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Alle Neune
»Es ist wie Baseball«, versicherte ich ihr. »Lange
Zeit nichts als Langeweile, dazwischen kurze Perioden heftiger
Aktivität.«
Sie lachte, dann hielt sie abrupt inne und zog ein
Gesicht.
»Uff. Heftig, ja. Puh.« Sie lächelte etwas schief.
»Aber bei einem Baseballspiel kann man wenigstens an den
langweiligen Stellen Bier trinken und Hot Dogs essen.«
Jamie griff den einzigen Teil dieser Unterhaltung
auf, der für ihn einen Sinn ergab, und beugte sich vor.
»In der Vorratskammer ist ein Krug mit kühlem
Bier«, sagte er mit einem nervösen Blick auf Brianna. »Soll ich ihn
holen?«
»Nein«, sagte ich. »Es sei denn, du willst welches;
Alkohol wäre nicht gut für das Baby.«
»Ah. Was ist ein Hot Dog?« Er stand auf und ließ
seine Finger spielen, als ob er sich darauf einstellte, ins Freie
zu eilen und einen Hund zu schießen.
»Es ist eine Art Wurst in einem Brötchen«, sagte
ich und rieb mir die Oberlippe, um nicht loszulachen. Ich blickte
Brianna an. »Ich glaube nicht, daß sie eins möchte.« Kleine
Schweißperlen waren plötzlich auf ihrer hohen Stirn erschienen, und
sie war weiß um die Augenhöhlen herum.
»Oh, würg«, sagte sie schwach.
Jamie, der diese Bemerkung anhand ihres
Gesichtsausdruckes korrekt übersetzte, betupfte ihr Gesicht und
Hals mit dem feuchten Tuch.
»Leg den Kopf zwischen deine Knie, Kleine.«
Sie sah ihn aufgebracht an.
»Ich kriege… meinen Kopf… ja nicht mal in die
Nähe meiner Knie!« sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Dann ließ der Krampf nach; sie holte tief Luft, und ihre
Gesichtsfarbe kehrte zurück.
Jamie blickte uns nacheinander an und runzelte
besorgt die Stirn. Er ging zögernd einen Schritt auf die Tür
zu.
»Ich denke, dann gehe ich wohl besser, wenn ihr
-«
»Laß mich nicht allein!«
»Aber es ist - ich meine, du hast deine Mutter, und
-«
»Laß mich nicht allein!« wiederholte sie. Aufgeregt
beugte sie sich zu ihm hinüber und ergriff seinen Arm, den sie
schüttelte, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Das
darfst du nicht!«
»Du hast gesagt, ich würde nicht sterben.« Sie sah
ihm konzentriert ins Gesicht. »Wenn du hierbleibst, dann wird alles
gut. Dann sterbe ich nicht.« Sie sprach mit solcher Intensität, daß
ich spürte, wie auch mein Inneres von einem plötzlichen Krampf der
Furcht ergriffen wurde, so stark wie der Schmerz einer Wehe.
Sie war groß, kräftig und gesund. Sie sollte
eigentlich keine großen Probleme bei der Geburt haben. Doch ich war
auch nicht klein und ebenfalls gesund - und vor fünfundzwanzig
Jahren hatte ich im sechsten Monat eine Totgeburt gehabt und war
dabei fast selbst gestorben. Ich würde sie wohl vor dem
Kindbettfieber schützen können, doch es gab kein Mittel gegen
plötzliche Blutungen. Das einzige, was ich unter solchen Umständen
tun konnte, war zu versuchen, ihr Kind mit einem Kaiserschnitt zu
retten. Ich hielt meinen Blick entschlossen von der Truhe fern, in
der die sterile Klinge bereitlag, für den Fall des Falles.
»Du wirst nicht sterben, Brianna«, sagte ich. Ich
sprach so beruhigend, wie ich konnte, doch sie mußte die Angst
unter der professionellen Fassade gespürt haben. Ihr Gesicht verzog
sich; sie ergriff meine Hand und klammerte sich so fest daran, daß
die Knochen knackten. Sie schloß die Augen und atmete durch die
Nase, schrie aber nicht auf.
