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Verraten
Oktober 1769
Roger öffnete die Augen und übergab sich. Oder
vielmehr, er untergab sich. Wie auch immer; der brennende
Gallestrom in seiner Nase und das Rinnsal von Erbrochenem, das ihm
in die Haare lief, waren unwichtig im Vergleich mit der Agonie in
seinem Kopf und Schritt.
Eine rumpelnde Schwankbewegung versetzte ihm einen
Stoß und ließ ein Kaleidoskop aus Farben von seinen
Geschlechtsteilen bis ins Hirn schießen. Der Geruch von feuchtem
Segeltuch erfüllte ihm die Nase. Dann erklang eine Stimme in der
Nähe, und seine formlose Panik nahm inmitten der Farben plötzlich
und stückweise Gestalt an.
Gloriana! Sie hatten ihn! Er fuhr
automatisch auf, wurde aber von einem krachenden Stoß in seinen
Schläfen gebremst - der dem Ruck an seinen Handgelenken nur um den
Bruchteil einer Sekunde folgte. Gefesselt, er war im Zwischendeck
gefesselt.
Die Panik blies sich in seinen Gedanken weiter zu
einer kantigen, schwarzen Gestalt auf. Bonnet. Sie hatten ihn
gefangen, sich die Steine zurückgeholt. Und jetzt würden sie ihn
umbringen.
Er wand sich krampfhaft, riß an seinen
Handgelenken, die Zähne vor Schmerz zusammengebissen. Das Deck kam
schnaubend unter ihm zum Halten, und er wurde fest zu Boden
gedrückt.
Er übergab sich erneut, doch sein Magen war leer.
Er würgte, und mit jedem Krampf scheuerten sich seine Rippen an den
in Segeltuch gehüllten Bündeln, auf denen er lag. Keine Segel; kein
Zwischendeck. Nicht die Gloriana, überhaupt kein Schiff. Ein
Pferd. Er war an Händen und Füßen gefesselt und lag auf dem Bauch
quer über einem verdammten Pferd!
Das Pferd ging noch ein paar stoßende Schritte
weiter und kam dann zum Halten. Es erklang Stimmengemurmel, Hände
fummelten an ihm herum, dann wurde er unsanft heruntergezogen und
auf seine Füße geworfen. Er fiel sofort zu Boden, denn er konnte
weder stehen, noch seinen Fall bremsen.
Er lag halb zusammengekauert auf dem Boden und
konzentrierte sich auf seine Atmung. Ohne das Geschüttel war es
einfacher. Niemand störte sich an ihm, und nach und nach wurde er
sich seiner Umgebung bewußt.
Dieses Bewußtsein war nicht besonders hilfreich.
Unter seiner Wange waren feuchte Blätter, kühl und nach süßlicher
Fäule duftend. Vorsichtig öffnete er das Auge einen Spaltbreit.
Himmel über ihm, eine unmögliche, tiefe Farbe irgendwo zwischen
blau und lila. Das Geräusch von Bäumen, Wasserrauschen in der
Nähe.
Alles schien sich langsam, mit schmerzender
Intensität um ihn zu drehen. Er schloß die Augen und preßte seine
Hände flach auf den Boden.
Himmel, wo bin ich? Die Stimmen unterhielten
sich in aller Ruhe, die Worte halb verschluckt vom Stampfen und
Wiehern der Pferde. Er verspürte einen Augenblick der Panik über
sein Unvermögen; er konnte der Sprache noch nicht einmal einen
Namen zuordnen.
Er hatte eine große, empfindliche Beule hinter dem
einen Ohr, eine weitere am Hinterkopf, und er verspürte einen
Schmerz, der seine Schläfen pochen ließ; ein harter Schlag hatte
ihn getroffen - doch wann? Hatten die Schläge irgendwelche
Blutgefäße in seinem Gehirn verletzt, ihm die Sprache geraubt? Er
öffnete seine Augen ganz und wälzte sich - mit unendlicher Vorsicht
- auf den Rücken.
Ein quadratisches, braunes Gesicht blickte auf ihn
herab, ohne einen besonderen Ausdruck des Interesses zu zeigen, und
wandte sich dann wieder dem Pferd zu, um das sich der Mann gerade
kümmerte.
Indianer. Der Schock war so groß, daß er
seinen Schmerz vorübergehend vergaß und sich hinsetzte. Er
schnappte nach Luft und legte das Gesicht auf seine Knie, die Augen
geschlossen, während er dagegen ankämpfte, erneut das Bewußtsein zu
verlieren, und ihm das Blut durch den sich spaltenden Schädel
hämmerte.
Wo war er? Er biß sich ins Knie und
zermahlte brutal den Stoff zwischen seinen Zähnen, während er um
sein Gedächtnis rang. Bildfragmente kehrten zurück, kleine
Stückchen, die ihn an der Nase herumführten und sich hartnäckig
weigerten, sich zu einem Sinn zusammenzufügen.
Das Ächzen von Planken und der Geruch des
Kielraumes. Blendendes Sonnenlicht durch Glasscheiben. Bonnets
Gesicht und Walatem im Nebel und ein kleiner Junge namens…
namens…
Im Dunkeln verschränkte Hände und Hopfengeruch.
