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Bekenntnisse des Leibes
Er erwachte kurz vor der Morgendämmerung. Die
Nacht war immer noch schwarz, doch die Luft hatte sich verändert;
die Glut war ausgebrannt und der Atem des Waldes wehte über sein
Gesicht.
Alexandre war fort. Er lag allein unter dem
zerlumpten Hirschfell, ganz kalt.
»Alexandre?« flüsterte er heiser. »Père
Ferigault?«
»Ich bin hier.« Die Stimme des jungen Priesters war
leise, irgendwie fern, obwohl er nicht mehr als einen Meter von ihm
weg saß.
Roger erhob sich blinzelnd auf seinen Ellbogen. Als
ihm der Schlaf erst einmal aus den Augen gewichen war, konnte er
schwach sehen. Alexandre saß mit sehr geradem Rücken im
Schneidersitz, das Gesicht dem quadratischen Loch des Rauchabzuges
über ihnen zugewandt.
»Alles in Ordnung?« Eine Halsseite des Priesters
war schwarz vor Blut, obwohl sein Gesicht - das, was Roger davon
erkennen konnte - friedlich aussah.
»Sie werden mich bald umbringen. Vielleicht
heute.«
Roger setzte sich hin und hielt das Hirschfell an
seine Brust gedrückt. Ihm war sowieso schon kalt; der ruhige Ton
dieser Worte ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
»Nein«, sagte er und mußte husten, um seinen Hals
vom Ruß zu befreien. »Nein, das werden sie nicht.«
Alexandre machte sich nicht die Mühe, ihm zu
widersprechen. Bewegte sich nicht. Er saß nackt da, ohne die Kälte
der Morgenluft zu beachten, und blickte empor. Schließlich senkte
er seinen Blick und wandte Roger den Kopf zu.
»Könntet Ihr mir die Beichte abnehmen?«
»Ich bin doch kein Priester.« Roger kämpfte sich
auf die Knie hoch und rutschte über den Boden, wobei er das Fell
umständlich vor sich hielt. »Hier, Ihr erfriert noch. Deckt Euch
damit zu.«
»Es spielt keine Rolle.«
Roger war sich nicht sicher, ob er meinte, es
spielte keine Rolle, daß er fror, oder es spielte keine Rolle, daß
Roger kein Priester war. Er legte eine Hand auf Alexandres nackte
Schulter. Ob es eine Rolle spielte oder nicht, der Mann war
eiskalt.
Roger setzte sich so dicht wie möglich neben
Alexandre und breitete das Fell über sie beide. Er fühlte, wie ihm
eine Gänsehaut an den Stellen ausbrach, wo ihn die eisige Haut des
anderen Mannes berührte, doch es störte ihn nicht; er rückte näher,
denn es drängte ihn, Alexandre etwas von seiner eigenen Wärme
abzugeben.
»Euer Vater«, sagte Alexandre. Er hatte den Kopf
gedreht; sein Atem streifte Rogers Gesicht, und seine Augen waren
schwarze Löcher in seinem Gesicht. »Ihr habt mir erzählt, er sei
Priester gewesen.«
»Pastor. Ja, aber ich nicht.«
Er spürte die abwinkende Geste des anderen Mannes
mehr, als daß er sie sah.
»In Notlagen kann jeder Mensch das Amt eines
Priesters erfüllen«, sagte Alexandre. Seine kalten Finger berührten
kurz Rogers Oberschenkel. »Werdet Ihr mir die Beichte
abnehmen?«
»Wenn es - ja, wenn Ihr es wünscht.« Es war ihm
unangenehm, doch es konnte nicht schaden, und wenn es dem anderen
Mann irgendwie half… Die Hütte und das Dorf vor der Tür lagen still
um sie herum. Es erklang kein Geräusch bis auf den Wind in den
Kiefern.
Er räusperte sich. Würde Alexandre anfangen, oder
mußte er zuerst etwas sagen?
Als wäre das Geräusch ein Signal gewesen, drehte
sich der Franzose zu ihm um und senkte den Kopf, so daß das goldene
Haar auf seinem Scheitel in sanftes Licht getaucht wurde.
»Segne mich, Bruder, denn ich habe gesündigt«,
begann Alexandre leise. Und mit gesenktem Kopf, die Hände in seinem
Schoß gefaltet, legte er seine Beichte ab.
Mit einer Huroneneskorte von Detroit ausgesandt,
war er flußabwärts bis zur Siedlung Ste. Berthe de Ronvalle
gereist, wo er den betagten Priester der Missionsstation ablösen
sollte, dessen Gesundheit versagt hatte.
