58
Lord John kehrt zurück
River Run, März 1770
Phaedre hatte ihr ein Kleid gebracht, eins von
Jocastas Gewändern, gelbe Seide, sehr weiter Rock.
»Heute abend haben wir bessere Gesellschaft als nur
den alten Mr. Cooper oder den Anwalt Forbes«, sagte Phaedre voller
Genugtuung. »Wir kriegen’nen echten, lebendigen Lord, was
sagt Ihr dazu?«
Sie ließ eine gigantische Stoffladung auf das Bett
sinken und begann, an den rauschenden Wogen herumzuzupfen, wobei
sie Anweisungen erteilte wie ein Ausbildungsoffizier.
»Also, ausziehen und das Korsett hier anziehen. Ihr
braucht was Kräftigeres, um den Bauch flachzudrücken. Nur’ne
Hinterwäldlerin läßt sich ohne Korsett sehen. Wär’ Eure Tante nicht
blind wie’n Maulwurf, sie hätt’ Euch schon lange anständig
ausstaffiert - schon lange. Dann die Strümpfe und
Strumpfbänder anziehen - sind die nicht hübsch? Das Paar mit den
kleinen Blättchen drauf hat mir schon immer gefallen - dann binden
wir die Unterröcke um, und dann…«
»Was für ein Lord?« Brianna ergriff das Korsett,
das ihr entgegengehalten wurde, und sah es stirnrunzelnd an. »Mein
Gott, was ist das, Walfischbein?«
»Hm-mm. Bei Miss Jo gibt’s kein billiges Blech oder
Eisen, ganz bestimmt nicht.« Phaedre wühlte wie ein Terrier in den
Kleidungsstücken herum und brummte stirnrunzelnd vor sich hin. »Wo
ist denn das Strumpfband hin?«
»Ich brauche das nicht. Und was ist das für ein
Lord, der da kommt?«
Phaedre richtete sich auf und starrte Brianna über
die Falten aus gelber Seide hinweg an.
»Braucht das nicht?« sagte sie mißbilligend. »Mit
einem Sechsmonatsbauch? Wie stellt Ihr Euch das vor, Mädchen, ganz
aufgequollen zum Abendessen gehen, und ein Lord sitzt bei der Suppe
und glotzt Euch durch sein Monokel an?«
Bei dieser Beschreibung mußte Brianna einfach
lächeln, doch sie antwortete trotzdem mit beträchtlicher
Trockenheit.
»Was macht das schon für einen Unterschied? Der
ganze Distrikt weiß doch inzwischen, daß ich ein Baby bekomme. Es
würde mich nicht wundern, wenn dieser Wanderprediger - Mr.
Urmstone, nicht wahr? - schon eine Predigt im Hinterland über mich
gehalten hätte.«
Phaedre lachte kurz auf.
»Hat er«, sagte sie. »Vorletzten Sonntag. Mickey
und Drusus sind dagewesen - sie fanden es sehr komisch, aber Eure
Tante nicht. Sie hat ihm den Anwalt Forbes auf den Hals geschickt,
um ihn wegen Verleumdung anzuklagen, aber der alte Reverend
Urmstone, er hat gesagt, wenn’s stimmt, ist’s keine
Verleumdung.«
Brianna starrte das Dienstmädchen an.
»Und was genau hat er über mich gesagt?«
Phaedre schüttelte den Kopf und kramte weiter in
dem Kleid herum.
»Das wollt Ihr gar nicht wissen«, sagte sie
finster. »Aber wie auch immer, ob es der Distrikt weiß, ist nicht
dasselbe, wie wenn Ihr Euren Bauch im Speisesaal spazierentragt und
Seiner Lordschaft jeden Zweifel nehmt, also zieht Ihr das Korsett
an.«
Ihr autoritärer Ton ließ keine Diskussion zu.
Brianna kämpfte sich widerwillig in das steife Kleidungsstück und
ließ es sich von Phaedre fest zuschnüren. Ihre Taille war immer
noch schlank, und die verbleibende Wölbung würde problemlos von dem
weiten Rock und den Unterröcken verhüllt werden.
Sie starrte ihr Spiegelbild an, und Phaedres
dunkler Kopf nickte neben ihren Oberschenkeln auf und ab, während
das Dienstmädchen die grünen Seidenstrümpfe zu ihrer Zufriedenheit
befestigte. Sie konnte nicht atmen, und es konnte nicht gut
für das Baby sein, wenn es so eingequetscht wurde. Das Korsett
wurde vorn geschnürt; sobald Phaedre sie alleinließ, würde sie es
öffnen. Zum Teufel mit Seiner Lordschaft, wer auch immer er
war.
»Und wer ist dieser Lord, der zum Abendessen
kommt?« fragte sie zum dritten Mal, während sie gehorsam in den
Bausch aus gestärktem, weißem Leinen hineintrat, den Phaedre ihr
hinhielt.