Ich nehme dich zur Frau, mit meinem Körper diene ich
dir.
Brianna. Kalter Schweiß lief ihm über die Wangen,
und seine Kiefermuskeln
waren so angespannt, daß es schmerzte. Die Bilder hüpften in
seinem Kopf herum wie Flöhe. Ihr Gesicht, ihr Gesicht, er durfte es
nicht loslassen!
Nicht sanft, kein sanftes Gesicht. Eine tödlich
gerade Nase und kalte, blaue Augen… nein, nicht kalt…
Eine Hand auf seiner Schulter riß ihn aus seiner
gequälten Suche nach seinen Erinnerungen in die viel zu
unmittelbare Gegenwart zurück. Es war ein Indianer mit einem Messer
in der Hand. Betäubt vor Verwirrung starrte Roger den Mann einfach
nur an.
Der Indianer, ein Mann mittleren Alters mit einem
Knochen in seinem hochgekämmten Haar und einer ernsten
Ausstrahlung, ergriff Roger beim Haar und neigte seinen Kopf
kritisch vor und zurück. Rogers Verwirrung verdampfte, als ihm der
Gedanke kam, daß er im Begriff war, so, wie er dasaß, skalpiert zu
werden.
Er warf sich rückwärts, holte mit den Füßen aus und
erwischte den Indianer an den Knien. Der Mann ging mit einem
Aufschrei der Überraschung zu Boden, und Roger drehte sich um,
sprang stolpernd auf und lief um sein Leben.
Er rannte mit gespreizten Beinen wie eine
betrunkene Spinne und stolperte auf die Bäume zu. Schatten,
Zuflucht. Hinter ihm erschollen Rufe und das Geräusch schneller
Füße, die tote Blätter um sich streuten. Dann riß ihm etwas die
Füße weg, und er fiel mit einem markerschütternden Knall kopfüber
zu Boden.
Sie hatten ihn auf den Beinen, noch ehe er wieder
Luft bekam. Sinnlos, sich zu wehren; sie waren zu viert
einschließlich des Mannes, den Roger umgeworfen hatte. Dieser trat
jetzt auf sie zu, humpelnd, das Messer immer noch in der
Hand.
»Dir nichts tun!« sagte er barsch. Er verpaßte
Roger eine schallende Ohrfeige, dann beugte er sich vor und sägte
das Lederband durch, das Rogers Handgelenke festhielt. Mit einem
lauten Schnauben machte er auf dem Absatz kehrt und ging wieder zu
den Pferden.
Die beiden Männer, die Roger festhielten, ließen
ihn prompt los und gingen ebenfalls fort. Sie ließen ihn wie einen
im Wind schwankenden Schößling stehen.
Toll, dachte er leer, ich bin nicht tot.
Und was jetzt, zum Teufel?
Da sich keine Antwort auf diese Frage präsentierte,
rieb er sich vorsichtig mit der Hand über das Gesicht, wobei er
diverse Prellungen entdeckte, die ihm zuvor entgangen waren, und
sah sich um.
Er stand auf einer kleinen Lichtung, die von
riesigen Eichen und halb entlaubten Hickorybäumen umstanden war;
der Boden war mit gelben und braunen Blättern übersät, und die
Eichhörnchen hatten
haufenweise Eichelhütchen und Nußhüllen auf dem Boden
zurückgelassen. Er stand auf einem Berg, das verriet ihm das
Gefälle des Bodens, so wie ihm die kühle Luft und der
edelsteinklare Himmel verrieten, daß es kurz vor Sonnenuntergang
war.
Die Indianer - sie waren zu viert, nur Männer -
ignorierten ihn vollständig und beschäftigten sich damit, ihr Lager
aufzuschlagen, ohne auch nur einen Blick in Rogers Richtung zu
werfen. Er leckte sich die trockenen Lippen und unternahm einen
vorsichtigen Schritt auf den kleinen Bach zu, der ein paar Meter
weiter über algenbepelzte Felsen gluckste.
Er trank sich satt, obwohl ihm das kalte Wasser an
den Zähnen wehtat; auf der einen Seite seines Mundes saßen fast all
seine Zähne locker, und seine Mundschleimhaut war aufgeplatzt. Er
wusch sich vorsichtig das Gesicht und hatte ein Déjà-vu-Gefühl.
Noch vor kurzem hatte er sich so gewaschen und kaltes Wasser
getrunken, das über Smaragdfelsen lief.
Fraser’s Ridge. Er hockte sich auf die
Fersen, und in großen, häßlichen Brocken nahmen seine Erinnerungen
wieder ihre Plätze ein.
Brianna und Claire… und Jamie Fraser. Plötzlich
kehrte das verwirrende Bild, nach dem er so verzweifelt gesucht
hatte, ungefragt zurück; Briannas Gesicht mit seinen breiten,
kühnen Knochen, blaue Augen schräg über einer langen, geraden Nase.
Doch Briannas Gesicht war gealtert, zu Bronze verwittert, grob
geschnitten und durch Männlichkeit und Erfahrung verhärtet, die
blauen Augen von mörderischer Wut geschwärzt. Jamie Fraser.
