61
Das Amt eines Priesters
Brandgeruch lag in der Luft. Wir kamen dicht an der Feuergrube vorbei, und ich konnte es nicht vermeiden, aus dem Augenwinkel den Haufen verkohlter Fragmente anzublicken, deren zersplitterte Enden mit Asche überzogen waren. Ich hoffte, daß es Holz war. Ich hatte Angst, direkt hinzusehen.
Ich stolperte auf dem gefrorenen Boden, und meine Eskorte fing mich am Arm auf. Zog mich kommentarlos hoch und schob mich auf ein Langhaus zu, vor dem zwei Männer Wache standen, vermummt zum Schutz gegen den kalten Wind, der die Luft mit dahintreibender Asche erfüllte.
Ich hatte nicht geschlafen und nicht gegessen, obwohl man mir etwas angeboten hatte. Meine Füße und meine Finger waren kalt. In einem Langhaus am anderen Ende des Dorfes erklangen Klagelaute, und darüber der laute, rituelle Gesang eines Totenliedes. War es das Mädchen, für das sie sangen, oder jemand anders? Ich zitterte.
Die Wachen warfen mir einen Blick zu und traten beiseite. Ich hob die Lederklappe vor der Tür und trat ein.
Es war dunkel, das Feuer im Innenraum genauso tot wie das im Freien. Doch durch den Rauchabzug fiel graues Licht, das den Boden ausreichend erleuchtete, daß ich einen unordentlichen Haufen aus Fellen und Stoff sehen konnte. Ein roter Tartanfleck leuchtete in dem Durcheinander auf, und Erleichterung durchfuhr mich.
»Jamie!«
Der Haufen regte sich und zerfiel. Jamies zerzauster Kopf fuhr hoch, hellwach, aber ziemlich mitgenommen. Neben ihm war ein dunkler, bärtiger Mann, der mir merkwürdig bekannt vorkam. Dann bewegte er sich ins Licht, und ich sah ein Paar grüne Augen im Gestrüpp aufblitzen.
»Roger!« rief ich aus.
Er erhob sich wortlos aus den Decken und nahm mich in die Arme. Er hielt mich so fest, daß ich kaum atmen konnte.
Er war furchtbar dünn; ich konnte seine Rippen einzeln spüren. Doch nicht unterernährt; er stank, doch es waren die normalen Gerüche nach Schmutz und abgestandenem Schweiß, nicht die hefeartige Ausdünstung eines Verhungernden.
»Roger, geht’s dir gut?« Er ließ mich los, und ich betrachtete ihn von oben bis unten auf der Suche nach Anzeichen einer Verletzung.
»Ja«, sagte er. Seine Stimme war heiser vom Schlaf und seinen Emotionen. »Brianna? Geht’s ihr gut?«
»Bestens«, versicherte ich ihm. »Was ist mit deinem Fuß passiert?« Er trug nur ein zerlumptes Hemd und einen fleckigen Lappen, den er um den einen Fuß gewickelt hatte.
»Ein Riß. Nichts. Wo ist sie?« Er klammerte sich ungeduldig an meinen Arm.
»An einem Ort namens River Run, bei ihrer Großtante. Hat Jamie es dir nicht gesagt? Sie ist -«
Ich wurde unterbrochen, weil Jamie meinen anderen Arm ergriff.
»Alles in Ordnung, Sassenach?«
»Ja, natürlich ist - mein Gott, was ist denn mit dir passiert?« Jamies Anblick lenkte meine Aufmerksamkeit für den Augenblick von Roger ab. Es war nicht die häßliche Quetschung an seiner Schläfe oder das getrocknete Blut auf seinem Hemd, das mir auffiel, sondern die unnatürliche Weise, wie er seinen rechten Arm hielt.
»Möglicherweise ist mein Arm gebrochen«, sagte er. »Tut ziemlich weh. Kannst du dich darum kümmern?«
Er drehte sich um und schritt davon, ohne eine Antwort abzuwarten. Er setzte sich schwerfällig neben das zerbrochene Bettgestell. Ich drückte Roger kurz und ging hinter ihm her, während ich mich fragte, was zum Teufel… Jamie würde nicht einmal dann vor Roger Wakefield zugeben, daß er Schmerzen hatte, wenn ihm der nackte Knochen zersplittert aus der Haut ragte.
»Was hast du denn vor?« brummte ich und kniete mich neben ihn. Ich befühlte den Arm vorsichtig durch das Hemd - keine komplizierten Brüche. Ich rollte es sorgsam auf, um es mir genauer anzusehen.
»Ich habe ihm das mit Brianna nicht gesagt«, flüsterte er. »Und ich glaube, es ist besser, wenn du es auch nicht tust.«
Ich starrte ihn an.
»Das können wir nicht tun! Er muß es wissen.«
»Leise. Aye, vielleicht sollte er von dem Baby erfahren - aber nicht das andere, nicht Bonnet.«
Ich biß mir auf die Lippe und betastete vorsichtig die Schwellung seines Bizeps. Er hatte eine der schlimmsten Prellungen, die ich je gesehen hatte; einen großen, lila-blau-melierten Fleck - doch ich war mir ziemlich sicher, daß der Arm nicht gebrochen war.
Was seinen Vorschlag anging, war ich mir nicht so sicher.
Er konnte den Zweifel in meinem Gesicht sehen; er drückte mir fest die Hand.
»Nicht jetzt; nicht hier. Laß uns warten, wenigstens bis wir in Sicherheit sind.«
Ich überlegte einen Augenblick, während ich seinen Hemdsärmel aufriß und ihn zur Herstellung einer groben Schlinge benutzte. Zu erfahren, daß Brianna schwanger war, würde ihn genug schockieren. Vielleicht hatte Jamie recht; es war nicht zu sagen, wie Roger auf die Nachricht von der Vergewaltigung reagieren würde, und wir waren noch lange nicht aus dem Schlimmsten heraus. Besser, wenn er den Kopf klar hatte. Schließlich zuckte ich zögernd mit den Achseln.
