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Das Jungfrauenopfer
Wilmington, in der Kolonie North Carolina, 1.
September 1769
Dies war der dritte Anfall von Lizzies mysteriöser
Krankheit. Nach dem ersten schlimmen Fieberanfall hatte es so
ausgesehen, als erholte sie sich, und nachdem sie einen Tag lang
Kräfte gesammelt hatte, hatte sie darauf bestanden, reisefähig zu
sein. Doch sie waren von Charleston nur einen Tagesritt weit nach
Norden gelangt, als das Fieber erneut zuschlug.
Brianna hatte den Pferden die Vorderbeine gefesselt
und hastig ein Lager an einem kleinen Bach aufgeschlagen, dann war
sie während der ganzen Nacht ein ums andere Mal zum Wasser gegangen
und im Dunkeln ein schlammiges Ufer hinauf- und hinuntergeklettert,
um in einem kleinen Topf Wasser zu holen, das sie Lizzie in die
Kehle und über den dampfenden Körper tropfen ließ. Sie hatte keine
Angst vor dem dunklen Wald oder vor wilden Tieren, doch der
Gedanke, daß Lizzie in der Wildnis sterben könnte, meilenweit von
jeder Hilfe entfernt, entsetzte sie so sehr, daß sie sich vornahm,
nach Charleston zurückzukehren, sobald Lizzie wieder auf einem
Pferd sitzen konnte.
Doch am Morgen war das Fieber gesunken, und obwohl
Lizzie schwach und bleich war, hatte sie reiten können. Brianna
hatte gezögert, sich aber schließlich dafür entschieden, weiter
nach Wilmington zu drängen, anstatt zurückzukehren. Zu dem Drang,
der sie bis hier getrieben hatte, gesellte sich jetzt ein weiterer
Ansporn; sie mußte ihre Mutter finden, um Lizzies willen
genauso wie um ihrer selbst willen.
Brianna, die meistens in der letzten Reihe ihrer
Klassenfotos gestanden hatte, hatte ihre Körpergröße nie besonders
geschätzt, doch als sie älter wurde, hatte sie die Vorteile ihrer
Größe und Kraft zu spüren begonnen. Und je mehr Zeit sie in dieser
elenden Gegend verbrachte, desto größer kamen ihr diese Vorteile
vor.
Sie stützte eine Hand auf den Bettrahmen, während
sie mit der anderen den Nachttopf unter Lizzies zerbrechlichen,
weißen Pobacken hervorzog. Lizzie war dürr, aber überraschend
schwer und kaum halb
bei Bewußtsein; sie stöhnte und zuckte unablässig, und immer
wieder verstärkte sich das Zucken plötzlich zu einem ausgewachsenen
Schüttelkrampf.
Jetzt begann das Zittern ein wenig nachzulassen,
obwohl Lizzie die Zähne immer noch so fest zusammengebissen hatte,
daß ihre scharfen Kieferknochen wie Stützpfeiler unter ihrer Haut
vorstanden.
Malaria, dachte Brianna zum dutzendsten Mal. Das
mußte es sein, so, wie es immer wiederkam. Auf Lizzies Hals war
eine Anzahl kleiner, roter Pusteln zu sehen, die Hinterlassenschaft
der Moskitos, die sie pausenlos geplagt hatten, seit Land in
Sichtweite der Phillip Alonzo gekommen war. Sie waren zu
weit im Süden gelandet und hatten drei Wochen damit vertan, sich
durch die flachen Ufergewässer nach Charleston zu schlängeln, wobei
sie ständig von blutsaugenden Insekten gebissen worden waren.
»Prima. Geht’s dir etwas besser?«
Lizzie nickte schwach und versuchte zu lächeln, was
zur Folge hatte, daß sie aussah wie eine weiße Maus, die einen
vergifteten Köder gefressen hatte.
»Wasser, Schätzchen. Versuch mal ein bißchen, nur
einen Schluck.« Brianna hielt Lizzie einladend den Becher an die
Lippen. Sie hatte ein starkes Déjà-vu-Gefühl und stellte fest, daß
ihre Stimme das Echo ihrer Mutter war, in den Worten genauso wie im
Tonfall. Diese Erkenntnis war seltsam tröstend, als stünde ihre
Mutter irgendwo hinter ihr und spräche durch sie.
Doch wenn hier ihre Mutter gesprochen hätte, dann
wäre als nächstes das St.-Josephs-Aspirin mit Orangengeschmack
gekommen, eine kleine, wohlschmeckende Lutschtablette,
gleichermaßen Belohnung wie Medizin, die Schmerzen und Fieber
genauso schnell zu vertreiben schien, wie sich die kleine, saure
Tablette auf ihrer Zunge auflöste. Brianna warf einen trostlosen
Blick auf ihre Satteltaschen, die an einer Ecke ausgebeult waren.
Da war kein Aspirin; Jenny hatte ihr ein kleines Bündel mit
Kräutervorräten mitgegeben, doch von dem Kamillen- und
Pfefferminztee hatte Lizzie sich nur übergeben.
Chinin, das war es, was man Menschen mit Malaria
gab; das war es, was sie brauchte. Doch sie hatte keine Ahnung, ob
man es hier überhaupt Chinin nannte oder wie man es verabreichte.
Doch Malaria war eine alte Krankheit, und Chinin wurde aus Pflanzen
gewonnen - ein Arzt würde doch sicher welches haben, wie es auch
immer genannt wurde?
Nur die Hoffnung auf ärztliche Hilfe hatte sie
Lizzies zweiten Anfall durchstehen lassen. Aus Angst, noch einmal
auf offener Straße
pausieren zu müssen, hatte sie Lizzie vor sich mit auf das Pferd
genommen, den Körper des Mädchens beim Reiten an sich gedrückt und
Lizzies Pferd geführt. Lizzie war abwechselnd vor Hitze aufgeflammt
oder hatte sich vor Kälte geschüttelt, und sie waren beide schlaff
vor Erschöpfung in Wilmington angekommen.
Doch hier waren sie nun, mitten in Wilmington und
doch so weit von wirklicher Hilfe entfernt wie eh und je. Mit
angespannten Lippen blickte Brianna zum Nachttisch. Dort lag ein
zusammengeballter Lappen mit Blutspritzern.
Die Wirtin hatte einen Blick auf Lizzie geworfen
und nach einem Apotheker geschickt. Trotz allem, was ihre Mutter
ihr über den primitiven Stand der hiesigen Medizin und ihrer
Vertreter gesagt hatte, hatte Brianna beim Anblick des Mannes einen
plötzlichen, intensiven Sog der Erleichterung verspürt.
Der Apotheker war ein anständig gekleideter, junger
Mann mit freundlicher Ausstrahlung und einigermaßen sauberen Händen
gewesen. Wie es auch immer um seine medizinischen Kenntnisse stand,
wahrscheinlich wußte er mindestens so viel über Fieberkrankheiten
wie sie. Und was wichtiger war, sie konnte sich dem Gefühl
hingeben, mit der Verantwortung für Lizzie nicht mehr allein zu
sein.
Der Anstand gebot ihr, aus dem Zimmer zu gehen, als
der Apotheker das Leinentuch wegzog, um seine Untersuchung
durchzuführen, und erst als sie einen leisen Schmerzensschrei
hörte, riß sie die Tür auf. Sie fand den jungen Apotheker mit einem
Skalpell in der Hand vor, und Lizzie war kreidebleich, während Blut
aus einem Schnitt in ihrer Ellenbeuge lief.
»Aber das ist gut für die Temperamente, Miss!«
hatte sich der Apotheker verteidigt. »Versteht Ihr denn nicht? Man
muß ihr die Temperamente entziehen! Wenn man es nicht tut, wird
sich heißer Gallensaft in ihren Organen in Gift verwandeln und
ihren ganzen Körper anfüllen, und es wird ihr sicheres Verderben
sein!«
»Es wird Euer sicheres Verderben sein, wenn
Ihr nicht geht«, hatte Brianna ihn mit zusammengebissenen Zähnen
informiert. »Fort mit Euch, sofort!«
Sein medizinischer Eifer war seinem
Selbsterhaltungstrieb gewichen, und der junge Mann hatte seinen
Koffer ergriffen und sich mit größtmöglicher Würde zurückgezogen.
Am Fuß der Treppe hatte er angehalten, um ihr finstere Warnungen
zuzurufen.
Diese Warnungen hallten ihr noch in den Ohren
wider, wenn sie nicht gerade nach unten unterwegs war, um die
Schüssel aus dem Kupferkessel in der Küche zu füllen. Die Worte des
Apothekers zeugten
zum Großteil schlicht von Ignoranz - Gefasel über Temperamente und
schlechtes Blut -, doch einige riefen sich immer wieder mit
unangenehmer Intensität in Erinnerung.
»Wenn Ihr meinen gutgemeinten Rat nicht annehmt,
Miß, dann könnt Ihr Euer Mädchen gleich zum Tode verurteilen!«
hatte er gerufen, das indignierte Gesicht im Dunkel des
Treppenhauses nach oben gewandt. »Ihr wißt ja selbst nicht, was Ihr
für sie tun sollt!«
Das stimmte. Sie wußte ja nicht einmal genau, was
für eine Krankheit Lizzie hatte; der Apotheker hatte es als
»Wechselfieber« bezeichnet, und die Wirtin hatte von der
»Eingewöhnung« gesprochen. Es war ganz normal, daß neu angekommene
Immigranten wiederholt krank wurden, denn sie waren ja einem ganzen
Regiment von neuen Erregern ausgesetzt. Den unverhüllten
Bemerkungen der Wirtin zufolge war es außerdem ganz normal, daß
solche Immigranten diesen Eingewöhnungsprozeß nicht
überlebten.
Die Schüssel neigte sich, und heißes Wasser
schwappte ihr über die Handgelenke. Gott allein wußte, ob der
Brunnen hinter dem Wirtshaus hygienisch einwandfrei war oder nicht;
besser, das kochende Wasser aus dem Kupferkessel zu benutzen und es
abkühlen zu lassen, auch wenn es länger dauerte. Im Krug war kühles
Wasser; sie ließ ein wenig davon zwischen Lizzies trockene,
aufgesprungene Lippen tropfen und das Mädchen dann auf das Bett
zurücksinken. Sie wusch Lizzie Gesicht und Hals, zog die Bettdecke
zurück und befeuchtete erneut das leinene Nachthemd, unter dem die
winzigen Brustwarzen als dunkelrote Punkte zu sehen waren.
Mit schweren Augenlidern brachte Lizzie ein kurzes
Lächeln zustande, dann sank sie mit einem leisen Seufzer zurück und
schlief ein. Ihre schlaffen Gliedmaßen entspannten sich wie die
Arme und Beine einer Stoffpuppe.
Auch Brianna fühlte sich, als hätte man bei ihr das
Füllmaterial entfernt. Sie zog den einzigen Hocker zum Fenster
herüber und ließ sich darauf fallen. In dem vergeblichen Bemühen,
etwas frische Luft zu schnappen, stützte sie sich auf die
Fensterbank. Auf dem ganzen Weg von Charleston hierher hatte die
Luft wie eine bleierne Decke über ihnen gelegen - kein Wunder, daß
die arme Lizzie unter ihrem Gewicht zusammengebrochen war.
Sie kratzte sich beklommen an einem Stich auf ihrem
Oberschenkel; die Insekten waren nicht annähernd so scharf auf sie
wie auf Lizzie, doch ein paarmal war sie auch gestochen worden.
Malaria war für sie nicht gefährlich; sie war dagegen geimpft,
genauso wie gegen Typhus, Cholera und alles, was sie sich sonst
noch vorstellen konnte.
Aber es gab keinen Impfstoff gegen Krankheiten wie das
Denguefieber oder die Dutzenden von anderen Seuchen, die die dicke
Luft wie böswillige Geister heimsuchten. Wie viele davon wurden von
blutsaugenden Insekten verbreitet?
Sie schloß die Augen, lehnte den Kopf an den
Holzrahmen und tupfte sich mit den Falten ihres Hemdes die
Schweißtropfen vom Brustbein. Sie konnte sich riechen; wie lange
trug sie diese Kleider schon? Es spielte keine Rolle; sie war zwei
Tage und Nächte lang fast pausenlos wach gewesen und war zu müde,
um sich umzuziehen, ganz zu schweigen von der Anstrengung, sich zu
waschen.
Lizzies Fieber schien vorbei zu sein - doch für wie
lange? Wenn es weiterhin immer so wiederkam, würde es das kleine
Dienstmädchen mit Sicherheit umbringen; sie hatte bereits das ganze
Gewicht wieder verloren, das sie auf der Reise zugenommen hatte und
ihre helle Haut begann, im Sonnenlicht gelblich auszusehen.
In Wilmington war keine Hilfe zu finden. Brianna
setzte sich gerade hin, reckte sich und spürte, wie ihre
Rückenwirbel wieder in Position sprangen. Müde oder nicht, es gab
nur eins, was sie tun konnte. Sie mußte ihre Mutter finden, und
zwar so schnell wie möglich.
Sie würde die Pferde verkaufen und ein Schiff
finden, das sie flußaufwärts brachte. Falls das Fieber zurückkam,
konnte sie sich auf einem Schiff genausogut um Lizzie kümmern wie
in diesem heißen, übelriechenden, kleinen Zimmer - und sie würden
dabei immerhin ihrem Ziel näherkommen.
Sie stand auf, spritzte sich etwas Wasser ins
Gesicht und drehte dabei ihr schweißnasses Haar nach oben und aus
dem Nacken. Sie schnürte ihre zerknitterte Kniehose auf, zog sie
aus und machte dabei verträumte, zusammenhanglose Pläne.
Ein Schiff auf dem Fluß. Sicherlich würde es auf
dem Fluß kühler sein. Sie müßten nicht mehr reiten; nach vier Tagen
im Sattel schmerzten ihre Oberschenkelmuskeln. Sie würden nach
Cross Creek fahren und Jocasta MacKenzie suchen.
»Meine Tante«, murmelte sie und schwankte leicht,
als sie nach der Dochtlampe griff. »Großtante Jocasta.« Sie stellte
sich eine freundliche, weißhaarige, alte Dame vor, die sie mit
derselben Freude begrüßen würde, die sie in Lallybroch angetroffen
hatte. Familie. Es würde so guttun, wieder eine Familie zu haben.
Wie so oft driftete Roger in ihre Gedanken. Sie schob ihn resolut
wieder fort; Zeit genug, an ihn zu denken, wenn ihre Mission
erledigt war.
Eine kleine Insektenwolke schwebte über der Flamme,
und die
Wand neben ihr war übersät mit den pfeilförmigen Schatten der
Motten und Florfliegen, die sich von ihrem Tagewerk ausruhten. Sie
kniff die Flamme aus, die kaum heißer war als die Luft im Zimmer,
und zog sich im Dunkeln das Hemd über den Kopf.
Jocasta würde wissen, wo genau sich Jamie Fraser
und ihre Mutter befanden - würde ihr helfen, zu ihnen zu gelangen.
Zum ersten Mal, seit sie durch die Steine geschritten war, erfüllte
der Gedanke an Jamie Fraser sie weder mit Neugier noch mit
Beklommenheit. Das einzige, was zählte, war, daß sie ihre Mutter
fand. Ihre Mutter würde wissen, was man für Lizzie tun mußte; ihre
Mutter würde wissen, wie man alles richtete.
