50. Die Zombie-Armee
Die frische Luft tat Basti ganz gut, er ließ sich zwar weiter von mir mitschleifen statt selbst zu laufen, aber sein Gesang wurde kräftiger und auch verständlicher, es ging in seinem Lied um einen jungen Mann, der seine Braut und seinen Sohn sehen wollte und die dann aber auf der Totenbahr fand, wobei er an der Zeile »Lieschen lag mit ihrem Söhnchen auf der Totenbahr« irgendwie hängenblieb wie eine Schallplatte, die einen dicken Kratzer hat, und das nervte dann doch ziemlich, deshalb sagte ich ihm, dass ich ihn, wenn er nicht die Schnauze hielte, in den Rinnstein werfen würde, und dass er sich schämen solle, so einen Scheiß zu singen und wo er das überhaupt herhabe, was ich aber nicht etwa aus Interesse fragte, sondern in der Hoffnung, dass er über den Versuch, mir darauf zu antworten, das Singen vergessen würde, und so war es auch, er stotterte sich irgendwas zusammen, das darlegen sollte, warum es gerade für die Hosti Bros als elektronische Musiker, die auch ein DJ-Team waren, wichtig war, »sich mit Liedern, sich mit Liedern, sich mit Liedern, also jedenfalls mit Liedern …«, und dann schlief er ein, was das Mitschleifen erschwerte. Gottseidank war er eher mager und klein, also das genaue Gegenteil von mir, und ich nahm ihn mühelos und legte ihn mir über die Schulter, und zwar so, wie es mir Frankie mal gezeigt hatte, das war jetzt aber ewig her, zehn, fünfzehn Jahre, Frankie, die alte Socke, wir hätten ihn nicht dauernd Herr Lehmann nennen sollen, dachte ich, als ich Basti im Gamstragegriff, so hatte Frankie das genannt, er hatte das in der Armee gelernt, als ich also Basti im Gamstragegriff quer über den Viktualienmarkt trug, was hier irgendwie nicht weiter auffiel, schon der singende Basti war kein großer Eyecatcher gewesen, als Garns auf der Schulter war er praktisch unsichtbar, das imponierte mir, die waren wohl einiges gewohnt, die Münchner.
Ich legte ihn auf die Rückbank und da schnarchte er dann vor sich hin, während ich uns zum Fluxi fuhr, das zwar Fluxi Maxx Munich 2 hieß, deshalb aber noch lange nicht in München lag, sondern in Unterschleißheim, das war oben im Norden, und der Weg dahin war weit, ich brauchte über eine halbe Stunde. Als wir endlich angekommen waren, legte ich mir einen Arm von ihm um die Schulter und zerrte ihn so aufrecht es ging ins Hotel und lehnte ihn gegen den Tresen und haute auf die Klingel und schon kam jemand herbei.
»Ich bin Karl Schmidt, da muss für mich ein Zimmer gebucht sein, auf BummBumm Records oder Kratzbombe.«
»Moment, Moment …« Es war ein junger Typ, er sah ein bisschen wie ein Student aus, er hatte auch ein Buch in der Hand und als er es aufgeklappt hinlegte, um in seinen Computer hineinzutippen, konnte ich den Titel erkennen, es war Golo Manns »Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«, eindeutig ein Sonderling, der Fluxi-Mann, wahrscheinlich Geschichtsstudent, »… so, hier, das stimmt, Sie wurden von Herrn Müller, Ferdinand, eingecheckt auf Zimmer Nr. 105, das ist ein Einzelzimmer«, bla, bla, der Mann kramte und kramte in seinem Computer herum und währenddessen rutschte Basti mir langsam zu Boden, was würde Golo Mann dazu sagen? Als ich endlich meine Plastiklochkarte für die Fluxi-Zimmertür bekommen hatte und Basti schon ganz auf dem Boden lag, sagte ich: »Und dann hab ich den noch hier, das ist ein Kollege, das ist Basti, also der heißt wahrscheinlich Sebastian oder was, der ist hier auch eingebucht, der müsste mal auf sein Zimmer und sich ein bisschen erholen.«
Der Historikerfreak guckte über seinen Tresen hinweg auf Basti und sagte: »Aber der ist jetzt nicht krank oder sowas? Soll ich einen Krankenwagen holen?«
»Nein, der ist bloß blau«, sagte ich, »der war im Hofbräuhaus und hat das wohl nicht so gut vertragen.«
»Wussten Sie, dass da die NSDAP gegründet wurde?«, sagte der Portier und guckte wieder in seinen Computer.