»Na gut«, sagte ich laut und stand auf. »Ich glaube nicht, daß er gebrochen ist, aber die Schlinge wird helfen.«
Ich ließ Jamie auf dem Boden sitzen und ging zu Roger. Ich kam mir vor wie ein Pingpongball.
»Wie geht’s dem Fuß?« Ich kniete mich hin, um ihn aus dem unhygienisch aussehenden Lappen auszuwickeln, doch er bremste mich mit einer Hand auf meiner Schulter.
»Brianna. Ich weiß, daß etwas nicht stimmt. Ist sie -«
»Sie ist schwanger.«
Was für Möglichkeiten er auch immer in seinem Gehirn gewälzt hatte, diese war nicht darunter gewesen. Es ist nicht möglich, pures Erstaunen zu verkennen. Er blinzelte und machte ein Gesicht, als hätte ich ihn mit einer Axt am Kopf getroffen.
»Sicher?«
»Sie ist jetzt im siebten Monat; man kann es ganz gut sehen.« Jamie war so still herangekommen, daß keiner von uns ihn gehört hatte. Seine Worte waren kalt und sein Blick noch kälter, doch Roger war längst über den Punkt hinaus, an dem er solche Subtilitäten bemerkt hätte.
Aufregung erleuchtete seine Augen, und sein erschrockenes Gesicht erwachte unter dem schwarzen Backenbart.
»Schwanger. Mein Gott, wie denn?«
Jamie gab einen verächtlichen Kehllaut von sich. Roger blickte ihn an und wandte dann schnell den Blick ab.
»Also, ich habe nicht gedacht -«
»Wie? Aye, Ihr habt nicht gedacht, und es bleibt meiner Tochter überlassen, den Preis für Euer Vergnügen zu zahlen!«
Rogers Kopf fuhr bei diesen Worten herum, und er funkelte Jamie an.
»Nichts bleibt ihr überlassen. Ich habe Euch doch gesagt, sie ist meine Frau.«
»Was?« sagte ich, beim Abwickeln aufgeschreckt.
»Sie haben per Handschlag geheiratet«, sagte Jamie sehr widerstrebend. »Warum konnte sie uns das nur nicht erzählen?«
Ich glaubte, das beantworten zu können - auf mehr als eine Weise. Allerdings konnte ich die zweite Antwort nicht in Rogers Gegenwart erwähnen.
Sie hatte es nicht gesagt, weil sie schwanger war und gedacht hatte, daß es von Bonnet war. Demzufolge hatte sie es wohl für besser gehalten, nichts von ihrem Handfasting zu sagen, um Roger einen Ausweg zu lassen - wenn er ihn wollte.
»Wahrscheinlich, weil sie gedacht hat, du würdest das nicht als echte Heirat ansehen«, sagte ich. »Ich habe ihr von unserer Hochzeit erzählt, von dem Vertrag und davon, wie du darauf bestanden hast, mich in der Kirche vor einem Priester zu heiraten. Sie würde dir nur ungern etwas erzählen, von dem sie glaubte, daß du es nicht gutheißen würdest - sie hat sich so sehr gewünscht, dir Freude zu machen.«
Jamie besaß immerhin soviel Anstand, bei diesen Worten beschämt auszusehen, doch Roger ignorierte unseren Wortwechsel.
»Geht es ihr gut?« fragte er, indem er sich vorbeugte und meinen Arm ergriff.
»Ja, alles bestens«, versicherte ich ihm und hoffte, daß es immer noch stimmte. »Sie wollte mit uns kommen, aber natürlich konnten wir das nicht zulassen.«
»Sie wollte mitkommen?« Sein Gesicht erhellte sich, Glück und Erleichterung waren deutlich sichtbar, auch unter all den Haaren und dem Schmutz. »Dann hat sie also nicht -« Er hielt abrupt inne und blickte von mir zu Jamie und zurück. »Als ich…Mr. Fraser auf dem Berg begegnet bin, schien er zu glauben, daß sie - äh - gesagt hatte -«
»Ein schreckliches Mißverständnis«, warf ich hastig ein. »Sie hatte uns nichts von eurem Handfasting erzählt, und als sie dann schwanger bei uns auftauchte, haben wir… äh… angenommen…« Jamie brütete vor sich hin und sah Roger ohne besondere Sympathie an, fuhr aber auf, als ich ihn hart anstieß.
»Oh, aye«, sagte er etwas widerstrebend. »Ein Fehler. Ich habe mich bei Mr. Wakefield entschuldigt und ihm gesagt, daß ich mein Bestes tun werde, um es wieder zu richten. Aber jetzt müssen wir über andere Dinge nachdenken. Hast du Ian gesehen, Sassenach?«
»Nein.« Erst jetzt wurde mir bewußt, daß Ian nicht bei ihnen war, und ich spürte einen Ruck der Furcht in der Magengrube. Jamie machte ein grimmiges Gesicht.
»Wo bist du die ganze Nacht gewesen, Sassenach?«
»Ich war bei - ach du lieber Himmel!«
Ich ignorierte seine Frage für den Moment, weil der Anblick von Rogers Fuß mich ganz in Anspruch nahm. An seinem halben Fuß war das Gewebe geschwollen und rot angelaufen und am äußeren Rand der Sohle schlimm vereitert. Ich drückte mit meinem Finger fest ein Stückchen nach innen und fühlte das widerliche Nachgeben kleiner Eiterbeulen unter der Haut.
»Was hast du da gemacht?«
»Ich habe ihn mir aufgerissen, als ich versuchte zu fliehen. Sie haben es verbunden und irgend etwas draufgetan, aber es hat sich immer wieder entzündet. Mal wird es besser, und dann wird es wieder schlimmer.« Er zuckte mit den Achseln; seine Gedanken waren nicht bei seinem Fuß, so schlimm er auch sein mochte. Er blickte zu Jamie auf. Offensichtlich war er zu einem Entschluß gekommen.