Sie breitete eine zusammengefaltete Bettdecke auf
dem Boden aus und legte sich nackt darauf. In Sekundenschnelle war
sie eingeschlafen und träumte von den Bergen und von reinem, weißem
Schnee.
Am nächsten Abend sah die Lage besser aus. Das
Fieber war vorbei, genau wie beim ersten Mal, und Lizzie war
ausgelaugt und schwach, aber bei klarem Verstand und so weit
abgekühlt, wie es das Klima zuließ. Erfrischt hatte sich Brianna
nach der durchschlafenen Nacht die Haare gewaschen, sich mit Hilfe
eines Schwammes und der Schüssel gereinigt und dann der Wirtin Geld
gegeben, damit sie ein Auge auf Lizzie hatte, während sie selbst
sich in Joppe und Kniehose gekleidet ans Werk machte.
Es hatte fast den ganzen Tag gedauert - und sie
hatte Unmengen von aufgerissenen Augen und Mündern ertragen müssen,
wenn die Männer ihr Geschlecht erkannten -, die Pferde zu einem
Preis zu verkaufen, von dem sie hoffte, daß er redlich war. Sie
hatte von einem Mann namens Viorst gehört, der in seinem Kanu gegen
Bezahlung Passagiere zwischen Wilmington und Cross Creek hin- und
herbeförderte. Bei Anbruch der Dunkelheit hatte sie Viorst
allerdings noch nicht gefunden - und sie hatte nicht vor, sich
abends bei den Docks herumzutreiben, weder in Hosen noch anderswie.
Morgen würde früh genug sein.
Noch ermutigender war, daß Lizzie nach unten
gekommen war, als sie kurz vor Sonnenuntergang zum Wirtshaus
zurückkehrte, und sich von der Wirtin mit kleinen Portionen
Maispudding und Hühnerfrikassee hatte verwöhnen lassen.
»Dir geht’s besser!« rief Brianna aus. Lizzie
nickte strahlend und schluckte ihren Bissen hinunter.
»Stimmt«, sagte sie. »Ich fühle mich wieder wie ich
selber, und Mrs. Smoots ist so freundlich gewesen und hat mich all
unsere Sachen
waschen lassen. Oh, es tut so gut, sich wieder sauber zu fühlen!«
sagte sie begeistert und legte ihre blasse Hand auf ihr Halstuch,
das frisch gebügelt aussah.
»Du solltest aber nicht waschen und bügeln«, rügte
Brianna ihre Magd, während sie neben ihr auf die Bank glitt. »Du
wirst dich noch überarbeiten und wieder krank werden.«
Lizzie warf ihr einen neunmalklugen Blick zu, und
in ihren Mundwinkeln hing ein überlegenes Lächeln.
»Na ja, ich dachte, Ihr wollt Eurem Pa vielleicht
nicht in Kleidern gegenübertreten, die ganz dreckig sind. Nicht,
daß nicht sogar ein schmutziges Kleid besser wäre als das, was Ihr
jetzt anhabt.« Die Augen des kleinen Dienstmädchens glitten tadelnd
über Briannas Hose; sie hielt überhaupt nichts von der Vorliebe
ihrer Herrin für Männerkleidung.
»Meinem Pa? Was soll das - Lizzie, hast du etwas
gehört?« Eine Flamme der Hoffnung schoß in ihr hoch, eine
plötzliche, helle Verpuffung wie beim Anzünden eines
Gasherdes.
Lizzie machte ein selbstzufriedenes Gesicht.
»Jawohl, das habe ich. Und nur, weil ich gewaschen
habe - mein Pa hat immer schon gesagt, daß Tüchtigkeit sich
auszahlt.«
»Ja, ganz bestimmt«, sagte Brianna trocken. »Was
hast du denn herausbekommen, und wie?«
»Also, ich war gerade dabei, Euren Unterrock
aufzuhängen - den hübschen, aye, mit dem Spitzensaum…«
Brianna ergriff einen kleinen Milchkrug und hielt
ihn drohend über den Kopf des zierlichen Mädchens. Lizzie kreischte
und duckte sich kichernd.
»Schon gut. Ich sag’s!«
Während sie mit der Wäsche beschäftigt war, war
einer der Gäste des Wirtshauses in den Hof hinausgekommen, um eine
Pfeife zu rauchen, weil das Wetter so schön war. Er hatte Lizzies
Hausfrauenkünste bewundert und eine freundliche Unterhaltung mit
ihr angefangen, in deren Verlauf sich herausstellte, daß dieser
Herr - ein gewisser Andrew MacNeill - nicht nur von James Fraser
gehört hatte, sondern gut mit ihm bekannt war.
»Wirklich? Was hat er gesagt? Ist dieser MacNeill
noch hier?«
Lizzie streckte beschwichtigend die Hand aus und
brachte sie zum Schweigen.
»Ich erzähl’s ja schon, so schnell ich kann. Nein,
er ist nicht mehr hier; ich habe versucht, ihn zum Bleiben zu
bewegen, aber er mußte mit dem Paketboot nach New Bern und konnte
nicht hierbleiben.«
Sie war fast so aufgeregt wie Brianna; ihre Wangen waren immer
noch fahl, doch ihre Nasenspitze war rot geworden.
»Mr. MacNeill kennt Euren Pa, und Eure Großtante
Cameron auch - sie ist eine richtige Dame, sagt er, sehr reich, mit
einem prächtigen, riesigen Haus und vielen Sklaven, und -«
»Das ist jetzt nicht so wichtig, was hat er über
meinen Vater gesagt? Hat er meine Mutter erwähnt?«
»Claire«, sagte Lizzie triumphierend. »Das war doch
der Name Eurer Mama, oder? Ich habe ihn danach gefragt, und er hat
gesagt, ja, Mrs. Frasers Vorname sei Claire. Und er hat gesagt, daß
sie eine ganz erstaunliche Heilerin ist - habt Ihr nicht gesagt,
Eure Mutter ist eine gute Ärztin? Er hat gesagt, er ist einmal
dabeigewesen, wie sie eine gefährliche Operation an einem Mann
durchgeführt hat. Den hat sie mitten auf den Eßtisch gelegt und ihm
die Eier abgeschnitten und sie dann vor den Augen der ganzen
Abendgesellschaft wieder angenäht!«
»Das ist meine Mutter, Verwechslung
ausgeschlossen.« Die Tränen in ihren Augenwinkeln hätten vom Lachen
herrühren können. »Geht es ihnen gut? Hatte er sie in letzter Zeit
gesehen?«
»Och, das ist ja das Beste daran!« Lizzie beugte
sich vor, und die Bedeutung ihrer Nachricht weitete ihr die Augen.
»Er ist in Cross Creek - Euer Pa, Mr. Fraser! Ein Bekannter von ihm
steht dort wegen Körperverletzung vor Gericht, und Euer Pa ist
heruntergekommen, um für ihn auszusagen.« Sie betupfte sich die
Schläfe mit ihrem Taschentuch und wischte sich die winzigen
Schweißperlen weg.
»Mr. MacNeill sagt, das Gericht tritt vor Montag in
einer Woche nicht mehr zusammen, weil der Richter krank geworden
und ein neuer aus Edenton unterwegs ist, und der Prozeß nicht
weitergehen kann, bevor er nicht eingetroffen ist.«
Brianna strich sich eine Haarlocke zurück und
atmete aus. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.
»Montag in einer Woche… und heute ist Samstag.
Gott, ich frage mich, wie lange man wohl braucht, um stromaufwärts
zu kommen?«
Lizzie bekreuzigte sich hastig, um die gedankenlose
Blasphemie ihrer Herrin wiedergutzumachen, doch sie teilte ihre
Aufregung.
»Ich weiß es nicht, aber Mrs. Smoots sagt, ihr Sohn
hat die Reise schon einmal gemacht - wir könnten ihn fragen.«
Brianna schwang herum und ließ den Blick durch den
Raum schweifen. Als es dunkel wurde, waren mehr und mehr Männer und
Jungen hereingekommen, um auf dem Weg von der Arbeit zu ihren
Schlafquartieren etwas zu trinken oder zu essen, und jetzt waren
fünfzehn oder zwanzig Menschen auf engstem Raum
zusammengedrängt.
»Welcher ist Smoots junior?« fragte Brianna und
reckte den Hals, um durch das Gedränge zu blicken.
»Da - der Junge mit den hübschen, braunen Augen.
Ich hole ihn Euch her, ja?« Die Aufregung machte sie mutig, und
Lizzie schlüpfte von ihrem Sitz und schob sich in die Menge.
Brianna hatte den Milchkrug immer noch in der Hand,
machte aber keine Anstalten, sich etwas in ihren Becher zu gießen.
Etwas mehr als eine Woche!
Wilmington ist eine Kleinstadt, dachte Roger. An
wie vielen Stellen konnte sie sich aufhalten? Wenn sie überhaupt
hier war. Er glaubte, daß es sehr wahrscheinlich war; seine
Nachfragen in den Hafenkneipen in New Bern hatten ergeben, daß die
Phillip Alonzo sicher in Charleston gelandet war - und zwar
nur zehn Tage, bevor die Gloriana in Edenton angedockt
hatte.
Brianna konnte zwei Tage oder zwei Wochen gebraucht
haben, um von Charleston nach Wilmington zu gelangen -
vorausgesetzt, sie war wirklich dorthin unterwegs.
»Sie ist hier«, murmelte er. »Verdammt noch mal,
ich weiß, daß sie hier ist!« Ob diese Überzeugung nun das
Resultat seiner Überlegungen war oder seiner Intuition, seiner
Hoffnung oder schlichter Sturheit, er klammerte sich jedenfalls
daran wie ein ertrinkender Matrose an ein Brett.
Er selbst war erstaunlich leicht von Edenton nach
Wilmington gelangt. Man hatte ihn dazu eingeteilt, die Fracht aus
dem Lagerraum der Gloriana abzuladen. Er hatte eine Kiste
Tee in ein Lagerhaus getragen, sie abgestellt, war zum Tor
zurückgegangen und hatte sich damit beschäftigt, sich das
schweißdurchtränkte Halstuch wieder um den Kopf zu binden. Sobald
der nächste Mann an ihm vorbei war, trat er auf das Dock hinaus,
wandte sich nach rechts anstatt nach links und war innerhalb von
Sekunden auf der engen, gepflasterten Gasse unterwegs, die von den
Docks in die Stadt führte. Am nächsten Morgen hatte er eine Stelle
als Träger auf einem kleinen Frachtschiff gefunden, das Vorräte für
die Marine aus Edenton zum zentraleren Hafen von Wilmington
beförderte, wo sie zum Transport nach England auf ein größeres
Schiff verladen werden sollten.
Ohne einen Moment der Reue hatte er in Wilmington
auch dieses Schiff im Stich gelassen. Er hatte keine Zeit zu
verlieren; Brianna mußte gefunden werden.
Er wußte, daß sie hier war. Fraser’s Ridge lag in
den Bergen; sie würde einen Führer brauchen, und Wilmington war der
Hafen, in
dem die Wahrscheinlichkeit, einen solchen zu finden, am größten
war. Und wenn sie hier war, dann würde jemand sie bemerkt haben;
darauf würde er Geld wetten. Er konnte nur hoffen, daß sie nicht
bereits den falschen Leuten aufgefallen war.
Ein schneller Erkundungsgang auf der Hauptstraße
ergab die Anzahl von dreiundzwanzig Wirtshäusern. Himmel, diese
Leute tranken wie die Flußpferde! Es bestand natürlich die
Möglichkeit, daß sie sich ein Zimmer in einem Privathaus genommen
hatte, doch die Wirtshäuser waren der beste Ausgangspunkt.
Bis zum Abend hatte er zehn der Wirtschaften
geprüft, ein wenig durch die Notwendigkeit gebremst, seinen
ehemaligen Schiffskameraden aus dem Weg zu gehen. Es hatte ihn mit
rasendem Durst erfüllt, sich von so viel Alkohol umgeben zu sehen
und keinen Penny übrig zu haben. Außerdem hatte er den ganzen Tag
noch nichts gegessen, was die Sache auch nicht angenehmer
machte.
Dennoch bemerkte er diese körperliche
Unannehmlichkeit kaum. Ein Mann in der fünften Kneipe hatte sie
gesehen, eine Frau in der siebten ebenfalls. »Ein großer
Mann mit rotem Haar«, hatte der Mann gesagt, doch »ein
riesiges Mädchen in Kniehosen« waren die Worte der Frau gewesen,
und sie hatte schockiert mit der Zunge geschnalzt. »Ist am
hellichten Tag über die Straße gegangen mit dem Rock überm Arm und
dem Hintern vor aller Augen!«
Dieser Hintern sollte ihm nur erst unter die
Augen kommen, dachte Roger mit einigem Grimm, und er wußte, was er
damit tun würde. Er erbettelte sich einen Becher Wasser von einer
gutherzigen Frau und brach mit frischer Entschlossenheit wieder
auf.
Bis es völlig dunkel geworden war, hatte er fünf
weitere Kneipen durchkämmt. Die Schankräume waren jetzt voll, und
er stellte fest, daß das große, rothaarige Mädchen seit fast einer
Woche öffentliche Kommentare provoziert hatte. Die Natur eines
Teils dieser Kommentare ließ ihm vor Entrüstung das Blut in den
Wangen kochen, und nur die Angst, festgenommen zu werden, hielt ihn
von tätlichen Angriffen ab.
So aber verließ er nach einem häßlichen Wortwechsel
mit zwei Betrunkenen wutentbrannt die fünfzehnte Wirtschaft.
Himmel, hatte die Frau denn überhaupt keinen Verstand? Hatte sie
denn keine Ahnung, wozu Männer fähig sind?
Er blieb auf der Straße stehen und wischte sich mit
dem Ärmel über sein verschwitztes Gesicht. Er atmete schwer und
fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Weitermachen, schätzte
er, obwohl er sich mitten auf der Straße flach auf die Nase legen
würde, wenn er nicht bald etwas zu essen fand.
Der Blaue Bulle, entschied er. Er war schon vorher
dort vorbeigekommen, hatte einen Blick in den Schuppen geworfen und
einen großen Berg frisches Stroh darin gesehen. Er würde einen
Penny oder zwei für ein Abendessen ausgeben, und vielleicht ließ
ihn der Besitzer ja aus christlicher Nächstenliebe im Stall
schlafen.
Als er sich umwandte, fiel ihm ein Schild an dem
Haus auf der anderen Straßenseite auf.
WILMINGTON GAZETTE, JNO. GILLETTE, INH., stand
darauf. Die Wilmingtoner Zeitung, eine der wenigen in der Kolonie
North Carolina. Eine zuviel, wenn man Roger fragte. Er unterdrückte
das Bedürfnis, einen Stein aufzuheben und ihn Jno. Gillette ins
Fenster zu werfen. Statt dessen riß er sich das nasse Tuch von der
Stirn, bemühte sich, sich ein einigermaßen anständiges Aussehen zu
geben, und wandte sich dem Fluß und dem Blauen Bullen zu.
Sie war dort.
Sie saß neben der Feuerstelle, und ihr Haarzopf
sprühte Funken im Feuerschein, während sie sich mit einem jungen
Mann unterhielt, dem Roger am liebsten mit Gewalt das Lächeln aus
dem Gesicht gewischt hätte. Doch er schlug lediglich mit einem
Knall die Tür hinter sich zu und ging auf sie zu. Sie drehte sich
erschrocken um und starrte den bärtigen Fremden verständnislos an.
