40. Krisengespräch

Am nächsten Morgen wachte ich um kurz vor halb sieben auf. Rosa schlief tief und fest, sie schnarchte nicht einmal mehr. Draußen dämmerte es. Ich stand auf und ging in die Küche. Sie hatten da eine Kaffeemaschine und eine angebrochene Packung Kaffee und Filter, aber der Anblick der leeren Küche mit ihrem kalten Staub deprimierte mich und ich beschloss, lieber nach draußen und unter die Leute zu gehen. In der Wohnungstür steckte innen ein Schlüssel, den zog ich ab und nahm ihn mit.

Draußen war viel los, überall Autos und Leute auf dem Weg zur Arbeit, wir waren in einer Art gemischtem Industrie- und Wohngebiet und ich fand eine Bäckerei, es war eine türkische, das war schon mal gut, da gab es, das wusste ich aus Altona, am ehesten noch richtigen Filterkaffee im Rüdigerstyle, etwas zu stark, etwas oxidiert und mit schillernder, bläulicher Oberfläche, nichts von dem schaumigen Scheiß, den viele jetzt aus ihren neu angeschafften Espresso-Gastro-Vollautomaten rauspressten, sondern guter alter deutscher Büro- und Werkstattkaffeeschrott, der einen aggressiv und stumpf zugleich machte, Kaffee, den man nur mit Zigarette trinken und drinbehalten konnte. So einen brauchte ich jetzt, wenn auch Werner immer gelästert hatte, dass ich irgendwann auch mal mit den Ersatzdrogen Schluss machen müsste, »Solange du wie ein Baby das immergleiche orale Ritual brauchst, wirst du nie außer Gefahr sein!«, hatte er einmal zu mir gesagt und sich damit selbst widersprochen, nämlich der goldenen Werner-Regel: »Es erwischt immer den, der denkt, er sei außer Gefahr!«

Ich also rein in die türkische Bäckerei und holte mir einen Kaffee und wer saß hinten in der Ecke im Halbdunkel und trug dabei noch Sonnenbrille? Raimund Schulte und Ferdinand Müller. Sie sahen mich nicht und als ich mit meinem Kaffee an ihren Tisch trat und einen Schatten auf sie warf, zuckten sie zusammen.

»Mein Gott, Charlie! Schleichst dich hier so an! Da krieg ich ja ‘nen Herzkasper!«

»Charlie, alte Socke!«

Ich setzte mich zu ihnen und schlürfte meinen Kaffee. »Wie sieht’s aus, Jungs?«

»Mensch, Charlie, so ein Scheiß, ich sag’s dir …!« Raimund zog die Nase hoch und seufzte. »Ich kann dir sagen …!«

»Gut, dass du da bist, Charlie«, sagte Ferdi, »wir haben gerade so eine Art Krisensitzung, da kommst du gerade richtig, wir müssen irgendwas tun, diese ganze Magical-Mystery-Scheiße läuft aus dem Ruder, in was für einem Land leben wir eigentlich, also echt mal?!!«

Ich dachte erst, dass das eine rhetorische Frage sein sollte, aber die beiden guckten mich mit ihren Sonnenbrillen erwartungsvoll an, also sagte ich nach einer Weile: »Deutschland.«

»Da sagst du was, ehrlich mal, Charlie!«

»Ich hab sowieso gleich gesagt, wir sollten auch mal was außerhalb machen«, sagte Raimund und hielt mir seine Zigarettenschachtel hin, »man hätte doch gut was in Belgien machen können, das ist hier gleich um die Ecke, das hätte der Sache einen internationaleren Touch gegeben.«

»Ach hör doch mal auf, Raimund, Deutschland ist doch gar nicht das Problem!«, sagte Ferdi.

»Dann eben Köln.«

»Köln ist auch nicht das Problem. Köln kann überhaupt kein Problem sein«, sagte Ferdi. »Wie soll Köln denn ein Problem sein, das geht doch gar nicht!«

»Dann hätten wir Köln eben nicht mit dem blöden Alex machen dürfen. Alex ist das Problem! Wir hätten das mit den Leuten von Solid Groove machen sollen.«

»Die wollten uns nicht, Raimund, wie oft soll ich das noch sagen?! Die finden uns scheiße!« Ferdi wandte sich an mich. »Ich sag’s dir, Charlie: Die Sache geht nicht mehr lange gut, die springen uns alle ab, die murren schon, Schöpfi vor allem, der sagt schon so Sachen wie nach Hause gehen und so!«

»Der ist doch irre, nach allem, was wir für ihn getan haben! Ich hol uns mal ein paar von diesen Zuckerdingern da!« Raimund stand auf und hielt sich am Tisch fest. »Wollt ihr auch einen Tee?«

»Nein, aber noch so einen Kaffee vielleicht«, sagte Ferdi.