»Also hat Euch Brianna mir nicht entgegengeschickt? Sie hat Euch nicht gebeten, mich - mich loszuwerden?«
»Nein«, sagte Jamie völlig überrascht. Er lächelte kurz, und ein Anflug von Charme überflutete plötzlich sein Gesicht. »Das war meine eigene Idee.«
Roger holte tief Luft und schloß kurz die Augen.
»Gott sei Dank«, sagte er und öffnete sie wieder. »Ich dachte, sie hätte vielleicht - wir hatten uns furchtbar gestritten, kurz bevor ich sie verlassen habe, und ich dachte, vielleicht hat sie Euch deshalb nichts von unserem Handfasting erzählt; vielleicht hat sie beschlossen, daß sie nicht mit mir verheiratet sein will.« Er hatte Schweiß auf der Stirn, vielleicht wegen der Nachricht, vielleicht auch, weil ich an seinem Fuß herumhantierte. Er lächelte ein wenig verlegen. »Mich zu Tode prügeln oder in die Sklaverei verkaufen zu lassen, kam mir allerdings etwas extrem vor, selbst für eine Frau mit ihrem Temperament.«
»Mmpfm.« Jamie war leicht rot angelaufen. »Ich habe doch gesagt, daß es mir leid tut.«
»Ich weiß.« Roger blickte ihn lange an, während er sich anscheinend dazu durchrang, ihm etwas zu erzählen. Er holte tief Luft, dann bückte er sich und nahm meine Hand sanft von seinem Fuß. Er richtete sich wieder auf und sah Jamie direkt an.
»Ich muß Euch was sagen. Worüber wir uns gestritten haben. Hat sie Euch erzählt, was sie hierhergeführt hat - um Euch zu finden?«
»Die Todesnachricht? Aye, das hat sie uns erzählt. Ihr glaubt doch nicht, daß ich Claire sonst erlaubt hätte, mitzukommen?«
»Was?« Verwunderter Argwohn zeigte sich in Rogers Augen.
»Es geht nur eins von beiden. Wenn sie und ich in sechs Jahren in Fraser’s Ridge sterben sollen, dann können uns wohl kaum vorher die Irokesen umbringen, oder?«
Ich starrte ihn an; auf diese Implikation war ich nicht gekommen. Außerordentlich beeindruckend; praktische Unsterblichkeit - für eine Weile. Das hieß, wenn man davon ausging…
»Das heißt, daß man davon ausgeht, daß die Vergangenheit nicht zu ändern ist - daß wir es nicht können, meine ich. Glaubst du das?« Gebannt beugte sich Roger ein wenig vor.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Glaubst du es?«
»Ja«, sagte Roger geradeheraus. »Ich glaube, daß man die Vergangenheit nicht ändern kann. Das ist der Grund, warum ich es getan habe.«
»Was getan?«
Er leckte sich über die Lippen, fuhr aber hartnäckig fort.
»Ich habe diese Todesnachricht viel früher als Brianna gefunden. Aber ich dachte, daß es keinen Zweck haben würde, wenn man versuchte, die Dinge zu ändern. Also habe ich - habe ich sie ihr vorenthalten.« Er blickte von mir zu Jamie. »So, jetzt wißt ihr es. Ich wollte nicht, daß sie kommt; ich habe alles getan, was ich konnte, um sie von Euch fernzuhalten. Ich hielt es für zu gefährlich. Und - ich hatte Angst, sie zu verlieren«, schloß er einfach.
Zu meiner Überraschung sah Jamie Roger mit plötzlicher Anerkennung an.
»Also habt Ihr versucht, sie zu beschützen?«
Roger nickte, und eine gewisse Erleichterung verringerte die Anspannung in seinen Schultern.
»Dann versteht Ihr mich?«
»Aye, das tue ich. Das ist das erste Mal, daß ich etwas höre, was mir eine gute Meinung von Euch gibt, Sir.«
Es war eine Meinung, die ich im Moment nicht teilte.
»Du hast das gefunden - und es ihr nicht gesagt?« Ich konnte spüren, wie mir das Blut in die Wangen stieg.
Roger sah meinen Gesichtsausdruck und wandte den Blick ab.
»Nein. Sie… sie hat es so gesehen wie du, fürchte ich. Sie hat gedacht - na ja, sie hat gesagt, ich hätte sie verraten, und…«
»Das hast du auch. Sie und uns! Von allen - Roger, wie konntest du so etwas tun
»Er hat das Richtige getan«, sagte Jamie. »Schließlich -« Ich unterbrach ihn und fuhr ihn heftig an.
»Das hat er nicht! Er hat es ihr wissentlich vorenthalten und versucht, sie davon abzubringen - begreifst du denn nicht, daß du sie niemals zu Gesicht bekommen hättest, wenn es ihm gelungen wäre?«
»Aye, doch. Und was ihr zugestoßen ist, wäre niemals geschehen.« Seine Augen waren tiefblau und reglos auf die meinen gerichtet. »Ich wünschte, es wäre so gewesen.«
Ich schluckte meinen Schmerz und meine Wut hinunter, bis ich glaubte, wieder sprechen zu können, ohne dabei zu ersticken.
»Ich glaube nicht, daß sie wünschte, es wäre so gewesen«, sagte ich leise. »Und es war ihre Entscheidung.«
Roger fiel ein, bevor Jamie antworten konnte.
»Ihr sagt, was ihr zugestoßen ist, wäre niemals - ihre Schwangerschaft?« Er wartete nicht auf eine Antwort; er hatte sich offenbar so weit von dem Schock der Nachricht erholt, daß er wieder denken konnte, und er kam rapide zu denselben unangenehmen Schlußfolgerungen, die Brianna ein paar Monate zuvor gezogen hatte. Er fuhr mit dem Kopf zu mir herum, die Augen vor Schreck geweitet.
