16. Regen
Als wir aus dem Lala rauskamen, regnete es noch immer, es hatte sich eingeregnet, wie Rüdiger, der Hausmeister, immer gesagt hatte, Rüdiger war immer ein ziemlicher Regenfreak gewesen, bei Regen war er aufgeblüht, und so auch Raimund, der vor die Tür trat und als erstes »Regen ist doch das einzig wahre Wetter« sagte, was so auch von Rüdiger hätte kommen können, Rüdiger war immer gleich beim ersten Regentropfen in Gummistiefeln und Ölzeug losgegangen und hatte irgendwelche Regenwürmer ausgegraben oder was es sonst an Quatschvorwänden gegeben hatte, bei Regen ins Freie zu gehen, er hatte das geliebt, den Geruch von nassem Gras und nassem Wald und all das, das war sein Ding gewesen, und Raimund war ähnlich gestrickt, wie es schien, nur dass es hier, in diesem halbverfallenen Bullerbü-Berlin, natürlich weder nasses Gras noch nassen Wald gab, hier roch es eher nach nassem Asphalt und immer noch ein bisschen nach nassem Osten, aber das war Raimund offensichtlich recht, er stellte sich gleich in den munter herunterplatschenden Regen und schaute in den Himmel und ließ sich das Wasser übers Gesicht laufen und sagte: »Das ist ein gutes Wetter, um sich erstmal ein bisschen hinzulegen!« Rosa spannte ihren Regenschirm auf, trat aus dem Eingangsbereich des Lala heraus und sagte zu mir: »Komm am besten erstmal mit und guck dir an, wo du wohnst!«
»Ja, mach das mal, Charlie«, sagte Ferdi und blieb im Eingangsbereich des Restaurants stehen, eng bei ihm Anja und Dubi, die skeptisch in das Wetter blinzelten. »Und dann kommst du ins Büro und los geht’s! Ich geh auch gleich ins Büro, ich muss nur eben mit den beiden hier noch was besprechen.«
Ich ging also mit Rosa unter ihrem Regenschirm mit. Das war kein besonders großer Regenschirm und ich achtete darauf, dass ich sie nicht berührte, mir war das nicht ganz geheuer, in den letzten fünf Jahren war ich keiner Frau so nahe gekommen, nicht einmal Dr. Selge, wenn sie mir eine Spritze gab. Das Problem war nur, dass ich, wenn ich sie unter ihrem Regenschirm nicht berühren wollte, irgendwie schief laufen musste, also den Oberkörper beim Laufen nach links neigen, sonst wäre der Regenschirm ja nutzlos gewesen, weil die rechte Hälfte von Kopf und Schultern ja trotzdem vollgeregnet worden wäre, das war nicht bequem, so neben ihr herzulaufen, aber es ging auch nur kurz, dann schaute Rosa mich an und sagte »Halt mal!« und gab mir den Schirm.
Ich nahm also den Schirm mit der Linken und sie hakte sich bei mir unter und wir bogen Arm in Arm um die Ecke Richtung BummBumm Records und dessen Nachbarhaus, wo sie wohnte. Ich sagte nichts, sie sagte nichts, und so, wie sie sich bei mir eingehakt hatte, ging das mit dem Schirm ganz gut, sie war auch gar nicht dürr und knochig, wie ich am Anfang gedacht hatte, das fiel mir jetzt auf, als sie meinen Arm an sich drückte und ich sie unauffällig von der Seite betrachtete, dürr und knochig, ich wusste gar nicht, wie ich darauf gekommen war, ich musste sie mit Astrid verwechselt haben, ich hatte einfach gedacht, dass sie dürr und knochig ist, weil ich Astrids Bild auf sie draufprojiziert hatte, das war also das Ergebnis von fünf Jahren therapeutischer Wohngemeinschaft, dass man jetzt überall Astrid sah, das musste aufhören, das würde einem das ganze Geschlechterverhältnis verhageln, dachte ich, man muss überhaupt aufhören, dauernd in diesen Altonaer/Othmarschener Kategorien zu denken, schärfte ich mir ein, man muss Werners Macht brechen, dachte ich völlig unsinnig, nur um überhaupt in diesem Moment, in dem Rosa mich untergehakt hatte und wir friedlich nebeneinanderhergingen, etwas zu denken, das nichts mit dem, was gerade lief, zu tun hatte.