»Das ist Lord John William Grey von der
Mount-Josiah-Plantage in Virginia.« Phaedre rollte die Silben mit
großem Pomp, obwohl die unglückliche Kürze und Schlichtheit der
Namen des Lords sie sehr zu enttäuschen schien. Brianna wußte, daß
sie einen Lord FitzGerald Vanlandingham Walthamstead bevorzugt
hätte, wenn sie ihn hätte haben können.
»Ein Freund von Eurem Papa, sagt jedenfalls Miss
Jo«, fügte das
Dienstmädchen etwas prosaischer hinzu. »Da, so ist’s gut. Ein
Glück, daß Ihr hübsche Brüste habt, das Kleid ist dafür wie
geschaffen.«
Brianna hoffte, dies würde nicht bedeuten, daß das
Kleid ihre Brüste nicht bedecken würde; die Korsettstangen endeten
kurz darunter und schoben sie nach oben, so daß sie erschreckend
hoch aufragten wie etwas, das über den Rand eines Topfes quillt.
Ihre Brustwarzen starrten sie im Spiegel an, tiefdunkel verfärbt
wie Himbeerwein.
Doch es war nicht die Sorge darüber, welche
Rundungen sie entblößte, die sie dazu brachte, Phaedres letzte
schwungvolle Handgriffe zu ignorieren; es war das beiläufige Ein
Freund von Eurem Papa.
Es war keine große Gesellschaft; bei Jocasta gab
es selten große Gesellschaften. Da sie sich in bezug auf
gesellschaftliche Untertöne nur auf ihre Ohren verlassen konnte,
riskierte sie keine Menschenmengen. Dennoch befanden sich mehr
Leute als üblich im Empfangszimmer; Anwalt Forbes natürlich mit
seiner unverheirateten Schwester; Mr. MacNeill und sein Sohn,
Richter Alderdyce und seine Mutter, ein paar von Farquard Campbells
unverheirateten Söhnen. Aber niemand, der nach Phaedres Lordschaft
ausgesehen hätte.
Brianna lächelte säuerlich vor sich hin. »Sollen
sie doch schauen«, murmelte sie und richtete sich gerade auf, so
daß ihr Bauch sich stolz vorwölbte und unter der Seide glänzte. Sie
klopfte ihn ermutigend.«Na komm, Osbert, dann wollen wir uns mal in
Gesellschaft begeben.«
Ihr Eintreten wurde von einem allgemeinen Ausruf
der Herzlichkeit begrüßt, bei dem sie sich ein wenig für ihren
Zynismus schämte. Diese Männer und Frauen meinten es gut, Jocasta
eingeschlossen; und schließlich waren nicht sie an der
Situation schuld.
Trotzdem genoß sie den leicht schockierten
Ausdruck, den der Richter zu verbergen suchte, und das allzusüße
Lächeln im Gesicht seiner Mutter, als ihre kleinen
Papageienknopfaugen Osberts unübersehbare, ungehemmte Anwesenheit
registrierten. Jocasta würde sie vielleicht anbieten, doch die
Mutter des Richters würde dankend ablehnen, kein Zweifel. Brianna
begegnete ihrerseits Mrs. Alderdyces Blick mit einem betont
vergnügten Lächeln.
Mr. MacNeills wettergegerbtes Gesicht zuckte sacht
vor Belustigung, doch er verbeugte sich ernst und erkundigte sich
ohne die geringste Spur von Verlegenheit nach ihrem Wohlbefinden.
Was Anwalt Forbes anging - falls ihm irgendein Mangel an ihrer
Erscheinung auffiel, so zog er den Schleier seiner professionellen
Diskretion darüber und begrüßte sie auf seine übliche, liebreizende
Weise.
»Ah, Miss Fraser!« sagte er. »Auf Euch haben wir
gewartet. Mrs. Alderdyce und ich waren gerade in eine
freundschaftliche Auseinandersetzung über eine Frage der Ästhetik
vertieft. Bei Eurem Instinkt für alles Schöne wäre mir Eure Meinung
besonders wertvoll, falls Ihr geneigt wärt, sie mir mitzuteilen.«
Er ergriff ihren Arm und zog sie glattweg an seine Seite - fort von
MacNeill, dessen buschige Augenbraue in ihre Richtung zuckte, der
aber keine Anstalten machte, einzuschreiten.
Er führte sie zum Kamin, wo vier kleine Kästchen
auf dem Tisch standen. Indem er feierlich deren Deckel abnahm,
enthüllte der Anwalt nacheinander vier Edelsteine, jeder von der
Größe einer frischen Erbse, jeder auf ein dunkelblaues Samtkissen
gebettet, um seine Leuchtkraft besser zu betonen.