»Sie ist im siebten Monat. Himmel! Sie kann nicht zurück!«
»Jetzt nicht mehr«, sagte ich mit bitterer Betonung. »Sie hätte es gekonnt, als sie es herausfand. Ich habe versucht, sie zur Rückkehr nach Schottland zu bewegen, oder zumindest zu den Westindischen Inseln - da gibt es noch eine… Öffnung. Aber sie wollte nicht. Sie wollte nicht gehen, ohne herauszufinden, was aus dir geworden war.«
»Was aus mir geworden war«, wiederholte er und sah Jamie an. Jamies Schultern spannten sich an, und er biß die Zähne zusammen.
»Aye«, sagte er. »Es ist meine Schuld, daran ist nichts zu machen. Sie sitzt hier in der Falle. Und ich kann nichts für sie tun - außer, Euch wieder zu ihr zu bringen.« Und das, so begriff ich, war der Grund, warum er Roger nichts hatte sagen wollen; aus Angst, daß Roger sich weigern würde, mit uns zurückzukehren, wenn er begriff, daß Brianna in der Vergangenheit festsaß. Ihr in die Vergangenheit zu folgen, war eine Sache; für immer mit ihr hierzubleiben, war etwas ganz anderes. Es waren auch nicht allein seine Schuldgefühle in bezug auf Bonnet gewesen, die Jamie auf dem Weg hierher verzehrt hatten; jener Spartanerjunge, an dessen Eingeweiden ein Fuchs nagte, hätte in ihm sofort einen Seelenverwandten erkannt, dachte ich, während ich ihn zärtlich ansah und gleichzeitig dem Verzweifeln nah war.
Roger sah ihn an. Ihm fehlten die Worte.
Bevor ihm welche einfallen konnten, näherte sich das Geräusch raschelnder Schritte der Hüttentür. Die Klappe hob sich, und eine große Anzahl Mohawk trat nacheinander ein.
Wir sahen sie erstaunt an; es waren ungefähr fünfzehn, Männer, Frauen und Kinder, alle reisefertig mit Leggings und Pelzen bekleidet. Eine der älteren Frauen hielt eine Babytrage. Sie ging ohne Zögern auf Roger zu und drückte sie ihm in die Arme, während sie etwas auf Mohawk sagte.
Er sah sie stirnrunzelnd an, denn er verstand sie nicht. Jamie war plötzlich hellwach. Er beugte sich zu ihr hinüber und sprach ein paar stockende Worte. Sie wiederholte ungeduldig, was sie gesagt hatte, blickte dann hinter sich und winkte einem jungen Mann.
»Du bist… Priester«, sagte er stockend zu Roger. Er deutete auf die Babytrage. »Wasser.«
»Ich bin kein Priester.« Roger versuchte, der Frau das Tragebrett zurückzugeben, doch sie weigerte sich, es zu nehmen.
»Pries«, sagte sie entschlossen. »Tauf.« Sie winkte einer der jungen Frauen, die jetzt vortrat, eine kleine, mit Wasser gefüllte Hornschale in der Hand.
»Vater Alexandre - er gesagt, du Priester, Priestersohn«, sagte der junge Mann. Ich sah Rogers Gesicht unter dem Bart erbleichen.
Jamie war zur Seite getreten und hatte sich murmelnd in französischem Patois mit einem Mann unterhalten, den er kannte. Jetzt bahnte er sich seinen Weg zu uns zurück.
»Sie sind der Rest der Gemeinde des Priesters«, sagte er leise. »Der Rat hat sie angewiesen zu gehen. Sie haben vor, zur Huronenmission in Ste. Berthe zu reisen, aber sie hätten gern, daß das Kind getauft wird, falls es unterwegs stirbt.« Er blickte Roger an. »Sie halten Euch für einen Priester.«
»Offensichtlich.« Roger blickte auf das Kind in seinen Armen hinab.
Jamie zögerte und blickte auf die wartenden Indianer. Sie standen geduldig mit ruhigen Gesichtern da. Ich konnte nur vermuten, was hinter ihnen lag. Feuer und Tod, Exil - was noch? Das Gesicht der alten Frau, die das Baby getragen hatte, war von Trauer gezeichnet; sie war wohl seine Großmutter, dachte ich.
»Im Notfall«, sagte Jamie leise zu Roger, »kann jeder Mensch das Amt eines Priesters ausüben.«
Ich hätte nicht geglaubt, daß Roger noch weißer werden konnte, doch er tat es. Er schwankte kurz, und die Alte streckte alarmiert die Hand aus, um die Babytrage abzustützen.
Doch er fing sich wieder und nickte der jungen Frau mit dem Wasser zu, damit sie näherkam.
»Parlez-vous français?« fragte er, und die Köpfe nickten.
»C’est bien«, sagte er, holte tief Luft und hob die Babytrage in die Höhe, um der Kongregation das Kind zu zeigen. Das Baby, ein pausbäckiger Charmeur mit hellbraunen Locken und goldener Haut, blinzelte schläfrig bei diesem Perspektivenwechsel.
»Hört die Worte unseres Herrn Jesus Christus«, sagte er in klarem Französisch. »Getreu dem Wort unseres Herrn Jesus und in der Gewißheit, daß er unter uns zugegen ist, taufen wir jene, die er eingeladen hat, die Seinen zu sein.«
Natürlich, dachte ich, während ich ihn beobachtete. Er war der Sohn eines Priesters, sozusagen jedenfalls; er mußte oft genug gesehen haben, wie der Reverend das Sakrament der Taufe erteilte. Vielleicht erinnerte er sich nicht an die gesamte Meßfeier, doch ihre allgemeine Form schien er zu kennen.
Er ließ das Baby innerhalb der Kongregation - denn dazu hatte sein Einverständnis sie gemacht - von Hand zu Hand gehen, während er folgte und die einzelnen Anwesenden leise befragte.
»Qui est votre Seigneur, votre Sauveur?« Wer ist Euer Herr und Retter?