Ihre Augen blitzten auf, als sie ihn erkannte, dann leuchtete
Freude darin auf, und ein immenses Lächeln breitete sich in ihrem
Gesicht aus.
»Oh«, sagte sie. »Du bist es.« Dann veränderte sich
ihr Blick, und die Erkenntnis flammte wie Buschfeuer darin hoch.
Sie schrie auf. Es war ein lauter, kraftvoller Schrei, und jeder
einzelne Kopf in der Kneipe fuhr bei seinem Klang herum.
»Verdammt noch mal!« Er machte einen Satz um den
Tisch herum und packte sie beim Arm. »Was zum Teufel machst du hier
eigentlich?«
Ihr Gesicht war totenblaß geworden, ihre Augen weit
und dunkel vor Schrecken. Sie riß den Arm zurück und versuchte,
sich zu befreien.
»Laß los!«
»Tue ich nicht! Du kommst mit mir, und zwar
sofort!«
Er umkreiste den Tisch, erwischte ihren anderen
Arm, riß sie hoch, wirbelte sie herum und schob sie vor sich her
zur Tür.
»MacKenzie!« Verdammt, es war einer der Seemänner
vom Frachtschiff. Roger sah den Mann drohend an und beschwor ihn,
sich herauszuhalten. Glücklicherweise war der Mann nicht nur
kleiner, sondern auch älter als Roger; er zögerte, ließ sich dann
aber davon ermutigen, daß er nicht allein war, und hob kampflustig
das Kinn.
»Was macht Ihr mit dem Mädchen, MacKenzie? Laßt sie
in Ruhe!« Es kam Bewegung in die Menge, und die Männer blickten von
ihren Getränken auf, weil der Aufruhr sie neugierig machte.
»Sag ihnen, daß alles in Ordnung ist, sag ihnen,
daß du mich kennst!« flüsterte er Brianna ins Ohr.
»Es ist alles in Ordnung.« Briannas Stimme war
heiser vor Schock, doch sie war laut genug, um in dem zunehmenden
Stimmengewirr gehört zu werden. »Es ist alles in Ordnung. Ich - ich
kenne ihn.« Der Seemann fiel ein wenig zurück, immer noch
skeptisch. In der Kaminecke war ein schmales, junges Mädchen
aufgestanden, sie sah aus, als hätte sie Todesangst, umklammerte
aber tapfer mit der Faust eine Bierflasche aus Steingut, mit der
sie offensichtlich auf Roger einzuschlagen plante, falls es nötig
wurde. Ihre schrille Stimme übertönte das argwöhnische
Stimmengemurmel.
»Miß Brianna! Ihr werdet doch sicher nicht mit
diesem schwarzen Schurken gehen, oder?«
Brianna machte ein Geräusch, das von Hysterie
ersticktes Gelächter hätte sein können. Sie griff nach oben und
grub ihm die Fingernägel fest in den Handrücken. Verblüfft über den
Schmerz lockerte er seinen Griff, und sie riß ihren Arm aus seiner
Umklammerung.
»Es ist alles in Ordnung«, wiederholte sie noch
einmal fester, an den ganzen Raum gewandt. »Ich kenne ihn.« Sie
winkte dem Mädchen zu. »Lizzie, geh schon nach oben ins Bett. Ich -
ich komme später wieder.« Sie fuhr auf dem Absatz herum und ging
mit schnellen Schritten zur Tür. Roger warf einen drohenden Blick
in den Schankraum, um diejenigen zu entmutigen, die vielleicht mit
dem Gedanken spielten, sich einzumischen, und folgte ihr.
Sie wartete draußen direkt an der Tür; ihre Finger
sanken mit einer Heftigkeit in seinen Arm, die er vielleicht
befriedigend gefunden hätte, wenn sie nur von der
Wiedersehensfreude verursacht worden wäre. Doch das bezweifelte
er.
»Was machst du denn hier?« fragte sie.
Er löste ihre Finger und umfaßte sie fest.
»Nicht hier«, schnappte er. Er nahm ihren Arm und
zog sie ein kleines Stück die Straße entlang in den Schutz einer
großen Roßkastanie. Am Himmel glommen immer noch die Reste des
Zwielichts, doch die herabhängenden Äste reichten fast bis auf den
Boden, und darunter war es dunkel genug, um sich vor neugierigen
Seelen zu verbergen, die auf die Idee kommen mochten, ihnen zu
folgen.
In dem Moment, in dem sie den Schatten erreichten,
ging sie auf ihn los.
»Was machst du hier, um Himmels willen?«
»Dich suchen, Dummkopf. Und was in drei Teufels
Namen machst du hier? Noch dazu in dieser Aufmachung,
zum Kuckuck!« Er hatte sie nur kurz in Hemd und Hosen zu Gesicht
bekommen, doch es hatte gereicht.
In ihrer eigenen Zeit wären die Kleidungsstücke so
weit gewesen, daß sie ihm geschlechtslos vorgekommen wären. Doch
jetzt, nachdem er monatelang nur Frauen in langen Röcken und
Arisaids gesehen hatte, kamen ihm die offen zur Schau
gestellte Teilung ihrer Beine, die schiere, verdammte Länge ihrer
Oberschenkel und die Rundungen ihrer Waden so empörend vor, daß er
am liebsten ein Laken um sie geschlungen hätte.
»Verflixtes Weibsbild. Du könntest genausogut nackt
über die Straße gehen!«
»Sei kein Idiot! Was machst du hier?«
»Das sage ich doch - ich suche dich.«
Dann packte er sie bei den Schultern und küßte sie
hart. Angst, Wut, und die pure Erleichterung, sie gefunden zu
haben, verschmolzen augenblicklich zu einem soliden Stoß des
Verlangens, und er stellte fest, daß er zitterte. Sie auch. Sie
klammerte sich an ihn und lag bebend in seinen Armen.
»Ist ja gut«, flüsterte er. Er vergrub seinen Mund
in ihrem Haar. »Ist ja gut, ich bin hier. Ich kümmere mich um
dich.«
Sie fuhr aus seiner Umarmung auf.
»Gut?« rief sie. »Wie kannst du das sagen?
Um Himmels willen, du bist hier!«
Der Schrecken in ihrer Stimme war nicht zu
überhören. Er packte sie beim Arm.
»Und wo zum Teufel sollte ich sonst sein, wenn du
dich einfach so in das verdammte Nichts verkrümelst und deinen
verdammten Hals riskierst und - warum zum Teufel hast du das
getan?«
»Ich suche meine Eltern. Was sollte ich wohl
sonst hier machen?«
»Das weiß ich, Himmel noch mal! Ich meine, warum
zum Teufel hast du mir nicht gesagt, was du
vorhattest?«
Sie riß ihren Arm aus seiner Umklammerung und
verpaßte ihm einen kräftigen Stoß vor die Brust, der ihn um ein
Haar stolpern ließ.
»Weil du mich nicht gelassen hättest. Du hättest
versucht, mich aufzuhalten, und…«
»Das hätte ich, allerdings! Gott, ich hätte dich
irgendwo eingesperrt oder dich an Händen und Füßen festgebunden!
Das ist ja wohl die bescheuertste Idee…«
Sie schlug ihn, eine schallende Ohrfeige, die ihn
hart an der Wange traf.
»Schnauze!«
»Verdammtes Weibsbild! Erwartest du etwa von mir,
daß ich dich ins - ins Nichts verschwinden lasse und zu
Hause Däumchen drehe, während man dich auf dem Marktplatz zur Schau
stellt? Wofür hältst du mich?«
Er spürte ihre Bewegung mehr, als daß er sie sah,
und ergriff ihr Handgelenk, bevor sie ihn noch einmal ohrfeigen
konnte.
»Dazu bin ich jetzt nicht in der Stimmung, hörst
du? Schlag mich noch einmal, und beim Allmächtigen, ich tue dir
etwas an!«
Sie ballte die andere Hand zur Faust und boxte ihn
in den Bauch, blitzschnell wie eine zupackende Schlange.
Er hätte gern zurückgeschlagen. Statt dessen
ergriff er sie, wickelte sich eine Handvoll ihrer Haare um die
Faust und küßte sie hart.
Sie wand sich und kämpfte mit erstickten Geräuschen
gegen ihn an, doch er ließ nicht von ihr ab. Dann erwiderte sie den
Kuß, und sie sanken gemeinsam auf die Knie. Ihre Arme schlangen
sich um seinen Hals, als er sie auf den laubbedeckten Boden unter
dem Baum bettete. Dann lag sie weinend in seinen Armen, hustete und
japste, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht, während sie
sich an ihn klammerte.
»Warum?« schluchzte sie. »Warum mußtest du mir
folgen? War dir das denn nicht klar? Was sollen wir jetzt nur
tun?«
»Inwiefern tun?« Er konnte nicht sagen, ob sie vor
Wut weinte oder aus Angst - beides, dachte er.
Sie starrte durch ihre verworrenen Haarsträhnen zu
ihm hoch.
»Wie kommen wir zurück? Man muß jemanden haben, zu
dem man geht - jemanden, an dem einem etwas liegt. Du bist der
einzige Mensch auf der anderen Seite, den ich liebe - oder du warst
es! Wie soll ich denn zurückkommen, wenn du hier bist? Und
wie kommst du zurück, wenn ich hier bin?«
Er erstarrte. Vergessen waren Angst und Wut, und
seine Hände krampften sich fest um ihre Handgelenke, damit sie ihn
nicht wieder schlagen konnte.
»Deswegen? Deswegen wolltest du es mir nicht sagen?
Weil du mich liebst? Lieber Himmel!«
Er ließ ihre Handgelenke los und legte sich auf
sie. Er tastete mit beiden Händen nach ihrem Gesicht und versuchte,
sie erneut zu küssen. Ihre Hüften kreisten plötzlich herum, und sie
schwang zu beiden Seiten die Beine hoch, nahm ihn fest in die
Schere und quetschte ihm die Rippen.
Er drehte sich um, brach ihre Umklammerung auf und
rollte sich mit ihr herum. Er kam auf dem Rücken zu liegen, und sie
saß auf ihm. Er fuhr ihr mit der Hand in die Haare und zog keuchend
ihr Gesicht zu sich herunter.
»Aufhören«, sagte er. »Himmel, was ist das hier,
ein Ringkampf?«
»Laß meine Haare los.« Sie pendelte mit dem Kopf
hin und her und versuchte, ihn abzuschütteln. »Ich hasse es,
wenn mich jemand an den Haaren zieht.«
Er ließ ihre Haare los und wanderte mit seiner Hand
der Länge nach an ihrem Hals hinauf, die Finger um ihren schlanken
Nacken gelegt, einen Daumen auf dem Puls in ihrer Kehle. Er klopfte
wie ein Hammer, genau wie sein eigener.
»Na gut, wie ist’s denn mit Würgen?«
»Mag ich auch nicht.«
»Ich auch nicht. Nimm deinen Arm von meinem Hals,
aye?«
Ganz langsam sank ihr Gewicht nach hinten. Er war
immer noch kurzatmig, aber nicht, weil sie ihm die Luft
abgeschnitten hatte. Er hätte ihren Hals am liebsten nicht
losgelassen. Nicht, weil er Angst hatte, daß sie wieder auf ihn
losgehen würde, sondern weil er es nicht ertragen konnte, den
Kontakt mit ihr zu verlieren. Es hatte zu lange gedauert.
Sie hob die Hand und ergriff sein Handgelenk, zog
es aber nicht fort. Er spürte, wie sie schluckte.
»Na gut«, flüsterte er. »Sag es. Ich will es
hören.«
»Ich… liebe… dich«, sagte sie mit
zusammengebissenen Zähnen. »Kapiert?«
»Aye, ich hab’s kapiert.« Er nahm ihr Gesicht
zwischen seine Hände, ganz sanft, und zog sie herunter. Sie gab
nach; ihre Arme zitterten, und sie ließ ihn unter sich los.
»Sicher?« sagte er.
»Ja. Was machen wir bloß?« sagte sie und
fing an zu weinen.
»Wir.« Sie hatte wir gesagt. Sie
hatte gesagt, sie war sich sicher.
Roger lag im Staub der Straße, verkratzt, schmutzig
und halbverhungert, neben einer Frau, die sich zitternd an seiner
Brust ausweinte und ihm ab und zu einen kleinen Fausthieb
versetzte. Er war noch nie in seinem Leben so glücklich
gewesen.
»Psst«, flüsterte er, während er sie sanft wiegte.
»Ist ja gut; es gibt noch einen Weg. Wir kommen schon zurück; ich
weiß, wie. Mach dir keine Sorgen, ich paß auf dich auf.«
Schließlich war sie erschöpft und lag still in
seiner Armbeuge,
schniefend und hicksend. Auf der Vorderseite seines Hemdes war ein
großer, feuchter Fleck. Die Grillen im Baum, die bei dem Aufruhr
erschrocken verstummt waren, nahmen nach und nach ihren Gesang
wieder auf.
Sie befreite sich, setzte sich auf und tastete in
der Dunkelheit herum.
»Ich buß bir die Dase putzen«, sagte sie belegt.
»Hast du ein Taschentuch?«
Er gab ihr den feuchten Stoffetzen, den er dazu
benutzte, sich das Haar zurückzubinden. Sie machte
Schniefgeräusche, und er lächelte im Dunkeln.
»Du hörst dich an wie eine Dose
Rasierschaum.«
»Und wann hast du zum letzten Mal eine gesehen?«
Sie legte sich wieder auf ihn, legte ihren Kopf in die Rundung
seiner Schulter und langte herauf, um sein Kinn zu berühren. Er
hatte sich vor zwei Tagen rasiert; seitdem hatte er weder Zeit noch
Gelegenheit dazu gehabt.
Ihr Haar roch immer noch schwach nach Gras, aber
nicht mehr nach künstlichen Blumen. Es mußte ihr natürlicher Geruch
sein.
Sie seufzte tief und legte ihren Arm fester um
ihn.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht,
daß du mir hinterherkommst. Aber… Roger, ich bin schrecklich froh,
daß du hier bist.«
Er küßte sie auf die Stirn; sie war feucht und
salzig vom Schweiß und von den Tränen.
»Ich auch«, sagte er, und für den Augenblick kamen
ihm alle Strapazen und Gefahren der letzten beiden Monate
unbedeutend vor. Alle, außer einer.
»Wie lange hattest du es geplant?« fragte er.
Wahrscheinlich hätte er es ihr auf den Tag genau sagen können. Seit
ihre Briefe angefangen hatten, sich zu verändern.
»Oh… ungefähr sechs Monate«, sagte sie und
bestätigte seine Schätzung. »Es war, als ich in den letzten
Osterferien nach Jamaika gefahren bin.«
»Aye?« Nach Jamaika anstatt nach Schottland. Sie
hatte ihn gebeten mitzufahren, und er hatte abgelehnt, dummerweise
gekränkt, weil sie nicht automatisch vorgehabt hatte, zu ihm zu
kommen.
Sie holte tief Luft, atmete wieder aus und tupfte
sich mit dem Hemdkragen über ihre Haut.
»Ich hatte diese Träume«, sagte sie. »Von meinem
Vater. Meinen Vätern. Allen beiden.«
Die Träume waren kaum mehr als Fragmente gewesen;
plastische Bilder von Frank Randalls Gesicht, dann und wann auch
längere Szenen, in denen sie ihre Mutter sah. Und dann und wann
einen hochgewachsenen, rothaarigen Fremden, von dem sie wußte, daß
er der Vater war, dem sie noch nie begegnet war.