»Ich habe vor, einen dieser Steine zu erwerben«,
erklärte Forbes. »Um ihn in einen Ring zu fassen. Ich habe sie aus
Boston kommen lassen.« Er grinste Brianna breit an, denn er stand
offensichtlich unter dem Eindruck, daß er die Konkurrenz hinter
sich gelassen hatte - und dem schwachen Funkeln in MacNeills
Gesicht nach hatte er das wirklich.
»Sagt mir, meine Teuerste - welchen bevozugt Ihr?
Den Saphir, den Smaragd, den Topas oder den Diamanten?« Mit
stolzgeschwellter Brust über seine eigene Gewitztheit sank er auf
seine Absätze zurück.
Zum ersten Mal in ihrer Schwangerschaft spürte
Brianna einen kurzen Anflug von Übelkeit. Ihr Kopf fühlte sich
leicht und schwindelig an, und ihre Fingerspitzen waren taub und
kribbelten.
Saphir, Smaragd, Topas, Diamant. Und der Ring ihres
Vaters enthielt einen Rubin. Fünf Steine der Macht, die Spitzen des
Pentagramms der Reisenden, die eine sichere Passage garantierten.
Für wie viele? Unbewußt breitete sie schützend eine Hand über ihren
Bauch.
Sie erkannte die Falle, in die Forbes sie zu locken
gedachte. Wenn sie eine Entscheidung traf, würde er ihr auf der
Stelle den ungefaßten Stein schenken, ein öffentlicher Antrag, der
- so dachte er - sie entweder dazu zwingen würde, augenblicklich
einzuwilligen, oder dazu, durch ihre direkte Ablehnung eine
unangenehme Szene zu verursachen. Gerald Forbes verstand wirklich
nichts von Frauen, dachte sie.
»Ich - äh - ich möchte nicht gern meine eigene
Meinung kundtun, ohne nicht zuerst Mrs. Alderdyces Entscheidung zu
hören«, sagte sie und drängte der Mutter des Richters ein
freundliches Lächeln und ein Kopfnicken auf. Diese sah zugleich
überrascht und dankbar aus, daß man so auf sie zählte.
Briannas Magen ballte sich zusammen, und sie
wischte sich unauffällig die verschwitzten Hände an ihrem Rock ab.
Da waren sie,
alle am selben Ort - die vier Steine, von denen sie gedacht hatte,
es würde ein Leben lang dauern, sie zu finden.
Mrs. Alderdyce stieß gerade ihren arthritischen
Finger in Richtung des Smaragds und erklärte die Vorzüge ihrer
Wahl, doch Brianna achtete nicht darauf, was die Frau sagte. Sie
sah Anwalt Forbes an, dessen rundes Gesicht immer noch
Selbstzufriedenheit widerspiegelte. Ein plötzlicher, wilder Impuls
stieg in ihr auf.
Wenn sie ja sagte, jetzt, heute nacht, solange er
noch alle vier Steine hatte …würde sie sich dazu durchringen
können? Ihn zu umgarnen, ihn zu küssen, ihn in Sicherheit zu wiegen
- und dann die Steine zu stehlen?
Ja, das würde sie. Und was dann? Mit ihnen in die
Berge flüchten? Jocasta blamiert und den Distrikt in Aufruhr
zurücklassen, weglaufen und sich verstecken wie eine gemeine
Diebin? Und wie sollte sie zu den Westindischen Inseln gelangen,
bevor das Baby kam? Sie rechnete im Kopf nach und wußte genau, daß
es Wahnsinn war, und dennoch - es war zu schaffen.
Die Steine glitzerten und funkelten, Versuchung und
Erlösung. Alle waren nähergetreten, um einen Blick auf sie zu
werfen, die Köpfe unter bewunderndem Gemurmel über den Tisch
gebeugt, und sie selbst fand sich für den Augenblick
unbeachtet.
Sie konnte sich verstecken, dachte sie, während
sich die Schritte des Plans unausweichlich vor ihrem inneren Auge
entfalteten, ohne daß sie es wirklich wollte. Ein Pferd stehlen,
sich durch das Yadkintal ins Hinterland durchschlagen. Trotz der
Nähe des Feuers zitterte und fror sie bei dem Gedanken an eine
Flucht durch den winterlichen Schnee. Doch ihr Verstand arbeitete
weiter.
Sie konnte sich in den Bergen verstecken, im
Blockhaus ihrer Eltern, und warten, bis sie mit Roger
zurückkehrten. Falls sie zurückkehrten. Falls sie Roger
mitbrachten. Ja, und was, wenn das Baby vorher kam und sie dort auf
dem Berg war, ganz allein, ohne irgend jemanden oder irgend etwas,
das ihr helfen konnte, außer einer Handvoll gestohlenem
Glitter?