»Voulez-vous placer votre foi en Lui?« Setzt Ihr Euer Vertrauen in Ihn?
»Gelobt Ihr, diesem Kind die frohe Botschaft des Evangeliums zu erzählen und alle Gebote Christi und durch Eure Gemeinschaft seine Verbundenheit mit dem Haus Gottes zu stärken?«
Kopf um Kopf nickte als Antwort.
»Oui, certainement. Je le promets. Nous le ferons.«Ja, natürlich. Ich verspreche es. Das werden wir.
Schließlich drehte sich Roger um und gab Jamie das Kind.
»Wer ist Euer Herr und Retter?«
»Jesus Christus«, antwortete er ohne Zögern, und das Baby wurde zu mir weitergereicht.
»Setzt Ihr Euer Vertrauen in Ihn?«
Ich blickte in das Gesicht der Unschuld und antwortete an seiner Stelle. »Ja.«
Er nahm die Babytrage, gab sie der Großmutter, tauchte dann einen Lärchenzweig in die Wasserschale und träufelte Wasser über den Kopf des Babys.
»Ich taufe dich -«, begann er und hielt dann mit einem plötzlichen, panischen Blick zu mir inne.
»Es ist ein Mädchen«, murmelte ich, und er nickte, während er erneut den Lärchenzweig hob.
»Ich taufe dich, Alexandra, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.«
 
Nachdem der kleine Indianertrupp aufgebrochen war, kamen keine Besucher mehr. Ein Krieger brachte uns Brennholz und etwas zu essen, doch er ignorierte Jamies Fragen und ging ohne ein Wort.
»Glaubst du, daß sie uns umbringen werden?« fragte Roger nach einer Zeit des Schweigens. Sein Mund zuckte, als er zu lächeln versuchte. »Mich umbringen, meine ich wohl. Ihr beide seid wahrscheinlich sicher.«
Er klang nicht besorgt. Mit einem Blick auf die tiefen Schatten und Falten in seinem Gesicht dachte ich, daß er einfach zu erschöpft war, um noch Angst zu haben.
»Sie werden uns nicht umbringen«, sagte ich und schob eine Hand durch mein verwirrtes Haar. Ich begriff dumpf, daß ich ebenfalls erschöpft war; ich hatte seit über sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen.
»Ich hatte angefangen, es Euch zu erzählen. Ich habe die letzte Nacht in Tewaktenyonhs Haus verbracht. Der Rat der Mütter ist dort zusammengetreten.«
Sie hatten mir nicht alles erzählt; das taten sie nie. Doch am Ende der langen Stunden voller Zeremonien und Diskussionen hatte das Mädchen, das Englisch sprach, mir alles berichtet, was sie mich wissen lassen wollten, bevor sie mich zu Jamie zurückschickten.
»Ein paar der jungen Männer haben das Whiskyversteck gefunden«, sagte ich. »Sie haben ihn gestern ins Dorf gebracht und angefangen zu trinken. Die Frauen waren in dem Glauben, sie hätten nichts Unredliches vor, sie hielten den Handel für abgeschlossen. Doch dann entstand unter ihnen ein Streit, kurz bevor sie das Feuer anzündeten, um - um den Priester zu exekutieren. Ein Kampf brach aus, einige der Männer rannten in die Menge und - eins hat das andere ergeben.« Ich rieb mir fest mit der Hand über das Gesicht und versuchte, meinen Kopf so klar zu halten, daß ich sprechen konnte.
»Ein Mann ist bei dem Kampf umgekommen.« Ich sah Roger an. »Sie glauben, du hast ihn umgebracht; ist das so?«
Er schüttelte den Kopf und ließ müde die Schultern hängen.
»Ich weiß nicht. Was wollen sie deswegen unternehmen?«
»Tja, sie haben lange gebraucht, um zu einem Entschluß zu kommen, und es ist noch nicht endgültig geregelt; sie haben den Hauptrat informiert, aber der Sachem hat sich noch nicht entschieden.« Ich holte tief Luft.
»Sie werden dich nicht umbringen, weil der Whisky gestohlen wurde und er als Preis für dein Leben angeboten war. Aber da sie sich entschlossen haben, uns nicht umzubringen, um ihre Toten zu rächen, adoptiert der Stamm statt dessen normalerweise einen Feind als Ersatz für den Toten.«
Das schüttelte Roger aus seiner Dumpfheit.
»Mich adoptieren? Sie wollen mich behalten?«
»Einen von uns. Einen von euch. Ich denke nicht, daß ich ein passender Ersatz wäre, da ich kein Mann bin.« Ich versuchte zu lächeln, scheiterte aber kläglich. Sämtliche Muskeln in meinem Gesicht waren taub geworden.
»Dann muß ich es sein«, sagte Jamie ruhig.
Rogers Kopf fuhr erschrocken auf.
»Ihr habt es selbst gesagt; wenn die Vergangenheit nicht zu ändern ist, dann wird mir nichts geschehen. Laßt mich hier, und ich werde fliehen und nach Hause kommen, sobald es geht.«
Er legte mir die Hand auf den Arm, bevor ich protestieren konnte.
»Du und Ian, ihr bringt MacKenzie zu Brianna zurück.« Er sah Roger an, sein Gesicht war unergründlich. »Schließlich«, sagte er leise, »seid ihr zwei diejenigen, die sie braucht.«
Roger öffnete sofort den Mund, um zu widersprechen, doch ich platzte ihm dazwischen.
»Möge der Herr mich vor sturen Schotten bewahren!« sagte ich. Ich funkelte sie beide an. »Sie haben sich noch nicht entschieden. Das ist nur das, was der Rat der Frauen sagt. Also hat es keinen Sinn, darüber zu diskutieren, bevor wir es nicht mit Sicherheit wissen. Und was Dinge angeht, die wir nicht mit Sicherheit wissen«, sagte ich in der Hoffnung, sie abzulenken, »wo ist Ian?«
Jamie starrte mich an.