»Besonders den einen Traum…« In dem Traum war es
Nacht gewesen, irgendwo in den Tropen, mit Feldern aus hohen,
grünen Pflanzen, die wohl Zuckerrohr waren, und Feuern, die in der
Ferne brannten.
»Es schlugen Trommeln, und ich wußte, daß sich
etwas verbarg, im Zuckerrohr lauerte; etwas Furchtbares«, sagte
sie. »Meine Mutter war da und trank Tee mit einem Krokodil.« Roger
grunzte, und ihre Stimme verhärtete sich. »Es war ein Traum,
klar?
Dann trat er aus dem Zuckerrohr heraus. Ich konnte
sein Gesicht nicht besonders gut sehen, aber ich konnte sehen, daß
er rote Haare hatte; wenn er den Kopf drehte, glänzte es auf wie
Kupfer.«
»War er das schreckliche Wesen zwischen den
Zuckerpflanzen?« fragte Roger.
»Nein.« Er konnte ihre Haare hören, als sie den
Kopf schüttelte. Es war inzwischen völlig dunkel geworden, und sie
war kaum mehr als ein beruhigendes Gewicht auf seiner Brust, eine
leise Stimme, die neben ihm aus dem Schatten kam.
»Er stand zwischen meiner Mutter und dem
schrecklichen Wesen. Ich konnte es nicht sehen, aber ich wußte, daß
es da war und wartete.« Unwillkürlich zitterte sie leicht, und
Roger umfaßte sie fester.
»Dann wußte ich, daß meine Mutter aufstehen und
direkt darauf zugehen würde. Ich habe versucht, sie aufzuhalten,
doch ich konnte sie nicht dazu bringen, mich zu sehen oder zu
hören. Also habe ich mich an ihn gewandt und ihm zugerufen, daß er
mit ihr gehen sollte - sie davor retten sollte, was es auch immer
war. Und er hat mich gesehen!« Die Hand auf seinem Oberschenkel
drückte fest zu. »Wirklich, er hat mich gesehen, und er hat mich
gehört. Und dann bin ich aufgewacht.«
»Aye?« sagte Roger skeptisch. »Und deswegen bist du
nach Jamaika gefahren, und…«
»Es hat mich nachdenklich gemacht«, sagte sie
scharf. »Du hattest ja nachgesucht; nach 1766 konntest du sie in
Schottland nirgends mehr finden, und auf den Listen der Emigranten
in die Kolonien hast du sie auch nicht gefunden. Und dann hast du
gesagt, du meintest, wir sollten aufhören; daß wir nicht mehr
herausfinden würden.«
Roger war dankbar für die Dunkelheit, die seine
Schuld verbarg. Er küßte sie schnell auf den Scheitel.
»Aber ich war mir nicht so sicher; der Ort, an dem
ich sie im Traum gesehen hatte, war in den Tropen. Was, wenn sie
auf den Westindischen Inseln waren?«
»Ich habe nachgesehen«, sagte Roger. »Ich habe die
Passagierlisten aller Schiffe überprüft, die in den späten 1760ern
und den 1770ern aus Edinburgh oder London abgefahren sind - egal,
wohin. Das habe ich dir schon gesagt«, fügte er hinzu, Verärgerung
in der Stimme.
»Das weiß ich«, sagte sie nicht minder verärgert.
»Aber was, wenn sie nicht als Passagiere gefahren sind? Warum sind
die Leute denn damals - heute, meine ich - in die Karibik
gefahren?« Sie fing sich wieder, und ihre Stimme überschlug
sich ein wenig, als ihr einfiel, wo sie war.
»Handel, zum Großteil.«
»Genau. Was also, wenn sie mit einem Frachtschiff
gefahren waren? Dann würden sie auf keiner Passagierliste
auftauchen.«
»Okay«, sagte er langsam. »Stimmt, das würden sie
nicht. Aber wie sollte man sie dann suchen?«
»Lagerhausregister, Geschäftsbücher von Plantagen,
Hafenunterlagen. Ich habe die ganzen Ferien in Museen und
Bibliotheken verbracht. Und - und ich habe sie gefunden«, sagte sie
mit leicht verhaltener Stimme.
Himmel, sie hatte die Notiz gefunden.
»Aye?« sagte er, um Ruhe bemüht.
Sie lachte ein wenig zittrig.
»Ein James Fraser, Kapitän eines Schiffes namens
Artemis, hat einem Pflanzer in Montego Bay am zweiten April
1767 fünf Tonnen Fledermausguano verkauft.«
Roger konnte ein belustigtes Grunzen nicht
unterdrücken, doch genausowenig konnte er sich den Widerspruch
verkneifen.
»Aye, aber ein Schiffskapitän? Nach allem, was uns
deine Mutter über seine Seekrankheit erzählt hat? Und ich will dich
ja nicht entmutigen, aber es muß buchstäblich Hunderte von James
Frasers geben; woher willst du da wissen…«
»Vielleicht; aber am ersten April hat eine Frau
namens Claire Fraser auf dem Sklavenmarkt in Kingston einen Sklaven
gekauft.«
»Sie hat was?«
»Ich weiß nicht, wozu«, sagte Brianna bestimmt,
»aber ich bin mir sicher, daß sie es mit gutem Grund getan
hat.«
»Na ja, sicher, aber…«
»In den Papieren war der Name des Sklaven mit
›Temeraire‹ angegeben, und er wurde als einarmig beschrieben. Damit
fällt er auf,
nicht wahr? Wie auch immer, ich habe angefangen, alte Zeitungen
nach diesem Namen zu durchsuchen, nicht nur von den Westindischen
Inseln, sondern aus allen südlichen Kolonien - meine Mutter würde
niemals einen Sklaven halten; wenn sie ihn gekauft hatte, dann
mußte sie ihn irgendwie freigelassen haben, und manchmal wurden die
Bekanntmachungen solcher Freilassungen in den örtlichen Zeitungen
abgedruckt. Ich dachte, ich könnte vielleicht herausfinden, wann
der Sklave freigesetzt wurde.«
»Und, hast du?«
»Nein.« Sie schwieg einen Augenblick. »Ich - ich
habe etwas anderes gefunden. Eine… Todesanzeige. Die meiner
Eltern.«
Er wußte zwar, daß sie sie gefunden haben mußte,
doch es erschreckte ihn dennoch, es aus ihrem Mund zu hören. Er zog
sie fest an sich und legte seine Arme um sie.
»Wo?« fragte er leise. »Wie?«
Er hätte es besser wissen sollen. Er hörte ihrer
halberstickten Erklärung gar nicht zu; er war zu sehr damit
beschäftigt, sich selbst zu verfluchen. Er hätte wissen müssen, daß
sie zu stur war, um sich davon abbringen zu lassen. Das einzige,
was er mit seiner dickköpfigen Unterschlagung erreicht hatte, war,
sie zur Heimlichtuerei zu treiben. Und er hatte dafür bezahlt - mit
sorgenvollen Monaten.
»Aber wir sind rechtzeitig gekommen«, sagte sie.
»In der Anzeige stand 1776; wir haben noch Zeit, sie zu finden.«
Sie seufzte tief. »Ich bin so froh, daß du da bist. Ich hatte
solche Angst, daß du es herausfinden würdest, bevor ich
zurückkommen konnte, und ich wußte nicht, was du tun
würdest.«
»Genau das, was ich getan habe... Weißt du«,
sagte er in harmlosem Tonfall, »ich habe einen Freund mit einem
zweijährigen Kind. Er sagt, er würde nie im Leben Kindesmißbrauch
gutheißen - doch bei Gott, er weiß, was die Leute dazu bringt. Im
Augenblick denke ich genau dasselbe über Leute, die ihre Ehefrauen
schlagen.«
Das schwere Gewicht auf seiner Brust erzitterte
kurz vor Lachen.
»Was meinst du damit?«
Er fuhr ihr mit der Hand den Rücken entlang und
umfaßte ihre runde Pobacke. Sie trug keine Unterwäsche unter den
weiten Kniehosen.
»Ich meine, daß mir, wäre ich ein Mann dieser Zeit
und nicht meiner eigenen, nichts mehr Freude machen würde, als dir
meinen Gürtel ungefähr ein dutzendmal über den Hintern zu
ziehen.«
Sie schien das nicht für eine ernstzunehmende
Drohung zu halten. Er glaubte sogar, daß sie lachte.
»Da du aber kein Mann dieser Zeit bist, würdest du
es nicht tun? Oder würdest du es tun, aber es würde dir keine
Freude machen?«
»Oh, ich würde es genießen«, versicherte er ihr.
»Es gibt nichts, was ich lieber täte, als dich mit einem Stock zu
versohlen.«
Sie lachte tatsächlich.
In plötzlicher Wut schob er sie von sich und setzte
sich auf.
»Was ist denn mit dir los?«
»Ich dachte, du hättest einen anderen gefunden!
Deine Briefe während der letzten paar Monate… und dann der letzte.
Ich war mir ganz sicher. Deswegen würde ich dich am liebsten
schlagen - nicht, weil du mich angelogen hast oder fortgegangen
bist, ohne es mir zu sagen -, sondern weil du mich hast glauben
lassen, ich hätte dich verloren.«
Sie schwieg einen Moment lang. Ihre Hand kam aus
der Dunkelheit und berührte ganz sanft sein Gesicht.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Es war nie
meine Absicht, daß du das denkst. Ich wollte nur verhindern, daß du
es herausfindest - bis es zu spät war.« Sie wandte ihm den Kopf zu,
eine Silhouette im schwachen Licht der Straße außen vor ihrem
Versteck. »Wie hast du es herausgefunden?«
»Deine Kisten. Sie sind im College
angekommen.«
»Was? Aber ich habe ihnen doch gesagt, sie sollten
sie nicht vor Ende Mai abschicken, wenn du in Schottland sein
würdest!«
»Da wäre ich auch gewesen, wenn mich nicht in
letzter Minute diese Tagung in Oxford festgehalten hätte. Sie sind
einen Tag vor meiner Abreise angekommen.«
Licht überflutete sie plötzlich, und es wurde laut,
als sich die Tür der Wirtschaft öffnete und ein Knäuel von Gästen
auf die Straße spie. Stimmen und Schritte kamen erschreckend nah an
ihrem Versteck vorbei. Keiner von ihnen sagte ein Wort, bevor die
Geräusche nicht verstummt waren. Als die Stille wieder eingekehrt
war, hörte er, wie eine Kastanie durch die Blätter fiel und neben
ihm im Laub aufprallte.
Briannas Stimme war seltsam heiser.
»Du hast geglaubt, ich hätte einen anderen… und du
bist mir trotzdem gefolgt?«
Er seufzte und wischte sich das feuchte Haar aus
dem Gesicht. Seine Wut war genausoschnell verflogen, wie sie
gekommen war.
»Ich wäre auch gekommen, wenn du mit dem König von
Siam verheiratet wärst. Mensch, Frau!«
Sie war kaum mehr als ein bleicher, verschwommener
Fleck in der Dunkelheit; er sah die schnelle Bewegung, mit der sie
sich vorbeugte,
um die heruntergefallene Kastanie aufzuheben, und sich dann
hinsetzte und damit spielte. Schließlich holte sie ganz tief Luft
und atmete langsam wieder aus.
»Du hast von Leuten gesprochen, die ihre Ehefrauen
schlagen.«
Er hielt inne. Die Grillen waren wieder
verstummt.
»Du hast gesagt, du bist dir sicher. Hast du das
ernst gemeint?«
»Ja«, sagte sie leise.
»Damals in Inverness habe ich gesagt…«
»Du hast gesagt, du willst mich ganz - oder gar
nicht. Und ich habe gesagt, ich verstehe. Ich bin mir
sicher.«
Während ihres Ringkampfes war ihr das Hemd aus der
Hose gerutscht, und es umwehte sie locker in der schwachen, heißen
Brise. Er griff unter den flatternden Saum und traf auf ihre nackte
Haut, die bei seiner Berührung mit Gänsehaut überzog. Er zog sie an
sich, ließ seine Hände über ihren nackten Rücken und ihre Schultern
gleiten, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, an ihrem Hals,
erkundete sie, fragte sie mit seinen Händen - meinte sie es
ernst?
Sie legte die Hände auf seine Schultern und legte
sich zurück, drängte ihn. Ja, sie meinte es ernst. Er erwiderte
wortlos, indem er die Vorderseite ihres Hemdes öffnete und sie
auseinanderbreitete. Ihre Brüste waren weiß und nachgiebig.
»Bitte«, sagte sie. Ihre Hand lag auf seinem
Hinterkopf und zog ihn an sich. »Bitte!«
»Wenn ich dich jetzt nehme, dann ist es für immer«,
flüsterte er.
Sie atmete kaum, sondern verhielt sich völlig
reglos und ließ seine Hände wandern, wohin sie wollten.
»Ja«, sagte sie.
Die Kneipentür öffnete sich erneut, und sie
schraken auseinander. Er ließ sie los, stand auf und gab ihr die
Hand, um ihr aufzuhelfen. Dann stand er da, ihre Hand in der
seinen, und wartete, bis die Stimmen in der Ferne verklangen.
»Komm mit«, sagte er und bückte sich unter den
herabhängenden Zweigen hindurch.
Der Schuppen stand dunkel und still in einiger
Entfernung von der Wirtschaft. Sie blieben in der Nähe des Baumes
stehen und warteten, doch es kam kein Geräusch von der Rückseite
des Gasthauses; alle Fenster in der oberen Etage waren
dunkel.
»Ich hoffe, Lizzie ist ins Bett gegangen.«
Er fragte sich dumpf, wer Lizzie war, doch es
kümmerte ihn nicht. Auf diese Entfernung konnte er sie deutlich
sehen, obwohl ihr die
Nacht jegliche Farbe aus dem Gesicht wusch. Sie sah aus wie ein
Harlekin, dachte er; die weißen Wangenflächen von Blätterschatten
zerteilt und vom Dunkel ihrer Haare umrahmt, die Augen schwarze
Dreiecke über einem ausdrucksvollen Strichmund.
Er nahm ihre Hand in die seine, Handfläche an
Handfläche.
»Weißt du, was Handfasting ist?«
»Nicht genau. So etwas wie eine vorläufige
Heirat?«
»In etwa. Auf den Inseln und in den entlegeneren
Teilen der Highlands, da heiratete man in dieser Zeit per
Handschlag und war dann einander für ein Jahr und einen Tag
versprochen. Nach Ablauf dieser Frist suchen sie sich einen
Priester und heiraten für immer - oder sie gehen ihrer Wege.«
Ihre Hand spannte sich in der seinen an.
»Ich will nichts Kurzfristiges.«
»Ich auch nicht. Aber ich glaube nicht, daß wir so
leicht einen Priester finden. Hier gibt es noch keine Kirchen; der
nächste Priester ist wahrscheinlich in New Bern.« Er hob ihre
ineinander verschränkten Hände hoch. »Ich habe gesagt, ich will
dich ganz, und wenn dir nicht genug an mir liegt, um mich zu
heiraten…«
Ihre Hand drückte fest zu.
»Doch.«
»Gut.«
Er holte tief Luft und begann.
»Ich, Roger Jeremiah, nehme dich, Brianna Ellen, zu
meiner rechtmäßigen Ehefrau. Was mein ist, soll auch dein sein, mit
meinem Körper diene ich dir…«
Ihre Hand zuckte in der seinen, und seine Hoden
zogen sich zusammen. Wer auch immer diesen Schwur verfaßt hatte,
hatte genau gewußt, wovon er redete.
