7. Magical Mystery
Am nächsten Tag war schon Freitag, und ich erwog beim Tierefüttern schon allen Ernstes, vielleicht selber und von mir aus und ohne Aufforderung, also völlig unangemeldet und ungebeten zu Dr. Selge zu gehen und mit ihr quasi partnerschaftlich oder jedenfalls auf gleicher Augenhöhe und von Mensch zu Mensch zu klären, wie das nun alles werden sollte mit St. Magnus und der Tierfütterung und dem ganzen Scheiß. Besonders um Jimmy und Johnny, die beiden kleinen Affen, machte ich mir Sorgen, der einzige Knallkopf in dem ganzen Haus, der kurzfristig als Tierfütterer in Frage kam, war Herr Meining, der Tiertherapeut, und der ekelte sich vor Mehlwürmern, da würden dann erst einmal harte Zeiten für Jimmy und Johnny anbrechen, außerdem hasste er die Affen, weil sie sich vor den Kindern öfter mal einen runterholten, Herr Meining war nicht der Typ, der aus seinem Antisex-Herzen eine Mördergrube machte, er hatte schon die Kaninchen kastrieren lassen und die Ziegen hatte er nach Männchen und Weibchen getrennt halten wollen, aber da hatte Herr Munte bis zu seinem Tod dagegengehalten und bei mir hatte Herr Meining auch davon angefangen, da hatte ich ihm unter der Bedingung zugestimmt, dass er sich das Tierefüttern mit mir fifty-fifty teilte, danach war Ruhe gewesen.
Aber mit der Ruhe war es jetzt für Herrn Meining vorbei, das stand wohl mal fest, und die Frage war nur, ob ich alles laufenlassen oder mich bei Dr. Selge um die Sache kümmern, also gewissermaßen Verantwortung übernehmen sollte, was ich aber irgendwie nicht einsah, sie hatten mich nicht als neuen Hausmeister gewollt, da war ich ihnen keine Verantwortung schuldig, naja, jedenfalls nicht Dr. Selge, wohl aber Jimmy und Johnny, die konnten nichts dafür, verdammte Zwickmühle.
Das war ungefähr der Stand meiner Erwägungen, als ich nach dem Tierefüttern in die Werkstatt kam und das Telefon klingelte. Es war Dr. Selge selbst, und sie klang erstaunlich fröhlich.
»Lieber Karl«, flötete sie in die Muschel, »hätten Sie mal einen Moment Zeit, zu mir heraufzukommen?«
»Jetzt ist gerade schlecht«, sagte ich und löffelte Kaffee in Rüdigers alte Maschine, »jetzt ist ganz schlecht, jetzt rufen gleich die Gruppen an und melden ihre Reparaturen und so weiter und so fort, das ist jetzt die Zeit dafür, das ist morgens immer so.«
»Aber dennoch«, sagte Dr. Selge, »aber dennoch, ich möchte Sie dennoch bitten, eben mal zu mir hochzukommen, es ist wirklich wichtig, und es ist auch für Sie eine angenehme Entlastung.«
»Was?«
»Wie bitte?«
»Was ist auch für mich eine angenehme Entlastung?«
»Das können wir doch alles hier oben besprechen«, sagte sie. »Bitte kommen Sie gleich, es ist wichtig.«
Ich ging also hoch zu Dr. Selge.
»Da ist er ja«, rief Dr. Selge erfreut, als ich durch die Tür kam, »schauen Sie, Karl, das ist Herr Niemeyer«, und es war ein bisschen, als hätte sie etwas von den legalen Uppern genommen, die sie wahrscheinlich irgendwo für ihre Patienten bereithielt, irgendwas Erfrischendes, nach vorne Bringendes, vielleicht revolutionäre neue Samples aus einer Vertreterprobe von Ciba Geigy oder Hoffmann-La Roche, so sah es für mich aus, als sie mich da so anstrahlte, sie grinste über beide Backen und hielt einen Arm ausgestreckt in Richtung Herr Niemeyer, einem auch sehr frischen, auch sehr gut gelaunten Mann in etwa meinem Alter, der mit Umhängetasche und im grauen Kittel neben ihr stand und lächelte und nickte wie ein Wackeldackel. »Herr Niemeyer ist extra schon heute gekommen, obwohl er erst in zwei Wochen offiziell hier anfängt und obwohl die Dienstwohnung, also das Haus von Herrn Wieczorek, obwohl das ja noch gar nicht frei ist, also obwohl ja Herr Wieczorek, egal, also ist er schon hier und er wird auch, Sie müssen ja Montag schon weg, so habe ich das mit dem Herrn Maier abgesprochen, das war dem ganz wichtig, dem Herrn Maier, naja, jedenfalls wird Herr Niemeyer für Sie die Urlaubsvertretung machen, schon bevor er hier eigentlich, offiziell ist Herr Wieczorek ja noch bis Ende …«
Sie brach ab und schwenkte wie zur Erklärung einen ausgestreckten Arm wie ein Polizist, der einen Fahrradfahrer anhält. Werner, der bei ihr immer nur »der Herr Maier« hieß, musste ihr wohl ordentlich eingeheizt haben.
»Guten Tag«, sagte Herr Niemeyer und trat einen Schritt vor.