»Nein«, sagte ich. »Ich nehme auch mal an, das hängen die nicht so an die große Glocke.«
»Wer weiß«, sagte der Mann, »wer weiß! Sebastian mit Vornamen oder mit Nachnamen?«
»Vornamen, nehme ich an, es ist Basti von den Hosti Bros!«
»Echt?« Er beugte sich wieder über den Tresen und schaute sich Basti an. »So sieht der also aus.«
»Sie kennen die Hosti Bros?«, sagte ich.
»Natürlich, die haben doch gerade einen Hit, HostiBrosti, aber die sind natürlich jetzt nicht so direkt gesichtsbekannt, würde ich mal sagen, eher so faceless-techno-mäßig unterwegs.«
Nicht zu fassen. Ein Raver. Stellten die für die Nachtschichten in den Fluxi-Hotels immer Raver ein?
»Hier habe ich einen Sebastian Stratmann«, sagte der Mann jetzt, »der ist zusammen mit Holger Przybilla auf einem Zimmer.«
»Das ist er, Basti, Holger, Hosti, Hosti Bros, alles klar, da müsste ich dann den Schlüssel mal haben, dann bring ich ihn da rein.«
»Kann ich nicht machen, tut mir leid. Müsste ich erst seinen Ausweis sehen oder so. Oder dass er mir seinen Namen selber sagt oder so.«
»Wieso, wir wissen doch, dass er Sebastian Stratmann ist.«
»Das ist nur eine Vermutung. Ich kenne ihn ja nicht persönlich, auch nicht vom Gesicht her, das sind ja die letzten, die die Fahne noch hochhalten.«
»Welche Fahne denn jetzt?«
»Na, die Faceless-Techno-Fahne!«
»Soso, und das finden Sie jetzt gut oder nicht so gut?«
»Das finde ich gut.«
»Aber jetzt gerade verwenden Sie es gegen ihn, so sieht’s aus!«
»Ja, stimmt.« Er dachte kurz nach. »Aber da kann ich nichts machen. Vielleicht hat er ja einen Ausweis dabei!« Er deutete auffordernd mit dem Kinn auf Basti, der sich in diesem Moment auf dem Boden umdrehte und grunzte.
»Ich kann doch nicht einfach seine Sachen durchsuchen. Das geht ja wohl irgendwie auch nicht, sowas mach ich nicht, einen hilflosen Mann durchsuchen. Außerdem kann ich Ihnen doch sagen, dass das Sebastian Stratmann ist.«
»Das funktioniert als Security-Check aber nur, wenn Sie das zuerst und ohne Hilfe sagen. Und mit der Zimmernummer zusammen. Nicht, wenn ich Ihnen das vorher erzähle. Dann ist das ja witzlos.«
»Aber das ist doch Scheiße!«
»Klar ist das Scheiße. Aber noch mehr Scheiße wäre das, wenn ich Sie den jetzt auf ein Zimmer legen lasse im Vertrauen darauf, dass das a) Basti von den Hosti Bros und b) Basti von den Hosti Bros mit Sebastian Stratmann auf Zimmer 110 identisch ist, und sich dann später ergibt, dass der richtige Sebastian Stratmann gar nicht zu Hosti Bros gehört und in sein Zimmer kommt und in seinem Bett einen vorfindet, der sich im Hofbräuhaus betrunken hat.«
»Und nun?«
»Weiß auch nicht. Wollen Sie denn schon ins Bett?«
»Nein, ich gehe nochmal weg.«
»Dann legen Sie den doch erst einmal bei sich aufs Zimmer.«
»Ja, das ist wahrscheinlich das Beste. Hier liegenlassen wäre ja nun schlecht.«
»Das wäre gar nicht gut.«
Ich bückte mich, fasste Basti unter die Achseln, zog ihn halb hoch und schleifte ihn so zum Fahrstuhl. Im ersten Stock brachte ich ihn auf Zimmer Nr. 105 und legte ihn dort in mein Bett.
