13. Ferdis Erzählung
»Du kannst dir das nicht vorstellen«, sagte Ferdi und hob dazu den Löffel. »Plötzlich riss der Himmel auf und es regnete Geld.«
»Muss toll sein«, sagte ich. Die Suppe war schwierig zu essen, die Nudeln lang und dick und die Löffel aus Porzellan, sie rutschten dauernd ab.
»Toll? Auf jeden Fall. Aber auch beängstigend, Charlie. Du musst für die Nudeln die Stäbchen nehmen. Jedenfalls hatten wir Beta Boy, eben konnte noch keiner was damit anfangen, vor allem die Journalisten nicht, Acid House, Detroit, keiner blickte durch, alle schrieben Techno mit drei k und was weiß ich was, und dann hatten wir Beta Boy und plötzlich ging das durch die Decke, wann war das …?«
»Das war, nachdem ich in die Klapse kam«, sagte ich.
»Der Mauerfall kam ja noch dazu, das war ja überhaupt der Hammer, plötzlich machen die da neben uns eine ganz neue Stadt auf und überall die leeren Gebäude, du glaubst ja nicht, was wir da mit Partys verdient haben, da sind wir einfach rein, später haben wir die für praktisch nichts gemietet, den neuen BummBumm haben wir auf zehn Jahre gepachtet, das ist wie geschenkt, Charlie, weißt du noch, der alte BummBumm, wie wir da mit der Miete zu kämpfen hatten?«
»Nein.«
»War aber so. Jedenfalls Beta Boy, also Hartmut, das Betalein, weißt du noch, der kleine Spacken, der immer genervt hat …«
»Ja, der hat wirklich beschissene Musik gemacht.«
»Ja. Jedenfalls war das das Ende von Faceless Techno und dem ganzen Quatsch. Beta Boy war der erste richtige Hit. Und der war bei uns!«
»Du meinst, Alpha Beta Gamma?«
»Ja, das war der Hit, Alpha Beta Gamma, alter Schwede, ich hab da lange drüber nachgedacht, und weißt du, warum das der erste Techno-Hit war?«
»Nein, warum?«
»Keine Ahnung. Das weiß keiner. Vielleicht wegen dem Einzähler.«
»Welcher Einzähler?«
»Plötzlich dieser Hit, und dann wussten alle Bescheid, du weißt doch, was ich meine, überall die Artikel über Techno, das neue Ding, aber auch Trance, House, Acid, Deep House, Detroit, jeden Tag gab’s drei neue Richtungen und Bezeichnungen und kein Arsch blickte durch und jeder hatte Angst, zu irgendwas irgendwas zu sagen und alles immer so faceless Techno und es gibt keine Stars und so …«
»Du schweifst ab, Ferdi. Jetzt will ich wissen, was mit Beta Boy los war.«
»Wieso Beta Boy?«
»Warum Beta Boy der erste Hit war!«
»Ach so, das weiß ich doch nicht, ich weiß nur, wir kamen mit Beta Boy um die Ecke, das war kurz nachdem du weg warst, und keiner blickte durch, was ist denn nun dieses neue Ding, Techno, darf ich da Techno zu sagen oder bin ich dann uncool, weil es eigentlich House ist oder was, und dann Trance, ist das auch Techno, das trau ich mich gar nicht im Radio zu spielen, ich schreib das mal lieber mit drei k, Tekkkno, weil mir irgendeiner gesagt hat, dass man …«
»Beta Boy!«, sagte ich, »Beta Boy, Ferdi!«
»Ach so, jedenfalls kommt dann Beta Boy bei uns mit Alpha Beta Gamma raus und gleich am Anfang, bevor es losgeht, ruft er doch auf dem Track ›Alpha Beta Gamma Techno!‹ und dann geht’s los mit Bummbumm, verstehst du, Charlie? Wir sollten uns mal zwei Espressos bestellen, finde ich.«
Ferdi blickte sich suchend um und hob dabei zwei gespreizte Finger wie der abdankende Richard Nixon.