»Du verdammtes Schwein«, sagte Roger leise. »Du
gottverdammtes Schwein. Du hast versucht, mich
umzubringen.«
Sein erstes Gefühl war Erstaunen - doch die Wut
ließ nicht lange auf sich warten.
Er erinnerte sich jetzt an alles; die Begegnung auf
der Lichtung, das Herbstlaub wie Feuer und Honig und dazwischen der
flammende Mann; der braunhaarige Junge - und wer zum Teufel war
das? Der Kampf - mit einer Grimasse berührte er eine wunde
Stelle unter seinen Rippen - und sein Ende, an dem er flach im Laub
gelegen hatte und sich sicher gewesen war, daß er jetzt umgebracht
würde.
Na ja, es war nicht so gewesen. Er erinnerte sich
dumpf daran, den Mann und den Jungen diskutieren zu hören, irgendwo
über sich - einer von ihnen war dafür gewesen, ihn auf der Stelle
umzubringen, der andere hatte nein gesagt -, doch er konnte partout
nicht sagen, welcher. Dann hatte einer von ihnen ihm noch einen
Schlag versetzt, und weiter konnte er sich bis jetzt an nichts
erinnern.
Und jetzt - er sah sich um. Die Indianer hatten
Feuer gemacht, und daneben stand ein Tongefäß. Keiner von ihnen
schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung, obwohl er sich
sicher war, daß sie alle sich seiner bewußt waren.
Vielleicht hatten sie ihn Fraser und dem Jungen
weggenommen - aber warum? Es war wahrscheinlicher, daß Fraser ihn
den Indianern überlassen hatte. Der Mann mit dem Messer hatte
gesagt, sie würden ihm nichts tun. Was hatten sie mit ihm
vor?
Er sah sich um. Es würde bald Nacht sein; die
fernen Schatten unter den Eichen hatten schon zugenommen.
Na und, Kumpel? Wenn du nach Einbruch der
Dunkelheit abhaust, wo willst du dann hin? Die einzige Richtung,
über die du dir sicher bist, ist abwärts. Offensichtlich
ignorierten ihn die Indianer, weil sie sich sicher waren, daß er
nirgendwo hingehen würde.
Er schüttelte die unbequeme Wahrheit dieser
Beobachtung ab und stand auf. Eins nach dem anderen. Es war das
letzte, was er im Augenblick wollte, doch seine Blase war dem
Platzen nahe. Seine Finger waren langsam und ungeschickt und
blutverklebt, doch er schaffte es, seine Kniehose
aufzuschnüren.
Sein erstes Gefühl war das der Erleichterung; es
war nicht so schlimm, wie es sich anfühlte. Ziemlich wund, doch
vorsichtiges Weitertasten schien ihm anzuzeigen, daß er im großen
und ganzen unverletzt war.
Erst, als er sich wieder dem Feuer zuwandte, folgte
der schlichten Erleichterung ein Ausbruch so purer und blinder Wut,
daß sie sowohl seinen Schmerz als auch seine Furcht wegbrannte. Auf
seinem rechten Handgelenk war ein schwarzer, ovaler Fleck - ein
Daumenabdruck, so deutlich und spottend wie eine Signatur.
»Himmel«, sagte er ganz leise. Die Wut brannte ihm
heiß und schwer in der Magengrube. Er konnte ihren säuerlichen
Geschmack in seinem Mund schmecken. Er blickte hinter sich den
Abhang hinab, ohne zu wissen, ob er in die Richtung von Fraser’s
Ridge sah oder nicht.
»Warte auf mich, du Schuft«, sagte er vor sich hin.
»Alle beide - wartet auf mich. Ich komme wieder.«
Allerdings nicht sofort. Die Indianer gestatteten
ihm mitzuessen - eine Art Eintopf, den sie trotz seiner fast
kochenden Temperatur mit den Fingern aßen -, schenkten ihm aber
ansonsten keine Beachtung. Er versuchte es auf Englisch,
Französisch - sogar mit den paar Brocken Deutsch, die er kannte,
bekam aber keine Antwort.
Sie fesselten ihn, als sie sich zum Schlafen
niederlegten; sie banden ihm die Knöchel zusammen und legten ihm
eine Schlinge um den Hals, deren anderes Ende sich einer seiner
Bewacher um das Handgelenk band. Ob aus Gleichgültigkeit oder weil
es keine gab, jedenfalls gaben sie ihm keine Decke, und er
verbrachte die Nacht zitternd, so nah an das schwindende Feuer
gedrängt, wie es möglich war, ohne daß er sich strangulierte.
Er hatte nicht geglaubt, daß er in der Lage sein
würde zu schlafen, doch er tat es dennoch, vom Schmerz erschöpft.
Aber es war ein unruhiger Schlaf, der mit gewalttätigen,
bruchstückhaften Träumen angefüllt war und ständig unterbrochen
wurde, weil er die Illusion hatte, erwürgt zu werden.