Oder sollte sie unverzüglich nach Wilmington reiten
und sich ein Schiff zu den Westindischen Inseln suchen? Wenn
Jocasta recht hatte, dann würde Roger nie mehr zurückkehren.
Opferte sie gerade ihre einzige Chance zur Rückkehr, um auf einen
Mann zu warten, der tot war - oder der, wenn er nicht tot war, sie
und das Kind vielleicht abweisen würde?
»Miss Fraser?«
Anwalt Forbes wartete, vor Erwartung
aufgeblasen.
Sie holte tief Luft und spürte, wie ihr unter den
gelösten Korsettstangen der Schweiß zwischen den Brüsten
hinunterlief.
»Sie sind alle wunderschön«, sagte sie, überrascht
darüber, wie kühl sie das sagen konnte. »Ich finde es unmöglich,
zwischen ihnen zu wählen - aber ich habe auch keine besondere
Vorliebe für Edelsteine. Ich habe einen sehr schlichten Geschmack,
fürchte ich.«
Sie sah, wie ein Lächeln in Mr. MacNeills Gesicht
aufflackerte und Forbes’ runde Wangen tiefrot anliefen, doch sie
kehrte den Steinen mit einem höflichen Wort den Rücken.
»Ich denke, wir werden nicht mit dem Essen warten«,
murmelte Jocasta ihr ins Ohr. »Falls Seine Lordschaft aufgehalten
wurde …«
Wie auf ein Stichwort erschien Ulysses in der Tür,
elegant in voller Livree, wohl um das Abendessen anzukündigen. Doch
statt dessen sagte er in seiner wohlklingenden Stimme, die
problemlos das Geplapper übertönte, »Lord John Grey, Ma’am«, und
trat beiseite.
Jocasta stieß einen Seufzer der Genugtuung aus und
drängte Brianna vorwärts auf die schlanke Gestalt zu, die in der
Tür stand.
»Gut. Du wirst seine Tischgenossin sein,
Liebe.«
Brianna warf noch einen Blick auf den Tisch am
Kamin, doch die Steine waren fort.
Lord John überraschte sie. Sie hatte ihre Mutter
von Lord John Grey erzählen hören - dem Soldaten, dem Diplomaten,
dem Edelmann - und eine hochgewachsene und imposante Persönlichkeit
erwartet. Statt dessen war er fast einen Kopf kleiner als sie,
feinknochig und schmal, mit großen, schönen Augen und von einer
hellhäutigen Attraktivität, die nur durch den bestimmten Ausdruck
von Mund und Kinn vor der Mädchenhaftigkeit bewahrt wurde.
Er hatte bei ihrem Anblick erschrocken ausgesehen -
das taten viele Menschen, die über ihre Größe verblüfft waren -,
hatte sich dann aber daran gemacht, seinen beträchtlichen Charme
einzusetzen, ihr amüsante Reiseanekdoten erzählt, die beiden
Gemälde bewundert, die Jocasta an die Wand gehängt hatte, und den
gesamten Tisch mit Neuigkeiten über die politische Lage in Virginia
für sich gewonnen.
Was er nicht erwähnte, war ihr Vater, und dafür war
sie ihm dankbar.
Brianna lauschte Miss Forbes’ Beschreibungen der
Bedeutung ihres Bruders mit einem abwesenden Lächeln. Sie kam sich
mehr und mehr so vor, als ertränke sie in einem Meer von guten
Absichten. Konnten sie sie nicht in Ruhe lassen? Konnte Jocasta
nicht einmal soviel Anstand haben, ein paar Monate zu warten?
»…und dann ist da noch diese kleine Sägemühle, die
er gerade gekauft hat, oben in Averasboro. Liebe Güte, wie der Mann
das alles schafft, ich kann es gar nicht sagen!«
Nein, sie konnten es nicht, dachte sie ein wenig
verzweifelt. Sie konnten sie nicht in Ruhe lassen. Sie waren
Schotten, freundlich, aber praktisch veranlagt und von der eisernen
Überzeugung, daß sie im Recht waren - genau dieselbe Überzeugung,
die die Hälfte von ihnen bei der Schlacht von Culloden in den Tod
oder ins Exil getrieben hatte.
Jocasta hatte sie gern, doch sie hatte
offensichtlich beschlossen, daß es töricht wäre zu warten. Warum
die Gelegenheit zu einer guten, soliden, respektablen Ehe einem
winzigen Hoffnungsfünkchen der Liebe opfern?
Das Schreckliche war, sie wußte selbst, daß das
Warten töricht war. Von all den Dingen, an die sie wochenlang nicht
zu denken versucht hatte, war dies das Schlimmste - und da war es
wieder und erhob sich in ihren Gedanken wie der Schatten eines
abgestorbenen Baumes, kahl im Schnee.
