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Allein gelassen
River Run, Dezember 1769
Es hatte geregnet und würde auch bald wieder
anfangen. Wassertropfen hingen zitternd unter den Blütenblättern
der marmornen Jakobiterrosen auf Hector Camerons Grabmal, und der
gepflasterte Weg war dunkel vor Feuchtigkeit.
Semper Fidelis stand darauf, unter seinem
Namen und den Daten. Semper Fi. Sie war einmal mit einem
Marinekadetten gegangen; er hatte es in den Ring eingravieren
lassen, den er versucht hatte, ihr zu geben. Für immer treu. Und
wem war Hector Cameron treu gewesen? Seiner Frau? Seinem
Prinzen?
Sie hatte seit jener Nacht nicht mehr mit Jamie
Fraser gesprochen. Er hatte nicht mit ihr gesprochen. Nicht seit
jenem letzten Moment, in dem sie ihn im Aufruhr der Angst und
Empörung angeschrien hatte: »Mein Vater hätte so etwas niemals
gesagt!«
Sie konnte immer noch vor sich sehen, wie sein
Gesicht ausgesehen hatte, als sie ihre letzten Worte ausspuckte;
sie wünschte, sie könnte es vergessen. Er hatte sich ohne ein Wort
abgewandt und das Blockhaus verlassen. Ian war aufgestanden und ihm
still gefolgt; keiner von ihnen war in dieser Nacht mehr
zurückgekehrt.
Ihre Mutter war bei ihr geblieben und hatte sie
getröstet, sie liebkost, ihr den Kopf gestreichelt und ihr
tröstende Kleinigkeiten zugemurmelt, während sie abwechselnd tobte
und schluchzte. Doch noch während ihre Mutter ihren Kopf im Schoß
hielt und ihr das Gesicht mit kühlen Tüchern abwischte, konnte
Brianna spüren, daß sich ein Teil von ihr nach diesem Mann sehnte,
ihm folgen wollte, ihn trösten wollte. Und auch das machte
sie ihm zum Vorwurf.
Ihr Kopf brummte von der Anstrengung, ein
steinernes Gesicht zu bewahren. Sie wagte es nicht, ihre Augen- und
Kinnmuskeln zu entspannen, solange sie nicht sicher war, daß sie
ganz bestimmt aufgebrochen waren; es konnte zu einfach passieren,
daß sie zusammenbrach.
Und das war ihr seit jener Nacht nicht mehr
passiert. Als sie sich erst einmal zusammengerissen hatte, hatte
sie ihrer Mutter versichert, daß alles in Ordnung war, darauf
bestanden, daß Claire schlafen ging. Sie selbst hatte bis zur
Dämmerung dagesessen, Rogers Porträt vor sich auf dem Tisch, und
ihre Augen hatten vor Wut und vom Holzrauch gebrannt.
Er war in der Dämmerung gekommen und hatte
ihre Mutter zu sich gerufen, ohne Brianna anzusehen. In der Tür ein
paar Sätze gemurmelt und ihre Mutter zurückgeschickt, um ihre
Sachen zu pakken, das Gesicht hohläugig vor Sorge.
Er hatte sie hierher gebracht, vom Berg herunter
nach River Run. Sie hatte mit ihnen gehen wollen, hatte sofort
aufbrechen und Roger suchen wollen, ohne einen Augenblick zu
verlieren. Doch er war hart geblieben und ihre Mutter
ebenfalls.
Es war Ende Dezember, und der Berg war tief
eingeschneit. Der vierte Monat war fast vorbei; die angespannte
Kurve ihres Bauches war jetzt fest und rund. Niemand konnte sagen,
wie lange die Reise dauern würde, und sie sah sich widerstrebend zu
dem Eingeständnis gezwungen, daß sie nicht auf einem nackten
Berghang entbinden wollte. Sie hätte ihre Mutter vielleicht
umstimmen können, aber nicht, wenn seine Hartnäckigkeit ihr
den Rücken stärkte.
Sie lehnte sich mit der Stirn an den kühlen Marmor
des Mausoleums; es war ein kalter, verregneter Tag, doch ihr
Gesicht fühlte sich heiß und geschwollen an, als bekäme sie
Fieber.
