56. Frühling Galore
Ich hatte mir für den freien Tag einiges vorgenommen, aber die anderen mussten sich ausschlafen, so stand es im Plan, und als ich sie da graugesichtig und mit hängenden Schultern und unter der Last ihrer Plattenkoffer stöhnend in das Fluxi Maxx Munich 2 in Unterschleißheim wanken sah, war mir klar, dass sie das auch brauchten. Nur Basti nicht, der lag in meinem Zimmer auf dem Bett und schaute fern, irgendwas für Kinder.
»He Charlie«, rief er fröhlich, »bin gerade aufgewacht, hast du mich hier gestern hergebracht?«
»Ehrensache, Basti. Du hast das Hofbräuhaus vollgekotzt!«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte er. »Ich hoffe mal, Holger ist jetzt nicht sauer oder so.«
»Keine Ahnung«, sagte ich, »aber ich musste deinen Platz im Hosti-Bros-DJ-Team einnehmen, damit zwei da oben stehen.«
»Echt? Du hast einen auf mich gemacht?«
»Ja, ich war das Basti-Double. Die anderen wollten das so.«
»Holger auch?«
»Ja, der auch.«
»Mit dem muss ich mal reden!«
»Am besten gleich«, sagte ich, »solange er noch wach ist. Er ist jetzt auf eurem Zimmer.«
»Shit«, sagte er. »Ist das hier nicht unser Zimmer?«
»Nein«, sagte ich, »das ist ein Einzelzimmer, Basti.«
»Ja, stimmt, klar, logisch. Hab mich schon gewundert.« Er stand auf. »Ich geh mal rüber und schau nach, was mit ihm los ist. Da muss man ja mal drüber reden. Wer muss sich denn jetzt entschuldigen, er oder ich?«
»Du.«
Mein Plan für den Tag sah unter anderem vor, dass ich zu einem Gartencenter fuhr, das auch am Sonntag aufhatte, und dort Sachen für die Meerschweinchen kaufte. Ich wälzte an der Rezeption die Gelben Seiten und telefonierte mit Raimunds Knochen durch die Gegend, bis ich so ein Gartencenter gefunden hatte, das war ganz in der Nähe und das Wetter war gut, das konnte ein schöner kleiner Ausflug werden, zu schön für meinen Geschmack, das war das Problem, sowas erinnerte einen dann gleich wieder an die Sonntagsausflüge von Clean Cut 1 und das war nicht gut, wenn man dabei ganz allein und obendrein obenrum nicht ganz beieinander war, denn so blöd diese Clean-Cut-1-Sonntagsausflüge auch immer gewesen waren, man war da nie allein gewesen, und auch wenn die anderen ein Haufen Blödmänner waren, allein ist allein und nicht allein ist nicht allein und deshalb hatte ich, wenn schon nicht Angst, so doch jedenfalls keine Lust darauf, das war mir nicht geheuer, so alleine bei schönem Wetter durch Oberbayern zu gondeln und dabei Heimweh nach Altona zu kriegen, das war heikel, da wollte ich lieber noch ein bisschen Zeit schinden und auf schlechteres Wetter warten, also blieb ich erst einmal im Hotel und trank auf meinem Zimmer einen Kaffee und dann gleich noch einen, es gab dafür einen Automaten, das Fluxi Maxx Munich 2 machte aus Kaffee kein großes Ding, das alte Vertreterschließfach, Automat in der Lobby und gut ist, und der Portier wechselte einem dafür Geldscheine in Münzen.
Nach dem zweiten Kaffee war ich etwas fickerig, es war an der Zeit, aus dem Quark zu kommen, zugleich war aber draußen noch immer der Schönes-Wetter-blauer-Himmel-Terror zugange und mir graute vor den Sonntagsfahrern und Spaziergängern und Ausflüglergruppen, die mir überall begegnen und mir unter die Nase reiben würden, was für ein Sozialversagerfreak ich war. Da traf es sich gut, dass Basti an die Tür klopfte.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte er. »Holger pennt, den hab ich gar nicht wach gekriegt. Und das ist ja voll öde hier, hast du mal aus dem Fenster gesehen? Voll so Gute Nacht Fuchs, Gute Nacht Hase.«
»Ich fahr ins Gartencenter, du kannst ja mitkommen«, sagte ich.