»…in Krankheit und in Gesundheit, in Reichtum und
in Armut, solange wir leben.«
Wenn ich so etwas schwöre, dann halte ich es
auch - koste es, was es wolle. Bedachte sie das gerade?
Sie ließ ihrer beider Hände gemeinsam sinken und
sprach mit großer Bedachtsamkeit.
»Ich, Brianna Ellen, nehme dich, Roger Jeremiah...«
Ihre Stimme war kaum lauter als das Klopfen seines eigenen Herzens,
doch er hörte jedes Wort. Ein Lufthauch durchwehte den Baum,
schüttelte die Blätter und spielte mit ihrem Haar.
»…solange wir beide leben.«
Diese Formulierung bedeutete jedem von ihnen jetzt
eine ganze
Menge mehr, als sie es noch vor ein paar Monaten vermocht hätte.
Die Passage durch die Steine war bestens geeignet, einem die
Zerbrechlichkeit des Lebens vor Augen zu führen.
Es folgte ein Moment der Stille, der nur vom
Rascheln der Blätter über ihnen und einem schwachen Stimmengemurmel
aus dem Schankraum der Kneipe unterbrochen wurde. Er hob ihre Hand
an seinen Mund und küßte sie auf den Knöchel des vierten Fingers,
wo eines Tages - so Gott wollte - ihr Ring sein würde.
Es war eher ein großer Schuppen als eine Scheune,
obwohl sich an der einen Seite ein Tier - ein Pferd oder Maultier -
in seiner Box regte. Ein starker, klarer Hopfenduft lag in der
Luft, ausreichend stark, um die milderen Gerüche nach Heu und Dung
zu übertönen; der Blaue Bulle braute sein eigenes Ale. Roger fühlte
sich betrunken, allerdings nicht vom Alkohol.
Der Schuppen war sehr dunkel, und sie zu entkleiden
war ihm Frustration und Freude zugleich.
»Und ich dachte immer, Blinde bräuchten Jahre, bis
sie einen guten Tastsinn entwickeln«, murmelte er. Der warme Atem
ihres Lachens streifte seinen Hals und ließ ihm seine Nackenhärchen
prickelnd zu Berge stehen.
»Bist du sicher, daß es nicht wie in dem Gedicht
mit den fünf Blinden und dem Elefanten ist?« sagte sie. Sie tastete
sich ebenfalls mit der Hand vor, fand die Öffnung seines Hemdes und
glitt hinein.
»›Nein, das Tier ist wie’ne Wand‹«, zitierte sie.
Ihre Finger krümmten sich und streckten sich wieder, während sie
neugierig die empfindliche Haut rund um seine Brustwarze
erkundeten. »Eine Wand mit Haaren. Himmel, sogar eine Wand mit
Gänsehaut.«
Sie lachte erneut, und er senkte den Kopf und fand
auf Anhieb ihren Mund, blind und zielsicher wie eine Fledermaus,
die sich im Flug eine Motte fängt.
»Amphora«, murmelte er gegen die breite, süße
Rundung ihrer Lippen. Seine Hände fuhren über den köstlichen
Schwung ihrer Hüften, umfaßten Glätte, kühl und fest, zeitlos und
elegant wie die Auswölbung einer antiken Keramik, die Überfluß
verhieß. »Wie eine griechische Vase. Gott, du hast den schönsten
Hintern!«
»Bratarsch, was?«
Er spürte, wie sie vibrierte, und ein zitterndes
Lachen ging von ihren Lippen auf die seinen und von dort in seinen
Blutkreislauf über wie eine Infusion. Ihre Hand glitt an seiner
Hüfte herab, und wieder hoch, die langen Finger knoteten den
Hosenlatz seiner Kniehose auf,
tasteten zuerst zögernd, dann zielstrebiger und zogen allmählich
sein Hemd hoch.
»›Nein, das Tier ist wie ein Seil‹… huch…«
»Hör auf zu lachen, verflixt.«
»…wie eine Schlange… nein… na ja, vielleicht eine
Kobra… Mann, wie würdest du das hier nennen?«
»Ich hatte mal einen Freund, der nannte es ›Mr.
Happy‹«, sagte Roger, dem schwindelig geworden war, »aber das ist
mir nicht ernsthaft genug.« Er faßte sie bei den Armen und küßte
sie erneut, lange genug, um weitere Vergleiche zu
unterbinden.
Sie zitterte immer noch, doch er glaubte
nicht, daß es vom Lachen kam. Er legte die Arme um sie und zog sie
fest an sich, wie immer einfach nur erstaunt über ihre Größe - noch
erstaunter jetzt, wo sie nackt war und diese komplexen Flächen aus
Knochen und Muskeln sich in seinen Armen ganz unmittelbar in
Gefühle verwandelten.
Er hielt inne, um Luft zu holen. Er war sich nicht
sicher, ob das Gefühl dem Ertrinken oder dem Bergsteigen näherkam,
doch was es auch immer war, ihnen stand nicht viel Sauerstoff zur
Verfügung.
»Du bist das erste Mädchen, das ich küssen kann,
ohne mich zu bücken«, sagte er, und verlegte sich auf Konversation,
weil er hoffte, so wieder zu Atem zu kommen.
»Oh, gut; wir wollen ja nicht, daß du einen steifen
Hals bekommst.« Das Zittern war in ihre Stimme
zurückgekehrt, und es war definitiv Gelächter, obwohl er glaubte,
daß es genauso durch ihre Nervosität wie durch ihre Belustigung
ausgelöst wurde.
»Ha ha«, sagte er und packte sie wieder, zum Teufel
mit dem Sauerstoff. Ihre Brüste waren hoch und rund und preßten
sich mit jener Mischung aus Weichheit und Festigkeit an seine
Brust, die ihn jedesmal so faszinierte, wenn er sie berührte. Eine
ihrer Hände glitt zögernd zwischen sie beide, vorsichtig, dann zog
sie sich wieder zurück.
Er konnte sich nicht dazu durchringen, ihren Kuß
auch nur so lange zu unterbrechen, daß er sich fertig ausziehen
konnte, doch er wölbte seinen Rücken, so daß sie ihm die Kniehose
über die Hüften schieben konnte. Sie war so weit, daß sie ihm in
einem Stoffhaufen um die Füße fiel, und er trat aus ihr heraus,
ohne Brianna loszulassen, und machte nur ein leises, kehliges
Geräusch, als ihre Hand wieder zwischen seine Beine wanderte.
Sie hatte Zwiebeln zu Abend gegessen. Die Blindheit
schärfte nicht nur den Tastsinn, sondern auch Geschmack und Geruch.
Er schmeckte gebratenes Fleisch, saures Ale und Brot. Und einen
schwachen, süßen Geschmack, den er nicht identifizieren konnte, der
ihn aber irgendwie
an grüne Wiesen mit wogendem Gras erinnerte. Schmeckte er ihn,
oder roch er ihn in ihrem Haar? Er konnte es nicht sagen; er schien
nicht mehr zwischen seinen Sinnen unterscheiden zu können, während
sich die Grenzen zwischen ihnen auflösten, er ihren Atem atmete,
ihr Herz schlagen fühlte, als läge es in seiner eigenen
Brust.
Sie hielt ihn etwas fester, als es ihm angenehm
war, und schließlich brach er den Kuß schwer atmend ab.
»Könntest du vielleicht einen Augenblick loslassen?
Du hast recht, es ist ein guter Haltegriff, aber es gibt bessere
Verwendungsmöglichkeiten dafür.«
Sie fiel auf die Knie, anstatt loszulassen.
Erschrocken wich Roger ein wenig zurück.
»Himmel, bist du sicher, daß du das machen willst?«
Er war sich nicht sicher, ob er hoffte, daß sie es wollte, oder
nicht. Ihr Haar kitzelte ihn an den Oberschenkeln, und sein Schwanz
bebte und sehnte sich danach, umfaßt zu werden. Gleichzeitig wollte
er sie aber auch nicht erschrecken oder anwidern.
»Möchtest du, daß ich es mache?« Ihre Hände liefen
an den Rückseiten seiner Oberschenkel hoch, zögerlich und kitzelnd.
Er konnte spüren, wie sich jedes Haar an seinem Körper aufrichtete,
von den Knien bis zur Taille. Er kam sich vor wie ein Satyr mit den
Beinen und der Ausdünstung eines Ziegenbocks.
»Na… ja. Aber ich habe seit Tagen nicht gebadet«,
sagte er und versuchte ziemlich verlegen zurückzuweichen. Er war
mit Gänsehaut überzogen, und es lag nicht an der Raumtemperatur,
daß er erschauerte.
»Du riechst gut«, flüsterte sie. »Wie ein großes
Tiermännchen.«
Er ergriff ihren Kopf heftig und vergrub seine
Finger in ihrem dicken, seidigen Haar.
»Stimmt nur zu genau«, flüsterte er. Ihre Hand
ruhte auf seinem Handgelenk, leicht und warm - Gott, war sie
warm!
Sein Griff lockerte sich, ohne daß er es
beabsichtigte; er spürte, wie ihr Haar im Herabfallen seine
Oberschenkel streifte, und dann dachte er nichts Zusammenhängendes
mehr, während ihm das gesamte Blut aus dem Gehirn wich und mit
Hochgeschwindigkeit gen Süden raste.
»Ach i ich?«
»Was?« Als sie sich ein paar Augenblicke später
zurückzog, tauchte er aus seinem Rausch auf und strich ihr das Haar
aus dem Gesicht.
»Ich habe gesagt, mach’ ich’s richtig?«
»Oh. Äh… ich glaube, schon.«
»Du glaubst es? Du bist dir nicht sicher?«
Brianna schien ihre Fassung
mit derselben Geschwindigkeit wiedergefunden zu haben, mit der
Roger die seine verlor; er konnte das unterdrückte Lachen in ihrer
Stimme hören.
»Also… nein«, sagte er. »Ich meine, ich habe noch
nie… das heißt, es hat noch niemand... ja, ich glaube schon.« Er
hatte ihren Kopf wiedergefunden und drängte sie sanft nach
vorn.
Er glaubte, daß sie ein tiefes Summgeräusch machte,
irgendwo tief in ihrer Kehle. Doch vielleicht war es auch sein
eigenes Blut, das durch seine geweiteten Venen brauste und in den
Staubecken heftig sprudelte, so wie das gefangene Wasser eines
Ozeans gegen die Felsen anstürmt. Noch eine Minute, und er würde
wie ein Springbrunnen losschießen.
Er wich zurück und zog sie hoch, bevor sie
protestieren konnte, dann drängte er sie zu Boden und auf den
Strohhaufen, auf den er ihre Kleider geworfen hatte.
Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt,
doch der Sternenschein, der durch das Fenster kam, war immer noch
so schwach, daß er nur ihre Formen und Umrisse sehen konnte, weiß
wie Marmor. Allerdings nicht kalt, überhaupt nicht kalt.
Mit einer Mischung aus Aufregung und Vorsicht
machte er sich seinerseits ans Werk; er hatte dies genau einmal
zuvor ausprobiert und hatte dabei die volle Dosis eines
Intimhygieneproduktes abbekommen, das wie die Blumen in der Kirche
seines Vaters am Sonntag roch - der beste Grund zum Abgewöhnen, den
er sich vorstellen konnte.
Brianna war nicht hygienisch. Ihr Geruch allein
reichte aus, um ihn so weit zu bringen, daß er am liebsten jedes
Vorgeplänkel vergessen und sich mit überschäumender Lust auf sie
gestürzt hätte.
Statt dessen holte er tief Luft und küßte sie knapp
über dem dunklen Lockenklecks.
»Verdammt«, sagte er.
»Was ist?« Sie klang etwas erschrocken. »Rieche ich
schrecklich?«
Er schloß die Augen und holte Luft. Ihm war ein
wenig schwindelig und er fühlte sich euphorisch vor Lust und
Lachen.
»Nein. Es ist nur so, daß ich mich seit über einem
Jahr frage, was für eine Farbe dein Haar hier hat.« Er zupfte sanft
an den Locken. »Und jetzt habe ich es genau vor der Nase und kann
es immer noch nicht sagen.«
Sie kicherte, und eine Vibration schüttelte ihren
Bauch leicht unter seiner Hand.
»Soll ich es dir sagen?«
»Nein, ich hebe mir die Überraschung für morgen
auf.« Er senkte den Kopf und machte sich ans Werk, diesmal erstaunt
über die Vielfalt der Gewebearten, die sich auf so engem Raum
fanden - glatt wie Glas, rauh und kitzelnd, nachgiebig wie Gummi
und dann die plötzliche, glitschige Schlüpfrigkeit, Moschus und
Tang und Salz zugleich.
Ein paar Sekunden später spürte er, wie sich ihre
Hände sanft auf seinen Kopf senkten, als wollte sie ihn segnen. Er
hoffte, daß seine Bartstoppeln ihr nicht wehtaten, doch es schien
ihr nichts auszumachen. Ein Zittern durchlief die warme Haut auf
ihren Oberschenkeln, und sie machte ein leises Geräusch, bei dem
ihm ein ähnliches Zittern pfeilschnell durch den Bauch fuhr.
»Mach ich’s richtig?« erkundigte er sich halb
scherzhaft und hob den Kopf.
»Oh, ja«, flüsterte sie. »Das tust du.« Ihre Hände
klammerten sich fester in sein Haar.
Er hatte den Kopf schon wieder halb gesenkt gehabt,
doch jetzt riß er ihn hoch und starrte über die dämmrigweißen
Flächen ihres Körpers zu dem bleichen Oval ihres Gesichtes
hoch.
»Und woher zum Teufel willst du das wissen?«
fragte er. Er bekam nur ein tiefes, gurgelndes Lachen zur Antwort.
Dann war er an ihrer Seite, ohne genau zu wissen, wie er dorthin
gekommen war, sein Mund auf ihrem Mund, sein Körper der Länge nach
an den ihren gepreßt, sich einzig ihrer Hitze bewußt, die wie
Fieber brannte.
Sie schmeckte nach ihm und er nach ihr, und Gott
steh ihm bei, er würde sich keine Zeit lassen können.
Und dann tat er es doch. Sie war begierig, aber
ungeschickt, versuchte, ihm ihre Hüften entgegenzuheben, berührte
ihn zu schnell, zu zaghaft. Er ergriff ihre Hände, eine nach der
anderen, und legte sie flach auf seine Brust. Ihre Handflächen
waren heiß, und seine Brustwarzen zogen sich zusammen.
»Spür’ mein Herz«, sagte er. Seine Stimme klang
belegt in seinen Ohren. »Sag mir, wenn es stehenbleibt.«
Er hatte es eigentlich nicht als Scherz gemeint und
war etwas erstaunt, als sie nervös lachte. Das Lachen verstummte,
als er sie berührte. Ihre Hände verkrampften sich auf seiner Brust;
dann spürte er, wie sie sich anspannte und ihre Beine für ihn
öffnete.
»Ich liebe dich«, murmelte er. »Oh, Brianna, ich
liebe dich so.«
Sie antwortete nicht, doch aus dem Dunkel trieb
eine Hand an die Oberfläche und legte sich sanft wie eine Alge auf
seine Wange. Sie ließ sie dort liegen, als er sie nahm, offen im
Vertrauen, während ihre andere Hand sein klopfendes Herz
hielt.
Er fühlte sich betrunkener als zuvor. Allerdings
nicht erschöpft oder schläfrig; nur wach und aufmerksam. Er konnte
seinen Schweiß riechen; er konnte ihren riechen, den leichten Hauch
von Furcht riechen, mit dem ihr Verlangen versetzt war.
