61. Marcel Marceau

Natürlich hätte ich auch Hagenbeck sagen können oder auf den Turm vom Michel gehen oder Teufelsbrück oder Stadtpark oder was weiß ich für einen Scheiß, es war ganz gutes Wetter, vielleicht hätte man auch ein paar Ruderboote an der Außenalster mieten können oder es war gerade Dom in Hamburg, es war ja irgendwie immer Dom, so war es mir jedenfalls in den letzten fünf Jahren in dieser Stadt vorgekommen, aber das waren alles Sachen, die ich mit den anderen von Clean Cut 1 schon tausendmal an den sinnlosen Sonntagen bei Sonnenschein und Regen, bei Wind und Wetter, sommers wie winters gemacht hatte, das hätte mich deprimiert, den gleichen Kram mit den kleinen Rave-Strolchen noch einmal zu machen und ich dabei der Werner, der die Leute in die Ruderboote verteilt oder an den Tieren vorbeischeucht, das war eine schlimme Vorstellung, deshalb Hafenrundfahrt, denn Hafenrundfahrt war etwas, was Werner immer abgelehnt hatte, »da können wir auch gleich einen Partybus mit Schnapsbar mieten«, hatte er immer gesagt, und es reizte mich natürlich, das jetzt gleich mal auszutesten, das als eine von diesen Wernerwarnungen zu nehmen, denen man sich stellen musste, ich hatte das Hofbräuhaus und die Äppelwoi-Kneipe und sogar den München-Gig mit Holger überlebt, ohne was genommen zu haben, vom Eiscafé »La Romantica« ganz zu schweigen, da brauchte ich vor einer Hafenrundfahrt keine Angst zu haben, dachte ich, im Gegenteil, es war ein bisschen wie ein Spiel, ein Psychofernschach, das ich mit Werner spielte, obwohl, Fernschach, das klingt nach Nachdenken und Kontrolle und Intelligenz, dabei war es wohl doch eher ein Hindernisparcoursquatsch wie früher in Spiel ohne Grenzen, wo die Vollidioten auf Stelzen durch Schlamm waten und dabei wassergefüllten, aus Kanonen abgeschossenen Ballons ausweichen mussten, Karl Schmidt gegen die Drogenwelt der Normalos und der Raver, ein Sperrfeuer der alkoholischen und kokainistischen Verlockungen, so sah ich das, als ich die Hafenrundfahrt vorschlug, und ich kam mir ziemlich heldenhaft dabei vor, das war ein bisschen hochmütig und auch voreilig, das muss ich zugeben und die kleinen Sünden straft der Liebe Gott sofort, wie Klaus-Dieter, der alte Spruchweisheitenautomat, gesagt hätte, denn als wir schließlich und endlich, nach einem längeren telefonischen Hin und Her mit dem Fluxi Budget Harbor Nobistor Hamburg, in dessen Verlauf wir erreichten, dass wir unsere gerade verlassenen Zimmer für einen weiteren Tag behielten und wir also jederzeit wiederkommen konnten, als wir also nach alldem schließlich und endlich, dirigiert von einem der Anreißer auf den Landungsbrücken, den schwankenden Schwimmanleger betraten, an dem unsere Hafenrundfahrts-Barkasse lag, hatte ich in genau dem Moment, wo ich zum ersten Mal mit beiden Beinen auf dem leicht schwankenden Anleger stand, der von den Wellen, die für einen Fluss ganz schön groß waren, ordentlich hin und her wackelte, hatte ich also genau in dem Moment eine Art Flash und ich kam mir, vielleicht wegen dem schwankenden Boden und dem starken, kalten Wind und der Sonne, die alles aus einem blauen Himmel heraus beschien, über den weiße Wolken jagten, ich kam mir also in dem Moment plötzlich unfassbar frei vor, so frei, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte, weil der Gedanke, so frei zu sein, mich sofort völlig lähmte, es gab so viele Sachen, die ich seit Jahren nicht tun durfte und auch nicht getan hatte, dass ich jetzt, wo ich diese unglaubliche Freiheit verspürte, überhaupt nicht wusste, was ich jetzt machen sollte, und das Problem war natürlich, dass mir erst einmal gar nichts einfiel, deshalb konnte ich mich nicht mehr bewegen, ich stand auf dem Schwimmponton, ratlos, der gute alte Brain ein wild kreiselnder Kompass, der keine magnetischen Feldlinien mehr hatte, und ich fühlte, dass es undenkbar war, hier jetzt einfach weiterzumachen, womit auch immer, ich musste erst die Lücke in meinem Denken, die da unversehens aufgeklafft war, mit einem neuen Plan füllen, eine Richtung finden, in die ich gehen konnte, nachdenken, nachdenken, nachdenken, ich blieb also einfach stehen, während die anderen, die hinter mir gewesen waren, an mir vorbei auf die Barkasse latschten und ihre Tickets, die wir oben, auf festem Boden noch, gekauft hatten, abreißen ließen und an Bord einen Tisch besetzten und schon mal was zu trinken bestellten, während ich breitbeinig und mit den Wellen mich leicht wiegend auf dem Schwimmanleger stand und stand und stand und immer mehr Leute an mir vorbeiliefen, und ich sah, wie Raimund in der Kajüte verschwand und mit einem Arm voll Flaschenbier wieder herauskam und es verteilte und wie sie anstießen und tranken, und dann stand Rosa auf und ging von Bord und zu mir her und fasste mich am Arm und sagte: »Alles okay?«