Dann öffnete sie sie und sah mich direkt an. Ihre
Pupillen waren geweitet, so daß sie durch mich hindurchzublicken
schien in eine Zukunft, die nur sie allein sehen konnte.
»Aber wenn…«, sagte sie und legte eine Hand auf
ihren Kugelbauch. Ihr Mund arbeitete, doch was auch immer sie zu
sagen vorgehabt hatte, konnte sich keinen Weg hinausbahnen.
Jetzt kämpfte sie sich auf die Beine, stützte sich
schwer auf Jamie, das Gesicht an seiner Schulter vergraben, und
wiederholte: »Pa, laß mich nicht allein, bitte.«
»Ich laß dich nicht allein, a leannan. Hab
keine Angst, ich bleib’ bei dir.« Er legte einen Arm um sie und sah
mich hilflos über ihren Kopf hinweg an.
»Führ sie herum«, sagte ich zu Jamie, weil ich sah,
wie unruhig sie war. »Wie ein Pferd mit einer Kolik«, fügte ich
hinzu, als er mich verständnislos ansah.
Das brachte sie zum Lachen. Mit der Vorsicht eines
Mannes, der
sich einer scharfen Bombe nähert, legte er einen Arm um ihre
Taille und zog sie langsam durch das Zimmer. Da sie beide so groß
waren, hörte es sich wirklich an, als führte jemand ein Pferd
herum.
»In Ordnung?« hörte ich ihn bei einer Runde besorgt
fragen.
»Ich sag’s dir, wenn’s nicht so ist«, versicherte
sie ihm.
Es war warm für Mitte Mai; ich machte die Fenster
weit auf, und die Düfte von Phlox und Akelei strömten herein,
vermischt mit der kühlen, feuchten Luft vom Fluß.
Das Haus war von einer erwartungsvollen Stimmung
erfüllt: Vorfreude, mit einem Hauch von Furcht unterlegt. Jocasta
ging unten auf der Terrasse auf und ab, zu nervös zum Stillsitzen.
Betty steckte alle paar Minuten den Kopf herein, um zu fragen, ob
wir etwas brauchten; Phaedre kam mit einem Krug frischer
Buttermilch aus der Vorratskammer herauf, für den Fall des Falles.
Brianna, deren Blick nach innen gerichtet war, schüttelte nur den
Kopf; ich selbst trank ein Glas, während ich im Geiste die
Vorbereitungen durchging.
Tatsache war, daß es nicht besonders viel gab, das
man bei einer normalen Geburt tun mußte, und nicht besonders viel,
das man tun konnte, wenn sie anders verlief. Das Bett war
abgezogen und mit alten Bettdecken belegt, um die Matratze zu
schützen; ich hatte einen Haufen sauberer Tücher zur Hand und eine
Kanne heißes Wasser, das etwa jede halbe Stunde aus dem
Kupferkessel in der Küche erneuert wurde. Kühles Wasser zum Trinken
und zum Abwischen der Stirn; ein kleines Fläschen mit Öl zur
Massage, mein Nähwerkzeug, für den Fall des Falles - und darüber
hinaus lag alles bei Brianna.
Nachdem sie fast eine Stunde herumgelaufen war,
blieb sie plötzlich mitten im Zimmer stehen, packte Jamies Arm und
atmete durch die Nase wie ein Pferd am Ende eines langen
Rennens.
»Ich will mich hinlegen«, sagte sie.
Phaedre und ich zogen ihr das Kleid aus und
beförderten sie im Hemd heil auf das Bett. Ich legte meine Hände
auf die riesige Kugel ihres Bauches und staunte über die schiere
Unmöglichkeit dessen, was sich bereits getan hatte und was noch
kommen würde.
Die Verhärtung der Kontraktion flaute ab, und ich
konnte die Umrisse des Kindes unter der dünnen, gummiartigen Hülle
aus Haut und Muskeln deutlich spüren. Es war groß, das konnte ich
erkennen, doch es schien gut zu liegen, mit dem Kopf nach unten und
voll eingestellt.