Ich schüttelte ihm die Hand, was sollte ich auch sonst tun? Herr Niemeyer war mein zukünftiger Vorgesetzter, und es war nicht zu hoffen, dass er sich von Anfang an rüdigergleich in seiner neuen Dienstwohnung verschanzen würde.
»Ich würde mich total freuen«, sagte Dr. Selge und nahm uns beide an der Schulter und schob uns sacht zur Tür, »wenn Sie sich gut verstehen und gleich heute richtig prima zusammenarbeiten würden, dann kann Herr – äh – Karl – äh – Schmidt Ihnen, Herr Niemeyer, gleich alles zeigen und Sie sind einigermaßen eingearbeitet und Herr Schmidt kann dann am Montag schon in Urlaub fahren, wie es ja wohl dem Herrn Maier zufolge unbedingt sein muss.«
Kaum standen wir auf dem Flur, sagte Herr Niemeyer: »Das ist nett, dass Sie mich einarbeiten, das wollte ich gleich mal sagen. Vielleicht sollten wir uns duzen? So unter Kollegen? Ich schlag das lieber gleich vor, ich bin ja der Ältere.«
»Wie alt sind Sie denn?«
»Dreiunddreißig, demnächst vierunddreißig«, sagte er. »Und Sie?«
Dreiunddreißig! Herr Niemeyer war jünger als ich. Sie hatten den Job einem gegeben, der jünger war als ich!
»Sechsunddreißig«, sagte ich. »Dann bin ich der Ältere.«
Wir gingen weiter, Herr Niemeyer sagte erst einmal nichts mehr. Als wir in der Werkstatt ankamen, klingelte dort das Telefon, war ja klar.
»Hier ist die Werkstatt«, sagte ich zu Herrn Niemeyer, zeigte auf einen Stuhl für ihn und nahm den Hörer vom Telefon ab. Während ich mit Anneliese von Gruppe sieben über ihre kaputten Stühle plauderte, machte sich Herr Niemeyer an der Kaffeemaschine zu schaffen, prüfte den Stand des Pulvers im Filter, füllte Wasser ein und machte sie an. Als er sah, dass ich ihn beobachtete, machte er eine Pantomime, die wohl bedeuten sollte, dass er nun Kaffee mache und ob das okay sei. Ich zuckte mit den Schultern. Als ich auflegte, klingelte das Telefon gleich wieder. Ich nahm es ab, sagte »Einen Augenblick bitte«, und wandte mich an Herrn Niemeyer: »Herr Niemeyer«, rief ich über das Gurgeln und Knacken der Kaffeemaschine hinweg, »vielen Dank, dass Sie schon einmal Kaffee gemacht haben. Wir können nun folgendermaßen verfahren: Entweder nehmen Sie jetzt die ganzen Anrufe entgegen und notieren die Probleme, während ich mich schon einmal auf den Weg in Gruppe sieben mache, wo einige kaputte Stühle abzuholen sind, oder wir machen es genau umgekehrt, was wäre Ihnen lieber?«
»Ich bin da ganz neutral«, sagte Herr Niemeyer und lächelte dabei. »Wie es Ihnen lieber ist, Herr Schmidt, kein Problem.«
»Dann schlage ich vor, Herr Niemeyer, Sie gehen zu Gruppe sieben und holen von dort die beiden kaputten Stühle herunter, während ich hier weiter Zettel ausfülle. Wenn das Wichtigste erledigt ist, zeige ich Ihnen den Tierpark.«
»Das ist mir sehr recht, auf diese Weise kann ich mich gleich ein wenig bekanntmachen, Herr Schmidt«, sagte Herr Niemeyer und ging los.
»Moment«, rief ich, »wollen Sie nicht wissen, wo Gruppe sieben ist?«
»Im zweiten Stock«, sagte Herr Niemeyer, »da sind wir doch eben vorbeigekommen.«
Und dann war er weg. Als er wiederkam, hatte er zwei kaputte Stühle dabei und eine Flasche Essigessenz, die hatte er sich unterwegs »von einer sehr, sehr netten Reinemachefrau« ausgeliehen, um damit die Kaffeemaschine zu entkalken, da war er von selber draufgekommen, »natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Schmidt«, und ich sagte: »Warum sollte ich, das ist eine wunderbare Idee, Herr Niemeyer«, und so entkalkte er erst einmal Rüdigers alte Knattergurke, während ich weiter Telefonate entgegennahm und Reparaturzettel ausfüllte.
»Stört es Sie, Herr Niemeyer, wenn ich ein wenig rauche?«, sagte ich irgendwann, was ein bisschen lächerlich war, weil ich ja schon die ganze Zeit eine nach der anderen gequalmt hatte.
»Nein, rauchen Sie, rauchen Sie«, sagte Herr Niemeyer, »ich rauche selber ganz gern mal ein Pfeifchen nach Feierabend«, und dann fand er ganz von alleine das Ponal Express und die Schraubzwingen und leimte die Stühle zusammen, als hätte er nie etwas anderes gemacht.