»Jaja«, sagte ich. Die Berührung am Arm hatte den Zauber gebrochen, sie war etwas Handfestes und plötzlich hatten die Dinge wieder eine Richtung, nämlich die, in die sie mich am Arm hinter sich herzog und ich ging mit und setzte mich zu den anderen an den Tisch und jemand rief »Mensch, Charlie, was ist denn los?«, und ich sagte: »Musste kurz nachdenken!«, und das reichte ihnen allen als Erklärung natürlich voll aus, Nachdenken, wegen sowas kann man schon mal in eine Schockstarre geraten, kein Ding das, Hallihallohallöchen, hoch die Tassen bzw. die Flaschen, und plötzlich hatte ich eine Bierflasche in der Hand und ich weiß auch gar nicht, ob mir die einer da hineingedrückt hatte oder ob ich sie mir selbst aus dem Flaschengewirr auf dem Barkassentisch herausgesucht hatte, aber vollmechanisch stieß ich mit den anderen an und hob sie gerade zum Mund, als ich, auf die gute alte Karl-Schmidt-Weise beim Ansetzen der Flasche den Kopf langsam nach hinten biegend, oben an Land, auf uns herunterguckend und mit offenem Mund mich anstarrend, Klaus-Dieter sah.

Und genau so, mit Klaus-Dieter im Blick, trank ich meinen ersten Schluck Bier nach fünf Jahren.

Es traf mich wie ein Schock, ich hatte ja gar nicht darauf geachtet, was ich tat, und als das Bier in den Mund lief, kam sofort die Angst, zugleich aber auch die Verwunderung darüber, dass es nicht so schmeckte, wie ich es in Erinnerung hatte, es war nicht das kühle, erfrischende, den Durst löschende Spaßgetränk, es kam mir vor wie eine dickflüssige, süßlich-bittere Suppe, und zugleich sah ich den Mund von Klaus-Dieter noch weiter aufgehen, Klaus-Dieter hatte den endgültigen, ultimativen Clean-Cut-1-Schreckensmoment live mitbekommen: Einer hatte wieder angefangen, einer war wieder drauf.

Ich wedelte mit dem Zeigefinger in seine Richtung, immer hin und her, wie um »nein, nein, nein, Missverständnis!« zu sagen und spuckte das Bier über Bord, gottseidank saß ich so, dass hinter mir gleich das Wasser war. Klaus-Dieter konnte dieses Überbordspucken leider nur von hinten sehen, ich musste mich dazu ja umdrehen, aber ich hoffte mal, dass er es mitgekriegt hatte, dann wedelte ich wieder verneinend mit dem Finger, zeigte auf die Bierflasche, zeigte auf meinen Mund, schüttelte ganz klar ablehnend den Kopf, zuckte mit den Schultern, es war die reinste Marcel-Marceau-Scheiße, aber auf Speed, die ich da abzog, nur um den guten alten Klaus-Dieter zu beruhigen, der dastand und mich mit offenem Mund anglotzte, in der einen Hand ein Fischbrötchen und die Tasche, mit der er immer zur Arbeit ging, nach Spackenart diagonal über Brust und Schulter hängend, na gut, das war jetzt modern, so gesehen hatte sich bei ihm die Spackenbeharrlichkeit ausgezahlt, das war ihm auch zu gönnen, aber jetzt begann er schwer zu atmen, zu hyperventilieren, sein Mund schnappte auf und zu und dann rief er etwas, was aber, weil in diesem Moment der Motor der Barkasse angeworfen wurde, nicht zu verstehen war und ich machte mit der offenen Hand eine beruhigende, leicht winkende Handbewegung und Klaus-Dieter winkte zurück, das rührte mich und ich stellte mit großer Geste die angebrochene Flasche wieder zurück auf den Tisch zu den anderen und zeigte auf mich und dann auf die Kajüte und machte dann Handbewegungen, die das Trinken einer Tasse Kaffee darstellten, also die imaginäre Tasse mit drei Fingern am imaginären Henkel von der imaginären Untertasse nehmen, dabei den kleinen Finger abspreizen, Tasse zum Mund führen, Tasse wieder absetzen, dann zeigte ich wieder auf die Kajüte und stand auf und ging da hin und verschwand in der Kajüte, wo ich mir bei einer Frau, die dort einen Kiosk betrieb, eine Tasse Kaffee geben ließ, mit der ich wieder ans Deck trat, schwankend dabei und hin- und herrollend und breitbeinig gehend wie ein alter Seebär, aber mit Kaffeetasse, so kam ich wieder hervor, denn die Barkasse legte jetzt ab und schlingerte dabei und langsam verschwand Klaus-Dieter und ich hielt die Kaffeetasse hoch und winkte zugleich mit der anderen Hand und Klaus-Dieter winkte auch und dann war er außer Sicht. Und dann begann das ganze Hummel-Hummel-Mors-Mors-Folkloreprogramm mit Speicherstadt und Gezeitenschleusen und Schiffen und Festmachern und Stückgut und Container und Ahoi und Gute Reise und hoch die Tassen und ich mittendrin, das ganze Schiff eine einzige Schaukel- und Becherei und ich immer schön prost Käffchen und die ganze Zeit ging mir nur eine Frage im Kopf herum: War das wirklich Klaus-Dieter gewesen? Konnte es wirklich sein, dass Klaus-Dieter mich gerettet hatte? Der gute alte Klaus-Dieter? Klaus-Dieter Hammer, der Multitoxfreak von Ottensen? Irgendwann, wir waren gerade in einem riesigen Hafenbecken zwischen riesigen Schiffen unterwegs, Container, Hochsee, trallala, merkte ich, dass Rosa mich beobachtete. Sie saß zwei Leute weiter, mir schräg gegenüber. Ich hob eine Hand und winkte. Sie lächelte und winkte zurück. Ich stand auf und holte mir noch einen Kaffee.

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
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