Er schloß die Augen und holte Luft. Faßte sie
fester an den Schultern. Drückte sich langsam an sie. Glitt hinein.
Spürte, wie sie aufriß, und biß sich auf die Lippe, so fest, daß er
blutete.
Ihre Fingernägel gruben sich in seine Brust.
»Mach weiter!« flüsterte sie.
Ein scharfer, harter Stoß, und sie gehörte
ihm.
Er verweilte so, Augen geschlossen, atmend.
Balancierte am Rand des Vergnügens, der so scharf war, daß es
schmerzte. Er fragte sich dumpf, ob es ihr Schmerz war, den er
spürte.
»Roger?«
»Äh?«
»Bist du… sehr groß, was meinst du?« Ihre Stimme
war etwas zittrig.
»Äh…« Er rang um seine letzten zusammenhängenden
Gedanken. »Ungefähr normal.« Ein Blitz der Besorgnis schoß durch
seine Trunkenheit. »Tue ich dir sehr weh?«
»N-nein, eigentlich nicht. Nur… kannst du
vielleicht eine Minute stillhalten?«
»Eine Minute, eine Stunde. Mein Leben lang, wenn du
willst.« Er war überzeugt, daß ihn das Stillhalten umbringen würde,
und er wäre mit Freuden gestorben.
Ihre Hände fuhren ihm langsam den Rücken hinunter
und berührten seine Pobacken. Er erschauerte und senkte den Kopf,
die Augen geschlossen, und bemalte ihr Gesicht vor seinem inneren
Auge mit einem Dutzend sanfter, haltloser Küsse.
»Okay.« Sie flüsterte ihm ins Ohr, und wie ein
Automat begann er, sich zu bewegen, so langsam er konnte, und wurde
dabei vom Druck ihrer Hand auf seinem Rücken zurückgehalten.
Sie versteifte sich ein ganz kleines bißchen und
entspannte sich, versteifte und entspannte sich, er wußte, daß er
ihr wehtat, tat es wieder, er sollte besser aufhören, sie hob sich
ihm entgegen, nahm ihn, und da war ein tiefes, tierisches Geräusch,
das er gemacht haben mußte, jetzt, jetzt mußte es sein, er
mußte…
Zitternd und japsend wie ein gestrandeter Fisch riß
er sich von ihrem Körper los und lag auf ihr, spürte ihre Brüste an
ihn gedrückt, während er zuckte und stöhnte.
Dann lag er still, nicht länger betrunken, sondern
in einen schuldigen
Frieden gehüllt, und spürte ihre Arme um sich und den warmen Atem
des Flüsterns in seinem Ohr.
»Ich liebe dich«, sagte sie, und ihre Stimme klang
heiser in der hopfengeschwängerten Luft. »Bleib bei mir.«
»Mein Leben lang«, sagte er und legte seine Arme um
sie.
Sie lagen friedlich beieinander, vom Schweiß ihrer
Anstrengung zusammengeschmiedet, und lauschten dem Atem des
anderen. Schließlich regte Roger sich und erhob sein Gesicht aus
ihrem Haar. Seine Gliedmaßen waren gleichzeitig gewichtslos und
bleischwer.
»Alles in Ordnung, Schatz?« flüsterte er. »Habe ich
dir weh getan?«
»Ja, aber es hat mir nichts ausgemacht.« Ihre Hand
fuhr ihm sacht der Länge nach über den Rücken und ließ ihn trotz
der Hitze erschauern. »War es schön? Habe ich es richtig gemacht?«
Sie klang ein bißchen ängstlich.
»O Gott!« Er senkte den Kopf und küßte sie langsam
und ausgiebig. Sie verkrampfte sich ein wenig, doch dann gab ihr
Mund unter dem seinen nach.
»Dann war es also schön?«
»Oh, Himmel!«
»Du fluchst ja wirklich eine Menge für einen
Pastorensohn«, sagte sie mit einem schwachen Unterton der Anklage.
»Vielleicht hatten die alten Damen in Inverness ja recht und du
bist dem Teufel verfallen.«
»Das war keine Blasphemie«, sagte er. Er legte die
Stirn auf ihre Schulter und atmete ihren tiefen, satten Geruch ein,
ihrer beider Geruch. »Es war ein Dankgebet.«
Jetzt mußte sie lachen.
»Oh, also war es schön«, sagte sie, und die
Erleichterung in ihrem Ton war nicht zu überhören.
Er hob den Kopf.
»Himmel, ja«, sagte er und brachte sie erneut zum
Lachen. »Wie kannst du nur glauben, daß es nicht so war?«
»Na ja, du hast nichts gesagt. Du hast nur
dagelegen, als hätte dir jemand eins über den Schädel gebraten; ich
dachte, du wärst vielleicht enttäuscht.«
Jetzt war es an ihm zu lachen, das Gesicht halb an
ihrem feuchten, glatten Hals vergraben.
»Nein«, sagte er schließlich, als er zum Luftholen
auftauchte. »Wenn ein Mann sich so verhält, als wäre ihm die
Wirbelsäule entfernt worden, ist das ein gutes Zeichen für seine
Befriedigung. Vielleicht nicht das feinste Benehmen, aber
ehrlich.«
»Oh, okay.« Das schien sie zufriedenzustellen. »In
dem Buch hat nichts davon gestanden, aber das ist auch kein Wunder;
es hat sich nicht damit befaßt, was hinterher passiert.«
»Was denn für ein Buch?« Er bewegte sich
vorsichtig, und ihre Haut trennte sich mit einem Geräusch, als ob
man zwei Fliegenfänger auseinanderzieht. »Entschuldige die
Sauerei.« Er tastete nach seinem zusammengeballten Hemd und reichte
es ihr.
»Der sinnliche Mann.« Sie ergriff das Hemd
und betupfte sich kritisch. »Da stand eine Menge Zeug über
Eiswürfel und Schlagsahne drin, das ich ziemlich extrem fand, aber
es war gut zu wissen, wie man zum Beispiel Fellatio macht,
und…«
»Das hast du aus einem Buch gelernt?« Roger
fühlte sich so empört wie die Damen aus der Pfarre seines
Vaters.
»Du glaubst doch wohl nicht, daß ich das mit den
Leuten mache, mit denen ich ausgehe!« Jetzt war es an ihr, zutiefst
schockiert zu klingen.
»Die Leute schreiben Bücher, in denen sie jungen
Frauen sagen, wie man - das ist ja furchtbar!«
»Was ist denn daran furchtbar?»sagte sie ziemlich
eingeschnappt. »Woher hätte ich sonst wissen sollen, was ich tun
soll?«
Roger rieb sich mit der Hand über das Gesicht und
wußte nicht, was er sagen sollte. Wenn man ihn vor einer Stunde
gefragt hätte, hätte er felsenfest behauptet, für die sexuelle
Gleichberechtigung zu sein. Doch unter dem Furnier der Moderne war
offensichtlich genug vom Sohn des Presbyterianerpfarrers übrig
geblieben, daß er glaubte, eine nette, junge Frau sollte in ihrer
Hochzeitsnacht wirklich ahnungslos sein.
Roger unterdrückte diese viktorianischen Gedanken
tapfer, während er seine Hand über die glatten, weißen Rundungen
ihrer Hüfte und Seite gleiten ließ und dann ihre weiche, volle
Brust umfaßte.
»Nicht das geringste«, sagte er. »Allerdings«, fuhr
er fort und senkte den Kopf, um seine Lippen auf die ihren zu
legen, »ist noch ein bißchen mehr an der Sache«, und er knabberte
an ihrer Unterlippe, »als man in Büchern nachlesen kann,
aye?«
Sie bewegte sich plötzlich, drehte sich um, und
damit lag sie, weiß und glühend, der Länge nach an seiner nackten
Haut. Er erschauerte vom Schock der Berührung.
»Zeig’s mir«, flüsterte sie und biß ihn ins
Ohrläppchen.
Irgendwo in der Nähe krähte ein Hahn. Brianna
erwachte aus ihrem leichtem Halbschlaf und haderte mit sich selbst,
weil sie eingeschlafen
war. Sie fühlte sich orientierungslos, so müde vor Emotion und
Anstrengung, daß ihr zumute war, als schwebte sie einen halben
Meter über dem Boden.
Roger regte sich an ihrer Seite, als er ihre
Bewegung spürte. Er tastete nach ihr, legte einen Arm um sie,
drehte sie um und krümmte sich, um hinter sie zu passen; Knie an
Knie, Bauch an Po. Mit kleinen Pfft!-Geräuschen, die sie
sehr zum Lachen fand, strich er sich ihre Locken aus dem
Gesicht.
Er hatte dreimal mit ihr geschlafen. Sie war sehr
wund und sehr glücklich. Sie hatte es sich tausendmal vorgestellt
und sich jedesmal geirrt. Es war schier unmöglich, sich
vorzustellen, wie schreckenerregend unmittelbar es war, so genommen
zu werden - plötzlich über die Grenzen des eigenen Körpers hinweg
ausgedehnt zu werden, durchdrungen, zerrissen, eingenommen.
Und es war genauso unmöglich, sich das Gefühl der Stärke
vorzustellen, das man dabei empfand.
Sie hatte damit gerechnet, hilflos zu sein, ein
Objekt der Begierde. Statt dessen hatte sie ihn festgehalten,
gespürt, wie er vor Sehnsucht erzitterte, während er seine ganze
Kraft zurücknahm aus Angst, ihr wehzutun - und es ihr überließ, sie
zu entfesseln, wie es ihr gefiel. Es ihr überließ, ihn zu berühren,
zu erregen, ihn zu sich zu rufen, zu befehligen.
Auch hätte sie niemals geglaubt, daß eine solche
Zärtlichkeit möglich war, mit der er in ihren Armen aufschrie und
erzitterte, seine Stirn fest an die ihre preßte, ihr jenen Moment
anvertraute, in dem sich seine Stärke so plötzlich in Hilflosigkeit
verwandelte.
»Es tut mir leid«, sagte er leise in ihr Ohr.
»Was?« Sie langte hinter sich, streichelte seinen Oberschenkel. Das
konnte sie jetzt. Sie konnte ihn überall berühren, sich daran
erfreuen, wie sich sein Körper anfühlte, wie er schmeckte. Sie
konnte es kaum erwarten, daß es Tag wurde und sie ihn nackt sehen
konnte.
»Das hier.« Er machte eine kleine Geste mit der
Hand, die die Dunkelheit erfaßte, die sie umgab, und das harte
Stroh, auf dem sie lagen. »Ich hätte warten sollen. Ich hätte gern
gehabt, daß es für dich… gut ist.«
»Es war sehr gut für mich«, sagte sie leise. Eine
flache Furche lief an der Seite seines Oberschenkels entlang, dort,
wo sein Muskel eingekerbt war.
Er lachte ein wenig reuevoll.
»Ich wollte, daß du eine richtige Hochzeitsnacht
hast. Weiches Bett, saubere Laken… es hätte besser sein sollen,
dein erstes Mal.«
»Weiche Betten und saubere Laken habe ich schon
gehabt«, sagte
sie. »Aber nicht das hier.« Sie drehte sich in seinen Armen um,
griff nach unten und umfaßte ihn, die faszinierend veränderliche
Masse zwischen seinen Beinen. Er versteifte sich eine Sekunde lang
überrascht, dann entspannte er sich und ließ sie machen, was sie
wollte. »Es hätte nicht besser sein können«, sagte sie leise und
küßte ihn.
Er erwiderte den Kuß, langsam und lässig erkundete
er die Tiefen und Höhlungen ihres Mundes, während er ihr den seinen
überließ. Er stöhne leise, tief in seiner Kehle, und griff nach
unten, um ihre Hand wegzunehmen.
»O Gott, du bringst mich um, Brianna.«
»Tut mir leid«, sagte sie ängstlich. »Habe ich zu
fest zugedrückt? Ich wollte dir nicht wehtun.«
Darüber lachte er.
»Das doch nicht. Aber laß das arme Ding doch einen
Augenblick in Ruhe, hm?« Mit fester Hand drehte er sie wieder auf
die andere Seite und schmiegte seinen Kopf an ihre Schulter.
»Roger?«
»Mm?«
»Ich glaube, ich bin noch nie so glücklich
gewesen.«
»Aye? Na, das ist doch schön.« Er hörte sich
schläfrig an.
»Selbst wenn - wenn wir nicht zurückkommen, solange
wir zusammen sind, macht es mir nichts aus.«
»Wir kommen schon zurück.« Seine Hand legte sich um
ihre Brust, sanft wie eine Alge, die um einen Felsen geschmiegt zur
Ruhe kommt. »Ich habe dir doch gesagt, es gibt einen anderen
Weg.«
»Ja?«
»Ich glaube, schon.« Er erzählte ihr von dem
Grimoire, jener Mixtur aus sorgfältigen Notizen und verrücktem
Geschwafel - und von seiner eigenen Passage durch die Steine von
Craigh na Dun.
»Beim zweiten Mal habe ich an dich gedacht«, sagte
er leise, und spürte im Dunkeln mit dem Finger ihren Gesichtszügen
nach. »Ich hab’s überlebt. Und ich bin in der richtigen Zeit
rausgekommen. Aber der Diamant, den Fiona mir gegeben hat, war nur
noch eine Spur von Lampenruß in meiner Tasche.«
»Also könnte es möglich sein, irgendwie zu - zu
navigieren?« Brianna konnte den Hoffnungsschimmer in ihrer Stimme
nicht unterdrücken.
»Es könnte sein.« Er zögerte. »Da war ein - ich
nehme an, es muß ein Gedicht gewesen sein, oder vielleicht sollte
es ein Zauberspruch sein - in dem Buch.« Seine Hand fiel herab, als
er es aufsagte.
»Ich erhebe meine Klinge gen Norden,
Wo meine Macht daheim ist,
Gen Westen,
wo die Feuerstelle meiner Seele ist,
Gen Süden,
Wo Freundschaft und Zuflucht leben,
Gen Osten,
Von wo sich die Sonne erhebt.
Wo meine Macht daheim ist,
Gen Westen,
wo die Feuerstelle meiner Seele ist,
Gen Süden,
Wo Freundschaft und Zuflucht leben,
Gen Osten,
Von wo sich die Sonne erhebt.
Dann lege ich meine Klinge auf meinen
Altar.
Zwischen drei Flammen setze ich mich nieder.
Zwischen drei Flammen setze ich mich nieder.
Drei Punkte definieren eine Ebene, und ich bin
gebannt,
Vier Punkte umschließen die Erde, und mein ist ihre Fülle.
Fünf ist die schützende Zahl; auf daß kein Dämon mich aufhält.
Meine linke Hand ist mit Gold bekränzt
Und hält die Kraft der Sonne.
Meine rechte Hand ist in Silber gehüllt
Und der Mond regiert friedvoll.
Vier Punkte umschließen die Erde, und mein ist ihre Fülle.
Fünf ist die schützende Zahl; auf daß kein Dämon mich aufhält.
Meine linke Hand ist mit Gold bekränzt
Und hält die Kraft der Sonne.
Meine rechte Hand ist in Silber gehüllt
Und der Mond regiert friedvoll.
Ich beginne.
Granatsteine ruhen in Liebe um meinen Hals.
Ich werde die Treue bewahren.«
Granatsteine ruhen in Liebe um meinen Hals.