Am Morgen brachen sie wieder auf. Von Reiten war
diesmal keine Rede; er lief, und zwar so schnell er konnte; man
ließ ihm die Schlinge lose um den Hals hängen, doch ein kurzes Seil
verband seine Hände mit dem Zaumzeug eines der Pferde. Er stolperte
und fiel mehrmals hin, schaffte es aber, trotz seiner Prellungen
und Muskelschmerzen immer wieder, auf die Beine zu krabbeln. Er
hatte ganz klar den Eindruck, daß sie ihn ohne weiteres hinter sich
her schleifen würden.
Sie hielten sich in etwa in Richtung Norden, das
konnte er an der Sonne ablesen. Nicht, daß es ihm großartig
weiterhalf, denn er hatte keine Ahnung, von wo sie aufgebrochen
waren. Doch sie konnten noch nicht weit von Fraser’s Ridge entfernt
sein; er konnte nicht mehr als ein paar Stunden bewußtlos gewesen
sein. Er blickte auf die mahlenden Hufe des Pferdes neben ihm und
versuchte, seine Geschwindigkeit zu schätzen. Nicht mehr als zwei
oder drei Meilen pro Stunde; er konnte ohne große Anstrengung
mithalten.
Landschaftsmerkmale. Es war nicht zu sagen, wohin
sie ihn bringen wollten - oder warum -, doch wenn er jemals
zurückkehren wollte, dann mußte er sich das Aussehen des Terrains
einprägen, durch das sie kamen.
Ein Felsenkliff, vielleicht fünfzehn Meter hoch und
mit struppigen Pflanzen bewachsen, ein verkrümmter
Dattelpflaumenbaum, der aus einer Felsspalte herausragte wie eine
vorspringende Matratzenfeder, mit leuchtendorangen Troddeln
übersät.
Sie gelangten auf einen Bergkamm mit einem
atemberaubenden Blick auf die fernen Berge; drei steile Gipfel, vor
dem flammenden Himmel zusammengedrängt, der linke höher als die
beiden anderen. Das konnte er sich merken. Ein Bach - ein Fluß? -,
der durch eine kleine Schlucht stürzte; sie trieben die Pferde
durch eine flache Furt, und Roger wurde bis zur Taille mit
Eiswasser durchnäßt.
Ihre Reiseroutine blieb tagelang unverändert, immer
weiter nordwärts. Seine Bewacher sprachen nicht mit ihm, und am
vierten Tag erkannte er, daß er dabei war, den Überblick über die
Zeit zu verlieren, und in eine traumähnliche Trance fiel, von
seiner Müdigkeit und der Stille der Berge überwältigt. Er zog sich
einen langen Faden aus dem Rocksaum und begann, ihn zu verknoten,
einen Knoten für jeden Tag, sowohl als schwachen Kontakt mit der
Wirklichkeit als auch als grobe Methode, die zurückgelegte
Entfernung abzuschätzen.
Er würde zurückgehen. Wie auch immer, er würde nach
Fraser’s Ridge zurückgehen.
Am achten Tag bekam er seine Gelegenheit. Jetzt
waren sie tief im Gebirge. Tags zuvor hatten sie einen Paß
überquert und waren einen steilen Hang hinabgestiegen. Die Ponys
hatten ängstlich gewiehert und das Tempo verlangsamt, um jeden
Schritt vorsichtig abzufangen, während sich die Ladung auf ihren
Sätteln ächzend verschob.
Jetzt ging es wieder bergauf, und die Ponys
verlangsamten ihre Schritte noch weiter, als der Weg steil in die
Höhe ging. Roger konnte etwas an Boden gewinnen und das Pony
einholen. Er klammerte sich an das Sattelzeug und ließ sich von dem
zähen, kleinen Tier mitziehen.
Die Indianer waren abgestiegen. Sie liefen und
führten ihre Ponys. Er warf einen genauen Blick auf den
langhaarigen, schwarzen Skalp am Rücken des Kriegers, der das Pony
führte, an das sich Roger klammerte. Mit einer Hand hielt er sich
fest; die andere war damit beschäftigt, unter einer herabhängenden
Segelleinenfalte den Knoten aufzuzupfen, der ihn an das Sattelzeug
band.
Strähne um Strähne löste sich das Hanfseil, bis ihn
nur noch ein einzelner Faden mit dem Pony verband. Er wartete,
während ihm vor Angst und von der Anstrengung des Kletterns der
Schweiß die Rippen heruntertropfte, verwarf eine Gelegenheit nach
der anderen, sorgte sich von Augenblick zu Augenblick mehr, daß es
zu spät war, daß sie anhalten würden, um das Nachtlager
aufzuschlagen, daß der Krieger, der sein Pony führte, sich umdrehen
und ihn sehen würde, auf die Idee kommen würde, seine Fesseln zu
überprüfen.
Doch sie hielten nicht an, und der Krieger drehte
sich nicht um. Da, dachte er, und sein Herz schlug schnell,
als er sah, wie das erste Pony aus der Reihe trat und auf einen
schmalen Wildwechsel einschwenkte, der den Abhang durchschnitt.
Unterhalb des Pfades fiel der Boden steil ab und begradigte sich
zwei Meter tiefer wieder. Darunter lag ein dichtbewaldeter Abhang,
der ideal zum Verstecken war.