»Wir haben nun die Wahl«, sagte ich, als das Telefon irgendwann nicht mehr klingelte. »Wir können gemeinsam diese Reparaturen hier« – ich schwenkte die Reparaturzettel – »abarbeiten, oder ich bleibe noch ein bisschen hier und bewache das Telefon, während Sie schon einmal in die Gruppen gehen und gute Laune verbreiten, oder wir machen es umgekehrt, was denken Sie, Herr Niemeyer?«
»Das würde ich ganz Ihnen überlassen, Herr Schmidt«, sagte Herr Niemeyer und drehte eine Schraubzwinge fest. »Mit diesen Stühlen bin ich fertig, das muss jetzt nur noch trocknen. Wenn Sie wollen, übernehme ich die anderen Sachen auch und einer muss ja am Telefon bleiben, die Leute hier kennen Sie ja viel besser als mich, da ist es gewiss ratsam, wenn sie eine vertraute Stimme am Telefon vorfinden.«
»Da sagen Sie was, da sagen Sie was, Herr Niemeyer«, sagte ich. Herr Niemeyer saß mir aufmerksam gegenüber und lächelte und wackelte dabei pseudohospitalistisch mit dem Kopf. Henning hatte auch mal so eine Phase gehabt, bei der er viel mit dem Kopf gewackelt hatte, und ich hatte damals schon gedacht, dass das die nächste Es kalationsstufe auf seinem Weg ins kühle Grab wäre, aber Werner hatte ihn davon wieder abgekriegt, er hatte Henning einfach gesagt, wenn er nicht damit aufhöre, müsse er in Rente gehen, da war dann gleich Schluss gewesen.
»Ich gehe dann die Reparaturen erledigen«, sagte Herr Niemeyer, »darf ich mal?«, und dann nahm er mir die Reparaturzettel aus der Hand und blätterte sie durch, »Wasserhahn, Wasserhahn, Klo, Stuhl, Glühbirne, alles klar«, sagte er und kramte im Werkzeug und stellte sich eine kleine Ausrüstung für seine Reparaturexpedition zusammen, und ich wusste in diesem Moment, und das machte mich dann doch ein bisschen traurig, dass meine Tage im Kinderkurheim Elbauen gezählt waren.
»Ja, gehen Sie, dann lernen Sie die alle kennen«, sagte ich, »das ist gut, die Glühbirnen sind dahinten und die Dichtungsringe für die Wasserhähne sind alle in allen Größen in dieser Schachtel« – ich schob ihm die Box mit den Dichtungsringen hin, und dabei erinnerte ich mich daran, wie ich zusammen mit Rüdiger, der damals schon keinen Führerschein mehr gehabt hatte, zum Max Bahr in Altona gefahren war, um unter anderem diese Box zu kaufen, sie war aus Plastik und hatte viele kleine Unterteilungen, und wir hatten uns, Rüdiger und ich, darauf geeinigt, dass das die ideale Box für Dichtungsringe sei, ich hatte es jedenfalls gesagt und Rüdiger, der hier ja wohl nur noch Herr Wieczorek hieß und demnächst dann wohl in die Klapsmühle einchecken durfte, hatte genickt, er hatte schon damals nicht mehr viel gesagt, der arme Schluckspecht, eine Super-Dichtungsringbox war es jedenfalls und haltbar und sie war super bestückt, aber auch dieser Umstand wurde mir dadurch verleidet, dass Herr Niemeyer die Box jetzt strahlend und mit den Worten »Das ist ja eine praktische Sache!« entgegennahm und sie sogar noch mit dem Ärmel polierte, bevor er sie zu den anderen Werkzeugen tat und mit dem ganzen Geraffel durch die Tür verschwand.
Aber gut, dass er weg war, denn war es kurz nach zehn und laut Raimund Schultes Ansage war ja ab zehn immer einer bei den BummBumm-Leuten im Büro, was immer das dann für ein Büro sein sollte, der BummBumm-Club hatte kein Büro gehabt, nur ein kleines Kabuff, in dem mit Geldscheinen und Koks hantiert und Dosenbier gelagert worden war, nun gut, ich würde es gleich herausfinden, dumm nur, dass ich für Ferngespräche vom Werkstattapparat Frau Schmidt zum Freischalten der Leitung und zum Notieren der Einheiten in einer Telefonliste brauchte, also rief ich Frau Schmidt an: »Frau Schmidt«, flötete ich in den Hörer, »ich muss mal ein Ferngespräch führen, könnten Sie mich mal eben dafür freischalten?«
»Meinetwegen, Herr Schmidt, aber dann müssen Sie das heute noch bezahlen, wir sind gehalten, die Telefonlisten nicht zu lange unabgerechnet zu lassen und Sie sind ja nun wohl erstmal im Urlaub, habe ich gehört«, kam es eisig aus der Leitung zurück. Da oben hatten sie eine klare Meinung über mich, das war offensichtlich. Ich war der gesunkene Stern, Herr Niemeyer arschklar die neue Hoffnung, jetzt, wo sie Herrn Niemeyer hatten, brauchten sie mich nicht mehr so dringend, wahrscheinlich gar nicht mehr, da mussten sie ihren Hass nicht mehr im Zaum halten, so kam es mir in diesem Moment jedenfalls vor, so rauschte es durch meinen niemeyerverwirrten Kopf, und ich hatte keine Gegenstimme in petto.
