46. Mechanik und Statik
Das Telefon flötete wieder sein Lied, als ich gerade in einem Laden stand, in dem sie neue und antiquarische Kunstkataloge verkauften, im Schaufenster hatten sie ein Schild mit dem Versprechen: »Kunstkataloge: Was wir nicht haben, besorgen wir!«, aufgestellt, das hatte mich reingelockt. Drinnen war es eher unübersichtlich, aber irgendwann kam ich hinter das System und kämpfte mich durch den Wust von Katalogen, die teils aufrecht in Regale gestellt, teils in Stapeln davor aufgeschichtet waren, bis zu Sch und Schlumheimer durch, irgendwo musste man ja anfangen, und ich nahm mir vor, nicht weiter nach rechts zu schauen, wo es mit dem Alphabet von Schlumheimer aus weiterging, immer schön Tunnelblick auf Schlumheimer, das sollte mein Motto sein, es war eine Menge Schlumheimer am Start und ich fing an, in einem der Schlumheimerdinger zu blättern, es war der Katalog einer Berliner Ausstellung von 1979, da war er gerade abgegangen wie Schmidts Katze, der gute alte Schlumheimer, und ich war gerade nach Berlin gekommen, weg von Mutter und hin zu Schlumheimer, Harvestehude nein, Mauerstadt ja, so war’s gekommen, und Schlumheimer damals schon für mich der gute alte Quatschguru, und als ich mir den Katalog gerade so anguckte und darauf achtete, dass die Augen im Regal ansonsten nicht weiter nach rechts wanderten, meldete sich das Telefon, düdelüdelüdelüdelüüh, es war eindeutig »Für Elise«, der Flohwalzer war es jedenfalls nicht, ich also das Ding wieder aus der Jacke gefummelt und ans Ohr gehalten: »Schulte!«
»Ja, ich bin’s wieder, Maier, ich hätte gerne Karl Schmidt gesprochen.«
»Der ist nicht da.«
»Du kannst durch die Nase reden, bis du schwarz geworden bist, Karl Schmidt, ich erkenne deine Stimme!«
Ich ließ mich nicht beirren, zumal es Quatsch war, was er sagte, die Wahrheit war ja, dass ich mir die Nase zuhielt, was ja nun genau das Gegenteil von Durch-die-Nasereden war, aber das konnte ich natürlich nicht sagen.
»Hören Sie«, sagte ich streng, »ich weiß nicht, was Sie von Charlie wollen, aber der ist gerade nicht in der Nähe und beleidigen lasse ich mich nicht.«
»Soso«, sagte Werner. »Und wann ist er mal in der Nähe, der liebe Charlie?«
»Der ist in Köln, wir sind in München«, sagte ich. »Der hat noch in Köln zu tun.«
»Und was macht der da? Und wo ist der da?«
»Hören Sie«, sagte ich streng, »ich versuche gerade, meinen Schnupfen auszukurieren, ich wollte gerade ein Dampfbad mit Kamille nehmen, das ist schon aufgegossen und das wird jetzt kalt, also wollen wir das vielleicht abkürzen: Ich kenne Sie nicht und ich gebe Ihnen keine Auskunft über egal wen, Sie alte Sozpäd-Kapeike.«
»Ha, bist du das doch, Karl Schmidt, jetzt hast du dich selbst verraten, da kannst du mir erzählen, was du willst, das ist doch typisch dein dummes Gequatsche! Und jetzt hör mal zu, früher oder später wirst du mit mir reden müssen, am besten früher, so kommst du mir nicht davon, einfach abhauen ist nicht, das sag ich dir gleich. Am besten kommst du mal gleich zurück und erzählst alles. Oder St. Magnus erstmal, wenn die dich da noch nehmen!«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden!«
»Na gut, spielen wir das so weiter«, sagte Werner und ich sah ihn regelrecht vor mir, wie er da den guten alten Werner-weiß-Bescheid-Plenumszeigefinger hin- und herwedelte, »machen wir ruhig hier einen auf doof, aber tun Sie mir bitte einen Gefallen, lieber Herr Schulte: Sagen Sie Charlie, wenn Sie ihn wiedersehen, und ich bin sicher, das wird bald sein, sagen Sie ihm also, er kann sich jederzeit bei mir melden! Ich hab zwar nicht so ein Telefon wie Sie, Herr Schulte, aber der liebe Charlie kann mich ja zu Hause erreichen, sagen Sie ihm das, zu Hause, er wird ja wohl noch wissen, wo das ist. Und wie da die Nummer geht. Ich habe ihn noch nicht abgeschrieben, er kann jederzeit anrufen und er kann jederzeit zurückkommen, nüchtern oder breit, das ist mir wurscht, oder er kann auch nicht zurückkommen, meinetwegen, aber er soll vorher wenigstens noch einmal mit mir geredet haben, die feige Sau.«