»Ich weiß es nicht«, sagte er und ich sah, wie eine Welle seinen Hals durchlief, als er schluckte. »Aber ich bete zu Gott, daß er unbehelligt bei diesem Mädchen im Bett ist.«
 
Niemand kam. Die Nacht verstrich ruhig, obwohl keiner von uns gut schlief. Aus purer Erschöpfung döste ich immer wieder ein und erwachte jedesmal, wenn draußen ein Geräusch erklang. Meine Träume waren ein lebhaftes, verrücktes Flickwerk aus Blut und Feuer und Wasser.
Es wurde Mittag, bevor wir Stimmen näherkommen hörten. Mein Herz tat einen Satz, als ich eine davon erkannte, und Jamie war auf den Beinen, bevor sich die Türklappe hob.
»Ian? Bist du’s?«
»Aye, Onkel Jamie. Ich bin’s.«
Seine Stimme klang seltsam; atemlos und unsicher. Er trat in das Licht, das durch den Rauchabzug fiel, und ich schnappte nach Luft, denn ich fühlte mich, als hätte mich jemand in den Magen geboxt.
Man hatte ihm das Haar von den Seiten seines Schädels gezupft; der Rest stand in einem dichten Kamm von seiner Kopfhaut ab, und ein langer Schwanz hing ihm über den Rücken. Ein Ohr war frisch durchstochen worden und trug einen silbernen Ohrring.
Sein Gesicht hatte man tätowiert. Doppelte Halbmondlinien aus schwarzen Pünktchen, die meisten immer noch blutverkrustet, liefen ihm über beide Wangenknochen und trafen sich auf seinem Nasenbein.
»Ich - kann nicht lange bleiben, Onkel Jamie«, sagte Ian. Unter den tätowierten Linien sah er blaß aus, doch er stand aufrecht. »Ich habe gesagt, sie müssen mich herkommen lassen, damit ich mich verabschiede.«
Jamies Lippen waren weiß geworden.
»Himmel, Ian«, flüsterte er.
»Heute abend ist die Zeremonie der Namensgebung«, sagte Ian und versuchte, uns nicht anzusehen. »Sie sagen, danach bin ich ein Indianer und darf nur noch die Sprache der Kahnyen’kehaka sprechen; ich darf kein Englisch oder Gälisch mehr sprechen.« Er lächelte verlegen. »Und ich wußte, daß du nicht viel Mohawk sprichst.«
»Ian, das kannst du nicht tun!«
»Ich habe es schon getan, Onkel Jamie«, sagte Ian leise. Dann sah er mich an.
»Tante Claire. Kannst du meiner Mutter sagen, daß ich sie nicht vergessen werde? Mein Pa weiß es auch so, glaube ich.«
»Oh, Ian!« Ich drückte ihn fest, und er legte sanft die Arme um mich.
»Ihr könnt morgen aufbrechen«, sagte er zu Jamie. »Sie werden euch nicht aufhalten.«
Ich ließ ihn los, und er ging zu der Stelle, wo Roger stand und ein verblüfftes Gesicht machte. Ian bot ihm die Hand an.
»Es tut mir leid, was wir Euch angetan haben«, sagte er leise. »Paßt Ihr gut auf meine Cousine und das Kleine auf?«
Roger ergriff seine Hand und schüttelte sie. Er räusperte sich und fand seine Stimme wieder.
»Ja«, sagte er. »Das verspreche ich.«
Dann wandte sich Ian Jamie zu.
»Nein, Ian«, sagte er. »Gott, nein, Junge. Laß es doch mich sein!«
Ian lächelte, obwohl seine Augen voller Tränen waren. »Du hast einmal zu mir gesagt, mein Leben sei nicht dazu da, verschwendet zu werden«, sagte er. »Und das wird es auch nicht.« Er streckte die Arme aus. »Dich vergesse ich auch nicht, Onkel Jamie.«
 
Kurz vor Sonnenuntergang brachten sie Ian zum Flußufer. Er zog sich aus und trat in das eiskalte Wasser, begleitet von drei Frauen, die ihn untertauchten, ihn knufften und ihn lachend mit Sand abschrubbten. Rollo lief am Ufer auf und ab und bellte wie wahnsinnig, dann sprang er in den Fluß und schloß sich dem an, was er offenbar für Spaß und Spiel hielt, wobei er Ian fast ertränkte.
Sämtliche Zuschauer, die das Ufer säumten, fanden es urkomisch - bis auf die drei Weißen.
Als das weiße Blut symbolisch aus Ians Körper gewaschen worden war, trockneten ihn ein paar Frauen ab, zogen ihm frische Kleider an und brachten ihn zur Zeremonie der Namensgebung in das Langhaus des Rates.
Alles drängte sich im Innenraum; das ganze Dorf war anwesend. Jamie, Roger und ich standen schweigend in der Ecke und sahen zu, wie der Sachem über ihm sprach und sang, wie Trommeln schlugen, wie die Pfeife angezündet wurde und von Hand zu Hand ging. Das Mädchen, das er Emily nannte, stand neben ihm, und ihre Augen leuchteten, als sie ihn ansah. Ich sah, wie er ihren Blick erwiderte, und das Leuchten, das dabei auch seine Augen erfüllte, trug etwas dazu bei, die Trauer in meinem Herzen zu lindern.
Sie nannten ihn Wolfsbruder. Sein Bruder, der Wolf, saß hechelnd zu Jamies Füßen und beobachtete die Vorgänge interessiert.
Am Ende der Zeremonie fiel ein kurzes Schweigen über die Menge, und in diesem Moment trat Jamie aus der Ecke. Alle Köpfe drehten sich, als er zu Ian hinüberging, und ich sah, wie sich mehr als ein Krieger mißbilligend anspannte.
Er löste die Brosche von seinem Plaid, gürtete es auf und legte seinem Neffen den blutbefleckten, leuchtend roten Tartan über die Schulter.