»Ich würde es an Ihrer Stelle genauso halten, Frau Schmidt«, sagte ich. »Ich kann Ihnen das nicht verdenken.«
»Wie meinen Sie das? Das verstehe ich nicht. Was denn halten? Welche Stelle?«
»Vielen Dank schon mal für die Mühe, dieses Telefon für Ferngespräche freizuschalten«, trieb ich das Gespräch weiter voran. »Sie sind sehr freundlich.«
»Ist alles in Ordnung, Herr Schmidt?«
»Auf jeden Fall, Frau Schmidt.«
»Dann ist ja gut. Kommen Sie dann noch hoch und bezahlen?«
»Nach jedem Telefonat, Frau Schmidt.«
»Werden das mehrere?«
»Das kann sein, Frau Schmidt. Es geht um meinen Urlaub, ich muss da einige Dinge regeln.«
»Soso. Die Leitung ist jetzt frei.« Frau Schmidt legte auf.
Ich probierte die Nummer, die Ferdi aufs Band gesprochen hatte, ich hatte sie mir am Vorabend, als das Plenum endlich vorbei gewesen war, schnell mit einem Kugelschreiber auf den Oberarm gekritzelt. Und tatsächlich, Frau Schmidt sei Dank konnte ich bis nach Berlin durchwählen und auf der anderen Seite läutete es und es ging auch wirklich jemand ran.
»BummBumm Records, Basti.«
»Karl Schmidt hier. Ich würde gerne mal Raimund oder Ferdi sprechen.«
»Die sind nicht da.«
»Wann kommen die denn?«
In diesem Moment kam Herr Niemeyer wieder rein und deutete stumm auf die Stechbeitel, die über der Werkbank hingen. Ich trat so weit, wie es die Telefonschnur erlaubte, beiseite, um ihn da ranzulassen. Er nahm das 12- und das 16-mm-Stechbeitel von der Wand und ging damit wieder davon.
»Keine Ahnung«, sagte Basti.
»Wann kommen die denn immer so ins Büro?«
»Weiß nicht, das ist unregelmäßig, das weiß ich nicht, keine Ahnung.«
»Haben die eine Nachricht für mich hinterlassen? Für Karl Schmidt!«
»Hm, weiß nicht, wollten sie das?«
»Die haben mich gestern angerufen und gesagt, ich soll hier anrufen.«
»Ach so. Aber die sind nicht da.«
»Und keine Nachricht?«
»Ich frag mal.«
Ich hörte einige Zeit lang ein Gemurmel am anderen Ende. Gleichzeitig kam Herr Niemeyer wieder herein und sah mich telefonieren, woraufhin er sich einen Finger an den Mund hielt und auf Zehenspitzen näherhüpfte. Bei mir angekommen, wedelte er entschuldigend mit den Händen und suchte dann noch einige Sachen mehr zusammen: Schleifpapier, Schleifblock, Leim, Nägel, einen Holzhammer und zwei Schraubzwingen. Am anderen Ende war eine muntere Diskussion zugange.
»Nein, keine Nachricht«, sagte Basti endlich. »Nur für einen, der Charlie heißt.«
»Das bin ich. Charlie. Karl Schmidt.«
»Ehrlich?«
»Ja. Karl Schmidt.«
»Diese hier ist aber für Charlie.«
»Ja, Karl. Genannt Charlie. Auf Charlie wird keiner getauft, man heißt erst Karl und dann nennen einen die Leute irgendwann Charlie.«
»Versteh ich nicht.«
»Heißt du Basti?«
»Ja.«
»Und was steht in deinem Personalausweis?«
»Stratmann.«
»Vorname?«
»Sebastian. Ach so, ja klar.«
»Also, Basti, wie lautet die Nachricht von Ferdi und Raimund für Charlie?«
»Warte mal, ich kann die Schrift kaum lesen, ich glaube, das hat Raimund geschrieben, der hat aber auch eine Klaue, also warte mal …«
Wieder einige Zeit des Gemurmels. Dann: »Also, wir glauben, da steht: Charlie soll nach Berlin kommen, spätestens am Zwanzigsten, wichtig, Job, wir brauchen ihn dringend.«
»Wofür?«
»Keine Ahnung. Holger auch nicht. Holger schüttelt mit dem Kopf. Und sonst ist keiner da.«
»Okay, vielen Dank.«
Ich legte auf und schaute nach, wieviel Geld ich dabei hatte. Das waren mindestens drei Minuten Ferngespräch gewesen und die Einheit kostete zwanzig Pfennig, eigentlich ja zwölf, der Rest war wahrscheinlich für Dr. Selges Kaffeekasse oder die Sozialbehörde oder wen auch immer. Ich schätzte, dass für dieses Gespräch mit Basti etwa zehn Einheiten, also zwei Mark fällig waren, es war ein Wochentag und vor achtzehn Uhr, da ging sowas ins Geld. Ich hatte noch sechs Mark auf Tasche, da hatte ich noch etwa zwei Schüsse frei, so wie’s aussah.
