75. Am Ende des Tunnels

Ich lag also auf dem Fluxi-Bett und wollte schlafen, aber es ging nicht. Das Bummbumm der großen Party drang leise durch die Betonwände und erinnerte mich daran, dass da draußen Leute waren, die sich amüsierten, die tanzten, Drogen nahmen, sich betranken, knutschten, fummelten, Sex hatten, Platten auflegten, Unsinn redeten und was weiß ich nicht alles, während ich im guten alten Fluxi-Bett lag und nicht schlafen konnte und außerdem das Gefühl hatte, etwas vergessen zu haben, es hatte etwas mit Erwins Frage zu tun, damit, ob ich nun nach Berlin kommen oder in Hamburg bleiben wolle, denn natürlich wollte ich nach Berlin, aber warum hatte ich dann so vage geantwortet, warum hatte ich mich um noch gar nichts gekümmert, warum hatte ich nicht wenigstens Ferdi mal gefragt, ob er was zu wohnen für mich hatte oder gar Erwin Kächele, wie oft hatte ich früher bei ihm gewohnt oder durch ihn was zu wohnen gefunden, dabei wurde das doch nun, wo mein Job für BummBumm fast vorbei und die Springtime-BummBumm-Lounge geschlossen war und also die ganze Magical-Mystery-Sause und damit auch die Fluxi-Beheimatung ihrem Ende entgegengingen, ganz schön dringlich und ich konnte mir beim besten Willen nicht einreden, dass ich eben ein cooler Typ war, der voll im Hier und Jetzt lebte und erstmal alles auf sich zukommen ließ, nein, der war ich nicht, es war eher so, dass irgendwas fehlte, irgendwas war noch nicht klar, und so lag ich also da auf dem guten alten Fluxi-Bett und konnte nicht schlafen, ich dachte nach und dachte nach und durch die Wände drang leise das gute alte Bummbumm und redete mir ein, dass die Antwort irgendwo da draußen war, und je länger ich dort lag, desto mehr sehnte ich mich dahin zurück, wo das große Bummbumm-Herz schlug, dahin wo, da war ich mir sicher, die Antwort war, was immer die dann war, hier, im Fluxi-Bett, wusste ich ja nicht einmal die Frage, nur dass ich etwas vergessen hatte, im Fluxi-Bett ging es nicht weiter, also stand ich auf und wusch mir Gesicht und Hände und machte mich zurück auf den Weg zur Springtime, wo, wie ich müde und irgendwie innerlich verkitscht zu denken mich nicht hindern konnte, mein Schicksal auf mich wartete.

Aber als ich aus dem Fluxi-Tunnel heraus in den Ringstrom kam, war alles aus. Ich kam nicht hinüber, ich traute mich nicht einmal hinein in den Ringstrom, ich sah die ganzen Leute und kriegte einen Flash, ich hielt am Ausgang des Fluxi-Tunnels an und die Paranoia kam über mich wie ein Schlag auf den Schädel, da war kein Herankriechen und kein Anschleichen und kein langsames Sichaufbauen von Paranoia mehr, da war einfach dieser Schlag und die Paranoia war da und schloss mich von allen Seiten ein wie eine eiserne Jungfrau, ich hatte so eine mal in einem Mittelaltermuseumsquatsch mit meinen Eltern gesehen, das war bei einem dieser Ausflüge gewesen, und genau so, wie ich mir damals vorgestellt hatte, dass es wohl wäre, wenn man in eine solche eiserne Jungfrau gesteckt und die dann zugeklappt würde, genau so fühlte ich mich in diesem Moment, ich konnte mich nicht mehr bewegen, nicht einmal so weit, dass es dafür gereicht hätte, sich an die nächste Wand zu lehnen, ich stand am Ende des Fluxi-Tunnels und schaute die Leute an, die da dicht an dicht gepackt an mir vorbeiströmten mit bleichen Gesichtern und durchgeschwitzten Klamotten und bunten Haaren und freakigen Outfits und was weiß ich, ich sah also diese Leute und ein Weitergehen war unmöglich und ich wusste zugleich, dass ich auch nicht mehr zurück ins Fluxi gehen konnte, denn wenn ich jetzt ins Fluxi zurückging, wäre das die ultimative Niederlage gewesen, zurück ins Fluxi-Bett war auch zurück nach Hamburg und zurück in die Clean Cut 1, und ich schaute mich um, während ich dort stand und nicht vor- und nicht zurückkonnte, ich drehte den Kopf zur Seite, nach links, nach rechts, nur weg von den vielen Leuten, die alle ganz schön abgefuckt aussahen, die Körper verwohnt, die Gesichter abgespannt und stumpf, wahrscheinlich war es das Neonlicht und der Moment der Abschlaffung, den sich die Leute außerhalb der großen Halle gönnten, aber ich konnte den Kopf zur Seite drehen und weg von den Leuten und einfach auf das letzte Stück der Fluxi-Tunnelwand blicken und ich weiß nicht, was die Leute vom Fluxi oder von der Ruhr-Emscher-Halle sich dabei gedacht hatten, aber sie hatten nun mal diese Farbe für den Sichtbetonanstrich in diesem Tunnel ausgesucht, deren Anblick mich jetzt insofern weiterbrachte, als ich auf einmal ganz genau wusste, was ich vergessen hatte und was ich auf jeden Fall tun musste: Rosa finden und mit ihr reden.

Und ich gab mir einen Ruck und riss mich zusammen und schaffte vollendete Tatsachen, so wie früher, wenn man im Freibad auf dem Fünfmeterbrett stand und natürlich nicht springen wollte, wie denn auch, wer war denn so irre, von sowas runterzuspringen, und dann zwang man sich selbst, indem man einfach den einen Schritt weitermachte und dann fiel man, und so machte ich auch jetzt einen Schritt vor und stürzte mich mit geschlossenen Augen in den Menschenstrom und ließ mich mittreiben, und so wie man im Freibad, wenn man ins Wasser eintauchte, die Luft anhielt, so hielt auch ich die Luft an, bis ich die nächste Treppe erreicht hatte, die mich raus aus dem Gewühl und nach oben führte.

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
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