Falls. Falls sie zurückkamen falls, falls, FALLS.
Wenn ihre Eltern überhaupt zurückkehrten, würde Roger nicht bei
ihnen sein. Sie wußte es. Sie würden die Indianer nicht finden, die
ihn geraubt hatten - wie sollten sie auch, in einer weglosen
Wildnis aus Schnee und Schlamm? Oder sie würden die Indianer
finden, nur um dann zu erfahren, daß Roger tot war - seinen
Verletzungen, einer Krankheit, der Folter erlegen.
Oder sie würden ihn lebend finden, und er würde
sich weigern zurückzukehren, weil er sie niemals wiedersehen
wollte. Oder er würde zurückkehren aus jenem schottischen Ehrgefühl
heraus, das einen zum Wahnsinn trieb, entschlossen, sie zu nehmen,
obwohl er sie dafür haßte. Oder er würde zurückkehren, das Baby
sehen, und …
Oder es würde überhaupt keiner von ihnen
zurückkehren. Ich werde ihn dir heimbringen - oder ich komme
selbst nicht zurück. Und sie würde hier für immer allein leben,
in den Wellen ihrer eigenen Schuld ertrunken, während ihr Körper
auf einem Strudel guter Absichten auf- und abtrieb, verankert durch
die Nabelschnur eines Kindes, dessen Gewicht sie unter die
Oberfläche gezogen hatte.
»Miss Fraser! Miss Fraser, geht es Euch nicht
gut?«
»Nicht besonders, nein«, sagte sie. »Ich glaube,
ich falle in Ohnmacht.« Was sie auch tat und krachend den Tisch
erschütterte, als sie vornüber in ein wirbelndes Meer aus Porzellan
und Leinen kippte.
Die Gezeiten hatten sich wieder gewendet, dachte sie. Sie wurde
auf einer Flut der Anteilnahme nach oben getrieben, während Leute
hin- und herhuschten, warme Getränke und einen Ziegelstein für ihre
Füße holten, dafür sorgten, daß sie warm zugedeckt auf dem Sofa in
dem kleinen Salon zu liegen kam, ein Kissen unter dem Kopf,
Riechsalz unter der Nase, ein dickes Schultertuch um die Knie
gewickelt.
Schließlich waren sie fort. Sie konnte allein sein.
Und jetzt, da sie sich selbst die Wahrheit eingestanden hatte,
konnte sie um alles weinen, was sie verloren hatte - ihren Vater
und ihren Geliebten, ihre Familie und ihre Mutter, ihre Zeit und
ihren Platz und alles, was sie hätte sein sollen und niemals sein
würde.
Nur, daß sie es nicht konnte.
Sie versuchte es. Sie versuchte, das Gefühl des
Schreckens wieder heraufzubeschwören, das sie im Empfangszimmer
verspürt hatte, allein in der Menge. Doch jetzt, wo sie wirklich
allein war, hatte sie paradoxerweise keine Angst mehr. Eine
der Haussklavinnen steckte den Kopf zur Tür herein, doch sie winkte
mit der Hand und schickte das Mädchen wieder fort.
Na schön, sie war auch Schottin - »Na ja, zur
Hälfte«, murmelte sie und legte eine Hand auf ihren Bauch - und
hatte das Recht auf ihre eigene Sturheit. Sie würden
zurückkommen. Alle: ihre Mutter, ihr Vater, Roger. Auch, wenn sich
diese Überzeugung eher so anfühlte, als bestünde sie aus Federn
denn aus Eisen … so hegte sie sie dennoch. Und sie würde sich daran
klammern wie an ein Floß, bis man ihre Finger mit Gewalt ablöste
und sie versinken ließ.
Die Tür des kleinen Salons öffnete sich, und
Jocastas hochgewachsene, schlanke Gestalt erschien als Silhouette
vor dem beleuchteten Flur.
»Brianna?« Das blasse ovale Gesicht wandte sich
zielsicher dem Sofa zu; erriet sie nur, wo sie sie hingelegt
hatten, oder konnte sie Brianna atmen hören?
»Ich bin hier, Tante Jocasta.«
Jocasta kam ins Zimmer, gefolgt von Lord John, und
Ulysses bildete mit einem Teetablett die Nachhut.
»Wie geht es dir, Kind? Sollte ich besser Dr.
Fentiman rufen lassen?« Sie runzelte die Stirn und legte Brianna
ihre feingliedrige Hand auf die Stirn.