Normalerweise verhielten sich Babies ziemlich
still, wenn sie im Begriff waren, geboren zu werden,
eingeschüchtert durch den Aufruhr in ihrer Umgebung. Dieses hier
regte sich; ich spürte einen leichten, deutlichen Ruck gegen meine
Hand, als sein Ellbogen vorstach.
»Papa!« Brianna streckte blind die Hand aus und
schlug um sich, als sie von einer Kontraktion überrascht wurde.
Jamie tat einen Satz nach vorn, fing ihre Hand auf und drückte sie
fest.
»Ich bin hier, a bheanachd, ich bin
hier.«
Sie atmete schwer, das Gesicht hochrot, dann
entspannte sie sich und schluckte.
»Wie lange noch?« fragte sie. Sie hatte mir das
Gesicht zugewandt, blickte mich aber nicht an; sie sah die
Außenwelt überhaupt nicht.
»Ich weiß es nicht. Aber nicht mehr sehr lange,
glaube ich.« Die Kontraktionen lagen etwa fünf Minuten auseinander,
doch ich wußte, daß sie noch ewig so weitergehen oder ganz
plötzlich beschleunigen konnten; es war einfach nicht zu
sagen.
Eine leichte Brise wehte vom Fenster herüber, doch
sie schwitzte. Ich wischte ihr noch einmal das Gesicht und den Hals
ab und massierte ihr die Schultern.
»Du machst das wunderbar, Schatz«, murmelte ich ihr
zu. »Ganz prima.« Ich blickte zu Jamie hoch und lächelte. »Du
auch.«
Er versuchte tapfer, das Lächeln zu erwidern; er
schwitzte ebenfalls, doch sein Gesicht war weiß, nicht rot.
»Sprich mit mir, Pa«, sagte sie plötzlich.
»Och?« Er sah mich gehetzt an. »Was soll ich denn
sagen?«
»Es spielt keine Rolle«, sagte ich. »Erzähl ihr
Geschichten; irgend etwas, das sie ablenkt.«
»Oh. Äh… hast du schon die Geschichte von…
Habetrot, der Spinnerin gehört?«
Brianna antwortete mit einem Grunzen. Jamie sah
besorgt aus, begann aber trotzdem.
»Aye, gut. Es war einmal ein Bauernhaus am Fluß,
darin lebte ein hübsches Mädchen namens Maisie. Sie hatte rotes
Haar und blaue Augen und war das schönste Mädchen im ganzen Tal.
Aber sie hatte keinen Ehemann, denn…« Er hielt erschrocken inne.
Ich funkelte ihn an.
Er hustete und erzählte weiter, weil er offenbar
nicht wußte, was er sonst tun sollte. »Äh… weil in jener Zeit die
Männer vernünftig waren und Ausschau nach Mädchen hielten, die
kochen und spinnen konnten und gute Hausfrauen abgeben würden,
anstatt sich hübsche Bräute auszusuchen. Aber Maisie…«
Brianna gab einen tiefen, unmenschlichen Laut von
sich. Jamie biß einen Augenblick die Zähne zusammen, erzählte dann
aber weiter, während er ihre Hand festhielt.
»Aber Maisie liebte das Licht in den Feldern und
die Vögel des Tals…«
Das Licht im Zimmer verblaßte nach und nach, und
der Duft der sonnengewärmten Blumen wich dem feuchten, grünen
Geruch der Weiden am Fluß und dem schwarzen des Holzrauches aus dem
Küchenhaus.
Briannas Hemd war durchnäßt und klebte an ihrer
Haut. Ich grub meine Daumen in ihren Rücken, genau über die Hüften,
und sie lehnte sich fest gegen mich, um den Schmerz zu bekämpfen.