Ein Pony, dann das nächste, überwand das enge
Wegstück und setzte dabei die Hufe mit geradezu übertriebener
Vorsicht auf. Ein drittes, und jetzt war Roger an der Reihe. Er
preßte sich nah an die Flanke des Ponys und atmete dessen süßen,
durchdringenden Schweißgeruch ein. Ein Schritt, dann noch einer,
und sie waren auf dem engen Pfad.
Er riß das Seil durch und sprang. Er landete mit
einem Ruck und ging halb in die Knie, sprang auf und rannte bergab.
Er verlor seine Schuhe und ließ sie liegen. Er überquerte spritzend
einen kleinen Bach, krabbelte auf Händen und Knien am Ufer hoch,
arbeitete sich auf seine Beine hoch und lief weiter, noch bevor er
richtig stand.
Er hörte Rufe hinter sich, dann Stille, wußte aber,
daß er verfolgt wurde. Er war außer Atem; ihnen würde es genauso
gehen.
Die Landschaft glitt in verschwommenen Flecken aus
Laub und Felsen an ihm vorbei, als er den Kopf hin- und herdrehte,
auf der Suche nach einem Ausweg, einem Versteck. Er entschied sich
für einen Birkenhain, schoß hindurch, hinaus auf eine abfallende
Wiese, taumelte abwärts über das schlüpfrige Gras und stieß sich
die nackten Füße an Wurzeln und Steinen. Auf der anderen Seite nahm
er sich eine Sekunde Zeit, um sich umzublicken. Zwei von ihnen; er
sah ihre runden, dunklen Köpfe zwischen den Blättern.
Weiter in den nächsten Hain, wieder hinaus, im
verrückten Zickzack durch ein Geröllfeld, schweratmend. Eines hatte
die verdammte Vergangenheit für ihn getan, dachte er grimmig, seine
Atemkapazität verbessert. Dann hatte er keinen Raum mehr zum Denken
- nur noch für die blinden Instinkte der Flucht.
Und weiter abwärts, ein krabbelnder Abstieg über
die feuchte, rissige Oberfläche eines sieben Meter hohen Felsens,
wobei er sich an den Pflanzen festhielt, an denen er halb
vorbeifiel, Wurzeln, die sich lösten, Hände, die in Schlammlöchern
versanken, Finger, die sich an unsichtbaren Steinen stießen. Er
landete hart am Boden und bückte sich keuchend.
Einer von ihnen war direkt hinter ihm und kam
rückwärts den Felsen heruntergeklettert. Er riß sich die Schlinge
ab, die er immer noch um den Hals trug, und peitschte damit über
die Hände des Indianers. Der Mann verlor den Halt; er ließ los,
rutschte abwärts und landete schief. Roger warf ihm die Schlinge
über den Kopf, versetzte ihr einen heftigen Ruck und floh. Der Mann
blieb auf den Knien zurück, würgend, die Hände an dem Seil um
seinen Hals.
Bäume. Er brauchte Deckung. Er sprang über einen
umgestürzten Baumstamm, stolperte und überschlug sich, war wieder
auf den Beinen
und rannte. Bergauf, ein Fichtendickicht ein kleines Stück weiter
droben. Hämmernden Herzens trat er fest mit den Füßen auf und
erklomm den Abhang in großen Sätzen.
Er stürzte sich zwischen die Fichten, kämpfte sich
durch eine Million Nadelstiche hindurch, blind, die Augen zum
Schutz gegen die zuschlagenden Zweige geschlossen. Dann gab der
Boden unter ihm nach, und er stürzte, während Himmel und Äste um
ihn verschwammen.
Er blieb hängen, halb zusammengerollt, und es
verschlug ihm den Atem; er hatte gerade soviel Verstand, um sich
fester zusammenzurollen und weiterzukollern, prallte an Felsen und
Baumschößlingen ab, löste einen Schauer aus Schmutz und Nadeln aus,
polterte und purzelte abwärts.
Er kam donnernd in einem Gewirr von Holzstämmen zum
Halten, blieb einen Augenblick hängen, glitt dann ganz hinab und
landete mit einem dumpfen Aufprall. Schwindelig und blutend lag er
einen Moment still, wälzte sich dann schmerzerfüllt auf die Seite
und wischte sich den Schmutz und das Blut aus dem Gesicht.
Er blickte suchend auf. Da waren sie. Alle beide,
an der Spitze des Abhangs. Sie kamen vorsichtig neben dem
Felsvorsprung herunter, von dem er gefallen war.
Auf Händen und Knien tauchte er zwischen die
holzigen Stämme und kroch um sein Leben. Zweige bogen sich, spitze
Enden stachen auf ihn ein, und Kaskaden aus Staub, toten Blättern
und Insekten fielen von den höheren Zweigen herunter, während er
sich vorwärtsschob und sich einen Durchgang durch die
dichtgewachsenen Stämmchen bahnte, sich wand und drehte und den
Lücken folgte, die er fand.
Hölle war sein erster zusammenhängender
Gedanke. Er war in einem höllischen Rhododendrondickicht gelandet.
Bei dieser verspäteten Erkenntnis verlangsamte er seine Flucht -
falls man es denn »Flucht« nennen konnte, wenn man sich etwa drei
Meter in der Stunde vorwärtsbewegte.