Sie konnte nicht aufhören, ihn zu hören, ihn zu
sehen. Sein Gesicht, wutverzerrt, scharfkantig wie eine
Teufelsmaske. Seine Stimme, heiser vor Wut und Verachtung, als er
sie tadelte - sie tadelte -, weil er seine verdammte Ehre
verloren hatte.
»Deine Ehre?« hatte sie ungläubig gesagt.
»Deine Ehre? Deine verwichste Vorstellung von Ehre ist es
doch, die uns diesen ganzen Ärger eingebrockt hat!«
»So redest du nicht mit mir! Obwohl, wenn wir von
Wichsen reden…«
»Ich sage, verdammt noch mal, alles, was ich will!«
brüllte sie und knallte die Faust auf den Tisch, daß die Teller
klapperten.
Und das hatte sie getan. Und er ebenfalls. Ihre
Mutter hatte ein-oder zweimal versucht, sie zu bremsen - bei der
Erinnerung an den verstörten Blick in Claires tiefgoldenen Augen
zuckte Brianna jetzt noch zusammen -, doch keiner von ihnen hatte
es auch nur einen Moment beachtet, denn sie waren zu sehr auf das
Gemetzel ihres gegenseitigen Verrats konzentriert.
Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, sie hätte ein
schottisches Temperament - schwer entzündlich, aber von langer
Brenndauer. Jetzt wußte sie, wo es herkam, doch dieses Wissen half
ihr nicht.
Sie lehnte ihre verschränkten Arme gegen das
Grabmal, stützte ihr Gesicht darauf und roch den schwachen
Schafsgeruch der Wolle. Es erinnerte sie an die handgestrickten
Pullover, die ihr Vater - ihr richtiger Vater, dachte sie in
einem erneuten Anfall von Trostlosigkeit - gern getragen
hatte.
»Warum mußtest du nur sterben?« flüsterte sie in
die Höhle aus feuchter Wolle. »Oh, warum?« Wenn Frank Randall nicht
gestorben wäre, dann wäre all das nicht passiert. Er und Claire
wären immer noch da, in ihrem Haus in Boston, und ihre Familie und
ihr Leben wären intakt.
Doch ihr Vater war fort, und ein brutaler Fremder
war an seine Stelle getreten; ein Mann, der ihr Gesicht hatte, doch
ihr Herz nicht verstehen konnte, ein Mann, der ihr ihre Familie und
ihr Heim genommen hatte, und ihr, als wäre das nicht genug, auch
ihre Liebe und ihre Sicherheit geraubt und sie in diesem fremden,
rauhen Land allein gelassen hatte.
Sie zog das Schultertuch fester und erschauerte,
als der Wind durch das locker gewebte Tuch schnitt. Sie hätte einen
Umhang mitbringen sollen. Sie hatte ihrer Mutter einen Abschiedskuß
auf die weißen Lippen gedrückt und sich dann davongemacht, im
Laufschritt durch den abgestorbenen Garten, ohne ihn anzusehen. Sie
würde hier warten, bis sie sicher war, daß sie fort waren, egal, ob
sie fror.
Sie hörte Schritte hinter sich auf dem
gepflasterten Weg und erstarrte, obwohl sie sich nicht umdrehte.
Vielleicht war es ein Dienstbote oder Jocasta, die gekommen war, um
sie zum Hineingehen zu überreden.
Doch die Schritte waren so lang und kraftvoll, daß
sie nur von einem Mann stammen konnten. Sie blinzelte krampfhaft
und biß die Zähne zusammen. Sie würde sich nicht umdrehen, nein,
das würde sie nicht.
»Brianna«, sagte er ruhig hinter ihr. Sie
antwortete nicht, bewegte sich nicht.
Er machte ein leises, schnaubendes Geräusch -
Verärgerung, Ungeduld?
»Ich muß dir etwas sagen.«
»Sag’s«, sagte sie, und die Worte schmerzten in
ihrer Kehle, als hätte sie einen scharfkantigen Gegenstand
verschluckt.