»Gartencenter, was willst du da denn?«
»Ich hab keine Streu und kein Heu mehr für die Meerschweinchen, und heute ist Sonntag.«
»Und sowas haben die im Gartencenter?«
»Manchmal, hoffe ich jedenfalls. Und wenn nicht, dann haben sie Stroh, das kann man anstelle von Streu nehmen. Und dann kaufe ich ihnen irgendwelche Pflanzen zum Knabbern, das könnte lustig werden.«
»Da komm ich mit!«
»Okay, gehen wir«, sagte ich. Ich nahm meine Jacke, als das Hoteltelefon klingelte. Es war Rosa. »Ich kann nicht einschlafen«, sagte sie. »Geht irgendwie nicht, obwohl ich müde bin. Und hier fällt mir die Decke auf den Kopf. Das ist ja am Arsch der Welt hier!«
»Ich bin gerade mit Basti auf dem Weg zum Gartencenter, komm doch mit!«
»Was für ein Gartencenter?«
»Eins, das am Sonntag aufhat. Irgendwo auf dem Lande.«
»Ich wollte eigentlich lieber nichts mit dir machen, Karl Schmidt, sonst wird das noch was Ernstes«, sagte sie, »ich meine, gestern, das war ja nur so Sex zum Spaß, aber wenn man jetzt schon zusammen ins Gartencenter fährt, dann wird’s ernst, das ist ja wie zu Ikea fahren, da ist man ja schon so gut wie verheiratet! Ich kann das im Augenblick nicht gebrauchen, das Letzte, was ich jetzt brauche, ist ein fester Freund oder sowas.«
»Basti ist auch dabei«, sagte ich. »Wir kaufen nur Sachen für die Meerschweinchen. Es wäre bloß ein Ausflug. Ein Gartencenter ist kein Standesamt, Rosa!«
»Bist du sicher?«
»Basti ist dabei, der passt auf uns auf.«
»Ich hatte eigentlich nicht angerufen, um mit dir irgendwas zu unternehmen, ich wollte nur mal mit jemandem reden, die anderen schlafen ja alle.«
»Das ist schön gesagt. Also was nun?«
»Was wollt ihr denn für die Meerschweinchen im Gartencenter kaufen? Einen Rasenmäher?«
»Keine Ahnung, vielleicht Stroh und Heu und so Kram halt. Außerdem wollte ich noch an die Tankstelle und den Wagen frischmachen.«
»Das klingt ja aufregend.«
»Ja. Ist schönes Wetter draußen.«
»Aber ich will keinen Sex oder so.«
»Ich sag’s Basti. Wir treffen uns unten.«
Draußen war Frühling Galore und die Bäume hielten ihre Blätter in den warmen Wind und die Blümelein standen auf den Wiesen und nickten mit den Köpfchen und der ganze andere Kommliebermaiundmachefaschismus. Basti und Rosa nahmen sich jeder ein Meerschweinchen und streichelten es und im Kassettenrekorder lief die Kassette mit der Bummbumm-Musik, die aber wohl doch nicht von Rosa war, »RM«, das sei nicht sie, sagte sie, während sie rauchte und das Meerschweinchen streichelte, und Basti meinte, es könnte auch Raimunds Mix heißen, und die Tracks darauf seien ja wohl ziemlicher Trancemüll, und so fuhren wir zu Trancemüllklängen übers Land, erst zur Tankstelle, einen Deutschlandplan kaufen, das hatte ich schon die ganze Zeit machen wollen, und dann noch einen Detailplan von Oberbayern für den Weg nach Neu-Kippenberg, das war der Ort mit dem geöffneten Gartencenter, und einen Tankstellenkaffee für Basti, der dringend einen brauchte, und dann kauften wir noch Einwegrasierer für Holger, die wollte Basti ihm als Friedensangebot schenken, und wir überredeten ihn, noch eine Dose Rasierschaum draufzulegen, zur Sicherheit. Dann fuhren wir nach Neu-Kippenberg, wo das Gartencenter schon wieder geschlossen hatte, aber ein Biergarten hatte geöffnet und wir also Bier und Apfelschorle und Rettich und Schweinebraten und danach auf einen Flohmarkt, wo sich Rosa einen Schäferhund aus Keramik kaufte, und dann fanden wir einen Bauern, der uns ein bisschen Stroh und Heu für die Meerschweinchen gab und wir machten ihnen ihren Stall sauber und gaben ihnen Stroh und Heu und neues Wasser und Salat aus dem Biergarten und wir sammelten noch etwas Löwenzahn für sie auf einer Wiese und danach fuhren wir Richtung Berge, die bei diesem sonnigen Wetter ganz nah zu sein schienen, was sie aber nicht waren, man fuhr und fuhr auf den Landstraßen, denn es war kein Tag für Autobahnen, wie Rosa sagte, immer schön Landstraße, sagte sie, und die Berge kamen nicht näher, es war ein bisschen wie mit dieser Magical-Mystery-Tour, die immer weiter und weiter ging und genauso sinnlos wie großartig war und deren Ende nicht näher kam, genau wie eben diese Berge, die keiner gewollt hatte, die das aber überhaupt nicht interessierte, alles wie Raimund und