»Cuimhnich«, sagte er leise und trat zurück. Erinnere dich.
 
Wir waren alle drei sehr still, als wir am nächsten Morgen dem schmalen Pfad folgten, der vom Dorf fortführte. Mit weißem Gesicht hatte sich Ian formell von uns verabschiedet, während er bei seiner neuen Familie stand. Doch ich war nicht so tapfer gewesen, und als Ian meine Tränen sah, biß er sich auf die Lippe, um seine eigenen Gefühle in Schach zu halten. Jamie hatte ihn umarmt, ihn auf den Mund geküßt und sich ohne ein Wort abgewandt.
Jamie schlug in dieser Nacht das Lager mit seiner üblichen Effizienz auf, doch es war zu spüren, daß seine Gedanken anderswo weilten. Kein Wunder; meine eigenen waren zerrissen zwischen der Sorge um Ian hinter uns und der Sorge um Brianna vor uns, und für unsere gegenwärtigen Umstände hatte ich nur sehr wenig Aufmerksamkeit übrig.
Roger lud eine Ladung Holz neben dem Feuer ab und setzte sich neben mich.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er leise. »Über Brianna.«
»Ja? Ich auch.« Ich war so müde, daß ich dachte, ich würde kopfüber in die Flammen purzeln, bevor ich das Wasser zum Kochen gebracht hatte.
»Du hast gesagt, es gibt noch einen Kreis - eine Öffnung, was auch immer es ist - auf den Westindischen Inseln.«
»Ja.« Ich dachte kurz daran, ihm von Geillis Duncan und der Höhle Abandawe zu erzählen, verwarf es dann aber. Ich hatte nicht die Energie dazu. Ein andermal. Dann fuhr ich aus dem Nebel meiner Gedanken auf und erfaßte, was er gerade gesagt hatte.
»Noch einer? Hier?« Ich sah mich wild um, als erwartete ich, einen Menhir zu erblicken, der drohend hinter mir stand.
»Nicht hier«, sagte er. »Aber irgendwo zwischen hier und Fraser’s Ridge.«
»Oh.« Ich versuchte, meine zerstreuten Gedanken zu sammeln. »Ja, ich weiß, daß es einen gibt, aber -« Dann fiel der Groschen, und ich packte ihn am Arm. »Du meinst, du weißt, wo es ist?«
»Du hast davon gewußt?« Er starrte mich erstaunt an.
»Ja, ich - hier, sieh mal…« Ich wühlte in meinem Beutel und brachte den Opal zum Vorschein. Er ergriff ihn hastig, bevor ich eine Erklärung loswerden konnte.
»Oh! Es ist dasselbe; genau dieses Symbol - ist in den Felsen in dem Kreis gemeißelt. Wo zum Teufel hast du den her?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich. »Ich erzähle sie dir später. Aber jetzt - weißt du, wo der Kreis ist? Du hast ihn tatsächlich gesehen?«
Unsere Aufregung hatte Jamie herbeigelockt, der sich zu uns gesellte, um zu sehen, was los war.
»Ein Kreis?«
»Ein Zeitkreis, eine Öffnung, ein - ein -«
»Ich bin dagewesen,« unterbrach Roger meine gestotterten Erklärungen. »Ich habe ihn zufällig gefunden, während ich versucht habe zu fliehen.«
»Könntest du ihn wiederfinden? Wie weit ist er von River Run entfernt?« Mein Gehirn stellte hektische Berechnungen an. Etwas mehr als sieben Monate. Wenn der Rückweg sechs Wochen dauerte, würde Brianna mitten im neunten Monat sein. War es möglich, sie dann noch rechtzeitig in die Berge zu bringen? Und wenn - was würde riskanter sein, durch die Zeitpassage zu reisen, während sie im Begriff stand, ein Kind zu bekommen, oder für immer in der Vergangenheit zu bleiben?
Roger fingerte in seinem Hosenbund herum und brachte ein Stück Garn zum Vorschein, schmutzig und verknotet. »Hier«, sagte er und ergriff einen Doppelknoten. »Es war acht Tage nachdem sie mich mitgenommen haben. Acht Tage von Fraser’s Ridge entfernt.«
»Und mindestens eine Woche von River Run nach Fraser’s Ridge.« Ich gestattete mir wieder zu atmen, unsicher, ob ich Enttäuschung oder Erleichterung fühlte. »Wir würden es niemals schaffen.«
»Aber das Wetter schlägt um«, sagte Jamie. Er wies kopfnickend auf eine große Blaufichte mit nassen, tropfenden Nadeln. »Als wir gekommen sind, war dieser Baum völlig vereist.« Er sah mich an. »Vielleicht kommen wir leichter voran; vielleicht sind wir schneller - oder auch nicht.«
»Oder auch nicht.« Ich schüttelte knapp den Kopf. »Du weißt genausogut wie ich, daß der Frühling Schlamm bedeutet. Und man kann sich im Schlamm viel schlechter fortbewegen als im Schnee.« Ich spürte, wie mein Herz sich zu verlangsamen begann und sich fügte. »Nein, es ist zu spät, zu riskant. Sie muß hierbleiben.«
Jamie sah Roger über das Feuer hinweg an.
»Er nicht«, sagte er.
Roger sah ihn aufgeschreckt an.
»Oh -«, begann er, dann biß er die Zähne zusammen und fing von vorne an. »Oh, doch. Ihr glaubt doch nicht, daß ich sie alleinlassen würde? Und mein Kind?«
Ich öffnete den Mund und spürte, wie sich Jamie neben mir warnend versteifte.
»Nein«, sagte ich scharf. »Nein. Wir müssen es ihm sagen. Brianna tut es sowieso. Besser, wenn er es jetzt erfährt. Wenn es für ihn einen Unterschied macht, dann ist es besser, wenn er es weiß, bevor er sie sieht.«
Jamie preßte die Lippen fest zusammen, doch er nickte.