Jamie saß mit gesenktem Kopf da und hielt hartnäckig ihre eine
Hand. Er redete immer noch beruhigend vor sich hin, erzählte
Geschichten von Silkies und Seehundfängern, von
Dudelsackspielern und Feen, von den Riesen in Fingals Höhle und dem
schwarzen Pferd des Teufels, das schneller durch die Luft rast als
der Gedanke zwischen Mann und Maid.
Die Wehen folgten jetzt dicht aufeinander. Ich gab
Phaedre einen Wink, die loslief und mit einer brennenden Kerze
zurückkam, um die Kerzen in den Haltern anzuzünden.
Es war kühl und halbdunkel im Zimmer, die Wände von
flackernden Schatten erleuchtet. Jamies Stimme war heiser; Brianna
hatte ihre nahezu verloren.
Mit einemmal ließ sie los und setzte sich auf. Sie
zog die gespreizten Beine an und umfaßte ihre Knie, das Gesicht
dunkelrot vor Anstrengung, und preßte.
»Na dann«, sagte ich. Rasch stapelte ich Kissen
hinter ihr auf, ließ sie sich gegen den Bettrahmen zurücklehnen,
holte Phaedre, damit sie den Kerzenleuchter für mich hielt.
Ich rieb mir die Finger mit Öl ein, griff ihr unter
das Hemd und berührte sie an Stellen, die ich nicht mehr angefaßt
hatte, seit sie selbst ein Baby gewesen war. Ich massierte sie
langsam, sanft, redete mit ihr und wußte genau, daß es keine große
Rolle spielte, was ich sagte.
Ich fühlte die Anspannung, die unmittelbare
Veränderung unter meinen Fingern. Entspannung, dann noch einmal. Es
kam ein plötzlicher Schwall von Fruchtwasser, das über das Bett
spritzte, auf den Fußboden tropfte und das Zimmer mit dem Geruch
fruchtbarer Flüsse erfüllte. Ich massierte und schob, betete, daß
es nicht zu schnell kam, daß sie nicht reißen würde.
Der Hautring öffnete sich auf einmal, und meine
Finger berührten etwas Feuchtes, Hartes. Entspannung, und es wich
zurück, fort, und ließ meine Fingerspitzen prickelnd mit dem Wissen
zurück, daß ich jemand vollkommen Neues berührt hatte. Noch einmal
kam der große Druck, die Dehnung, und noch einmal wich es langsam
zurück. Ich schob den Saum des Hemdes hoch, und bei der nächsten
Preßwehe
dehnte sich der Ring zu unmöglicher Größe aus, und ein Kopf, der
aussah wie ein chinesischer Wasserspeier, kam in einer Flut aus
Fruchtwasser und Blut herausgeschossen.
Ich befand mich Nase an Nase mit einem wachsweißen
Kopf, der ein Gesicht wie eine Faust hatte und mir in äußerster Wut
Grimassen schnitt.
»Was ist es? Ist es ein Junge?« Jamies heisere
Frage durchschnitt meine Verblüffung.
»Das hoffe ich doch«, sagte ich und strich ihm
hastig mit dem Daumen den Schleim aus Nase und Mund. »Es ist das
Häßlichste, was ich je gesehen habe; Gott steh ihm bei, wenn es ein
Mädchen ist.«
Brianna machte ein Geräusch, das vielleicht als
Lachen begonnen hatte und dann in ein enormes, angestrengtes
Grunzen umschlug. Ich hatte kaum Zeit, meine Finger hineinschlüpfen
zu lassen und die breiten Schultern ein wenig zu drehen, um
nachzuhelfen. Es gab ein hörbares Pop, und ein langes,
nasses Etwas schlitterte auf die durchnäßte Bettdecke hinaus, wo es
zappelte wie eine gestrandete Forelle.
Ich griff nach einem sauberen Leinenhandtuch,
wickelte ihn hinein - es war ein er, der Hodensack hing ihm
geschwollen und dunkelrot zwischen den fetten Oberschenkeln - und
überprüfte rasch seine Apgarwerte: Atmung, Farbe, Bewegung… alles
gut. Er gab dünne, zornige Laute von sich, kurze Explosionen seiner
Lungen, ohne wirklich zu weinen, und er boxte mit seinen winzigen,
geballten Fäusten in die Luft.