Auf der Rückfahrt zum Hofbräuhaus zwitscherten die Meerschweinchen wie verrückt und ich merkte, wie das dunkle Gefühl kalt in mir hochkroch, das kam ganz plötzlich, eben war noch alles tippitoppi gewesen, um es mit Raimund zu sagen, oder jedenfalls irgendwie okay oder jedenfalls nicht ganz so schlimm, und plötzlich die Hölle und keine Ahnung, was dahintersteckte, es waren nicht die Meerschweinchen und es war nicht Basti, es war nicht Magical Mystery und es war nicht das Fluxi, es war nicht das Auto und es war nicht Raimund, es war nicht das Hofbräuhaus und es war nicht München und es war nicht der Portier, ich ging alles durch, es war nicht die Einsamkeit, es war nicht meine Mutter und nicht Werner und nicht die Sehnsucht nach früher, außer vielleicht die Sehnsucht nach früher, an diesen Gedanken klammerte ich mich wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz, früher, früher, wann war das gewesen, wie war das gewesen, ich versuchte krampfhaft diesen Gedanken nicht loszulassen, wann das wohl gewesen war, ob es das überhaupt einmal gegeben hatte, eine frühere Zeit, in der ich das dunkle Gefühl noch nicht gekannt hatte, und ich konzentrierte und konzentrierte mich und die Meerschweinchen zwitscherten und zwitscherten immer lauter, und ich überlegte und überlegte, wann das gewesen sein könnte, als Kind vielleicht? In Bielefeld? Das waren natürlich Quatschüberlegungen, die angesichts dessen, was mit mir gerade passierte, völlig belanglos waren, aber ich wollte und konnte nicht lockerlassen, ich hielt mich an dem Gedanken fest, dass es irgendwann einmal anders gewesen sein musste und ich redete mir ein, dass es nur darauf ankam, herauszufinden, wann das gewesen war und wo das gewesen war und vor allem, wie ich damals gewesen war und wie ich gelebt und gedacht hatte, denn, und das war der Gedanke, an den ich mich klammerte, wenn ich das einmal herausfand, dann müsste ich vielleicht nur irgendwie wieder so draufkommen oder so denken oder dieselben Tricks wie damals anwenden, was immer das für Tricks auch gewesen sein mochten, um wieder okay zu werden, um diese Kälte, dieses nackte Grauen loszuwerden, das die Beine hochkroch und direkt körperlich wehtat, das einen sich krümmen und die Luft anhalten und die Bauchmuskeln anspannen ließ, wie wenn man von einem dieser Jahrmarktsdinger hin- und hergeschleudert wurde, und das war mittlerweile so schlimm geworden, dass das Konzentrieren auf diese eine Frage, ob und wenn ja wann ich dieses Gefühl einmal nicht gekannt oder wenigstens vergessen gehabt hatte, zur Überlebensfrage wurde, zum Einzigen, das mich davon abhielt, auf der Autobahn, auf der ich mit den immer lauter zwitschernden Meerschweinchen Richtung Hofbräuhaus dahinknatterte, nach rechts rüberzuziehen und der Sache am nächsten Brückenpfeiler ein Ende zu machen, und ich kam nicht drauf und kam nicht drauf, aber ich hielt mich damit so lange hin, ich hielt mich damit so lange über Wasser, dass ich es mit dem letzten bisschen Energie auf einen Parkplatz schaffte, ich also da rauf und den Motor abgestellt und alles was dann noch zu hören war, waren das Rauschen der Autobahn und das Zwitschern von Lolek und Bolek, die kein bisschen leiser wurden, die waren außer Rand und Band, waren sie vielleicht kontaktstoned? Kontakdepressiv? Hatten sie eine Verbindung mit mir über die vierte Dimension, über ein Psychowurmloch, das sich in Unterschleißheim aufgetan hatte? Ich versuchte einigermaßen gleichmäßig zu atmen, und als das nicht ging, öffnete ich die Tür, lief raus und auf eine an den Parkplatz angrenzende Wiese, um durch Bewegung wieder okay zu werden, und so hüpfte und taumelte ich da ein bisschen herum, das muss ziemlich lächerlich ausgesehen haben, und ich sah weiter weg das Auto auf dem Parkplatz, innen erleuchtet, weil ich die Tür aufgelassen hatte, und ich setzte mich schließlich auf die feuchte Wiese, es war kalt, aber das Gras unter meinen Händen hatte etwas Beruhigendes, ich verkrallte die Hände darin und die Feuchtigkeit kroch in meine Hose und war lästig und das Empfinden dieser lästigen Feuchtigkeit und Kälte half mir ein bisschen und selbst hier, in der Ferne, hörte ich die Meerschweinchen zwitschern oder eher quietschen, noch durch das Rauschen der Autos auf der Autobahn hindurch, oder bildete ich mir das nur ein? Ich war auf einmal todmüde und das dunkle Gefühl war genauso plötzlich wieder weg, wie es gekommen war, verschwunden wie eine Armee Zombies, die durch einen hindurchmarschiert und einfach weitergezogen war, so hatte Klaus-Dieter das einmal beschrieben, daran erinnerte ich mich jetzt, guter alter Klaus-Dieter, das war ein guter Vergleich gewesen. Ich stand auf und klopfte mir die Hose ab, am Arsch alles durchnässt, aber das störte mich nicht, ich hatte ja im Auto meinen Mantel, der würde das später verdecken. Das Gras war ziemlich lang. Ich rupfte einige Handvoll davon aus und brachte sie den Meerschweinchen.