Ferdi, sagte ich zu den beiden anderen, und Basti sagte, dass er das nicht verstünde, das sei jetzt ein etwas krauses Statement, und Rosa sagte, wir sollten darauf achten, dass sie auf keinen Fall einschlief, sonst würde sie am nächsten Morgen um drei oder sowas aufwachen und das in Unterschleißheim, Horror, dann könne sie für nichts mehr garantieren, und irgendwann kamen wir dann doch unten an den Bergen an und die Straße schlängelte sich hinein und hinein und wir immer weiter bis an eine Bergwand, an der man mit der Seilbahn auf den Gipfel fahren konnte, und das taten wir und dann stolperten wir dort durch den Schnee und fielen dauernd hin, weil wir natürlich die ganz falschen Schuhe anhatten, und dann hatten sie da oben eine Hütte mit Gastro, wo Rosa sich wegen ihrer Angst vor der Seilbahn-Rückfahrt einen Kirsch nach dem anderen reinkippte und ich sie darum beneidete, denn auch ich hatte mir auf der Fahrt nach oben fast in die Hose geschissen vor Angst, aber ich blieb sauber auf der Kaffeespur, und irgendwann fuhren wir wieder runter mit der Seilbahn, was dann gar nicht mehr so schlimm war, und dann zurück Richtung Unterschleißheim und immer schön auf der Landstraße, Rosa las die Karte, damit sie nicht einschlief, aber sie war zu betrunken dazu, also fuhren wir kreuz und quer und Basti sagte, dass es Zeit fürs Abendessen sei, und wir rein in ein Wirtshaus und wieder Bier und Apfelschorle und Schweinebraten und Haxe und Krautsalat und was weiß ich nicht, was noch für Folklorekram sie da auftischten, es war echtes Frankie-Lehmann-Essen, der hatte sowas immer geliebt, schade, dass der nicht dabei war, und ich dachte einen Moment lang, dass das jetzt einer der schönsten Tage war, die ich seit langem erlebt hatte, vielleicht einer der schönsten Tage überhaupt, ich musste jedenfalls verdammt lange zurückdenken, um darauf zu kommen, wann ich zum letzten Mal einen so schönen Tag erlebt hatte, es war irgendwann zur Bielefelder Zeit gewesen und mein Vater und meine Mutter waren mit mir irgendwo hingefahren, keine Ahnung, wohin genau und was wir da gemacht hatten, irgendwas mit Wald und Fluss und Picknick, aber ich erinnerte mich, dass ich damals dasselbe Gefühl gehabt hatte wie jetzt und es hatte mich, auch daran erinnerte ich mich noch, damals ganz traurig gemacht, weil ich gleich gedacht hatte, dass es wahrscheinlich nie wieder so schön werden würde, keine Ahnung, wie ich damals darauf gekommen war, und diese Erinnerung machte mich jetzt auch wieder traurig, und damit war der schöne Tag schon wieder irgendwie nicht ganz so schön, das kommt davon, wenn man zurückdenkt und Vergleiche anstellt, das kommt davon, wenn man sich dauernd erinnert, das kommt davon, wenn man, bloß weil man immer noch im selben Körper steckt, alles, was dieser Körper irgendwann erlebt hat, mit allem anderen sonst noch Erlebten zusammenrührt und das dann begutachtet und durchdenkt und bewertet und verarbeitet und was weiß ich nicht alles – das kommt davon! Und kein Wunder, dass man dann auch gerne Bier und Obstschnäpse trinken würde, und am besten viel und immer weiter und weiter: Weil man dann endlich damit aufhören könnte und einfach nur da wäre und alles wäre gut.
Aber nicht für mich. Für mich gab es Schweinebraten und Apfelschorle und Krautsalat, das musste reichen, während Basti und Rosa mit jedem Bier lustiger und lustiger wurden, und für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, sie zu bitten, mir nicht die ganze Zeit einen vorzusaufen, aber dann dachte ich, dass das genau das Falsche, dass das genau das Spaßbremsending wäre, das einem die ganze Abstinenzsause erst wirklich verleiden würde, weil man, wenn man mit sowas erst einmal anfing, genausogut gleich wieder in die Clean-Cut-1-Ghettos dieser Welt zurückkehren konnte, und ich war froh, dass mir das rechtzeitig einfiel, und dann bestellte ich ihnen noch je einen Schnaps und mir eine Apfelschorle und dachte, dass es doch irgendwie gerade gut war, dass sie so unbeschwert saufen konnten, weil es ja einen gab, der auf sie aufpasste und sie nach Hause fahren konnte, und als sie auf der Rückfahrt einschliefen, drehte ich die Bummbumm-Musik lauter und nahm die Autobahn, damit sie möglichst schnell in ihre Betten kamen!