Ich legte ihn auf das Bett, eine Hand auf dem
Bündel, während ich nach Brianna sah. Ihre Oberschenkel waren
blutverschmiert, doch es gab keine Anzeichen für einen Blutsturz.
Die Nabelschnur pulsierte immer noch, eine dicke, feuchte Schlange,
die sie beide verband.
Sie lag keuchend auf den zerwühlten Kissen, das
feuchte Haar an ihre Schläfen geklebt, ein breites Lächeln der
Erleichterung und des Triumphes im Gesicht. Ich legte eine Hand auf
ihren Bauch, der plötzlich schwammig geworden war. Tief innen
spürte ich, wie die Plazenta nachgab, als ihr Körper die letzte
physische Verbindung mit ihrem Sohn preisgab.
»Noch einmal, Schätzchen«, sagte ich leise zu ihr.
Die letzte Kontraktion ließ ihren Bauch erschauern, und die
Nachgeburt glitt heraus. Ich band die Nabelschnur ab und
durchtrennte sie, dann legte ich ihr das solide, kleine Bündel mit
dem Kind in die Arme.
»Er ist wunderschön«, flüsterte ich.
Ich überließ ihn ihr und wandte meine
Aufmerksamkeit dringenderen Angelegenheiten zu. Ich knetete ihren
Bauch fest mit meinen
Fäusten, damit sich ihr Uterus zusammenzog und zu bluten aufhörte.
Ich konnte hören, wie sich aufgeregtes Geplapper im Haus
ausbreitete, als Phaedre nach unten eilte, um die Nachricht zu
verbreiten. Ich blickte auf und sah, daß Brianna leuchtete. Sie
lächelte immer noch von einem Ohr zum anderen. Jamie war hinter
ihr. Auch er lächelte, die Wangen tränennaß. Er sagte etwas in
heiserem Gälisch zu ihr, strich ihr das Haar vom Hals und beugte
sich vor, um sie sanft zu küssen, dicht hinter dem Ohr.
»Hast du Hunger?« Briannas Stimme war tief und
gebrochen, und sie versuchte, sich zu räuspern. »Soll ich ihn
füttern?«
»Probier’s und schau einfach. Manchmal sind sie
direkt danach müde, aber manchmal wollen sie auch nuckeln.«
Sie nestelte am Halsausschnitt ihres Hemdes herum,
zog das Band auf und entblößte eine hochstehende, volle Brust. Das
Bündel machte kleine Geräusche, die sich wie grauf anhörten,
als sie es umständlich zu sich hindrehte, und ihre Augen sprangen
vor Überraschung weit auf, als der Mund mit plötzlicher Heftigkeit
ihre Brustwarze umschloß.
»Ganz schön stark, nicht wahr?« sagte ich, und erst
als das Salz meiner Tränen mir in die lächelnden Mundwinkel lief,
merkte ich, daß ich weinte.
Etwas später, als Mutter und Kind gewaschen waren,
für ihre Bequemlichkeit gesorgt war, Essen und Trinken für Brianna
gekommen war und eine letzte Untersuchung ergeben hatte, daß alles
in bester Ordnung war, trat ich in die tiefen Schatten der oberen
Etage hinaus. Ich fühlte mich angenehm abwesend von der Realität,
so als schwebte ich ungefähr einen halben Meter über dem
Boden.
Jamie war nach unten gegangen, um John Bericht zu
erstatten; er wartete am Fuß der Treppe auf mich. Er zog mich
wortlos in seine Arme und küßte mich; als er mich losließ, sah ich
die dunkelroten Halbmonde, die Briannas Nägel in seine Hände
gegraben hatten und die noch nicht verblichen waren.
»Du hast es auch gut gemacht«, flüsterte er mir zu.