Ich ging hoch zu Frau Schmidt. Auf dem Weg zu ihr kam ich an Herrn Niemeyer vorbei, der unter den staunenden Blicken von zwei Erzieherinnen der Gruppe sieben Schraubzwingen an einem Türrahmen angebracht hatte und nun, als ich vorbeikam, den Leim abwischte, der zwischen den Klebeflächen, die er da live und vor Publikum zusammenpresste, herausquoll.
»Hallo Herr Schmidt!«, keuchte er.
»Hallo Herr Niemeyer, das ist eine schöne Arbeit, die Sie da machen, das ist wohlgeraten.«
»Ich dachte mir, ich helfe den beiden Deerns etwas.« Die beiden Deerns lächelten geschmeichelt, es waren Helga und Angela, Milchmädchen vom Lande, die der Wunsch, Erzieherinnen zu werden, in das Sündenbabel Othmarschen gespült hatte, wo man erst um acht Uhr abends die Bürgersteige hochklappte und sie manchmal Heimweh hatten, weil keine Kühe an den Straßenecken standen.
»Ich freue mich, dass Sie die niederdeutsche Sprache so gut beherrschen, Herr Niemeyer, das ist hier in Othmarschen durchaus populär.«
»Det heww ick mi decht«, sagte Herr Niemeyer ohne Scham und Hemmung. Ich machte, dass ich weiterkam.
»Das waren neun Einheiten, das wären dann eine Mark achtzig, Herr Schmidt«, begrüßte mich Frau Schmidt, als ich bei ihr durch die Tür kam.
»Ja, Frau Schmidt, ungefähr damit hatte ich gerechnet. Ich habe das Geld schon griffbereit!«
»Das will ich hoffen«, sagte Frau Schmidt. »Das ist nun mal so, das muss immer gleich bezahlt werden, sonst kommt man da in Kuddelmuddel.«
Wenn das hier ein Wettbewerb war, wer das dümmste Zeug reden konnte, dann war ich entschlossen, ihn zu gewinnen: »Aber immer«, sagte ich. »Sie haben die Quittung sicher schon fertig.«
»Was für eine Quittung? Von einer Quittung weiß ich nichts!«
»Aber Frau Schmidt, Sie wollen doch nicht im Ernst namens und gegen Leistung des Kinderkurheims Elbauen Geld kassieren und das dann nicht quittieren?!«
»Herr Schmidt, seit wann wollen Sie denn dafür eine Quittung? Ich trag das doch in eine Liste ein, da ist alles in Ordnung, Sie können doch mit so einer Quittung gar nichts anfangen!«
»Keine Zahlung ohne Quittung, Frau Schmidt, das ist so, denken Sie an Paragraf 14 Umsatzsteuergesetz!«
»Umsatzsteuer? Was hat denn die Umsatzsteuer damit zu tun? Wir sind doch eine gemeinnützige Einrichtung, eine Körperschaft öffentlichen Rechts, seit wann zahlen wir denn Umsatzsteuer?«
»Ja, Sie nicht in diesem Fall, Frau Schmidt, ich aber ja wohl.«
»Aber Sie sollen doch bloß die Telefonkosten erstatten! Da muss ich erstmal den Quittungsblock suchen.«
»Kein Problem. Ich habe Zeit. Hier sind die eine Mark achtzig.« Ich zählte ihr das Geld auf den Schreibtisch. »Die Quittung geht auch formlos, einfach auf der Schreibmaschine, das macht mir nichts, nur damit alles seine Ordnung hat, Frau Schmidt.«
»Ja, ja, warten Sie, ich hab’s doch gleich«, sagte Frau Schmidt und wühlte derweil weiter nach dem Quittungsblock, und irgendwie tat sie mir plötzlich leid, weil sie so dämlich war, die böse Tippmamsell, die Quittungsgeschichte machte ihr richtig Angst.
»Schon gut, Frau Schmidt, es geht auch ohne Quittung«, sagte ich , »ich hab’s mir überlegt, es geht zur Not auch ohne.«
»Wie, ohne«, sagte sie mit hochrotem Kopf. »Was denn nun? Eben haben Sie noch gesagt, Sie wollen eine Quittung! Das geht doch wohl nicht, dass Sie eine Quittung wollen und hier die Mücken scheu machen und dann plötzlich rein in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln, wo gibt’s denn sowas?!«
»Der eine so, der andere so, Frau Schmidt«, nahm ich wieder Fahrt auf, es nützte ja wohl nichts, mit der alten Angstbeißerin Mitleid zu haben, »da hat jeder seine eigene Meinung!«
»Das kann man ja wohl sagen. Ich trag das hier jetzt ein« – sie wedelte mit einer Liste –, »ich trag das gleich hier in der Liste ein und dann hat das alles seine Ordnung, da können Sie jeden fragen.«
»Ja, Frau Schmidt, eine Mark achtzig für neun Einheiten, ich merk’s mir auch vorsichtshalber noch, nur wenn die Liste verloren geht …«
»Verloren? Wieso denn verloren?!«
»Ich muss dann nachher noch einmal telefonieren, aber besser, wenn Sie die jetzt schon mal verbuchen, nicht dass man da später durcheinanderkommt. Also nur, dass ich das nicht zweimal bezahlen muss!«
»Auf keinen Fall, wo denken Sie hin, ich schreibe das da jetzt rein, das ist doch klar, und hier geht doch nichts verloren, was ist das denn für eine …«
»Bis gleich, Frau Schmidt«, kürzte ich die Sache ab und ging raus.
