56
Bekenntnisse des Leibes
Er erwachte kurz vor der Morgendämmerung. Die Nacht war immer noch schwarz, doch die Luft hatte sich verändert; die Glut war ausgebrannt und der Atem des Waldes wehte über sein Gesicht.
Alexandre war fort. Er lag allein unter dem zerlumpten Hirschfell, ganz kalt.
»Alexandre?« flüsterte er heiser. »Père Ferigault?«
»Ich bin hier.« Die Stimme des jungen Priesters war leise, irgendwie fern, obwohl er nicht mehr als einen Meter von ihm weg saß.
Roger erhob sich blinzelnd auf seinen Ellbogen. Als ihm der Schlaf erst einmal aus den Augen gewichen war, konnte er schwach sehen. Alexandre saß mit sehr geradem Rücken im Schneidersitz, das Gesicht dem quadratischen Loch des Rauchabzuges über ihnen zugewandt.
»Alles in Ordnung?« Eine Halsseite des Priesters war schwarz vor Blut, obwohl sein Gesicht - das, was Roger davon erkennen konnte - friedlich aussah.
»Sie werden mich bald umbringen. Vielleicht heute.«
Roger setzte sich hin und hielt das Hirschfell an seine Brust gedrückt. Ihm war sowieso schon kalt; der ruhige Ton dieser Worte ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
»Nein«, sagte er und mußte husten, um seinen Hals vom Ruß zu befreien. »Nein, das werden sie nicht.«
Alexandre machte sich nicht die Mühe, ihm zu widersprechen. Bewegte sich nicht. Er saß nackt da, ohne die Kälte der Morgenluft zu beachten, und blickte empor. Schließlich senkte er seinen Blick und wandte Roger den Kopf zu.
»Könntet Ihr mir die Beichte abnehmen?«
»Ich bin doch kein Priester.« Roger kämpfte sich auf die Knie hoch und rutschte über den Boden, wobei er das Fell umständlich vor sich hielt. »Hier, Ihr erfriert noch. Deckt Euch damit zu.«
»Es spielt keine Rolle.«
Roger war sich nicht sicher, ob er meinte, es spielte keine Rolle, daß er fror, oder es spielte keine Rolle, daß Roger kein Priester war. Er legte eine Hand auf Alexandres nackte Schulter. Ob es eine Rolle spielte oder nicht, der Mann war eiskalt.
Roger setzte sich so dicht wie möglich neben Alexandre und breitete das Fell über sie beide. Er fühlte, wie ihm eine Gänsehaut an den Stellen ausbrach, wo ihn die eisige Haut des anderen Mannes berührte, doch es störte ihn nicht; er rückte näher, denn es drängte ihn, Alexandre etwas von seiner eigenen Wärme abzugeben.
»Euer Vater«, sagte Alexandre. Er hatte den Kopf gedreht; sein Atem streifte Rogers Gesicht, und seine Augen waren schwarze Löcher in seinem Gesicht. »Ihr habt mir erzählt, er sei Priester gewesen.«
»Pastor. Ja, aber ich nicht.«
Er spürte die abwinkende Geste des anderen Mannes mehr, als daß er sie sah.
»In Notlagen kann jeder Mensch das Amt eines Priesters erfüllen«, sagte Alexandre. Seine kalten Finger berührten kurz Rogers Oberschenkel. »Werdet Ihr mir die Beichte abnehmen?«
»Wenn es - ja, wenn Ihr es wünscht.« Es war ihm unangenehm, doch es konnte nicht schaden, und wenn es dem anderen Mann irgendwie half… Die Hütte und das Dorf vor der Tür lagen still um sie herum. Es erklang kein Geräusch bis auf den Wind in den Kiefern.
Er räusperte sich. Würde Alexandre anfangen, oder mußte er zuerst etwas sagen?
Als wäre das Geräusch ein Signal gewesen, drehte sich der Franzose zu ihm um und senkte den Kopf, so daß das goldene Haar auf seinem Scheitel in sanftes Licht getaucht wurde.
»Segne mich, Bruder, denn ich habe gesündigt«, begann Alexandre leise. Und mit gesenktem Kopf, die Hände in seinem Schoß gefaltet, legte er seine Beichte ab.
Mit einer Huroneneskorte von Detroit ausgesandt, war er flußabwärts bis zur Siedlung Ste. Berthe de Ronvalle gereist, wo er den betagten Priester der Missionsstation ablösen sollte, dessen Gesundheit versagt hatte.