»Wieso bestellst du zwei Espressos, wenn du noch nicht einmal die Suppe aufgegessen hast?«
»Die dauern hier immer so lange, das ist jeden Tag dasselbe«, sagte Ferdi mit vollem Mund. »Und dann kommt ausgerechnet Beta Boy und ruft ›Alpha Beta Gamma Techno!‹ und ausgerechnet das wird dann der erste RadioTechnohit und der erste richtige Technohit überhaupt, tu dir das mal rein, ›Alpha Beta Gamma Techno‹, ich meine, so ein Stumpfsinn und das war unser erster Hit, das ist doch super!«
Ferdi legte den Löffel weg und ich auch und in diesem Moment kam auch der Mann mit den Espressos.
»Siehst du, super Timing«, sagte Ferdi. »Dabei hatten wir Beta Boy bloß rausgebracht, damit Betalein endlich Ruhe gibt, weil der immer so genervt hat. Und seine Schwester hatte was mit Raimund! Das kam noch erschwerend dazu, Raimund war ganz wild auf die, und die hat ihm gesagt, er muss das rausbringen, dann hat Raimund mich genervt und dann haben wir das gemacht. Der Vertrag war unterirdisch, ist ja klar, für sowas kriegt ja keiner einen guten Vertrag und dann geht das Ding durch die Decke und Hallelujah, der Himmel geht auf und seitdem kommt das Geld runter, aber sowas von!«
Ferdi drehte sich eine Zigarette und ich drehte mir auch eine, es war ein bisschen wie mit Werner und dem Plenum und mir waren die fertigen Zigaretten ausgegangen.
»Wo war ich stehengeblieben?«, sagte Ferdi, als er mir Feuer gab.
»Himmel geht auf, Geld kommt runter.«
»Ach so, ja klar, aber ja nicht nur wegen Betalein, das war ja bloß der Kickoff, Charlie, der ist dann auch gleich zu Magnetic gegangen, der Arsch, aber danach ging alles durch die Decke, jede zweite Maxi ging gold, ach, was sage ich, jede Maxi ging gold, AFX, MFX, Gringo, Maja, sogar Raimund, sogar Raimunds Maxis gingen gold, da haben wir jedesmal eine Viertelmillion Maxis verkauft, dann kam Belinda mit diesem Schlagerding, das sie da verwurstet hatte, das war noch größer, Dreifachplatin, Charlie, dann Schöpft mit Hallo Hillu und dann der ganze Gummistiefel-Techno, die Trance-Bretter, das war ja das Gute bei BummBumm, dass wir alles rausbringen konnten, wir hatten ja keinen inhaltlichen Ehrgeiz, wir wollten ja bloß Spaß, und Worldwide hat alles für uns vertrieben und wir haben Maxi um Maxi an die Wand geschippt und natürlich auch gleich CD-Maxis, als das dann aufkam, CD-Maxis haben ja nur die Idioten nicht gemacht, und dann auch Alben, wenn’s gut lief, und mein Gott, Charlie, wir schippten das Zeug an die Wand und fast alles blieb hängen, normalerweise schippst du zehn Dinger an die Wand und eins bleibt hängen, aber nicht bei uns, da waren wir alle ganz oben, die Frankfurter, die Kölner, die Münchner, überall lief das wie geschmiert, dann die Parade, die Springtime, die ganzen Mega-Raves und alles volle Dröhnung Presse und Medien und Fernsehen, überall wurde BummBumm-Musik gespielt und vorher zum Draufkommen gehört und nachher zum Chillen und was weiß ich, überall unz, unz, unz, wie kam ich jetzt drauf?«
»Du wolltest irgendwie erzählen, was nach Beta Boy passiert ist.«
»Warum?«
»Weiß nicht, Ferdi, vielleicht um mal drüber zu reden.«
»Ja klar, du warst ja nicht dabei! Du musst das doch wissen! Und das ist immer noch so, ich rede hier in der Vergangenheit, aber das hält ja noch an, das Geld kommt von allen Seiten und Berlin ist der Mittelpunkt der Welt, verstehst du, von überall kommen die Leute nach Berlin!«
»Was ist mit Frankfurt?«, sagte ich, ich war ja nicht ganz von gestern. »Und Köln? Und München?«
»Ja klar, aber im Ausland, in der Welt, da kennen die vor allem Berlin, für die ist München Oktoberfest, aber Berlin ist Techno, die kommen von überall, was meinst du, mit wem wir im BummBumm Club jetzt die Geschäfte machen? Was da an Rave-Touristen unterwegs ist? Die kommen von überall, Berlin Techno Hauptstadt Rave Parade, was weiß ich, ha!« Er hob die Hände zum Himmel. »Aber das hat auch Schattenseiten, Charlie! Das ist auf die Dauer nicht gesund. Ich meine, jetzt ist wahrscheinlich der Höhepunkt erreicht, das ist wie bei Canetti, »Masse und Macht«, das Techno-Ding ist das Paradebeispiel für eine offene Masse, die wächst nur, solange sie wächst, wenn sie nicht mehr wächst, zerfällt sie, nur dass sie wächst, macht ihre Attraktivität aus, ich meine als Masse jetzt, verstehst du? Canetti, Charlie, Canetti, hast du doch auch gelesen!«