Draußen sammelte ich Herrn Niemeyer ein und ging mit ihm in den Tierpark, um ihm alles zu zeigen. Er fütterte Jimmy und Johnny mit Mehlwürmern aus der bloßen Hand. »Das sind ja ganz liebe Kerlchen«, sagte er und Johnny, der kleine Verräter, ließ sich sogar von ihm streicheln. Ich hatte keine Lust mehr und erklärte Herrn Niemeyer, dass ich jetzt Rasen mähen würde. Er wollte mitkommen und den Rasenmäher kennenlernen, also nahm ich ihn mit und zeigte ihm den Rasenmäher und Herr Niemeyer prüfte gleich mal die Zündkerzen und meldete sich freiwillig für das Rasenmähen und damit hatte ich ihn erstmal von der Backe, denn das Kinderkurheim Elbauen ist an vielen Dingen knapp, an Planstellen etwa, nicht aber an Rasen, Rasen war das große Ding, er war überall und rundherum, so weit das Auge reichte, da würde ich erst einmal für längere Zeit nicht mehr seinen höflichen Atem im Nacken spüren.
Also ging ich alleine zurück in die Werkstatt und nahm einen Kaffee und der schmeckte nach Essig, ertappt, Herr Niemeyer, versagt, Essig im Kaffee, nur doof, dass ich den jetzt trinken musste und nicht er, er ratterte jetzt mit dem Rasenmäher über den Rasen, der, wie mir jetzt erst einfiel, eigentlich zum Mähen noch viel zu kurz war, sollte Herr Niemeyer in diesem Moment schon den zweiten Fehler des Tages begehen?
Egal, es war kurz vor zwölf, bald war Mittag, im Kinderkurheim Elbauen aß man früh und ich dachte mir, es sei das Beste, noch einmal bei Raimund und Ferdi anzurufen. Frau Schmidt stellte mich fast wortlos nach draußen durch.
»Hallo?« Es war eine Frauenstimme.
»Bin ich da richtig bei BummBumm?«
»Ja, was gibt’s?«
»Hier ist Charlie, ist Raimund da? Oder Ferdi?«
»Weiß nicht, muss ich eben mal gucken, ich bin nur bei denen auf dem Label.« Sie rief etwas in den Raum. Dann: »Sie sind eben wieder weg, heißt es.«
»Kommen die nochmal wieder?«
»Warte mal, ich frag mal einen von den Spacken hier …«
Sie wurde laut und schrie irgendwelche Leute an, interessante Frau, dachte ich, dann war sie schon wieder am Rohr, und ihre Stimme war etwas heiserer als zuvor: »Die haben hier nur Idioten sitzen, ich geb dich mal weiter!«
»Hallo, hier ist Dave?!«
»Hallo, hier ist Charlie. Kommen Ferdi und Raimund noch mal wieder?«
»Nein, ich glaube nicht, die wollten was essen gehen.«
»Und danach kommen sie nicht wieder?«
»Nein, glaube ich nicht, die sahen ganz schön fertig aus.«
»Haben sie irgendwas gesagt? Wo sind denn Basti und Holger? Haben die Raimund und Ferdi gesagt, dass ich schon mal angerufen habe?«
»Die sind auch essen. Ich habe hier eine Nachricht für einen, der Schmidt heißt.«
»Das bin ich, Charlie.«
»Karl Schmidt steht hier.«
»Ja, das bin ich.«
»Also hier steht, du sollst unbedingt noch einmal anrufen, genau, das hat Raimund vorhin auch zu mir gesagt, jetzt fällt’s mir wieder ein, also du sollst dir unbedingt nächste Woche Zeit nehmen und nochmal anrufen, hat Raimund gesagt, obwohl, warte mal, er hat ja auch noch das Funktelefon, vielleicht geht das ja, warte mal …«
Dave legte den Hörer weg und dann war eine Zeitlang nichts und dann rief ich ein paar mal »Hallo« in die Muschel und dann war wieder die Frauenstimme dran:
»Tut mir echt leid, das sind alles nur Vollidioten hier. Du bist also Charlie, ja?«
»Ja. Und wer bist du?«
»Rosa. Ich hab schon viel von dir gehört, Charlie.«
»Echt?«
»Naja, ein bisschen«, gab sie zu. »Vorhin.«
»Hast du vielleicht die Funktelefon-Nummer von Raimund?«, sagte ich.
»Von dem Quatschding, mit dem er immer rumläuft? Das geht doch eh nie. Da ruft doch eh keiner an, das ist doch arschteuer! Ah, da kommt Dave zurück.«
Dave kam wieder in die Leitung: »Also ich finde die Nummer von dem Funktelefon jetzt nicht, ich ruf da nie an, sollen wir vom Büro auch nicht machen, das ist arschteuer.«
»Macht nichts, ich würde die Nummer trotzdem gerne haben.«
»Dann such ich nochmal.«
Und er war wieder weg. Dafür ging die Frau wieder ran.
»Vielleicht hab ich die Nummer, er hat sie mir mal gegeben, Moment eben, warte mal, ja hier.« Sie gab mir eine Nummer mit einer vierstelligen Vorwahl.