»Ich war dort glücklich«, sagte Alexandre in dem halb verträumten Tonfall, mit dem die Menschen von Ereignissen erzählen, die Jahrzehnte zurückliegen. »Es war mitten in der Wildnis, aber ich war jung und voll unverbrüchlicher Zuversicht. Strapazen waren mir willkommen.«
Jung? Der Priester konnte nicht viel älter sein als er selbst.
Alexandre zuckte mit den Achseln und schüttelte die Vergangenheit ab.
»Ich habe zwei Jahre bei den Huronen verbracht und viele von ihnen bekehrt. Dann habe ich eine Gruppe von ihnen nach Fort Stanwix begleitet, wo eine große Versammlung der Stämme der Region stattfand. Dort traf ich Kennyanisi-t’ago, einen Kriegshäuptling der Mohawk. Er hörte mich predigen, und da ihn der Heilige Geist anrührte, lud er mich ein, mit ihm in sein Dorf zurückzukehren.«
Die Mohawk waren berüchtigt für ihren Argwohn gegenüber der Bekehrung; es war ihm wie eine vom Himmel gesandte Gelegenheit vorgekommen. Also war Père Alexandre in Begleitung von Kennya-nisi-t’ago und seinen Kriegern per Kanu den Fluß hinabgefahren.
»Das war meine erste Sünde«, sagte er. »Stolz.« Er hob einen Finger in Rogers Richtung, als wollte er vorschlagen, daß dieser mitzählte. »Doch Gott war mit mir.« Die Mohawk hatten während des letzten französischen Indianerkrieges auf seiten der Engländer gestanden und waren dem jungen, französischen Priester gegenüber mehr als mißtrauisch gewesen. Er hatte sich nicht entmutigen lassen und die Mohawksprache gelernt, um in ihrer eigenen Sprache zu ihnen predigen zu können.
Es war ihm gelungen, eine Anzahl der Dorfbewohner zu bekehren, aber längst nicht alle. Allerdings hatte sich der Kriegshäuptling unter den Bekehrten befunden, so daß er vor Übergriffen geschützt war. Unglücklicherweise nahm der Sachem des Dorfes Anstoß an seinem Einfluß, und es herrschte eine fortgesetzte Spannung zwischen den Christen und den Nichtchristen im Dorf.
Der Priester leckte sich die trockenen Lippen, dann hob er den Wasserkrug hoch und trank.
»Und dann«, sagte er und holte tief Luft. »Dann habe ich meine zweite Sünde begangen.«
Er hatte sich in eine der von ihm Bekehrten verliebt.
»Hattet Ihr schon einmal mit einer Frau -?« Roger würgte die Frage ab, doch Alexandre antwortete schlicht und ohne Zögern.
»Nein, noch nie.« Es lag ein Hauch, beinahe ein Lachen, von bitterer Selbstironie darin. »Ich hatte geglaubt, ich wäre dieser Versuchung gegenüber immun. Doch der Mensch ist schwach im Angesicht von Satans fleischlichen Verlockungen.«
Er hatte einige Monate lang im Langhaus des Mädchens gelebt. Dann war er eines Morgens früh aufgestanden und war zum Fluß gegangen, um sich zu waschen. Dabei hatte er sein Spiegelbild im Wasser gesehen.
»Plötzlich geriet das Wasser in Aufruhr und etwas durchbrach die Oberfläche. Ein riesiges, aufgesperrtes Maul erhob sich durch die Oberfläche und zerstörte mein Spiegelbild.«
Es war nur eine Forelle gewesen, die einer Libelle nachjagte, doch der erschütterte Priester hatte es als ein Zeichen Gottes angesehen, daß seine Seele in Gefahr war, vom Schlund der Hölle verschluckt zu werden. Er war unverzüglich in das Langhaus gegangen und hatte seine Sachen gepackt, um von jetzt an in einem kleinen Unterschlupf außerhalb des Dorfes zu leben. Doch seine Geliebte war schwanger, als er sie verließ.
»Ist das die Ursache der Probleme gewesen, die Euch hierher verschlagen haben?« fragte Roger.