»Das ist ein bisschen viel, was ich ihm da sagen soll, ich glaube nicht, dass ich mir das alles merken kann. Können Sie ihm keinen Brief schreiben?«
»Wohin denn?«
»Was weiß ich, Sie wissen doch immer alles, dann werden Sie das schon noch rauskriegen. Wo haben Sie eigentlich diese Nummer her?«
»Ich hab bei so Idioten in Berlin angerufen, die haben mir weitergeholfen, Herr Schulte!«
»Soso«, sagte ich und wusste nicht mehr weiter. Irgendwie fehlte mir der alte Zausel und ich freute mich, seine Stimme zu hören, aber er tat mir auch ein bisschen leid, dieses Gespräch erinnerte mich auf unangenehme Weise daran, wie meine Mutter damals in eine Kneipe im Karolinenviertel gekommen war und gewollt hatte, dass ich mit ihr nach Hause kam und wie ich ihr vor der versammelten Punker-Mannschaft eine Abfuhr erteilt hatte, da war ich achtzehn gewesen, und wie sie sich dann immer weiter zum Horst gemacht und dem Wirt mit der Polizei und sonst was gedroht hatte, und der hatte sie ausgelacht, das war traurig gewesen, und ein bisschen traurig wurde ich jetzt auch und ich wollte schon sagen »Okay, Werner, du alte Betreuungshaubitze, lass uns reden«, da fing er wieder an und sagte: »Aber das ist kein Charity-Ding, das können Sie ihm sagen, dem Charlie, wenn Sie ihn sehen, Herr Schulte, das ist nicht, weil er mir leidtut, oder weil ich sentimental bin, ich sehe es bloß als meine verdammte Pflicht an, wenigstens einmal noch mit ihm geredet zu haben, haut der einfach ab, der Charlie!«
»Ich habe gerade nichts zum Mitschreiben«, sagte ich und dabei wanderte mein Blick nach rechts zu den Schmidts im Regal, und da waren viele, viele Kataloge, es heißen ja auch viele Leute Schmidt, da sind dann auch viele Künstler dabei, das ist ja logisch, und dann sah ich einen Katalog, der war gleich mehrmals da, Rücken an Rücken, alle gleich, und der hieß »Karl Schmidt – Mechanik und Statik, Galerie Wiesenberg«, das war der Knesebeckstraßen-Katalog, den ich nie gesehen hatte, den hatte Wiesenberg damals zur Vernissage fertig haben wollen und ich kam direkt vorher in die Klapse, so sah’s aus, und durch diesen Anblick wurde ich ziemlich abgelenkt von dem Gespräch mit Werner, er quakte noch einige Zeit was aus dem Knochen und ich immer so »jaja«, während ich in die Knie ging und den Kopf verdrehte und mir diese Rücken anguckte, »Karl Schmidt – Mechanik und Statik, Galerie Wiesenberg«, nicht zu fassen, so hatten wir das damals wirklich genannt, Mechanik und Statik, das kam mir jetzt ein bisschen albern vor, zu technisch und zu arbeitsmäßig, eigentlich wollte man ja gar nicht arbeiten, man wollte ja Kunst machen, und über die Typen mit ihrem Arbeitsbegriff hatten wir immer gelacht, wir wollten spielen und nicht arbeiten, wenn wir hätten arbeiten wollen, wären wir ja keine Künstler geworden, so hatten wir das damals gesehen, aber in der Knesebeckstraße hatten sie immer noch das Lied von der Kunst als Arbeit gesungen, selbst Ende der achtziger Jahre noch, wahrscheinlich bis zum heutigen Tage! Ich zog einen der Kataloge heraus und sah mein Bild vorne drauf, im Anzug mit Acetylenschneidbrenner mit Flamme an und vor einem Stahlobjekt posierend, sinnlos in die Kamera grinsend, irgendwie großartig, aber auch großartig dämlich.