»Was ist das für eine komische Vorwahl?«, fragte ich.
»Ich glaube, das ist das neue Netz, das hat er neulich zu mir gesagt, ich hab jetzt das neue Netz, und dann musste ich mir die Nummer aufschreiben, da hat er mit dem Ding angegeben, wie wenn’s sein Pimmel wär.«
»Ich versuch die Nummer mal.«
»Ja, aber das ist so dermaßen arschteuer …!«
»Mal sehen. Kannst du ihnen einen Zettel hinlegen, dass ich angerufen habe?«
»Warum gibst du mir nicht einfach deine Nummer, ich würde sie aufschreiben, dann können die dich anrufen.«
»Das ist nicht so einfach. Weißt du, was die von mir wollen?«
»Irgendwas wegen Magical Mystery, glaube ich.«
»Was soll das denn sein?«, fragte ich verwirrt. In diesem Augenblick kam Herr Niemeyer wieder in die Werkstatt und blieb in meiner Nähe stehen.
»Das hat sich Raimund ausgedacht. Ich dachte, das kennt mittlerweile jeder«, sagte Rosa.
»Ich nicht. Ich hab keine Ahnung.«
»Tja … – ich leg den beiden einen Zettel hin, aber ich glaube nicht, dass das viel bringt.«
»Egal«, sagte ich. »Trotzdem vielen Dank.«
»Gern geschehen. Mach’s gut, Charlie. Bis denn mal.« Und dann legte sie auf.
Herr Niemeyer schaute mich fragend an, sagte aber nichts.
»Herr Niemeyer«, sagte ich, »schon fertig mit Rasenmähen?«
»Das Benzin ist alle«, sagte Herr Niemeyer, »da ist auch nichts mehr in dem Geräteschuppen, in dem der Rasenmäher stand. Und eigentlich ist der Rasen auch noch ein bisschen zu kurz, es ist doch eigentlich noch zu früh im Jahr fürs Rasenmähen, vielleicht sollte man den lieber belüften, den Rasen.«
»Jetzt ist erst einmal Mittag, Herr Niemeyer«, sagte ich. »Wir machen Mittag immer um zwölf. Der Hausmeister isst in der Küche beim Koch und den Küchenleuten. Das geht bis dreizehn Uhr.«
»Und Sie?«
»Ich esse immer oben bei den Therapeuten und Lehrern«, sagte ich.
»Warum das denn?«, sagte Herr Niemeyer und legte die Stirn in Falten.
»Das war immer so.«
»Ach so«, sagte Herr Niemeyer. »Ich würde dann nach dem Essen den Rasen belüften wollen, der Boden ist ja total verdichtet, das ist nicht gut für den Rasen.«
»Wir haben aber keine Maschine für sowas«, sagte ich.
»Ich nehme die Grabgabel«, sagte Herr Niemeyer und zeigte auf eine vierzinkige Forke in der Ecke der Werkstatt. »Die ist genau richtig dafür.«
Ich sagte dazu nichts. Ich hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach, und außerdem klingelte das Telefon. Es war Frau Schmidt.
»Das waren zwölf Einheiten«, sagte sie. »Die können Sie aber erst nach dem Mittag bezahlen, ich gehe jetzt nach Hause und bin erst um dreizehn Uhr wieder da.«
»Sehr gerne, Frau Schmidt«, sagte ich. »Nur eine Bitte hätte ich noch: Könnten Sie bitte das Telefon noch einmal freischalten?«
»Na gut, aber ich kann das erst nach dem Mittagessen abrechnen.«
»Es eilt mir nicht damit, Frau Schmidt«, sagte ich.
»Sie sind ein Scherzbold«, sagte sie, aber sie gab mir die Leitung frei.
»Wissen Sie, wo die Küche ist, Herr Niemeyer? Ich würde liebend gerne dort mit Ihnen hingehen und Sie vorstellen, habe aber vorher noch ein dringendes Telefonat zu erledigen.«
»Nicht nötig, Herr Schmidt, ich war vorhin schon dort und habe mich vorgestellt, Frau Dr. Selge war so freundlich, mich ein wenig herumzuführen.«
Ich winkte ihm nach, als er hinausging. Dann wählte ich Raimunds Funknummer. Er ging ran und meldete sich mit den Worten: »… verdammt, wo denn nun, ist das jetzt so, wenn schon mal einer, hier oder was, oder schon dran, hallo?!«
»Hallo Raimund, Karl hier.«
»Welcher Karl?«
»Charlie! Du wolltest, dass ich dich anrufe!«
»Charlie! Ich fass es nicht. Und du rufst auf dem Funkding an, das ist doch arschteuer!«
»Ich scheue keine Kosten, Raimund. Aber vielleicht sollte man sich dann mal beeilen!«
»Ach so, ja klar, also pass auf: Wir brauchen dich! Wir haben ab nächste Woche Mittwoch da ein Ding laufen, das heißt Magical Mystery Tour.«
»War das nicht von den Beatles?«
»Genau, das ist ja genau das Ding, das haben die Beatles auch schon mal gemacht.«
»Was war das nochmal gewesen?«
»Das ist jetzt … omp … ziert.« Die Qualität des Gesprächs wurde schlechter. Nicht, dass Raimund leiser wurde oder es gerauscht hätte, im Gegenteil, es gab kein Rauschen bei diesem Gespräch, das war seltsam, wenn wir beide schwiegen, hatte ich gleich das Gefühl, die Verbindung sei gestört, weil es im Äther gar nicht rauschte, wahrscheinlich gab es keinen Äther bei den Dingern, unheimlich. Gottseidank schwieg Raimund nie lange. »Da ühr … je … u … eit«, sagte er nun, seine Stimme wurde regelrecht zerhackt.
