eine temperamentvolle Vorstellung der
großen Jagden der Vergangenheit, wobei er abwechselnd die Rollen
von Jäger und Beute spielte und seine Sache so gut machte, daß
selbst ich keine Schwierigkeiten hatte, einen Hirsch von einem
Panther zu unterscheiden.
Unsere Bekanntschaft war so weit fortgeschritten,
daß wir unsere Namen austauschten. Meiner klang aus ihrem Mund wie
»Klah«, was sie sehr komisch zu finden schienen. »Klah«, sagten sie
und zeigten auf mich. »Klah-Klah-Klah-Klah-Klah!« Dann lachten sie
alle unbändig,
denn ihr Humor war vom Whisky angefacht. Ich wäre vielleicht
versucht gewesen, es ihnen in gleicher Münze heimzuzahlen, doch ich
war mir nicht sicher, ob ich »Nacognaweto« einmal herausbringen
konnte, geschweige denn mehrmals.
Sie waren - so informierte mich Jamie - Tuscarora.
Mit seiner Sprachbegabung zeigte er bereits auf Gegenstände und
probierte ihre indianischen Namen aus. Zweifelsohne würde er, wenn
es dämmerte, unanständige Geschichten mit ihnen austauschen; sie
erzählten ihm jetzt schon Witze.
»He«, sagte ich und zupfte am Saum von Jamies
Plaid. »Geht’s dir gut? Ich kann nämlich nicht mehr wach bleiben,
um mich um dich zu kümmern. Wirst du ohnmächtig werden und kopfüber
ins Feuer fallen?«
Jamie tätschelte mir geistesabwesend den
Kopf.
»Mir geht’s gut, Sassenach«, sagte er. Vom Essen
und vom Whisky wiederhergestellt, schien er nicht unter
irgendwelchen Nachwirkungen seines Kampfes mit dem Bären zu leiden.
Wie es ihm am Morgen gehen würde, war eine andere Frage, dachte
ich.
Ich sorgte mich aber weder darum, noch um irgend
etwas anderes; in meinem Kopf drehte sich alles - die Nachwirkungen
von Adrenalin, Whisky und Tabak -, und ich kroch davon, um meine
Decke zu holen. Zu Jamies Füßen zusammengerollt, döste ich müde
ein, umwabert von den heiligen Düften von Rauch und Alkohol, und
der Bärenkopf schaute mir zu.
»Weiß genau, wie dir zumute ist«, sagte ich zu ihm,
und dann war ich weg.