»Nein. Ich weiß nicht mal, wer das ist. Sowas liest doch nur du, Ferdi.« Ferdi war immer schon der Intellektuelle unter meinen Bekannten gewesen, oder wie eine Freundin von mir mal gesagt hatte: »Ferdi ist obenrum, Raimund ist untenrum!«
»Quatsch, das hat doch jeder gelesen. Was ich meine, ist: Es gibt Leute, die denken von hier bis zum nächsten Arsch, wie Magnetic und die ganzen Gurken, und es gibt Leute, die denken ein bisschen weiter und sorgen dafür, dass auch morgen noch Früchte vom Baum fallen, so sieht’s aus!« Ferdi winkte wieder einen Kellner ran. »Ich will noch was essen, habt ihr noch was Süßes, dieses Zeug mit Mandeln, habt ihr das noch.«
Der Mann nickte. »Bring ich. Einmal? Zweimal?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich nehme noch einen Kaffee, aber einen verlängerten.«
Er ging wieder weg.
»Du solltest das aber mal probieren, das ist super«, sagte Ferdi. »Wo war ich nochmal stehengeblieben?«
»Früchte vom Baum.«
»Gut. Also pass auf: Das Problem ist doch, dass die Sache nur wachsen kann, wenn alle mitmachen können. Und so war es auch, weil wir alle bedient haben, die Journalisten, die Studenten, die Prolls, die Freaks, da war immer für jeden was dabei und alle konnten sich, wenn sie denn wollten, durch die ganzen Unter- und Subgruppen beim Dance, also konnten sich … –, aber andererseits, Charlie, pass jetzt auf, das ist ein schwieriges Thema, ich komme langsam ins Schleudern, also jedenfalls haben wir im Augenblick das Problem, dass die Sache an einen Punkt kommt, an dem …, jetzt habe ich den Faden verloren, also die Sache war ja eigentlich sowas wie ein evolutionärer Glücksfall: Da kommt plötzlich eine Spezies daher und entwickelt sich so, dass sie super überleben kann, da steckt ja kein Plan dahinter, das ist eben ein Glücksfall, bei anderen Sachen, was weiß ich, da läuft das dann eben nicht so gut, nun bring mich nicht durcheinander, Charlie, ich will doch eigentlich nur sagen, wir sind an einem Punkt, da wird das so groß, dass das zu kalt wird, verstehst du? Bis jetzt hielt sich alles die Waage, die Gummistiefelprolls, die Schüler, die Studenten, die halbnackten Mädchen, die Freaks, die Medien, das hat alles zusammen funktioniert, aber wenn das noch weiter wächst, dann kommt das an einen Punkt, wo der innere Zusammenhalt kaputtgeht, wo das Wachstum in der Mitte dazu führt, dass es an den Rändern zerfällt und dann wächst es eben nicht mehr, sondern stagniert, weil die Prolls der Sache ja nichts geben, sondern nur nehmen, außer Geld natürlich, das geben sie, aber inhaltlich wird die Sache doch an den Rändern am Laufen gehalten, verstehst du?«
»Nein.«
Jemand brachte Ferdi sein süßes Zeug mit den Mandeln und er löffelte es in sich hinein. »Erst einen Sticki und dann dieses Zeug hier, das ist besser als Mittagsschlaf, das macht frisch, ich sag’s dir, Charlie! Wo war ich stehengeblieben?«
»Die Prolls können nichts geben außer Geld und wenn es an den Rändern nicht wächst …«
»Genau, das war’s. Also: Die Sache wird dann kalt. Dann ist das Herz, die Seele weg, verstehst du? Weil die Leute, die den Kern der Sache bilden, an den Rand gedrängt werden, und dann gibt es in der Mitte nichts, was das Ding zusammenhält, und dann fällt das auseinander. Dann ist das irgendwann nur noch irgend so ‘n Aufreiß- und Fickding für Spanner und Neuköllner Jogginganzugfreaks, kapierst du das?«
»Geht so. Was willst du denn damit eigentlich sagen, Ferdi?«
»Guck nur uns an: Mit uns hat doch die ganze Sache angefangen.«
»Naja«, gab ich zu bedenken, »da waren aber noch ein paar andere.«
»Wir hatten Beta Boy und Nadja und AFX und Schöpft und, und …« Ferdi wedelte mit den Händen in der Luft.