Dann leuchtete die Freude hell in seinen Augen auf und erblühte zu
einem breiten Grinsen. »Oma!«
»Ist er dunkel oder hellhäutig?« fragte Jamie
plötzlich und erhob sich neben mir im Bett auf seinen Ellbogen.
»Ich habe seine Finger gezählt und bin noch nicht einmal auf die
Idee gekommen, nachzusehen.«
»Das kann man jetzt noch nicht genau sagen«,
antwortete ich schläfrig. Ich hatte seine Zehen gezählt, und ich
war auf die Idee gekommen.
»Er ist irgendwie rosarot, und er ist immer noch über und über mit
Käseschmiere - das ist das weiße Zeug - bedeckt. Es wird
wahrscheinlich noch ein paar Tage dauern, bevor seine Haut eine
natürliche Farbe annimmt. Er hat ein paar dunkle Haare, aber die
sind von der Sorte, die bald nach der Geburt ausfallen.« Ich
räkelte mich und genoß den angenehmen Schmerz in Beinen und Rücken;
Wehen waren harte Arbeit, auch für die Hebamme. »Es würde nichts
beweisen, wenn er hellhäutig wäre, da Brianna es auch ist; er
könnte es so oder so sein.«
»Aye… aber wenn er dunkel wäre, dann wüßten wir es
mit Bestimmtheit.«
»Vielleicht auch nicht. Dein Vater war dunkel;
meiner auch. Er könnte rezessive Gene haben und auch dann noch
dunkel werden, wenn -«
»Er könnte was haben?«
Ich versuchte vergeblich, mich zu erinnern, ob
Gregor Mendel schon angefangen hatte, mit seinen Erbsenstauden
herumzuexperimentieren, gab es aber auf, weil ich zu müde war, um
mich zu konzentrieren. Jamie hatte sowieso offenbar noch nicht von
ihm gehört.
»Egal, welche Farbe er annimmt, wir würden keine
Gewißheit haben«, sagte ich. Ich gähnte herzhaft. »Wir werden es
erst erfahren, wenn er alt genug wird, um anzufangen… jemandem
ähnlich zu sehen. Und selbst dann…« Ich verstummte. Spielte es eine
große Rolle, wer sein Vater gewesen war, wenn er sowieso keinen
haben würde?
Jamie schmiegte sich an meinen Rücken und nahm mich
in den Arm. Wir schliefen nackt, und die Haare auf seinem Körper
strichen über meine Haut. Er küßte mich sanft auf den Nacken und
seufzte, und sein Atem kitzelte mich warm am Ohr.
Ich schwebte am Rande des Einschlafens, zu
glücklich, um vollständig den Träumen zu verfallen. Irgendwo in der
Nähe hörte ich ein kurzes, unterdrücktes Quäken und
Stimmengemurmel.
»Aye, na ja«, weckte mich Jamies Stimme ein paar
Sekunden später. Er klang trotzig. »Ich kenne zwar seinen Vater
nicht, aber wenigstens bin ich mir sicher, wer sein Großvater
ist.«
Ich langte hinter mich und täschelte sein
Bein.
»Ich auch - Opa. Gib Ruhe und schlaf jetzt. ›Ein
jeder Tag hat seine eigene Plage.‹«
Er schnaubte, doch die Anspannung wich aus seiner
Umarmung, und Sekunden später war er eingeschlafen, eine Hand um
meine Brust geschlossen.
Ich lag mit weit geöffneten Augen da und
beobachtete die Sterne
durch das offene Fenster. Warum hatte ich das gesagt? Es war
Franks Lieblingszitat, eines, das er immer benutzte, um Brianna
oder mich zu trösten, wenn wir uns Sorgen machten: Ein jeder Tag
hat seine eigene Plage.
Die Luft im Zimmer war lebendig; eine Brise bewegte
die Vorhänge, und Kühle berührte meine Wange.
»Weißt du?« flüsterte ich tonlos. »Weißt du, daß
sie einen Sohn hat?«
Es kam keine Antwort, doch in der Stille der Nacht
kam nach und nach Friede über mich, und schließlich fiel ich über
den Rand der Träume.