Die tunnelähnliche Lücke, in der er sich befand,
war zu eng, als daß er sich hätte umdrehen können, doch er schaffte
es, hinter sich zu sehen, indem er den Kopf zur Seite schob und den
Hals reckte. Da war nichts; nichts als feuchte, muffige Dunkelheit,
von schwachem Streulicht erhellt und von aufgewirbeltem Staub
erfüllt. Es war nichts zu sehen außer den Stämmchen und biegsamen
Zweigen des Rhododendrondickichts.
Seine zitternden Gliedmaßen gaben nach, und er
brach zusammen.
Einen Augenblick lag er zwischen den Stämmchen zusammengerollt und
atmete den Moschusgeruch verrottender Blätter und feuchter Erde
ein.
»Du wolltest doch Deckung, Kumpel«, murmelte er vor
sich hin. Sein Körper begann zu schmerzen. Er hatte an einem
Dutzend Stellen blutende Schürfwunden. Selbst in dem gedämpften
Licht sahen seine Fingerspitzen wie rohes Fleisch aus.
Er führte eine langsame Inventur seiner
Verletzungen durch und lauschte dabei ständig auf
Verfolgungsgeräusche. Es überraschte ihn kaum, daß es keine gab. Er
hatte in den Wirtshäusern von Cross Creek von solchen
»Rhododendronhöllen« gehört; halb prahlerische Geschichten von
Jagdhunden, die ein Eichhörnchen in eins dieser weitverzweigten
Dickichte gejagt, sich hoffnungslos verlaufen hatten und nie wieder
aufgetaucht waren.
Roger hoffte, daß diese Geschichten mit einem guten
Schuß Übertreibung gewürzt waren, obwohl er sich nicht beruhigt
fühlte, als er sich gründlich umsah. Das wenige Licht hatte keine
Richtung. Wohin er blickte, sah alles gleich aus. Herabhängende
Büschel kühler, ledriger Blätter, dicke Stämme und schlanke Zweige,
die sich fast undurchdringlich verknäult hatten.
Mit einem leichten Panikgefühl erkannte er, daß er
keine Ahnung hatte, aus welcher Richtung er gekommen war.
Er legte den Kopf auf seine Knie, atmete tief durch
und versuchte zu denken. Na gut, eins nach dem anderen. Sein
rechter Fuß blutete stark aus einem tiefen Riß am Rand der Sohle.
Er zog seine zerfetzten Strümpfe aus und benutzte einen davon, um
seinen Fuß zu verbinden. Sonst schien nichts so schlimm zu sein,
daß ein Verband nötig war, außer der flachen Schramme in seiner
Kopfhaut; aus dieser sickerte immer noch Blut, feucht und
klebrig.
Seine Hände zitterten; es war schwierig, sich den
Strumpf um den Kopf zu binden. Dennoch fühlte er sich nach dieser
winzigen Handlung besser. Also dann. Er hatte in Schottland
unzählige Munros bestiegen, jene endlosen Felsengipfel, und hatte
mehr als einmal bei der Suche nach Ausflüglern geholfen, die sich
zwischen den Felsen und in der Heide verlaufen hatten.
Wenn man sich in der Wildnis verlaufen hatte, dann
war die übliche Vorsichtsmaßnahme, sich nicht vom Fleck zu bewegen
und darauf zu warten, daß man gefunden wurde. Doch das traf nicht
zu, wenn die einzigen Menschen, die nach einem suchten, diejenigen
waren, von denen man nicht gefunden werden wollte.
Er blickte durch das verknäulte Geäst nach oben. Er
konnte an ein
paar Fleckchen den Himmel sehen, doch die Rhododendren erhoben
sich fast vier Meter hoch. Es gab keine Möglichkeit, aufzustehen;
er konnte unter den verwobenen Zweigen kaum aufrecht sitzen.
Es war unmöglich zu sagen, wie groß dieses Dickicht
war; auf ihrem Weg durchs Gebirge hatte er ganze Hänge mit
Heidegestrüpp bewachsen gesehen, Täler, die mit dem tiefen Grün der
Rhododendren angefüllt waren. Nur wenige, ehrgeizige Bäume hatten
aus dem wogenden Blättermeer aufgeragt. Dann wieder hatten sie
kleinere Gebüsche umritten, die nicht mehr als zehn Quadratmeter
groß waren. Er wußte, daß er sich ziemlich nah am Rand des
Dickichts befand, doch dieses Wissen war nutzlos, da er keine
Ahnung hatte, in welcher Richtung sich der Rand befand.
Ihm wurde bewußt, daß ihm sehr kalt war und daß
seine Hände immer noch zitterten. Schock, dachte er dumpf.
Was tat man dagegen? Heiße Flüssigkeiten. Decken. Brandy. Na
wunderbar. Die Füße hochlegen. Das konnte er immerhin tun.
Er schaufelte sich eine kleine, unbequeme Grube,
ließ sich hineingleiten und kratzte die feuchtkalten, halb
verrotteten Blätter über Brust und Schultern zusammen. Er stützte
seine Füße in einer Astgabel auf und schloß zitternd die
Augen.
