67. Es geht los

Als wir am nächsten Tag die A 1 Richtung Ruhrgebiet und Essen und Springtime hinunterbretterten, nieselte es und zugleich war es warm und stickig und Ferdi saß neben mir und rauchte einen Joint nach dem anderen, der alte Wirkungskiffer, die anderen dösten in seltsam verrenkten Posen auf den Sitzbänken oder lagen im Komabrett und schnarchten und Ferdi sagte irgendwann aus dem Nichts heraus: »Sie haben es nicht verstanden und daran wird es kaputtgehen. Hast du mal Canetti gelesen, Charlie?«

»Nicht Canetti, Ferdi, nicht schon wieder Canetti, das hatten wir doch schon, das ist doch …«

»Die Sache wird zerfallen«, unterbrach er mich. »Zerfallen, wie sie gewachsen ist, genauso schnell und genauso planlos, irgendwann werden wir uns umdrehen und es ist keiner mehr da! Sicher, die Leute werden noch nach Technotracks tanzen, in den Gummistiefeldiscos, auf die Gummistiefelweise, und wir werden weiter Geld verdienen, jedenfalls als DJs, Leute wie Raimund und Schöpfi sowieso, vielleicht auch die Hosti Bros, weil sie einen Namen haben und weil sie weltweit unterwegs sein werden und die Leute werden die Musik noch als Mainstream-Hintergrundgeräusch wahrnehmen und sie werden sich auch noch ein paar neue Stars basteln, die dann auch noch ganz ordentlich Platten verkaufen, aber dann ist das so normal wie heute Schlager oder Rockmusik, dann ist das große Ding vorbei, dann ist die Luft raus, dann ist das alles Museum, dann sind wir alle Dinosaurier, so Monsters of Rock, dann sind wir die Oldie-Freaks, die Dinge haben ihre Zeit, Charlie, und irgendwann ist die Zeit vorbei.«

»Ja gut, Ferdi«, sagte ich. »das hast du schon öfter gesagt, und ich höre es immer wieder gerne, aber was soll’s? Dann ist die Zeit vorbei, okay, dann war’s das eben!«

»Ja, aber was war es dann? Das ist doch die Frage, Charlie: Was? Ich meine …«, Ferdi wischte sich die Augen aus, langsam und gründlich, »scheiß Rauch«, sagte er, »und müde bin ich auch, aber mal ehrlich, Charlie: Was? Ich meine, ich liebe das! Ich liebe diese Musik und ich liebe diesen Lebensstil und ich liebe es, wenn man doof und schlau und lustig zugleich ist und alle nur Scheiße bauen und trotzdem alles richtig machen und ich liebe die Hosti Bros mit ihrem Trancegebretter und ihrer Naivität und Sigi mit ihrem knatterigen Partyparty-Auflegen, das BummBumm-Label, den Charts-Trash und das Geld und die ganze Unbedarftheit, ich meine, guck dir doch mal Anja und Dubi an, meinst du etwa, ich könnte eine Flöte nicht von einem Saxofon unterscheiden? Raimund vielleicht nicht, aber ich kann das! Aber als Hit mit der Flöte ist das viel lustiger, weil es falsch ist und keiner das merkt! Wir machen alles so, als ob wir es zum ersten Mal machen, es ist immer wieder neu und es ist immer wieder das Gleiche und immer auch nicht das Gleiche und wenn wir Der Hit mit der Flöte sagen, dann ist das richtig und gut und lustig, weil wir keine Ahnung haben und andererseits eben doch, weil wir auf die Musikschule scheißen und auf den ganzen anderen Scheiß auch, aber andererseits wissen wir natürlich Bescheid, ich meine, die Sechziger, meinst du ernsthaft, das ging wirklich um Politik? Ich meine, Ho Chi Minh, meinst du ernsthaft, irgendeiner von den ganzen Ho-Chi-Minh-Rufern hatte Bock darauf, in Nordvietnam ins Arbeitslager zu kommen? Ich jedenfalls nicht. Wir waren einerseits doof und andererseits nicht, verstehst du? So wie die Beatles mit ihrem Guru und dem ganzen Kram. Das ist das, was die Sachen sexy macht, dass man zugleich jung ist und doof und trotzdem schlauer als alle anderen. Und heute sagen dieselben Leute immer, es wäre ihnen damals nur um Politik und die Verbesserung der Welt gegangen, aber das ist doch lächerlich, das ist ja nicht mal die Hälfte der Wahrheit, Sommer der Liebe, lange Haare, Rockmusik, Kiffen, freier Sex, Nacktbaden, das gehörte alles dazu, die Sache hatte immer eine ernste und eine unernste Seite, verstehst du? Ich meine, die Leute schüttelten den Kopf über uns und hassten uns und erklärten uns für blöd und wir schüttelten den Kopf über sie und hassten sie und erklärten sie für blöd und heute …« Er zog an seinem Joint und hielt ihn mir hin. »Jetzt habe ich den Faden verloren! «