Was natürlich ein Fehler war, wie mir natürlich auch klar war. Entweder ist das, was gerade läuft, okay oder es ist nicht okay, und man kann nicht an irgendeinen sinnlosen, vergangenen Kram wie etwa Altona oder Othmarschen denken, nur um sich vom gerade laufenden Geschehen abzulenken, jedenfalls nicht absichtlich, verdammtes Über-Ich aber auch, dachte ich und musste lachen.
»Irgendwas lustig?«, sagte Rosa.
»Ja«, sagte ich.
»Das ist gut«, sagte sie. Ich wurde nicht schlau aus ihr. Sie hing an meinem Arm, als habe sie nie etwas anderes gemacht, als sei das schon seit Jahren bei Regen so üblich, ich den Schirm haltend, sie sich dranhängend, dabei fasste sie manchmal mit der Hand nach, so als sei sie abgerutscht, was wahrscheinlich auch ganz simpel der Fall war und auch kein Wunder bei der dicken, wasserabweisenden Jacke, die ich trug, ich hatte sie in einem Arbeitsbekleidungsgeschäft gekauft, das irgendwo in der Grauzone zwischen Bahrenfeld und Groß Flottbek gelegen hatte, ich hatte zwanzig Minuten lang mit Rüdiger um den Block kurven müssen, um es zu finden, Rüdiger hatte den Weg gewusst, aber den Überblick verloren, und als wir endlich den Laden gefunden hatten, hatte es in Strömen geregnet und ich hatte mir zusätzlich zum Hausmeisterkittel, den Rüdiger mir dort anpassen wollte, gleich noch diese Jacke gekauft, sie war hässlich gewesen und sie war hässlich geblieben, schmutzig schwarz und die Oberfläche irgendwie wachsartig imprägniert, wahrscheinlich für Schornsteinfeger oder Baupoliere oder was weiß ich gedacht, und es war eine Schande, mit so etwas durch die Gegend zu laufen, man müsste mal wieder ein bisschen Stil und Klasse entwickeln, dachte ich, während Rosa nach Schlüsseln kramte und mich in das kleine Haus hineinließ, in dem ihre Wohnung lag, und zwar im ersten Stock. »Vorsicht auf der Treppe«, sagte sie, als wir hinaufstiefelten, »die ist ungleichmäßig, ich bin hier schon tausendmal auf die Schnauze gefallen!«, und dann öffnete sie ihre Wohnung und zeigte mir mein Zimmer. Darin war eine Matratze, ein Schrank und ein Wäscheständer.
»Tut mir leid, sieht nicht so toll aus«, sagte sie, »meine Mitbewohnerin ist gerade ausgezogen.«
Ich stellte meine Tasche ab.
»Erst wollte sie unbedingt in Mitte wohnen, und dann ist sie mit irgend so einem Kerl nach Steglitz gezogen«, sagte sie.
»Nach Steglitz?«, sagte ich.
»Ja, nach Steglitz.«
Sie sagte das so, als sei das das Normalste der Welt und stand in der Tür und sah mir dabei zu, wie ich in meiner Tasche, die eigentlich ein Seesack war, den ich mal in einem Anfall von nautischem Romantikschwachsinn in einem Schiffsausrüstungsgeschäft am Baumwall gekauft hatte, in das Rüdiger unbedingt gemusst hatte, um sich irgendwelche Messingbeschläge für sein Badezimmer zu kaufen, herumwühlte, denn ich hatte noch irgendwo eine Packung Tabak, die ich jetzt dringend brauchte, um weiter rauchen zu können, ich hatte auf all unseren Wegen kein einziges Tabakgeschäft gesehen, nur lauter Klimbimgeschäfte, aber geraucht werden musste, und zwar dringend.
Rosa sah mir beim Kramen zu, dann sagte sie: »Steglitz … – ich weiß überhaupt nicht, wo das liegt, wo liegt das überhaupt?«
»Irgendwo im Süden«, sagte ich, »im Westen, also Westberlin, da fährt eine U-Bahn hin, die Linie 9.«
»Aha«, sagte sie. »Das mit der U-Bahn hat meine Mitbewohnerin auch gesagt, die blöde Kuh! Als ob das irgendwas zu bedeuten hätte.«
Von draußen trommelte der Regen an die Scheiben. Ich fand meinen Tabak und hielt ihn hoch. Rosa lächelte. Ich lächelte zurück und ging zur Arbeit.