Sie würden ihm nicht folgen. Warum sollten sie
auch? Es war viel einfacher zu warten, sofern sie keine Eile
hatten. Er mußte irgendwann herauskommen - wenn er es noch
konnte.
Jede Bewegung hier unten würde oben das Laub
schütteln und den Beobachtern seine Bewegungen punktgenau anzeigen.
Das war ein grausiger Gedanke; zweifellos wußten sie, wo er sich
jetzt befand, und warteten einfach nur seine nächste Bewegung ab.
Die Himmelsflecken hatten die tiefblaue Farbe von Saphiren; es war
immer noch Nachmittag. Also würde er die Dunkelheit abwarten, bevor
er sich wieder in Bewegung setzte.
Mit auf der Brust verschränkten Händen zwang er
sich dazu, sich auszuruhen, an irgend etwas jenseits seiner
gegenwärtigen Lage zu denken. Brianna. An sie wollte er denken.
Diesmal ohne die Wut und Verwirrung; dazu war jetzt nicht die
Zeit.
Er wollte so tun, als wäre alles friedlich zwischen
ihnen, so wie es in jener Nacht, ihrer Nacht gewesen war. Warm
neben ihm in der Dunkelheit. Ihre Hände, so ungehemmt und
neugierig, begierig auf seinem Körper. Die Großzügigkeit ihrer
Nacktheit, die sie ihm freigiebig schenkte. Und seine
vorübergehende, irrtümliche Überzeugung, daß mit der Welt alles für
immer in Ordnung war. Nach und nach verebbte das Zittern, und er
schlief ein.
Er erwachte irgendwann nach Mondaufgang; er konnte
sehen, daß der Himmel von Helligkeit überflutet war, wenn auch
nicht den Mond selbst. Er war steif und fror und hatte große
Schmerzen. Und Hunger noch dazu, begleitet von fürchterlichem
Durst. Na ja, wenn er sich nur aus diesem verfluchten Durcheinander
befreien konnte, dann konnte er zumindest Wasser finden; Bäche
waren überall in diesen Bergen. Er kam sich so ungeschickt vor wie
eine Schildkröte, die auf dem Rücken lag, und drehte sich um.
Eine Richtung war so gut wie die andere. Auf Händen
und Knien machte er sich auf, schob sich durch Höhlungen, brach
Äste ab, versuchte, so gut er konnte, sich geradeaus zu bewegen.
Eine Möglichkeit ängstigte ihn mehr als der Gedanke an die
Indianer; er konnte so leicht die Orientierung verlieren, während
er sich blind durch dieses Labyrinth bewegte. Es konnte damit
enden, daß er sich endlos im Kreis bewegte und für immer in der
Falle saß. Die Geschichten über die Jagdhunde hatten jedes Element
der Übertreibung verloren.
Irgendein kleines Tier rannte ihm über die Hand,
und er fuhr auf und stieß sich den Kopf an den Zweigen über ihm. Er
biß die Zähne zusammen und machte weiter, immer ein paar Zentimeter
auf einmal. Grillen zirpten überall um ihn herum, und unzählige,
leise Raschelgeräusche ließen ihn wissen, daß die Bewohner dieses
Dickichts sein Eindringen nicht besonders schätzten. Er konnte
nicht das Geringste sehen; es war fast pechschwarz hier unten. Doch
ein Gutes hatte das Ganze: Die ständige Anstrengung erwärmte ihn;
Schweiß biß in seine Kopfwunde und tropfte ihm vom Kinn.
Immer wenn er anhalten mußte, um wieder zu Atem zu
kommen, lauschte er auf einen Anhaltspunkt - entweder über seine
eigene Position oder die seiner Verfolger -, doch er hörte nur
gelegentlich einen Nachtvogel rufen, und um ihn herum raschelte das
Laub. Er wischte sich mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht
und schob sich vorwärts.
Er wußte nicht, wie lange er schon unterwegs war,
als er den Felsen fand. Oder ihn weniger fand, als daß er vielmehr
kopfüber in ihn hineinprallte. Er taumelte rückwärts, hielt sich
den Kopf und biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien.
Blinzelnd vor Schmerz, streckte er die Hand vor und
fand das, woran er sich gestoßen hatte. Keinen Felsbrocken, einen
Felsen mit flacher Oberfläche. Und zwar einen hohen; die harte
Oberfläche erstreckte sich so hoch, wie er greifen konnte.
Er tastete seitwärts um den Felsen herum. Daneben
wuchs ein dicker Stamm; seine Schultern klemmten in dem engen
Zwischenraum.
Er drehte sich und schob, wand sich und schoß schließlich
vorwärts, wobei er das Gleichgewicht verlor und auf dem Gesicht
landete.
Benommen erhob er sich erneut auf seine Hände - und
stellte fest, daß er sie sehen konnte. Er blickte auf und
sah sich total verdutzt um.
Sein Kopf und seine Schultern ragten ins Freie.
Nicht nur frei, sondern auch leer. Begierig wand er sich
weiter vorwärts, fort von der klaustrophobischen Umklammerung der
Rhododendren.