»Nein!« Brianna hatte Dr. Fentiman bereits
kennengelernt, eine kleine, feuchtfingrige, groteske Gestalt von
einem Mann, der ein starkes Vertrauen in Laugenkuren und Blutegel
hegte; sein Anblick ließ
sie erschauern. »Äh … nein. Danke, aber mir geht es wirklich
wieder gut; mir ist nur einen Moment lang übel geworden.«
»Ah, gut.« Jocasta richtete ihre blinden Augen auf
Lord John. »Seine Lordschaft reist morgen früh nach Wilmington; er
würde dich gern sehen, wenn du dich wohl genug fühlst.«
»Ja, natürlich.« Sie setzte sich auf und ließ ihre
Füße zu Boden schwingen. Also würde der Lord nicht bleiben; das
würde Jocasta enttäuschen, sie selbst aber nicht. Dennoch, sie
konnte noch ein Weilchen höflich sein.
Ulysses stellte das Tablett ab, schlich auf leisen
Sohlen hinter ihrer Tante zur Tür hinaus und ließ sie allein.
Er zog einen bestickten Hocker herbei und setzte
sich darauf, ohne auf eine Einladung zu warten.
»Geht es Euch wirklich gut, Miss Fraser? Ich hege
nicht den Wunsch, Euch zwischen die Teetassen hingestreckt zu
sehen.« Ein Lächeln zog an seinem Mundwinkel, und sie
errötete.
»Wunderbar«, sagte sie kurz. »Wollt Ihr mir etwas
mitteilen?«
Ihre Abruptheit störte ihn nicht.
»Ja, aber ich dachte, Ihr würdet es vielleicht
vorziehen, wenn ich es nicht vor den Leuten erwähne. Ich habe
gehört, Ihr interessiert Euch für den Aufenthaltsort eines Mannes
namens Roger Wakefield?«
Sie hatte sich stark gefühlt; bei diesen Worten
drohte der Anflug von Schwäche zurückzukehren.
»Ja. Woher wißt Ihr - wißt Ihr, wo er ist?«
»Nein.« Er sah die Veränderung in ihrem Gesicht und
nahm ihre Hand zwischen die seinen. »Nein, es tut mir leid. Euer
Vater hat mir geschrieben, vor etwa drei Monaten, und mich gebeten,
ihm bei der Suche nach diesem Mann behilflich zu sein. Ihm war der
Gedanke gekommen, daß Mr. Wakefield vielleicht zwangsrekrutiert
worden war, als er sich in irgendeinem Hafen aufhielt, und daß er
jetzt vielleicht auf einem der Schiffe Seiner Majestät auf See sein
könnte. Er fragte, ob ich vielleicht meine Kontakte in
Marinekreisen nutzen könnte, um herauszufinden, ob Mr. Wakefield in
der Tat ein solches Schicksal zugestoßen ist.«
Eine erneute Welle der Schwäche durchlief sie,
diesmal mit Bedauern versetzt, als sie begriff, welche Mühe sich
ihr Vater gegeben hatte, um Roger für sie zu finden.
»Er ist auf keinem Schiff.«
Er sah überrascht aus, als er die Sicherheit in
ihrem Tonfall hörte.
»Ich habe keinerlei Hinweise dafür gefunden, daß er
irgendwo zwischen Jamestown und Charleston zwangsweise rekrutiert
worden
wäre. Doch es besteht die Möglichkeit, daß man ihn am Vorabend der
Abreise ergriffen hat, in welchem Fall seine Anwesenheit in der
Mannschaft erst registriert würde, wenn das Schiff einen Hafen
anläuft. Das ist der Grund, weshalb ich morgen nach Wilmington
reise, um Nachforschungen anzustellen -«
»Das braucht Ihr nicht. Ich weiß, wo er ist.« Mit
so wenigen Worten wie möglich machte sie ihn mit den
grundsätzlichen Fakten vertraut.
»Jamie - Euer Vater - das heißt, Eure Eltern - sind
fortgegangen, um diesen Mann aus den Händen der Irokesen zu
retten?« Mit erschüttertem Gesichtsausdruck drehte er sich um, goß
zwei Tassen Tee ein und reichte ihr eine davon, ohne sie zu fragen,
ob sie sie haben wollte.
Sie hielt die Tasse zwischen ihren Händen und fand
schwachen Trost in der Wärme; doch noch mehr tröstete es sie, daß
sie offen mit Lord John sprechen konnte.
»Ja. Ich wollte mit ihnen gehen, aber -«
»Ja, ich verstehe.« Er blickte auf ihren Bauch und
hustete. »Ich nehme an, es besteht eine gewisse Dringlichkeit, Mr.
Wakefield zu finden?«
Sie lachte unglücklich.
»Ich kann warten. Könnt Ihr mir etwas sagen, Lord
John? Habt Ihr schon einmal von Handfasting gehört?«
Seine hellen Augenbrauen zogen sich kurz
zusammen.