»Nein danke«, sagte ich. »Und jetzt tu mir mal einen Gefallen, Ferdi, und vergiss den Scheiß mit den Sechzigern, das wird langsam öde, dass du immer wieder damit anfängst. Das bringt doch nichts, wenn du jetzt hier Magical Mystery machst, bloß weil du irgendwas reparieren willst, was in den Sechzigern deiner Meinung nach schiefgelaufen ist.«

»Quatsch«, sagte Ferdi, »ich doch nicht! Ich versuche doch nur, an die Zukunft zu denken. Ich will nicht, dass das irgendwann aufhört und dann bleibt nichts übrig, außer dass die sagen, das wäre so, was weiß ich, Hedonismus oder so ein Scheiß gewesen und das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass das irgendwann aufhört, weil demnächst kommt dann der neue heiße Scheiß um die Ecke und dann sind wir alle nur noch Veteranen wie die ganzen Achtundsechziger, ich meine, guck dir die doch mal an, die sind alle in meinem Alter, und die tun schon so wie früher die alten Säcke, die immer die Hosen hochgekrempelt und ihren Knieschuss aus Stalingrad gezeigt haben. Für die ist das Leben doch schon vorbei. Die erzählen doch nur noch von früher!«

»Du aber auch, Ferdi. Ich meine, warum lässt du die Dinge nicht einfach so, wie sie sind?! Lass doch das ganze Rave- und Technoding einfach mal laufen, das ist doch die Idee dabei.«

»Du verstehst es auch nicht.« Ferdi schüttelte den Kopf. »Natürlich lass ich das laufen. Aber ich will, …« Er starrte aus dem Fenster, zog an seinem Joint und hielt ihn mir dann wieder hin.

»Nein danke, Ferdi!«

Ferdi seufzte. »Ich will, dass irgendwas bleibt.«

»Nein«, sagte ich. »Irgendwas bleibt immer, das brauchst du gar nicht zu wollen, Ferdi. Das hast du doch gerade selbst gesagt. In Wirklichkeit willst du bestimmen, was bleibt. Du bist ein Kontrollfreak, Ferdi. Du glaubst, du kannst das Ding so steuern, dass du die Kontrolle darüber hast, was davon übrigbleibt.«

»Ach, das Ding steuern …« Er drückte den Joint im Aschenbecher aus und warf den Stummel aus dem Fenster. »Warte nur, bis du die Springtime gesehen hast. Das ist unglaublich! Das können nicht mal die Magnetic-Leute noch steuern. Das läuft alles von alleine. Aber ich will, dass ein Label wie BummBumm noch was anderes am Laufen hat als immer nur Geld, Geld, Geld und noch mehr Platten, das kann doch nicht alles sein! Ich meine, wir schippen die Maxis raus wie blöd und dauernd diese Goldverleihungen. Wo ist denn da die Herausforderung … – was ist denn jetzt los?!«

Während wir geredet hatten, war der Verkehr um uns herum immer dichter und immer langsamer geworden und jetzt standen wir mitten im Stau. Um uns herum kurbelten die Leute ihre Scheiben runter und so auch wir und von überall drangen die asynchronen Signale vieler Bummbumms zu uns herüber und herein und wenn man genauer hinsah, entdeckte man überall die Autos mit den Ravern drin, sie waren überall und alle voll besetzt und es kamen Arme aus den Fenstern, die im jeweiligen Takt mitzuckten, und als gar nichts mehr voranging, wurden Autotüren geöffnet und die Leute kamen heraus und liefen zwischen den Wagen herum und klopften auf die Dächer von anderen Autos und Ferdi drehte die Bummbumm-Kassette, die die ganze Zeit leise vor sich hin gelaufen war, auf volle Lautstärke, dass alle im Auto aufwachten und Raimund und Schöpfi von oben durch die Luke guckten. Basti und Holger öffneten die Schiebetür und liefen auf die Straße und schwenkten die Arme oder wie man das nennen sollte, was sie da so machten, und Schöpfi gleich hinterher und dann fielen sich die ersten Leute da draußen in die Arme und dann ging es im Schritttempo weiter und die, die draußen waren, liefen zwischen den Autos weiter mit und zuckten dabei und klopften auf Autodächer und von überall kam Gehupe, von dem man nicht wusste, ob es Sympathie- oder Hassgehupe war, es wurde jedenfalls immer mehr und die Autos wurden auch wieder schneller und dann kamen Basti und Holger und Schöpfi in das Auto gehechtet und Holger schloss die Tür und wir nahmen Fahrt auf.

»Es geht los«, schrie Schöpfi gegen das dumpfe Kassetten-Bummbumm an, das den Wagen von innen zu sprengen drohte. »Es geht los!«

Dabei waren wir erst kurz vor dem Kamener Kreuz!

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
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