Es begann wieder zu regnen; neue Spritzer ließen
den Marmor vor ihr erglänzen, und sie konnte das eisige
Aufklatschen der Tropfen spüren, die ihr Haar durchdrangen.
»Ich werde ihn dir heimbringen«, sagte Jamie Fraser
immer noch ruhig, »oder ich komme selbst nicht zurück.«
Sie konnte sich nicht dazu durchringen, sich
umzudrehen. Sie hörte ein leises Geräusch, ein Klicken auf dem
Pflaster hinter ihr und dann das Geräusch seiner Schritte, die sich
entfernten. Vor ihrem tränenverschwommenen Blick gewannen die
Tropfen auf den Marmorrosen an Gewicht und begannen zu
fallen.
Als sie sich schließlich umdrehte, war der
gepflasterte Gartenweg leer. Zu ihren Füßen lag ein
zusammengefaltetes Stück Papier, regenfeucht, mit einem Stein
beschwert. Sie hob es auf, hielt es zerknittert in der Hand und
fürchtete sich davor, es zu öffnen.
Februar 1770
Trotz ihrer Sorge und Verärgerung stellte Brianna
fest, daß der Fluß des täglichen Lebens auf River Run sie
problemlos vereinnahmte. Entzückt über ihre Gesellschaft ermunterte
ihre Großtante sie dazu, sich Ablenkung zu suchen; als sie
herausfand, daß Brianna Talent zum Zeichnen hatte, hatte Jocasta
ihre eigenen Malutensilien hervorholen lassen und Brianna gedrängt,
davon Gebrauch zu machen.
Im Vergleich mit dem Blockhaus auf dem Berg war das
Leben auf River Run so luxuriös, daß es schon fast dekadent war.
Dennoch erwachte Brianna gewohnheitsmäßig in der Dämmerung. Sie
räkelte sich wollüstig und schwelgte in der körperlichen Freude
einer Daunenmatratze, die sich jeder ihrer Bewegungen anpaßte und
sich an sie schmiegte - definitiv ein Kontrast zu groben
Flickendecken auf einem kalten Strohinlett.
Ein Feuer brannte im Kamin, und auf dem Waschtisch
stand eine große Kupferkanne, deren polierte Wände glänzten. Heißes
Wasser zum Waschen; sie konnte die kleinen Hitzewellen über das
Metall huschen sehen. Es war immer noch kühl im Zimmer, und das
Licht draußen war winterblau vor Kälte; der Dienstbote, der
unhörbar gekommen und wieder gegangen war, mußte in der Schwärze
vor der Dämmerung aufgestanden sein und Eis gehackt haben, um an
das Wasser zu kommen.
Sie sollte Gewissensbisse darüber empfinden, sich
von Sklaven bedienen zu lassen, dachte sie schläfrig. Sie mußte
sich später daran erinnern. Es gab eine Menge Dinge, über die sie
erst später nachdenken wollte; eins mehr würde auch nicht
schaden.
Für den Augenblick war ihr warm. Weit weg konnte
sie leise Geräusche im Haus hören; ein beruhigendes Getrippel der
Häuslichkeit. Das Zimmer selbst war in Stille getaucht,
gelegentliches Knacken des Brennholzes im Feuer das einzige
Geräusch.
Sie rollte sich auf den Rücken, und während ihre
Gedanken noch halb im Schlaf dahintrieben, begann sie, sich wieder
mit ihrem Körper vertraut zu machen. Es war ein Morgenritual;
etwas, das sie sich nur halbbewußt als Teenager angewöhnt hatte und
das sie jetzt notwendig fand - den Frieden mit den kleinen
Veränderungen der Nacht zu suchen und zu schließen, um nicht im
Lauf des Tages irgendwann plötzlich hinzusehen und festzustellen,
daß sie in ihrem eigenen Körper eine Fremde war.
Ein Fremder in ihrem Körper reichte, dachte sie.
Sie schob das Bettzeug fort und fuhr mit den Händen über die
schlafende Schwellung ihres Bauches. Eine kleine Welle durchlief
ihre Haut, als sich ihr Mitbewohner räkelte und sich langsam
umdrehte, so wie sie sich ein paar Minuten zuvor im Bett umgedreht
hatte, eingehüllt und umschlossen.