»Irgendwie sprichst du da ziemlich viel in der Vergangenheit, Ferdi. Du warst doch eigentlich immer so ein Hier-und-jetzt-Typ!«
»Die sind doch alle schon am Ende. Außer Schöpft. Beta Boy, der Arsch, der undankbare, geht erst zu Magnetic, dann verklagt er uns Jahre später und dann fliegt er bei Magnetic auch noch raus und jetzt hat er sein eigenes Label und einen Deal mit High-Tech-Lo-Tech, ich meine, was soll das denn werden? Das will doch keiner mehr! Und Nadja und AFX sind doch Schnee von gestern, und MFX und Maja haben wir als totes Fleisch an Fleischhouse weiterverdealt, da kriegen wir jetzt einen Override von nichts und Stiefel und Frankie Highnoise und wie sie alle hießen, die sind irgendwann direkt zu World Wide gegangen, die Arschmaden, das sind doch alles Leichen auf Urlaub, die sind doch alle schon kaputt, außer Schöpft, weil Schöpft klug ist und immer schön bei uns geblieben ist und jetzt deshalb ja Kratzbombe, das neue Label, da haben wir nur neue Leute drauf, da muss man erstmal ein bisschen dran arbeiten, die ganze alte Hitgeneration ist doch praktisch totgefickt, das weißt du doch auch, ich meine, ehrlich mal, wer interessiert sich noch für House Helmi und die ganzen Knalltüten? Die sind doch alle durch ihre Hits verbrannt.«
»Euer Label läuft nicht mehr so gut oder was?«
»Quatsch, der Gummistiefelkram läuft doch weiter, hab ich dir unseren Kühlschrank gezeigt? Der ist bis obenhin voll mit Champagner. Jeden Montag, wenn die Charts kommen, wird der leergesoffen und am Dienstag schicken wir die Praktikanten los, neuen kaufen, so sieht’s aus, Charlie, voll das dekadente Ding, ich hab da schon lange keinen Bock mehr drauf, das nervt doch alles nur noch. Ich meine, Geld, Geld, Geld …«, Ferdi hob die Hände, »… das regnet doch rein. Wir wissen ja kaum, wohin damit. Wir haben sogar immer unsere Steuern bezahlt! Aber von den alten Leuten, Charlie, ist doch eigentlich nur noch Raimund dabei, da arbeite ich gerade dran, dass allen mal klar wird, dass DJ Schulti der eigentliche Techno-Pionier überhaupt ist, ich meine, der hat ja bei Glitterschnitter schon Techno gespielt, so sieht’s doch aus.«
»Raimund? Hieß der nicht DJ Mundi?«
»Schon lange nicht mehr. Schulti mit Sahne. Drei Goldene. Und schon als Schlagzeuger bei Glitterschnitter, weißt du doch noch, immer BummBummBummBumm, Raimund war immer Dance und wird immer Dance sein, da lass ich nichts auf ihn kommen, lass uns mal Raimund finden, der ist sicher noch im BummBumm und chillt da mit den Mädchen rum. Dann erklär ich dir auch, warum ich mir das mit Magical Mystery ausgedacht habe, es geht um das Herz der Sache, Charlie, wir müssen das Herz der Sache wiederfinden! Magical Mystery. Das Ding mit der Liebe.«
»Das Ding mit der Liebe?«
»Ja! Liebe, Charlie! Sag ich doch die ganze Zeit, ich sag doch die ganze Zeit nichts anderes: Es geht um das Ding mit der Liebe!«