»Aye«, sagte er. »Dann sag’s ihm.«
»Was denn?« Rogers dunkles Haar war lose und hob sich im Abendwind. Seit wir ihn gefunden hatten, hatte er noch nicht so lebendig ausgesehen, alarmiert und aufgeregt zugleich. Ich biß in den sauren Apfel.
»Es könnte sein, daß es nicht dein Kind ist«, sagte ich.
Im ersten Augenblick veränderte sich sein Ausdruck nicht; dann erreichten ihn die Worte. Er packte mich an den Armen, so plötzlich, daß ich erschreckt aufheulte.
»Was meist du damit? Was ist passiert?«
Jamie bewegte sich wie eine Schlange beim Angriff. Er gab Roger einen kurzen, harten Kinnhaken, so daß er mich losließ und rückwärts auf dem Boden landete, alle viere von sich gestreckt.
»Sie meint, daß meine Tochter vergewaltigt worden ist, als Ihr sie sich selbst überlassen habt«, sagte er grob. »Zwei Tage nachdem Ihr ihr beigewohnt habt. Also ist das Kind vielleicht von Eurem Besuch, vielleicht auch nicht.«
Er funkelte zu Roger herunter.
»Also. Wollt Ihr ihr beistehen oder nicht?«
Roger schüttelte den Kopf, um ihn wieder klarzubekommen, und stand langsam wieder auf.
»Vergewaltigt? Wer? Wo?«
»In Wilmington. Ein Mann namens Stephen Bonnet. Er -«
»Bonnet?« Rogers Ausdruck machte es überdeutlich, daß ihm der Name vertraut war. Er starrte wild von mir zu Jamie und zurück. »Brianna ist von Stephen Bonnet vergewaltigt worden?«
»Das habe ich gesagt.« Plötzlich brach die ganze Wut hervor, die Jamie seit unserem Aufbruch aus dem Dorf unterdrückt hatte. Er packte Roger an der Kehle und donnerte ihn gegen einen Baumstamm.
»Und wo wart Ihr, als es geschehen ist, Feigling? Sie war wütend über Euch, also seid Ihr weggelaufen und habt sie alleingelassen! Wenn Ihr schon der Meinung wart, Ihr müßtet gehen, warum habt Ihr sie dann nicht erst in Sicherheit gebracht?«
Ich ergriff Jamies Arm und riß daran.
»Laß ihn los!«
Er gehorchte und machte schweratmend einen Satz rückwärts. Erschüttert und fast genauso wütend wie Jamie schüttelte Roger seine zerwühlten Kleider aus.
»Ich bin nicht gegangen, weil wir uns gestritten hatten! Ich bin gegangen, um das hier zu suchen!« Er ergriff eine Handvoll Stoff von seiner weiten Kniehose und riß daran. Ein hellgrüner Funke leuchtete auf seiner Handfläche auf.
»Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, um an das hier zu kommen, damit ihr Rückweg durch die Steine gesichert war! Wißt Ihr, wohin ich gegangen bin, um sie zu besorgen, von wem ich sie habe? Stephen Bonnet! Deshalb habe ich so lange gebraucht, um nach Fraser’s Ridge zu kommen; er war nicht da, wo ich es erwartet hatte; ich mußte an der Küste auf und ab reiten, um ihn zu finden.«
Jamie war erstarrt und sah die Edelsteine unverwandt an. Ich auch.
»Ich bin auf Stephen Bonnets Schiff aus Schottland gekommen!« Roger wurde etwas ruhiger. »Er ist ein - ein -«
»Ich weiß, was er ist.« Jamie regte sich und brach seine Trance. »Aber was er außerdem vielleicht ist, ist der Vater des Kindes meiner Tochter.« Er warf Roger einen langen, kalten Blick zu. »Also frage ich Euch, MacKenzie; könnt Ihr zu ihr zurückgehen und mit ihr zusammenleben, auch wenn Ihr wißt, daß es wahrscheinlich Bonnets Kind ist, das sie bekommt? Denn wenn Ihr es nicht tut - dann sagt es jetzt, denn ich schwöre, wenn Ihr zu ihr geht und sie schlecht behandelt… dann töte ich Euch, ohne noch einmal darüber nachzudenken.«
»Du meine Güte!« platzte ich heraus. »Laß ihn doch einen Augenblick überlegen, Jamie! Kannst du nicht sehen, daß er noch nicht die geringste Chance gehabt hat, es zu verdauen?«
Rogers Faust schloß sich fest um die Juwelen und öffnete sich dann wieder. Ich konnte ihn atmen hören, schwer und abgehackt.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich weiß es nicht!«
Jamie bückte sich und hob einen der Steine auf, der Roger aus der Hand gefallen war. Er schleuderte ihn Roger vor die Füße.
»Dann geht!« sagte er. »Nehmt Eure verfluchten Steine und sucht Euren verflixten Kreis. Fort mit Euch - denn meine Tochter braucht keinen Feigling.«
Er hatte die Pferde noch nicht abgesattelt; er ergriff seine Satteltaschen und hievte sie über den Rücken des Pferdes. Er band sein und mein Pferd los und stieg in einer fließenden Bewegung auf.
»Komm«, sagte er zu mir. Ich sah Roger hilflos an. Er starrte zu Jamie hinauf; seine grünen Augen glitzerten im Feuerschein und leuchteten wie der Smaragd in seiner Hand.
»Geht«, sagte er leise zu mir, ohne den Blick von Jamie abzuwenden. »Wenn ich kann - dann komme ich.«
Meine Hände und Füße schienen nicht mir zu gehören; sie bewegten sich problemlos, ohne daß ich sie steuerte. Ich ging zu meinem Pferd, steckte meinen Fuß in den Steigbügel, dann war ich oben.
Als ich mich umsah, war selbst der Schein des Feuers schon verschwunden. Hinter uns war nichts als Dunkelheit.
Der Ruf Der Trommel
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