»Hallo, du da«, sagte sie leise. Die Wölbung
spannte sich kurz gegen ihre Hand und kam dann zur Ruhe, während
der Bewohner zu seinen rätselhaften Träumen zurückkehrte.
Langsam raffte sie das Nachthemd hoch - es gehörte
Jocasta, warmer, weicher Flanellstoff -, und erspürte die glatten,
langen Muskeln auf der Oberseite ihrer Oberschenkel, die sich oben
sanft nach innen wölbten. Dann auf und ab und wieder von vorn,
nackte Haut auf nackter Haut, mit den Handflächen über Beine, Bauch
und Brüste. Glatt und weich, rund und fest; Muskeln und Knochen…
aber jetzt nicht länger nur ihre Muskeln und Knochen.
Ihre Haut fühlte sich morgens anders an, wie die
Haut einer frisch gehäuteten Schlange, empfindlich und
durchsichtig. Später, wenn sie aufstand, wenn die Luft sie
berührte, würde sie härter sein, eine stumpfere, aber praktischere
Hülle.
Sie lehnte sich in das Kissen zurück und sah zu,
wie das Licht den Raum anfüllte. Das Haus um sie herum war wach.
Sie konnte die Myriaden von Geräuschen der Menschen bei der Arbeit
hören und fühlte sich getröstet. Als sie klein war, wurde sie oft
im Sommer morgens wach und hörte ihren Vater mit dem Rasenmäher
unter ihrem Fenster herumrattern; seine Stimme, die einen Nachbarn
grüßte. Sie hatte sich sicher gefühlt, behütet, weil sie wußte, daß
er da war.
In jüngerer Vergangenheit war sie dann in der
Dämmerung erwacht und hatte Jamie Frasers Stimme gehört, die leise
auf Gälisch
draußen mit den Pferden sprach, und hatte dasselbe Gefühl
zurückströmen gespürt. Doch das war nicht länger so.
Es hatte gestimmt, was ihre Mutter gesagt hatte.
Sie war ohne ihre Zustimmung oder ihr Wissen fortgeholt und
verändert, verwandelt worden und hatte erst nach vollendeter
Tatsache davon erfahren. Sie warf die Bettdecke zur Seite und stand
auf. Sie konnte nicht im Bett liegen und betrauern, was verloren
war; niemand hatte mehr die Aufgabe, sie zu beschützen. Die Aufgabe
der Beschützerin fiel ihr jetzt zu.
Das Baby war eine ständige Präsenz - und
seltsamerweise eine ständige Beruhigung. Zum ersten Mal empfand sie
es als Segen und fühlte sich seltsam versöhnt; ihr Körper hatte
dies lange vor ihrem Verstand gewußt. Also stimmte auch das - ihre
Mutter hatte es oft gesagt - »Hör auf deinen Körper«.
Sie lehnte sich an den Fensterrahmen und blickte
hinaus auf die zerrissene Schneedecke im Gemüsegarten. Ein Sklave
kniete, in Umhang und Schal vermummt, auf dem Pfad und grub
Winterkarotten aus einem der Beete aus. Riesige Ulmen begrenzten
den ummauerten Garten; irgendwo hinter ihrem starren, kahlen Geäst
lagen die Berge.
Sie stand still und lauschte den Rhythmen ihres
Körpers. Der Eindringling in ihrem Bauch regte sich ein wenig, und
die Wellen seiner Bewegungen verschmolzen mit dem Pulsieren ihres
Blutes - ihrer beider Blutes. In ihrem Herzschlag glaubte sie das
Echo jenes anderen, kleineren Herzens zu hören, und in diesem Klang
fand sie endlich den Mut, klar zu denken und die Gewißheit, daß
sie, wenn es zum Schlimmsten kam - sie drückte sich fest gegen den
Fensterrahmen und spürte ihn unter der Stärke ihrer Not ächzen -,
daß sie, selbst wenn es zum Schlimmsten kam, dennoch nicht völlig
allein sein würde.