Ich werde die Treue bewahren.«
Brianna setzte sich hin und legte die Arme um ihre
Knie. Sie schwieg einen Augenblick.
»Das ist bekloppt«, sagte sie
schließlich.
»Eine staatlich geprüfte Irre zu sein, heißt
unglücklicherweise nicht, daß man automatisch unrecht hat«, sagte
Roger trocken. Er räkelte sich stöhnend und setzte sich im
Schneidersitz ins Stroh.
»Ein Teil davon ist ein traditionelles Ritual,
denke ich - da es eine Tradition der alten Kelten ist. Die Stellen
mit den Himmelsrichtungen; das sind die ›vier Winde‹, die sich
schon lange durch die keltischen Legenden ziehen. Was die Klinge,
den Altar und die Flammen angeht, das ist schlicht und ergreifend
Hexenkult.«
»Sie hat ihren Mann ins Herz gestochen und ihn
angezündet.« Brianna erinnerte sich immer noch genausogut wie er an
den Gestank nach Benzin und verbranntem Fleisch im Steinkreis von
Craigh na Dun, und sie erschauerte, obwohl es in dem Schuppen warm
war.
»Ich hoffe, wir werden nicht gezwungen sein, uns
auch ein Menschenopfer zu suchen«, sagte Roger, doch sein Versuch
zu scherzen
schlug fehl. »Aber das Metall und die Edelsteine… hattest du
irgendwelchen Schmuck an, als du durchgekommen bist,
Brianna?«
Sie nickte als Antwort.
»Dein Armband«, sagte sie leise. »Und ich hatte die
Perlenkette von meiner Großmutter in der Tasche. Aber den Perlen
ist nichts passiert; sie sind heil mit durchgekommen.«
»Perlen sind keine Edelsteine«, sagte er. »Sie sind
organisch - wie Menschen.« Er rieb sich mit der Hand über das
Gesicht; es war ein langer Tag gewesen, und sein Kopf begann zu
brummen. »Silber und Gold dagegen; du hattest das Silberarmband,
und an der Perlenkette sind nicht nur die Perlen, sondern da ist
auch Gold. Ah - und deine Mutter; sie hat auch Silber und Gold
getragen, oder? Ihre Eheringe.«
»Ah-hah. Aber ›drei Punkte definieren eine Ebene,
vier Punkte umschließen die Erde, fünf ist die schützende Zahl…‹«
murmelte Brianna vor sich hin. »Hat sie vielleicht gemeint, daß man
Edelsteine braucht, um - um das zu tun, was sie vorhatte? Sind das
die ›Punkte‹?«
»Könnte sein. Sie hatte Zeichnungen von Dreiecken
und Pentagrammen und Listen von verschiedenen Edelsteinen und deren
vermutlichen Zauberkräften. Sie hat sich nicht sehr detailliert
über ihre Theorien ausgebreitet - das brauchte sie ja auch nicht,
weil sie ein Selbstgespräch führte -, aber die Grundidee schien zu
sein, daß es Energielinien gibt - sie nannte sie Flurlinien -, die
in der Erdkruste verlaufen. Hier und dort verlaufen diese Linien
nah aneinander und verknoten sich sozusagen, und überall, wo ein
solcher Knoten ist, da ist eine Stelle, wo die Zeit im wesentlichen
nicht existiert.«
»Und wenn man in einen hineintritt, dann könnte
man… jederzeit wieder heraustreten.«
»Gleiche Stelle, andere Zeit. Und wenn man daran
glaubt, daß Edelsteine ihre eigenen Kraftfelder besitzen, die
vielleicht die Zeitlinien ein wenig verbiegen können…«
»Funktioniert das mit jedem Edelstein?«
»Weiß der Himmel«, sagte Roger. »Aber es ist unsere
einzige Chance, aye?«
»Ja«, pflichtete ihm Brianna nach einer Pause bei.
»Aber wo finden wir sie?« Sie schwenkte den Arm über die Stadt und
ihren Hafen. »Ich habe nirgendwo derartige Steine gesehen - weder
in Inverness noch hier. Ich glaube, man müßte in eine große Stadt
gehen - London oder vielleicht Boston oder Philadelphia. Und dann -
wieviel Geld hast du, Roger? Ich habe zwanzig Pfund
zusammengekratzt, und das meiste davon habe ich noch, aber es würde
auch nicht annähernd reichen für…«
»Genau«, unterbrach er. »Ich habe darüber
nachgedacht, als du geschlafen hast. Ich weiß - ich glaube, ich
weiß -, wo ich zumindest einen Stein herbekomme. Es ist nur…« Er
zögerte. »Ich muß sofort aufbrechen, wenn ich ihn finden will. Der
Mann, der ihn hat, ist im Moment in New Bern, aber da wird er nicht
lange bleiben. Wenn ich etwas von deinem Geld nehme, kann ich
morgen früh ein Boot nehmen und einen Tag später in New Bern sein.
Aber ich halte es für das Beste, wenn du hierbleibst. Dann…«
»Ich kann nicht hierbleiben!«
»Warum nicht?« Er tastete im Dunkeln nach ihr. »Ich
will nicht, daß du mitgehst. Oder vielmehr, natürlich will ich
das«, verbesserte er sich, »aber ich glaube, hier ist es viel
sicherer für dich.«
»Ich meine ja gar nicht, daß ich mit dir kommen
will; ich meine, ich kann nicht hierbleiben«, wiederholte sie,
während sie seine tastende Hand ergriff. Sie hatte es fast
vergessen, doch jetzt kehrte die Aufregung über ihre Entdeckung
wieder zurück. »Roger, ich habe ihn gefunden - ich habe Jamie
Fraser gefunden.«
»Fraser? Wo? Hier?« Er drehte sich erschrocken zur
Tür.
»Nein, er ist in Cross Creek, und ich weiß, wo er
am Montag sein wird. Ich muß da hin, Roger. Verstehst du das denn
nicht? Er ist so nah - und ich bin so weit gekommen.« Bei dem
Gedanken an ein Wiedersehen mit ihrer Mutter war ihr ganz plötzlich
unbegründet zum Weinen zumute.
»Aye, ich verstehe.« Roger klang nur schwach
begeistert. »Aber könntest du nicht ein paar Tage warten? Auf dem
Flußweg dauert es nur ungefähr einen Tag bis New Bern, und zurück
genauso - und ich glaube, ich schaffe das, was ich tun muß,
innerhalb von ein oder zwei Tagen.«
»Nein«, sagte sie. »Ich kann nicht. Lizzie ist
schließlich auch noch da.«
»Wer ist Lizzie?«
»Mein Dienstmädchen - du hast sie gesehen. Sie hat
Anstalten gemacht, mit einer Flasche auf dich loszugehen.« Brianna
grinste bei der Erinnerung. »Lizzie ist sehr tapfer.«
»Aye, das kann man wohl sagen«, sagte Roger
trocken. »Wie auch immer…«
»Aber sie ist krank«, unterbrach ihn Brianna. »Hast
du denn nicht gesehen, wie blaß sie ist? Ich glaube, es ist
Malaria; sie hat schreckliche Fieberanfälle mit Schüttelfrost, und
es dauert ungefähr einen Tag, dann hört es auf - und ein paar Tage
danach kommt es dann wieder. Ich muß so schnell wie möglich meine
Mutter finden. Ich muß.«
Sie konnte spüren, wie er mit sich rang und seine
Argumente hinunterschluckte. Sie streckte in der Dunkelheit die
Hand aus und streichelte sein Gesicht.
»Ich muß«, sagte sie leise und spürte, wie er sich
ergab.
»In Ordnung«, sagte er. »In Ordnung! Dann stoße ich
so schnell wie möglich zu euch. Aber tu mir den einen Gefallen,
aye? Zieh ein verdammtes Kleid an!«
»Gefallen dir etwa meine Hosen nicht?« Ihr
Gelächter sprudelte hoch wie die Bläschen im Mineralwasser - und
verstummte dann abrupt, als ihr ein Gedanke kam.
»Roger«, sagte sie. »Was du vorhast - wirst du den
Stein stehlen?«
»Ja«, sagte er schlicht.
Sie schwieg eine Minute lang, während sie mit ihrem
langen Daumen langsam über seine Handfläche rieb.
»Tu’s nicht«, sagte sie schließlich ganz leise.
»Tu’s nicht, Roger.«
»Mach dir keine Gedanken über den Mann, der ihn
hat.« Roger griff nach ihr, versuchte, sie zu beruhigen. »Es ist
ziemlich wahrscheinlich, daß er ihn selbst gestohlen hat.«
»Ich mache mir doch keine Gedanken über ihn -
sondern über dich!«
»Oh, ich schaff’ das schon«, versicherte er ihr
beiläufig mit gespielter Tapferkeit.
»Roger, in dieser Zeit werden Diebe
gehängt!«
»Mich kriegt keiner.« Seine Hand suchte im Dunkeln
nach der ihren, fand sie und drückte zu. »Ich bin wieder bei dir,
bevor du weißt, wie dir geschieht.«
»Aber es ist nicht…«
»Es klappt schon«, sagte er bestimmt. »Ich habe
doch gesagt, ich kümmere mich um dich, aye? Das tue ich
auch.«
»Aber…«
Er erhob sich auf seinen Ellbogen und brachte sie
mit seinem Mund zum Schweigen. Ganz langsam führte er ihre Hand zu
sich heran und preßte sie zwischen seine Beine.
Sie schluckte, und die Haare auf ihren Armen
sträubten sich plötzlich vor Vorfreude.
»Mm?« murmelte er gegen ihren Mund, und ohne eine
Antwort abzuwarten, zog er sie ins Stroh hinab, wälzte sich auf sie
und drängte mit dem Knie ihre Beine auseinander.
Sie schnappte nach Luft und biß ihn in die
Schulter, als er sie nahm, doch er machte kein Geräusch.
»Weißt du«, sagte Roger einige Zeit später
schläfrig, »ich glaube, ich habe gerade meine
Ur-ur-ur-ur-ur-Urgroßtante geheiratet. Ist mir nur gerade
eingefallen.«
»Du hast was?«
»Keine Sorge, es ist auch nicht ansatzhaft nah
genug, um Inzest zu sein«, versicherte er ihr.
»Oh, gut«, sagte sie mit einem gewissen Maß an
Sarkasmus. »Ich hatte mir wirklich schon Sorgen gemacht. Wie kann
ich denn um Himmels willen deine Großtante sein?«
»Na ja, wie ich gesagt habe; es war mir vorher
nicht aufgefallen. Aber der Onkel deines Vaters war Dougal
MacKenzie - und er ist es doch gewesen, der diesen ganzen Ärger
verursacht hat, weil er Geillis Duncan geschwängert hat,
aye?«
Eigentlich hatte ihn die unbefriedigende
Verhütungsmethode, die er gezwungenermaßen benutzen mußte, auf
diesen Gedanken gebracht, aber er hielt es für taktvoller, das
nicht zu erwähnen. Inzwischen konnte man ihre Hemden beide nicht
mehr anziehen. Bei Licht gesehen war es ihm ganz recht, daß Dougal
MacKenzie nicht so gewissenhaft gewesen war, denn damit hätte er
Rogers Existenz erfolgreich verhindert.
»Na ja, ich glaube nicht, daß es ganz allein
seine Schuld gewesen ist.« Auch Brianna hörte sich angenehm
schläfrig an. Bis zur Dämmerung konnte es nicht mehr lange dauern;
draußen regten sich bereits die ersten Vögel, und die Luft hatte
sich verändert, war frischer geworden, weil der Wind vom Hafen
hereinkam.
»Wenn also Dougal mein Großonkel ist und dein
sechsfacher Urgroßvater … nein, du hast dich geirrt. Ich bin
irgendwie deine Ur-Cousine, nicht deine Tante.«
»Nein, das würde stimmen, wenn wir Nachkommen in
derselben Generation wären, aber das sind wir nicht; bei dir sind
es ungefähr fünf weniger - zumindest väterlicherseits.«
Brianna schwieg und versuchte, es für sich selbst
auszutüfteln. Dann gab sie es auf, rollte sich leise stöhnend auf
die andere Seite und schmiegte ihren Hintern gemütlich in die
Höhlung seiner Oberschenkel.
»Zum Teufel damit«, sagte sie. »Solange du sicher
bist, daß es kein Inzest ist.«
Er drückte sie an seine Brust, doch sein
schläfriges Gehirn hatte verstanden, worum es ging, und der Gedanke
ließ ihn nicht los.
»Ich hatte wirklich nicht darüber nachgedacht«,
staunte er, »aber verstehst du, was es bedeutet? Ich bin auch mit
deinem Vater verwandt
- ich glaube sogar, er ist mein einziger lebender Verwandter außer
dir!« Diese Entdeckung verblüffte Roger durch und durch, und sie
bewegte ihn. Er hatte sich schon lange damit abgefunden, überhaupt
keine nahen Verwandten zu haben - nicht daß ein Großonkel der
siebten Generation ein besonders naher Verwandter war, aber…
»Nein, das ist er nicht«, murmelte Brianna.
»Was?«
»Nicht der einzige. Jenny auch. Und ihre Kinder.
Und Enkelkinder. Meine Tante Jenny ist deine - hm, vielleicht hast
du doch recht. Weil, wenn sie meine Tante ist, dann ist sie deine
Großtante um soundso viele Ecken, also bin ich vielleicht
deine… gahh.« Sie ließ ihren Kopf an Rogers Schulter zurückfallen,
und ihr Haar ergoß sich weich über seine Brust. »Was hast du ihnen
gesagt, wer du bist?«
»Wem?«
»Jenny und Ian.« Sie bewegte sich räkelnd. »Als du
in Lallybroch warst.«
»War nie da.« Er bewegte sich ebenfalls und paßte
seinen Körper dem ihren an. Seine Hand ließ sich in der Senke ihrer
Hüfte nieder, er schwebte in die Schläfrigkeit zurück, und er gab
die abstrakten Komplexitäten ahnenkundlicher Berechnungen zugunsten
direkterer Empfindungen auf.
»Nein? Aber…« Ihre Stimme erstarb. Benebelt vom
Schlaf und der Ermüdung der Lust achtete Roger nicht darauf,
sondern kuschelte sich nur mit einem genießerischen Stöhnen fester
an sie. Einen Augenblick später schnitt ihre Stimme durch seinen
persönlichen Nebel wie ein Messer durch Butter.
»Woher hast du gewußt, wo ich bin?« sagte
sie.
»Hm?«
Sie wand sich plötzlich, und er lag mit leeren
Armen da, während ein Paar dunkler Augen nur ein paar Zentimeter
von den seinen entfernt auftauchte, vor Argwohn zu Schlitzen
zusammengekniffen.
»Woher hast du gewußt, wo ich bin?« wiederholte sie
langsam, jedes Wort ein Eissplitter. »Woher hast du gewußt, daß ich
in die Kolonien gefahren war?«
»Äh… ich… warum…« Viel zu spät wurde ihm klar, in
welcher Gefahr er sich befand.
»Du konntest nicht wissen, daß ich Schottland
verlassen hatte«, sagte sie, »es sei denn, du bist nach Lallybroch
gegangen, und sie haben dir gesagt, wohin ich unterwegs war. Aber
du bist nie in Lallybroch gewesen.«
»Ich…« Er rang verzweifelt um eine Erklärung -
irgendeine Erklärung
-, doch es gab keine außer der Wahrheit. Und so, wie sich ihr
Körper versteifte, hatte sie das ebenfalls gefolgert.