»Ich war dort glücklich«, sagte Alexandre in dem
halb verträumten Tonfall, mit dem die Menschen von Ereignissen
erzählen, die Jahrzehnte zurückliegen. »Es war mitten in der
Wildnis, aber ich war jung und voll unverbrüchlicher Zuversicht.
Strapazen waren mir willkommen.«
Jung? Der Priester konnte nicht viel älter sein als
er selbst.
Alexandre zuckte mit den Achseln und schüttelte die
Vergangenheit ab.
»Ich habe zwei Jahre bei den Huronen verbracht und
viele von ihnen bekehrt. Dann habe ich eine Gruppe von ihnen nach
Fort Stanwix begleitet, wo eine große Versammlung der Stämme der
Region stattfand. Dort traf ich Kennyanisi-t’ago, einen
Kriegshäuptling der Mohawk. Er hörte mich predigen, und da ihn der
Heilige Geist anrührte, lud er mich ein, mit ihm in sein Dorf
zurückzukehren.«
Die Mohawk waren berüchtigt für ihren Argwohn
gegenüber der Bekehrung; es war ihm wie eine vom Himmel gesandte
Gelegenheit vorgekommen. Also war Père Alexandre in Begleitung von
Kennya-nisi-t’ago und seinen Kriegern per Kanu den Fluß
hinabgefahren.
»Das war meine erste Sünde«, sagte er. »Stolz.« Er
hob einen Finger in Rogers Richtung, als wollte er vorschlagen, daß
dieser mitzählte. »Doch Gott war mit mir.« Die Mohawk hatten
während des letzten französischen Indianerkrieges auf seiten der
Engländer gestanden und waren dem jungen, französischen Priester
gegenüber mehr als mißtrauisch gewesen. Er hatte sich nicht
entmutigen lassen und die Mohawksprache gelernt, um in ihrer
eigenen Sprache zu ihnen predigen zu können.
Es war ihm gelungen, eine Anzahl der Dorfbewohner
zu bekehren, aber längst nicht alle. Allerdings hatte sich der
Kriegshäuptling unter den Bekehrten befunden, so daß er vor
Übergriffen geschützt war. Unglücklicherweise nahm der
Sachem des Dorfes Anstoß an seinem Einfluß, und es herrschte
eine fortgesetzte Spannung zwischen den Christen und den
Nichtchristen im Dorf.
Der Priester leckte sich die trockenen Lippen, dann
hob er den Wasserkrug hoch und trank.
»Und dann«, sagte er und holte tief Luft. »Dann
habe ich meine zweite Sünde begangen.«
Er hatte sich in eine der von ihm Bekehrten
verliebt.
»Hattet Ihr schon einmal mit einer Frau -?« Roger
würgte die Frage ab, doch Alexandre antwortete schlicht und ohne
Zögern.
»Nein, noch nie.« Es lag ein Hauch, beinahe ein
Lachen, von bitterer Selbstironie darin. »Ich hatte geglaubt, ich
wäre dieser Versuchung gegenüber immun. Doch der Mensch ist
schwach im Angesicht von Satans fleischlichen Verlockungen.«
Er hatte einige Monate lang im Langhaus des
Mädchens gelebt. Dann war er eines Morgens früh aufgestanden und
war zum Fluß gegangen, um sich zu waschen. Dabei hatte er sein
Spiegelbild im Wasser gesehen.
»Plötzlich geriet das Wasser in Aufruhr und etwas
durchbrach die Oberfläche. Ein riesiges, aufgesperrtes Maul erhob
sich durch die Oberfläche und zerstörte mein Spiegelbild.«
Es war nur eine Forelle gewesen, die einer Libelle
nachjagte, doch der erschütterte Priester hatte es als ein Zeichen
Gottes angesehen, daß seine Seele in Gefahr war, vom Schlund der
Hölle verschluckt zu werden. Er war unverzüglich in das Langhaus
gegangen und hatte seine Sachen gepackt, um von jetzt an in einem
kleinen Unterschlupf außerhalb des Dorfes zu leben. Doch seine
Geliebte war schwanger, als er sie verließ.
»Ist das die Ursache der Probleme gewesen, die Euch
hierher verschlagen haben?« fragte Roger.