»Du solltest auch mal lieber so einen Tee trinken«, sagte Raimund. »Das ist besser für die Pumpe und so.«

»Meine Pumpe ist la, Raimund«, sagte Ferdi. »Es ist das Gemüt, das langsam krank wird!«

»Versteh ich«, sagte Raimund. Er ging ein paar Schritte und stellte sich hinten an die Schlange, die sich in der Bäckerei in der Zwischenzeit gebildet hatte.

»Das geht nicht mehr lange gut«, sagte Ferdi. »Gestern voll die Katastrophe. Weiß gar nicht, wie wir das überstehen sollen, wird Zeit, dass wir ins Fluxi kommen.«

»Warum sind wir denn eigentlich nicht im Fluxi?«

»Weil Ferdi einen Anfall von Spontangeiz hatte«, rief Raimund von seinem Platz in der Schlange herüber. »Irgendwann kommt bei Ferdi immer noch der alte Student raus, demnächst nimmt er sich Stullen mit in den Club!«

Jetzt schaute der ganze Laden zu uns rüber.

»Ach Quatsch!«, rief Ferdi.

»Neulich hatte er im Büro einen Henkelmann dabei!«

»Blödsinn, das war nur, weil die mir den zum Geburtstag geschenkt hatten, ich wollte bloß kein Spielverderber sein.«

»Echt?«, sagte ich. »Ein Henkelmann? Sowas gibt’s noch?«

»Bei Handgemacht«, rief Raimund. »Du weißt schon, die immer den ganzen alten Qualitätsscheiß haben. Hatten wir ihm zum Geburtstag geschenkt. Er kam sogar am nächsten Tag damit zur Arbeit. Mit was drin!«

»Jetzt hört doch mal mit dem Henkelmann auf. Ich habe gerade versucht, Charlie was zu erklären.«

»Okay«, sagte ich, »also warum sind wir nicht im Fluxi?«

»Das hätte doch eigentlich gar keinen Sinn ergeben! Wir mussten hier doch gleich in den Club und wenn man erstmal im Club ist, kann man doch wohl bis vierzehn Uhr durchhalten und dann erst im Fluxi einchecken, das ist doch ganz normal, das würde jeder so machen!«

»Kassler mit Bohnen und Kartoffeln. So sieht’s aus«, rief Raimund herüber. »Ferdi hatte Kassler mit Bohnen und Kartoffeln in seinem Henkelmann.«

»Jetzt hör doch mal mit dem scheiß Henkelmann auf, Raimund! Jedenfalls weiß ich überhaupt nicht, was mit Alex los ist, der war doch früher nicht so!«

»Das ist der neue Club, der hat Alex verändert. Da hat er viel reingesteckt, und dann so ein No-Drugs-Publikum da, das waren ja überhaupt keine Raver, das waren nur so After-Work-Freaks. Ich hab doch gleich gesagt, wir sollten das mit den Leuten von Solid Groove machen.«

»Ein für alle Mal, Raimund«, rief Ferdi erregt, und die anderen Leute in der Bäckerei zuckten zusammen, »die wollten uns nicht! Ich hab doch mit Henning geredet, der wollte uns nicht, und Dingsda, Hank Noise, wie heißt der nochmal richtig?«

»Matthias Irgendwas«, rief Raimund.

»Genau, der wollte uns auch nicht. Die finden uns scheiße, jedenfalls haben sie gesagt, Magical Mystery ist Beatles-Scheiße. Die hatten das überhaupt nicht kapiert, also hör auf, immer wieder von denen anzufangen, Raimund, die finden, dass wir Kommerzscheiße sind.«

»Seit wann ist das denn schon wieder falsch?«

»Die sind irgendwie dagegen. Und dann von wegen Schöpfi ist Schlager oder was! Das haben die ernsthaft gesagt. Dabei haben die Guter Mond gemacht und das ganze Natascha-Ding, was soll das denn dann wohl gewesen sein? Die haben doch gar nichts kapiert!«, rief Ferdi erregt. Und fügte, an mich gewandt, hinzu: »Jedenfalls war das gestern voll daneben, ich hätte das von Alex nicht gedacht, ich kenne den seit zehn Jahren, plötzlich macht er das Licht an, der lässt die Hosti Bros nicht mal tuende spielen, ich denk noch, was ist denn mit dem los, wir waren alle noch voll gut drauf und der macht um zwei das Licht an und alle raus und so!«

»Aber der Merch-Umsatz war gut«, rief Raimund.