»Du hast es gewußt«, sagte sie. Ihre Stimme war
kaum mehr als ein Flüstern, doch der Effekt war derselbe, als hätte
sie ihm ins Ohr gebrüllt. »Du hast es gewußt, nicht
wahr?«
Sie saß jetzt und ragte wie eine der Erinnyen über
ihm auf.
»Du hast die Notiz über ihren Tod gesehen!
Du hast es schon gewußt, du hast es die ganze Zeit gewußt, nicht
wahr?«
»Nein«, sagte er und versuchte, seine zerstreuten
Gedanken zu sammeln. »Ich meine, ja, aber…«
»Seit wann hast du es gewußt? Warum hast du es mir
nicht gesagt?« rief sie. Sie stand auf und griff nach dem
Kleiderhaufen unter ihnen.
»Warte«, bat er. »Brianna - laß es mich
erklären…«
»Ja, erklär’s mir! Das möchte ich hören, wie du das
erklärst!« Ihre Stimme war wutverzerrt, doch sie hielt einen Moment
in ihrer Suche inne und wartete ab, was er sagte.
»Hör mal.« Inzwischen hatte er sich gefangen. »Ich
habe die Notiz gefunden. Letztes Frühjahr. Aber ich…« Er holte tief
Luft, während er verzweifelt nach Worten suchte, die sie vielleicht
verstehen würde.
»Ich wußte, daß es dir wehtun würde. Ich wollte sie
dir nicht zeigen, weil ich wußte, daß es nichts gab, was du tun
konntest - es hätte keinen Sinn gehabt, dir das Herz zu brechen,
nur damit…«
»Was soll das heißen, nichts, was ich tun konnte?«
Sie zog sich ruckartig ein Hemd über den Kopf und sah ihn zornig
an, die Fäuste geballt.
»Du kannst die Dinge nicht ändern, Brianna! Weißt
du das denn nicht? Deine Eltern haben es versucht - sie wußten von
Culloden, und sie haben alles Menschenmögliche getan, um Charles
Stuart aufzuhalten - aber sie konnten es nicht, ist es nicht so?
Sie haben es nicht geschafft! Geillis Duncan hat versucht, Stuart
zum König zu machen. Sie hat es nicht geschafft! Sie haben es alle
nicht geschafft!« Er riskierte es, eine Hand auf ihren Arm zu
legen; sie war so steif wie eine Statue.
»Du kannst ihnen nicht helfen, Brianna«, sagte er
ruhiger. »Es ist ein Teil der Geschichte, es ist ein Teil der
Vergangenheit - du gehörst nicht zu dieser Zeit; du kannst das, was
sich ereignen wird, nicht ändern.«
»Das kannst du nicht wissen.« Sie war immer noch
unbeweglich, doch er glaubte, einen Anflug von Zweifel in ihrer
Stimme zu hören.
»O doch!« Er wischte sich eine Schweißperle vom
Kinn. »Hör’
doch - wenn ich geglaubt hätte, daß es auch nur die geringste
Chance gab - aber das habe ich nicht. Ich - Gott, Brianna, ich
konnte den Gedanken nicht ertragen, dir wehzutun!«
Sie stand still da und atmete schwer durch die
Nase. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann wäre es sicher Feuer und
Schwefel statt Luft gewesen.
»Es war nicht deine Sache, für mich zu
entscheiden«, preßte sie zwischen den Zähnen heraus. »Egal, was du
gedacht hast. Noch dazu über etwas so Wichtiges - Roger, wie
konntest du so etwas tun?«
Der enttäuschte Tonfall in ihrer Stimme war zuviel
für ihn.
»Verdammt, ich hatte Angst, du würdest genau das
tun, was du getan hast, wenn ich es dir sagen würde!« platzte er
heraus. »Daß du mich verlassen würdest! Daß du versuchen würdest,
allein durch die Steine zu gehen. Und jetzt sieh mal, was du
angerichtet hast - jetzt sind wir beide an diesem
gottverdammten…«
»Du versuchst, mir die Schuld dafür zu
geben, daß du hier bist? Wo ich doch alles getan habe, zu
verhindern, daß du so ein Idiot bist und mir folgst?«
Monate der Qual und des Schreckens, Tage der Sorge
und der fruchtlosen Suche fielen mit einem brennenden Schlag über
Roger her.
»Ein Idiot? Das ist der Dank dafür, daß ich mich
abschufte, um dich zu finden? Daß ich mein verdammtes Leben aufs
Spiel setze, um zu versuchen, dich zu beschützen?« Er erhob sich
aus dem Stroh, um nach ihr zu greifen, obwohl er nicht wußte, ob er
sie lieber durchrütteln oder erneut mit ihr schlafen sollte. Er
bekam keine Gelegenheit, auch nur irgend etwas zu tun; ein harter
Stoß traf ihn unerwartet mitten vor die Brust, und er fiel der
Länge nach ins Heu.
Sie hüpfte auf einem Fuß herum und fluchte
unzusammenhängend, während sie sich in ihre Kniehose kämpfte.
»Du - verdammt - arroganter - verdammt, Roger -,
verdammt!« Sie zerrte die Kniehose hoch, bückte sich und
schnappte sich ihre Schuhe und Strümpfe.
»Geh!« sagte sie. »Verdammt noch mal, geh! Geh und
laß dich aufhängen, wenn es dir Spaß macht! Ich finde meine Eltern!
Und ich rette sie auch!«
Sie rannte davon, erreichte das Tor und riß es auf,
bevor er sie einholen konnte. Einen Moment lang blieb sie stehen,
ein Umriß im bleicheren Rechteck des Tors, und ihre dunklen
Haarsträhnen wehten im Wind, so lebendig wie die Strähnen der Mähne
Medusas.
»Ich gehe. Komm mit, oder komm nicht mit, es ist
mir egal. Geh
zurück nach Schottland - geh von mir aus allein durch die Steine
zurück! Aber bei Gott, du kannst mich nicht aufhalten.«
Und dann war sie fort.
Lizzies Augenlider flogen weit auf, als die Tür
aufflog und gegen die Wand donnerte. Sie hatte nicht geschlafen -
wie hätte sie schlafen sollen? - und mit geschlossenen Augen
dagelegen. Sie kämpfte sich aus der Bettwäsche hoch und suchte nach
der Zunderschachtel.
»Alles in Ordnung, Miss Brianna?«
Es hörte sich nicht so an; Brianna stampfte hin und
her, zischte durch die Zähne wie eine Schlange, blieb stehen, um
dem Kleiderschrank einen mächtigen Tritt zu versetzen. Es knallte
noch zweimal in schneller Folge; im flackernden Licht der frisch
entzündeten Kerze konnte Lizzie sehen, daß Briannas Schuhe an der
Wand gelandet und zu Boden gefallen waren.
»Ist alles in Ordnung?« wiederholte sie
unsicher.
»Bestens!« sagte Brianna.
Aus der schwarzen Luft jenseits des Fensters
dröhnte eine Stimme: »Brianna! Ich komme und hole dich! Hörst du
mich? Ich werde kommen!«
Ihre Herrin gab keine Antwort, sondern rannte zum
Fenster, ergriff die Fensterläden und warf sie mit einem Krach zu,
der im Zimmer widerhallte. Dann drehte sie sich um wie ein
angreifender Panther und schleuderte den Kerzenständer zu Boden,
womit sie den Raum in erstickendes Dunkel tauchte.
Lizzie sank auf das Bett zurück und blieb erstarrt
liegen. Sie hatte Angst, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Sie
konnte hören, wie sich Brianna in stummer Hektik die Kleider vom
Leib riß und ihr zischendes Einatmen das Rascheln der Kleider und
das Stampfen ihrer nackten Füße auf dem Boden unterbrach. Durch die
Fensterläden hörte sie draußen unterdrückte Fluchgeräusche, dann
nichts mehr.
Einen Augenblick lang hatte sie Briannas Gesicht im
Licht gesehen; papierweiß und hart, die Augen schwarze Löcher. Ihre
sanfte, freundliche Herrin hatte sich in Luft aufgelöst, war von
einer deamhan, einer Teufelin, besessen. Lizzie war ein
Stadtmädchen, lange nach Culloden geboren. Sie hatte die wilden
Clansmänner der Täler nie gesehen, nie einen Highlander, der von
blinder Wut ergriffen war - doch sie hatte die alten Geschichten
gehört, und jetzt wußte sie, daß sie wahr waren. Ein Mensch, der so
aussah, war zu allem fähig.
Sie versuchte, so zu atmen, als schliefe sie, doch
die Luft entwich
ihrem Mund in erstickten Stößen. Brianna schien es nicht zu
bemerken; sie ging mit schnellen, festen Schritten im Zimmer umher,
goß Wasser in die Schüssel und spritzte es sich ins Gesicht, glitt
dann unter die Bettdecke und lag flach da, steif wie ein
Brett.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und wandte ihrer
Herrin den Kopf zu.
»Ist mit Euch… alles in Ordnung, a
bann-sielbheadair?« fragte sie so leise, daß ihre Herrin
vorgeben konnte, es nicht gehört zu haben, wenn sie wollte.
Einen Moment lang glaubte sie, daß Brianna
vorhatte, sie zu ignorieren. Dann kam die Antwort, »Ja«, mit so
flacher und ausdrucksloser Stimme, daß es sich überhaupt nicht wie
Brianna anhörte. »Schlaf jetzt.«
Natürlich tat sie das nicht. Niemand konnte
schlafen, wenn er neben jemandem lag, der sich jeden Augenblick in
einen ursiq verwandeln konnte. Ihre Augen hatten sich wieder
an die Dunkelheit gewöhnt, doch sie fürchtete sich hinzusehen,
falls das rote Haar, das neben ihr auf dem Kissen lag, plötzlich zu
einer Mähne wurde und sich die schlanke, gerade Nase in eine runde,
schwarze Schnauze verwandelte, voller Zähne, die sie reißen und
verschlingen würden.
Es dauerte einige Augenblicke, bis Lizzie begriff,
daß ihre Herrin zitterte. Sie weinte nicht; sie machte kein
Geräusch - doch sie schüttelte sich so heftig, daß die Bettwäsche
raschelte.
Dummkopf, schalt sie sich selbst. Es ist
nur deine Freundin und Herrin, und ihr ist etwas Schreckliches
zugestoßen - und du liegst hier und machst dir etwas vor!
Impulsiv drehte sie sich zu Brianna um und ergriff
die Hand des anderen Mädchens.
»Brianna«, sagte sie leise. »Kann ich irgendwie
helfen?«
Briannas Hand schloß sich um die ihre und drückte
zu, schnell und fest, dann ließ sie los.
»Nein«, sagte Brianna leise. »Schlaf jetzt, Lizzie;
es wird alles gut.«
Lizzie erlaubte sich, das zu bezweifeln, sagte aber
nichts mehr, sondern legte sich wieder auf den Rücken und atmete
ruhig durch. Es dauerte sehr lange, doch schließlich lief ein
sanfter Schauer durch Briannas langen Körper, und sie entspannte
sich und schlief ein. Lizzie konnte nicht schlafen - jetzt, wo das
Fieber vorbei war, war sie hellwach und unruhig. Die Bettdecke lag
schwer und feucht auf ihr, und da die Fensterläden geschlossen
waren, fühlte sich die Luft in dem Zimmer an, als atmete man heiße
Melasse ein.
Schließlich konnte sie es nicht mehr aushalten und
schlüpfte vorsichtig
aus dem Bett. Während sie auf Geräusche hinter ihr lauschte,
schlich sie zum Fenster und öffnete die Läden.
Die Luft vor dem Fenster war immer noch heiß und
drückend, doch sie hatte angefangen, sich ein wenig zu bewegen; der
Morgenwind kam, als sich der Luftzug von der See zum Land drehte.
Es war immer noch dunkel, doch der Himmel fing ebenfalls an, heller
zu werden; sie konnte die Straße unter sich als Linie ausmachen.
Gott sei Dank war sie leer.
Da sie nicht wußte, was sie sonst tun sollte,
machte sie das, was sie immer tat, wenn sie sich sorgte oder
verwirrt war; sie begann, Ordnung zu machen. Sie bewegte sich still
durch das Zimmer, hob die Kleider auf, die Brianna so stürmisch
abgelegt hatte, und schlug sie aus.
Sie waren schmutzig; mit Laubflecken und
Schmutzstreifen übersät und voller Strohhälmchen; das konnte sie
sogar im gedämpften Licht des beginnenden Morgens sehen. Was hatte
Brianna getan, daß sie sich so auf dem Boden gewälzt hatte? Im
selben Moment, als ihr der Gedanke kam, sah sie es vor sich, so
deutlich, daß sie vor Schrecken erstarrte - Brianna, zu Boden
gedrückt, im Kampf mit dem schwarzen Teufel, der sie mitgenommen
hatte.
Ihre Herrin war eine kräftige, hochgewachsene Frau,
aber dieser MacKenzie war ein Kerl wie ein Baum; er konnte - sie
bremste sich abrupt, denn sie wollte es sich nicht ausmalen. Doch
sie konnte es nicht verhindern; ihre Gedanken waren bereits zu weit
gegangen.
Sehr widerstrebend hob sie das Hemd an ihre Nase
und roch daran. Ja, da war er, der Geruch des Mannes, kräftig und
säuerlich wie die Ausdünstung eines brünstigen Ziegenbockes. Die
Vorstellung, daß dieses hinterlistige Ungetüm seinen Körper an
Briannas preßte, sich an ihr rieb, seinen Geruch auf ihr hinterließ
wie ein Hund, der sein Revier markiert - sie erschauerte vor
Abscheu.
Zitternd ergriff sie die Kniehose und die Strümpfe
und trug sämtliche Kleidungsstücke zur Waschschüssel. Sie würde sie
waschen, MacKenzies Spuren zusammen mit dem Schmutz und den
Grasflecken wegspülen. Und wenn die Kleider später so feucht waren,
daß ihre Herrin sie nicht anziehen konnte… nun, um so besser.
Sie hatte immer noch das Töpfchen mit der weichen,
gelben Seife, das die Wirtin ihr für die Wäsche gegeben hatte;
damit würde es gehen. Sie tauchte die Kniehose ins Wasser, fügte
eine Fingerspitze voll Seife hinzu und fing an, sie kräftig
einzuschäumen, indem sie die Seife fest in den Stoff knetete.
Das Fensterquadrat erhellte sich. Sie warf einen
verstohlenen Blick über die Schulter auf ihre Herrin, doch Brianna
atmete langsam und gleichmäßig; gut, sie würde noch eine Zeitlang
schlafen.
Sie blickte wieder auf ihre Arbeit und erstarrte.
Sie spürte einen Schauer, der kälter war als diejenigen, die mit
dem Fieber kamen. Die kleinen Schaumbläschen, die ihre Hände
bedeckten, waren dunkel, und kleine, schwarze Strudel breiteten
sich im Wasser aus wie die Tintenspritzer eines Kuttelfischs.
Sie hätte lieber nicht hingesehen, doch es war zu
spät, um so zu tun, als hätte sie nichts gesehen. Sie drehte den
feuchten Stoff vorsichtig um, und da war es; ein großer, dunkler
Fleck, der den Stoff genau an der Stelle verfärbte, an der sich die
Nähte im Schritt der Hose trafen.
Die aufgehende Sonne ließ ein dumpfes Rot durch den
bedeckten Himmel sickern und tauchte das Wasser in der Schüssel,
die Luft im Zimmer, die ganze kreisende Welt, in die Farbe frischen
Blutes.