»Nein, nicht direkt. Sie denken anders über Moral
und Ehe als wir«, erklärte Alexandre. »Die Frauen nehmen sich
Männer, wie es ihnen gefällt, und Ehe ist eine Vereinbarung, die so
lange gültig bleibt, wie sich die Partner verstehen; wenn sie sich
uneins werden, dann darf die Frau den Mann aus dem Haus schicken -
oder er darf sie verlassen. Wenn es Kinder gibt, bleiben sie bei
der Mutter.«
»Aber dann -«
»Das Problem war, daß ich mich als Priester stets
geweigert hatte, Säuglinge zu taufen, wenn nicht beide Eltern
Christen und im Zustand der Gnade waren. Das ist notwendig,
versteht Ihr, wenn das Kind im Glauben erzogen werden soll -
ansonsten neigen die Indianer dazu, das Sakrament der Taufe nur als
eins ihrer heidnischen Rituale zu betrachten.«
Alexandre holte tief Luft.
»Und natürlich konnte ich dieses Kind nicht taufen.
Das beleidigte und entsetzte Kennyanisi-t’ago, der darauf bestand,
daß ich es tun sollte. Als ich mich weigerte, befahl er, daß ich
gefoltert werden sollte. Meine - das Mädchen - hat sich für mich
verwendet und wurde darin von ihrer Mutter und verschiedenen
anderen, einflußreichen Dorfbewohnern bestärkt.«
In der Folge war ein Riß der Kontroverse und der
Spaltung durch das Dorf gegangen, und schließlich hatte der
Sachem angeordnet, daß sie Père Alexandre zu Onyarekenata
brachten, wo ein unparteiischer Rat entscheiden sollte, was zu tun
war, um die Harmonie unter ihnen wiederherzustellen.
Roger kratzte sich den Bart; vielleicht war die
Assoziation mit Läusen der Grund für die Abneigung, die die
Indianer gegenüber den behaarten Europäern empfanden.
»Ich fürchte, ich verstehe das nicht ganz«, sagte
er vorsichtig. »Ihr
habt Euch geweigert, Euer eigenes Kind zu taufen, weil seine
Mutter keine gute Christin war?«
Alexandre machte ein überraschtes Gesicht.
»Ah, non! Sie steht zu ihrem Glauben -
obwohl es mehr als verständlich wäre, wenn sie es nicht täte«,
fügte er reuevoll hinzu. Er seufzte. »Nein. Ich kann das Kind nicht
taufen, nicht wegen seiner Mutter - sondern weil der Vater im
Zustand der Sünde ist.«
Roger rieb sich die Stirn und hoffte, daß sein
Gesicht sein Erstaunen nicht verriet.
»Ah. Und wolltet Ihr mir deshalb beichten? Um
wieder in der Gnade zu stehen und damit -«
Der Priester brachte ihn mit einer kleinen Geste
zum Schweigen. Er saß einen Augenblick still, und seine schmalen
Schultern waren zusammengesunken. Er mußte zufällig an seine Wunde
gekommen sein; die geronnene Masse war aufgesprungen, und Blut lief
ihm wieder langsam über den Hals.
»Verzeiht mir«, sagte Alexandre. »Ich hätte Euch
nicht fragen sollen; es war nur, daß ich so dankbar dafür war,
meine Muttersprache sprechen zu können; ich konnte der Versuchung
nicht widerstehen, meine Seele zu erleichtern, indem ich es Euch
erzählte. Aber es hat keinen Sinn; es kann keine Absolution für
mich geben.«
Die Verzweiflung des Mannes war so deutlich, daß
Roger ihm eine Hand auf den Unterarm legte, so sehr wünschte er
sich, sie zu lindern.
»Seid Ihr sicher? Ihr habt gesagt, in Notlagen
-«
»Das ist es nicht.« Er legte seine Hand auf Rogers
und drückte sie fest, als könnte er Kraft aus dem Griff des anderen
ziehen.
Roger sagte nichts. Einen Augenblick später erhob
sich Alexandres Kopf, und der Priester sah ihm ins Gesicht. Das
Licht draußen hatte sich verändert; es lag ein schwaches Leuchten,
ein Glanz in der Luft, der schon beinahe Licht war. Sein eigener
Atem puffte weiß vor seinem Mund auf wie Rauch, der zu dem Loch
über ihnen aufstieg.
»Auch wenn ich beichte, wird mir nicht vergeben
werden. Echte Reue ist die Voraussetzung dafür, die Absolution zu
erlangen; ich muß meiner Sünde widersagen. Und das kann ich
nicht.«
Er verstummte. Roger wußte nicht, ob er etwas sagen
sollte, und was. Ein Priester, nahm er an, hätte etwas wie »Ja,
mein Sohn?« gesagt, doch das konnte er nicht. Statt dessen ergriff
er auch Alexandres andere Hand und hielt sie fest.
»Meine Sünde war, sie zu lieben«, sagte Alexandre
ganz leise, »und daß ich es nicht lassen kann.«