»Das ist das Gute bei den werktätigen Prolls«, rief Ferdi zurück, »wenn so Prolls mit Arbeit im Club sind, dann kaufen die jeden Scheiß.«

In der Bäckerei kam Unruhe auf.

»Setz dich mal wieder hin, Raimund, ich hol mal den Kaffee und den Tee.« Ich stand auf und nahm Raimunds Platz ein.

»Das ist nicht nötig«, sagte Raimund.

»Doch klar«, sagte ich, »du warst die ganze Nacht auf den Beinen, Raimund, du hast dir deinen Feierabend verdient!«

»Da sagst du was! Hol auch ein paar von den Zuckerdingern, ich brauch das jetzt!«

Er setzte sich wieder hin. Als ich mit einem kleinen Tablett mit Tee und Kaffee und einigen Gebäckteilen wieder an den Tisch kam, war er eingeschlafen.

»Guck dir den an«, sagte Ferdi. »Der ist sensibel, der arme Kerl. Hätte ihm das mit dem, dass die uns nicht wollten, gar nicht sagen dürfen. Der nimmt sich das voll zu Herzen. Der findet Solid Groove doch so gut, und dann sowas. Sind in der scheiß Wohnung überm Club noch Betten frei?«

»Keine Ahnung. Wird schon irgendwie gehen.«

»Da müssen wir ihn gleich mal hinbringen.«

»Wird schon gehen.«

Wir schwiegen eine Weile. Ferdi rührte in seinem Kaffee und mümmelte an einem mit Zuckerstreuseln überzogenen Kringel.

»Ist alles eine Image-Frage. Hallo Hillu nehmen sie einem übel, aber wenn die Magnetic-Leute ihr Umtaumta-Zeug in die Welt pusten, dann sagt keiner was. Schöpfi finden sie scheiße, aber Klonkman mit seinem Gummistiefeldreck ist okay.«

»Ist doch scheißegal!«

»Natürlich ist das egal. Aber irgendwie auch nicht. Geld ist nicht alles, Charlie!«

»Wem sagst du das!«

»Genau. Jedenfalls habe ich keine Lust, dass Magical Mystery zum Schlechtelaunerave wird. Das soll lustig sein. Und davon soll auch was übrigbleiben. Für die Nachwelt! Pass auf, die Sache ist so: Hans soll jetzt mal eine Videokamera nehmen und alles filmen, wegen mir auch mit Ton, ist mir ja egal, obwohl ich eigentlich stumm besser finde, das ist irgendwie mehr so vintage, so superachtmäßig, und dann wird alles irgendwie gefilmt, aber dann müssen wir auch mal was Lustiges zusammen machen, alle irgendwie.«

»Das dürfte doch kein Problem sein«, sagte ich.

»Irgendwas mit Deutschland. Das ist auch für das Ausland gut. Und wir können das für die Videos benutzen, später mal, dann schneiden wir das in alles Mögliche rein. Und einer muss immer ein Schild mit Magical Mystery haben und das ab und zu in die Kamera halten und so.«

»Gute Idee, Ferdi.«

»Wir können ja gleich in München anfangen. Oder hier in Köln. In München wollen wir eh ins Hofbräuhaus gehen, das wird super für die Videos später, das kennt jeder auf der ganzen Welt und da geht dann das Magical-Mystery-Ding ab, was meinst du?«

»Warum dann nicht auch gleich den Kölner Dom, Ferdi?«, sagte ich zum Spaß.

»Gute Idee«, sagte Ferdi. »Den kennen sie auch überall. Auf der ganzen Welt. Aber mehr so von außen, dann müssen wir da was von außen machen. So Magical Mystery, aber mit Deutschland und so Symbolen und Architektur und was weiß ich. Und gefilmt mit so Heimvideokameras, wie von der deutschen Hausfrau irgendwie.«

»Gute Idee«, sagte ich, um ihn aufzumuntern.

»Das hat dann auch gleich so einen Aktionskunsttouch«, sagte Ferdi. »War das nicht mal dein Ding, Charlie? Hast du sowas früher nicht mal gemacht?«

»Installationen, Ferdi, keine Aktionen. Aktionen waren eher so H.R.s Ding, weißt du noch? Kennst du auch, der hat immer so Aktionen gemacht.«

»H.R., genau, was macht der eigentlich mittlerweile?«

»Der ist tot, Ferdi.«

»Ach du Scheiße!«

Und dann brachten wir Raimund ins Bett.

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
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