»Werner«, sagte ich ohne nachzudenken ins Telefon, »ich hab jetzt keine Zeit für dich. Ich ruf später wieder an.«
»Moment mal«, sagte Werner, »warte mal …« Ich drückte ihn weg.
Dann betrachtete ich in Ruhe das Bild. Ich war gut drauf gewesen damals. Nicht der Hellste, aber gut drauf. Ich sah aus wie einer, den nichts erschüttern kann, dabei kam ich nur wenige Wochen nach dem Foto in die Klapse, wie passte das zusammen?
Ich konnte mich von dem Bild nicht losreißen, es war schwarz-weiß, so wie alles damals, irgendwie hatte die Welt vor dem Mauerfall in meiner Erinnerung keine Farben, wir hatten in einem Schwarz-Weiß-Film gelebt, wir waren nicht durch Straßen, sondern durch Kulissen gelaufen und wir hatten auch nicht einfach gelebt, wir hatten Leben gespielt, und egal ob wir müde, wach, verkatert, fröhlich, verliebt, traurig, deprimiert gewesen waren, das war alles Teil einer größeren Sache gewesen, noch die blödeste Arbeit, das langweiligste Besäufnis, das mühsamste Geldverdienen, die hilfloseste Kunst, die hässlichste Wohnung, der kälteste Winter, die quälendste Krankheit waren etwas Besonderes und kostbar und Teil eines Großen Ganzen gewesen, eines Spiels, eines Films, und wir darin unsterblich, und so sah ich auf dem Bild auch aus, unsterblich wie einer, der in Drachenblut gebadet hatte und dessen eine verwundbare Stelle niemand kannte, nicht einmal er selbst, und während ich darüber nachdachte und über mich und die anderen staunte, weil wir so großartig gewesen waren, und da also blöd herumstand in einer Kölner Kunstbuchhandlung, in der linken Hand ein Yuppie-Telefon, in der rechten einen alten Katalog haltend und mit den Tränen kämpfend, klingelte oder jedenfalls dudelte das Telefon wieder, und ich drückte mit einem geschickten Daumen auf den grünen Knopf und hielt es mir ans Ohr und es war wieder Werner und er sagte: »Glaub bloß nicht, Charlie, dass du einfach auflegen kannst, bloß weil du so ein albernes Funktelefon hast!«
»Kann ich wohl«, sagte ich.
»Kannst du nicht«, sagte Werner.
»Naja«, sagte ich, »eigentlich ist es nicht auflegen, es ist eher wegdrücken!«
Ich drückte ihn weg und stellte das Telefon aus. Das war ja das Gute an diesen Dingern, dass man sie ausschalten konnte. Ich hatte Leute in den Siebzigern gekannt, die ihr Telefon in den Kühlschrank gestellt hatten, weil man es damals noch nicht mal ausstöpseln oder wenigstens leiser stellen konnte. Bei diesem Ding gab es einen Knopf, und wenn man länger draufdrückte, ging es aus. Fantastisch!
Ich kaufte einen Katalog und ließ ihn mir in eine undurchsichtige Tüte packen, damit ich nicht dauernd draufgucken musste. Draußen schien die Sonne. Ich ging einen Kaffee trinken und rauchen, mehr konnte ich im Moment nicht tun.