Er stand an einer freien Stelle, einer Felsenwand
gegenüber, die sich auf der anderen Seite einer kleinen Lichtung
erhob. Und es war wirklich eine Lichtung; es wuchs nicht das
Geringste in dem weichen Boden zu seinen Füßen. Erstaunt wandte er
sich langsam um und atmete die kalte, scharfe Luft in tiefen
Zügen.
»Lieber Gott im Himmel«, sagte er leise. Die
Lichtung bildete ein grobes Oval, war von aufrechtstehenden Steinen
umringt, und das eine Ende des Ovals wurde von der Felswand
geschlossen. Die Steine waren in gleichmäßigen Abständen um den
Kreis herum positioniert, ein paar von ihnen umgestürzt, ein paar
andere durch den Druck der Wurzeln und Stämme hinter ihnen
verschoben. Er konnte die dichte, schwarze Masse der Rhododendren
sehen, die zwischen und über den Steinen aufragten, doch im
Innenraum des Kreises wuchs keine einzige Pflanze.
Während er spürte, wie eine Gänsehaut seinen Körper
überzog, ging er behutsam in die Mitte des Kreises. Es konnte nicht
sein - doch es war so. Und warum auch nicht? Wenn Geillis Duncan
recht gehabt hatte… er drehte sich um und sah im Mondlicht die
Gravierungen auf der Felswand.
Er ging näher heran, um sie sich anzusehen. Es
waren diverse Petroglyphen, einige von der Größe seiner Hand,
andere fast so groß wie er selbst; Spiralformen und etwas, das ein
Mann sein mochte, tanzend - oder sterbend? Ein fast geschlossener
Kreis, der aussah wie eine Schlange, die ihrem Schwanz nachjagte.
Warnsignale.
Er erschauerte erneut, und seine Hand fuhr an seine
Hosennaht. Sie waren noch da: die beiden Edelsteine, für die er
sein Leben riskiert hatte, winzige Sicherheitsgarantien - so hoffte
er - für ihn und Brianna.
Er konnte nichts hören; kein Summen, kein Dröhnen.
Die Herbstluft war kalt, und ein leichter Wind regte sich in den
Rhododendronblättern. Verdammt, was für ein Datum war es? Er wußte
es nicht, er hatte es schon lange nicht mehr nachgerechnet. Doch er
glaubte, daß es Anfang September gewesen war, als er Brianna in
Wilmington verlassen hatte. Bonnet aufzuspüren und eine Gelegenheit
zu
finden, die Steine zu stehlen, hatte viel länger gedauert als
gedacht. Es mußte jetzt fast Ende Oktober sein - das Fest des
Samhain, die Nacht vor Allerheiligen, war fast da oder erst kurz
vorbei.
Doch würde dieser Ring denselben Daten folgen? Er
nahm an, daß es so war; wenn die Energielinien der Erde sich mit
ihrer Drehung um die Sonne verschoben, dann sollten alle Passagen
im Einklang mit dieser Verschiebung offenstehen.
Er trat näher an die Felswand heran und sah es;
eine Öffnung fast am Fuß des Kliffs, eine Felsspalte, vielleicht
eine Höhle. Ihn überlief ein Schauer, der nicht das geringste mit
dem kalten Nachtwind zu tun hatte. Seine Finger schlossen sich fest
um die kleinen, harten Edelsteine. Er hörte nichts, war es offen?
Wenn ja…
Entkommen. Das würde es sein. Doch ein
Entkommen in welche Zeit? Und wie? Die Worte von Geillis’ Spruch
erklangen in seinem Kopf. Granatsteine ruhen in Liebe um meinen
Hals; ich werde die Treue bewahren.
Treue. Diesen Fluchtweg zu versuchen bedeutete,
Brianna im Stich zu lassen. Hat sie dich nicht auch im Stich
gelassen?
»Nein, das ist verdammt noch mal nicht wahr!«
flüsterte er vor sich hin. Es gab einen Grund für das, was sie
getan hatte, dessen war er sich sicher.
Sie hat ihre Eltern gefunden, sie hat genügend
Sicherheit! »Darum wird ein Weib Vater und Mutter verlassen und
an ihrem Manne hängen.« Es war nicht Sicherheit, die zählte; es war
Liebe. Wenn es ihm um Sicherheit gegangen wäre, hätte er diese
fürchterliche Leere gar nicht erst durchquert.
Seine Hände schwitzten; er konnte die feuchte
Struktur des groben Stoffes unter seinen Fingern spüren, und seine
aufgeschürften Fingerspitzen brannten und pochten. Er trat einen
weiteren Schritt auf die Spalte in der Felswand zu, den Blick auf
die Schwärze in ihrem Inneren geheftet. Wenn er sie nicht betrat…
dann konnte er nur zwei Dinge tun. In die erstickende Umklammerung
der Rhododendren zurückkehren oder versuchen, das Kliff vor ihm zu
erklimmen.
Er blickte hinauf, um dessen Höhe zu taxieren. Ein
Kopf sah auf ihn herab, gesichtslos in der Dunkelheit, vor dem
mondhellen Himmel nur als Umriß zu erkennen. Er hatte keine Zeit
sich zu bewegen oder nachzudenken, bevor sich die Seilschlinge
sanft über seinen Kopf senkte und ihm die Arme an den Körper
fesselte.