»Nein, nicht direkt. Sie denken anders über Moral und Ehe als wir«, erklärte Alexandre. »Die Frauen nehmen sich Männer, wie es ihnen gefällt, und Ehe ist eine Vereinbarung, die so lange gültig bleibt, wie sich die Partner verstehen; wenn sie sich uneins werden, dann darf die Frau den Mann aus dem Haus schicken - oder er darf sie verlassen. Wenn es Kinder gibt, bleiben sie bei der Mutter.«
»Aber dann -«
»Das Problem war, daß ich mich als Priester stets geweigert hatte, Säuglinge zu taufen, wenn nicht beide Eltern Christen und im Zustand der Gnade waren. Das ist notwendig, versteht Ihr, wenn das Kind im Glauben erzogen werden soll - ansonsten neigen die Indianer dazu, das Sakrament der Taufe nur als eins ihrer heidnischen Rituale zu betrachten.«
Alexandre holte tief Luft.
»Und natürlich konnte ich dieses Kind nicht taufen. Das beleidigte und entsetzte Kennyanisi-t’ago, der darauf bestand, daß ich es tun sollte. Als ich mich weigerte, befahl er, daß ich gefoltert werden sollte. Meine - das Mädchen - hat sich für mich verwendet und wurde darin von ihrer Mutter und verschiedenen anderen, einflußreichen Dorfbewohnern bestärkt.«
In der Folge war ein Riß der Kontroverse und der Spaltung durch das Dorf gegangen, und schließlich hatte der Sachem angeordnet, daß sie Père Alexandre zu Onyarekenata brachten, wo ein unparteiischer Rat entscheiden sollte, was zu tun war, um die Harmonie unter ihnen wiederherzustellen.
Roger kratzte sich den Bart; vielleicht war die Assoziation mit Läusen der Grund für die Abneigung, die die Indianer gegenüber den behaarten Europäern empfanden.
»Ich fürchte, ich verstehe das nicht ganz«, sagte er vorsichtig. »Ihr habt Euch geweigert, Euer eigenes Kind zu taufen, weil seine Mutter keine gute Christin war?«
Alexandre machte ein überraschtes Gesicht.
»Ah, non! Sie steht zu ihrem Glauben - obwohl es mehr als verständlich wäre, wenn sie es nicht täte«, fügte er reuevoll hinzu. Er seufzte. »Nein. Ich kann das Kind nicht taufen, nicht wegen seiner Mutter - sondern weil der Vater im Zustand der Sünde ist.«
Roger rieb sich die Stirn und hoffte, daß sein Gesicht sein Erstaunen nicht verriet.
»Ah. Und wolltet Ihr mir deshalb beichten? Um wieder in der Gnade zu stehen und damit -«
Der Priester brachte ihn mit einer kleinen Geste zum Schweigen. Er saß einen Augenblick still, und seine schmalen Schultern waren zusammengesunken. Er mußte zufällig an seine Wunde gekommen sein; die geronnene Masse war aufgesprungen, und Blut lief ihm wieder langsam über den Hals.
»Verzeiht mir«, sagte Alexandre. »Ich hätte Euch nicht fragen sollen; es war nur, daß ich so dankbar dafür war, meine Muttersprache sprechen zu können; ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, meine Seele zu erleichtern, indem ich es Euch erzählte. Aber es hat keinen Sinn; es kann keine Absolution für mich geben.«
Die Verzweiflung des Mannes war so deutlich, daß Roger ihm eine Hand auf den Unterarm legte, so sehr wünschte er sich, sie zu lindern.
»Seid Ihr sicher? Ihr habt gesagt, in Notlagen -«
»Das ist es nicht.« Er legte seine Hand auf Rogers und drückte sie fest, als könnte er Kraft aus dem Griff des anderen ziehen.
Roger sagte nichts. Einen Augenblick später erhob sich Alexandres Kopf, und der Priester sah ihm ins Gesicht. Das Licht draußen hatte sich verändert; es lag ein schwaches Leuchten, ein Glanz in der Luft, der schon beinahe Licht war. Sein eigener Atem puffte weiß vor seinem Mund auf wie Rauch, der zu dem Loch über ihnen aufstieg.
»Auch wenn ich beichte, wird mir nicht vergeben werden. Echte Reue ist die Voraussetzung dafür, die Absolution zu erlangen; ich muß meiner Sünde widersagen. Und das kann ich nicht.«
Er verstummte. Roger wußte nicht, ob er etwas sagen sollte, und was. Ein Priester, nahm er an, hätte etwas wie »Ja, mein Sohn?« gesagt, doch das konnte er nicht. Statt dessen ergriff er auch Alexandres andere Hand und hielt sie fest.
»Meine Sünde war, sie zu lieben«, sagte Alexandre ganz leise, »und daß ich es nicht lassen kann.«
Der Ruf Der Trommel
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