»Ja«, sagte er langsam. »Eine schottische Sitte der
vorläufigen Eheschließung, nicht wahr?«
»Ja. Was ich wissen will ist, hat es hier
gesetzliche Gültigkeit?«
Er rieb sich das Kinn und dachte nach. Entweder
hatte er sich noch vor kurzem rasiert oder einen spärlichen
Bartwuchs; obwohl es schon spät war, sah man keine Spur von
Bartstoppeln.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Ich
habe noch nie erlebt, daß diese Frage vom Gesetz aufgegriffen
wurde. Allerdings sieht man einen Mann und eine Frau, die zusammen
wohnen, im allgemeinen sowieso als verheiratet an. Ich möchte
meinen, daß Handfasting in diese Kategorie fällt,
oder?«
»Könnte sein, abgesehen davon, daß wir ganz
offensichtlich nicht zusammen wohnen«, sagte Brianna. Sie seufzte.
»Ich betrachte mich als verheiratet - aber meine Tante
nicht. Sie beharrt weiter darauf, daß Roger nicht zurückkehrt, oder
falls doch, daß ich dann trotzdem nicht gesetzmäßig an ihn gebunden
bin. Selbst nach der schottischen Sitte bin ich nicht länger als
ein Jahr und einen Tag an ihn gebunden.
Sie will einen Ehemann für mich aussuchen - und bei Gott, sie gibt
sich alle Mühe! Ich dachte bei Eurem Auftauchen, Ihr wärt der
neueste Kandidat.«
Lord John sah aus, als amüsierte ihn diese
Idee.
»Oh. Das würde natürlich die merkwürdige
Versammlung beim Abendessen erklären. Mir ist aufgefallen, daß
dieser ausgesprochen rüstige Herr Alderdyce - Ein Richter? - Euch
seine Aufmerksamkeit weit über die normalen Grenzen der Höflichkeit
hinweg zu widmen schien.«
»Das wird ihm auch viel nützen.« Brianna schnaubte
kurz. »Ihr hättet die Blicke sehen sollen, die Mrs. Alderdyce mir
während des ganzen Abendessens zugeworfen hat. Sie wird nicht
zulassen, daß ihr erstgeborenes Lamm - Gott, er muß vierzig sein,
wenn nicht älter - die örtliche Hure von Babylon heiratet. Ich wäre
überrascht, wenn sie ihn jemals wieder über diese Schwelle treten
läßt.« Sie klopfte auf ihren leicht gewölbten Bauch. »Ich glaube,
dafür habe ich gesorgt.«
Eine Augenbraue hob sich, und Grey lächelte sie
ironisch an. Er stellte seine Teetasse hin und griff nach der
Sherrykaraffe und einem Glas.
»Ach ja? Nun, ich bewundere zwar die Kühnheit Eurer
Strategie, Miss Fraser - darf ich Euch ›meine Liebe‹ nennen? -,
aber ich bedauere, Euch davon in Kenntnis setzen zu müssen, daß
Eure Taktik für das Terrain, auf dem Ihr sie einzusetzen versucht,
nicht geeignet ist.«
»Was meint Ihr damit?«
Er lehnte sich auf seinem Sitz zurück, das Glas in
der Hand, und betrachtete sie mitfühlend.
»Mrs. Alderdyce. Da ich nicht blind bin - wenn auch
nicht annähernd so scharfsinnig wie Eure Tante -, ist mir in der
Tat aufgefallen, wie sie Euch beobachtete. Doch ich fürchte, Ihr
verkennt die Natur ihrer Beobachtungen.« Er schüttelte den Kopf und
sah sie über den Rand seines Glases hinweg an, während er daran
nippte.
»Auf keinen Fall der Blick empörter
Respektabilität. Es ist Omilust.«
»Es ist was?«
»Omilust«, wiederholte er. Er setzte sich ebenfalls
gerade hin und goß sein Glas vorsichtig mit der goldenen
Flüssigkeit voll. »Ihr wißt schon; das dringende Bedürfnis einer
älteren Frau, Enkelkinder auf ihrem Knie zu schaukeln, sie mit
Süßigkeiten zu verwöhnen und sie ganz allgemein zu verderben.« Er
hob das Glas an seine Nase und atmete ehrfurchtsvoll die Dämpfe
ein. »Oh, Ambrosia. Ich habe
schon mindestens zwei Jahre keinen anständigen Sherry mehr
getrunken.«
»Was - Ihr meint, Mrs. Alderdyce glaubt, daß ich -
ich meine, weil ich bewiesen habe, daß ich - daß ich Kinder
bekommen kann, daß sie sicher sein kann, später Enkelkinder von mir
zu bekommen? Das ist doch lächerlich! Der Richter könnte sich doch
jedes beliebige gesunde Mädchen aussuchen - von gutem Charakter«,
fügte sie bitter hinzu, »und sich einigermaßen sicher sein, daß er
von ihr Kinder bekommt.«
Er nahm einen Schluck, ließ ihn über seine Zunge
gleiten, schluckte und genoß den letzten Hauch des Geschmackes,
bevor er antwortete. »Tja. Nein. Ich glaube vielmehr, daß ihr klar
ist, daß er das nicht könnte. Oder nicht möchte; es läuft auf
dasselbe hinaus.« Er sah sie unbeweglich an.
»Ihr habt es selbst gesagt - er ist vierzig und
unverheiratet.«
»Ihr meint, er - aber er ist doch Richter!« Noch im
selben Moment, als sie ihren entsetzten Ausruf tat, begriff sie
dessen Idiotie und schlug sich eine Hand vor den Mund, während sie
heftig errötete. Lord John lachte, wenn auch nicht ohne ironischen
Unterton.
»Um so eindeutiger«, sagte er. »Ihr habt völlig
recht; er könnte sich jedes Mädchen im Distrikt aussuchen. Wenn er
sich dagegen entschieden hat …« Er hielt bedächtig inne und hob
dann das Glas zu einem ironischen Toast in ihre Richtung. »Ich
glaube, daß Mrs. Alderdyce völlig klar ist, daß eine Ehe ihres
Sohnes mit Euch der beste - vielleicht sogar der einzige - Weg ist,
auf dem sie mit dem Enkelkind rechnen kann, das sie so heftig
begehrt.«
»Verdammt!« Sie konnte nicht einen richtigen
Schachzug machen, dachte sie verzweifelt. »Es spielt keine Rolle,
was ich tue. Ich bin verdammt. Sie werden mich mit irgend
jemandem verheiraten, egal, was ich tue!«
»Ihr müßt mir gestatten, das zu bezweifeln«, sagte
er. Sein Lächeln zog sich ein wenig verlegen zur Seite. »Nach dem,
was ich von Euch gesehen habe, habt Ihr die Offenheit Eurer Mutter
und das Ehrgefühl Eures Vaters. Jede einzelne dieser Eigenschaften
würde schon ausreichen, um Euch davor zu bewahren, in eine solche
Falle zu gehen.«
»Redet bloß nicht von der Ehre meines Vaters«,
sagte sie scharf. »Er hat mich in diesen Schlamassel
hineingebracht!«
Sein Blick senkte sich mit unverhüllter Ironie auf
ihre Taille.
»Ihr schockiert mich«, sagte er höflich, ohne auch
nur im geringsten einen schockierten Eindruck zu machen.
Sie spürte, wie ihr erneut das Blut ins Gesicht
schoß, heißer als zuvor.
»Ihr wißt ganz genau, daß es nicht das ist, was ich
meine!«
Er verbarg sein Lächeln in seinem Sherryglas und
sah sie mit gekräuselten Augenwinkeln an.
»Ich bitte um Verzeihung, Miss Fraser. Was habt Ihr
dann gemeint?«
Sie trank einen großen Schluck Tee, um ihre
Verwirrung zu überspielen, und spürte, wie ihr die beruhigende
Wärme durch den Hals in die Brust rann.
»Ich meine«, sagte sie mit zusammengebissenen
Zähnen, »diesen Schlamassel hier; daß ich wie ein Stück
Zuchtvieh mit einem fragwürdigen Stammbaum aufs Podest gestellt
werde. Daß man mich im Genick packt und hochhält wie ein verwaistes
Kätzchen in der Hoffnung, daß mich jemand aufnimmt. Daß ich - daß
ich überhaupt hier allein bin«, schloß sie, und ihre Stimme
zitterte unerwartet.
»Warum seid Ihr hier allein?« fragte Lord John ganz
sanft. »Ich hätte gedacht, Eure Mutter wäre -«
»Das wollte sie auch. Ich habe sie nicht gelassen.
Weil sie - also er - oh, es ist alles so ein verfluchter
Schlamassel!« Sie ließ den Kopf in ihre Hände sinken und
starrte am Boden zerstört auf die Tischplatte. Sie weinte nicht,
war aber auch nicht weit davon entfernt.
»Das sehe ich wohl.« Lord John beugte sich vor und
stellte sein leeres Glas auf das Tablett zurück. »Es ist sehr spät,
meine Liebe, und wenn Ihr mir die Beobachtung verzeiht, Ihr braucht
dringend Ruhe.« Er stand auf und legte ihr sacht die Hand auf die
Schulter; seltsamerweise kam sie ihr einfach nur freundlich vor,
nicht herablassend, wie es vielleicht die Hand eines anderen Mannes
gewesen wäre.
»Da es so aussieht, als sei meine Reise nach
Wilmington überflüssig, werde ich wohl die freundliche Einladung
Eurer Tante annehmen und ein Weilchen hierbleiben. Wir werden uns
noch öfter unterhalten und dann sehen, ob sich Eure Situation nicht
zumindest lindern läßt.«