»He Raimund«, rief ich.
»… art«, sagte Raimund. Dann war eine Zeitlang nichts zu hören, dann sagte er: »Jetzt besser so?«
»Ja.«
»Bin rausgegangen aus dem Laden.«
»Super, Raimund. Also Magical Mystery Tour«, brachte ich ihn zurück zum Thema.
»Ja, genau, wir brauchen dich da, Charlie. Ich mach’s kurz, wer weiß, wann das Ding hier wieder abkackt, jedenfalls zweitausend Mark auf die Kralle, kein Ding.«
»Wie jetzt, wieso zweitausend Mark?«
»Für den Job. Dauert zehn Tage oder so, hab ich noch nicht zusammengerechnet.«
»Was für ein Job?«
»Wir brauchen einen, der sich um alles kümmert, der uns fährt und auf das Geld aufpasst und auf uns auch und dass wir weiterkommen und was weiß ich alles.«
»Und wieso ich?«
»Das war Ferdis Idee, weil du nichts nehmen darfst. Ich hab ihm erzählt, dass du nichts nehmen darfst. Oder war es doch meine Idee? Weiß ich nicht mehr. Du darfst doch nichts nehmen, das hab ich doch richtig verstanden, oder?«
»Ja, also nein, darf ich nicht.«
»Jedenfalls hatten wir dann die Idee, dass wenn du nichts nehmen darfst, dann bist du doch der ideale Mann dafür. Ich meine, wir können uns ja unmöglich von irgendeinem Verstrahlten durch die Gegend fahren lassen! Da kann ich ja gleich … – was weiß ich, da kann ich ja gleich selber fahren oder so, ich meine, von unseren Leuten kann man da keinem trauen, die erzählen alles mögliche und dann treffen sie sich auf dem Klo oder kaufen sich irgendeinen Scheiß an der Ecke oder kriegen was geschenkt oder saufen, weil’s was umsonst gibt, vor allem die Hostis, wenn die was umsonst kriegen, und irgendwas gibt’s ja immer umsonst, ich geb dir mal Ferdi … – Ferdi, nimm du mal den Knochen, ich kann nicht mehr, du musst Charlie jetzt mal überzeugen, echt mal«, schrie er durch die Gegend, wahrscheinlich in das Restaurant hinein, aus dem heraus er gerade an die frische Funkluft getreten war, »warte«, sagte er zu mir, »bleib dran, Charlie, Ferdi steht schon auf, gleich ist er da, ich hab auch Hunger irgendwie, Ferdi kann das alles viel besser erklären, jedenfalls zwei Mille auf die Kralle, wenn du willst, auch die Hälfte im Voraus, ich vertrau dir, Ferdi, hier!«
»Charlie?«
»Hallo Ferdi.«
»Charlie, du musst uns helfen. Das mit den zwei Mille ist wahr. Kannst du nicht Montag nach Berlin kommen und dann ab Dienstag bei uns mitfahren?«
»Eigentlich ist das nicht so mein Ding, Ferdi. Ich bin raus aus dem Club-Ding. Ich geh da nicht mehr hin und so. Eigentlich dürfte ich nicht mal mit euch telefonieren.«
»Du machst es aber trotzdem, Charlie. Und hat es dir bis jetzt geschadet?«
»Ich bin für sowas nicht gebaut, Ferdi. Ich kann nicht einfach mit einer Gruppe von Verstrahlten durch die Gegend fahren und davon ausgehen, dass das gut geht, ich meine, dass ich da einfach so nüchtern bleibe.
»Wieso, wir sind doch abschreckende Beispiele!«
Ah, Ferdi! Ich verspürte wieder dieses Ziehen. Aber mit Angst dabei.
»Dann eben mehr als zweitausend«, sagte Ferdi.
»Zweitausend ist eh zu wenig. Egal, was ihr da vorhabt. Ist ja nicht so, dass ich das schon wirklich begriffen hätte.«
»Dreitausend.«
Ich musste nachdenken.
»Bist du noch dran, Charlie? Ich hasse dieses Funkding. Da weiß man nie, ob die Leitung noch steht.«
»Viertausend«, sagte ich und hoffte, den Spuk damit zu beenden.
»Easy«, sagte Ferdi. »Aber für viertausend musst du auch gut drauf sein. Ich hab keine Lust, da so ‘n Partypuper dabeizuhaben.«
»Du kennst mich doch, Ferdi.«
»Ja, aber nicht nüchtern.«
Er gab mir die Adresse von ihrem Büro und fragte, wann ich kommen könnte.
»Wenn ich überhaupt komme, dann etwa Montag Mittag, Ferdi«, sagte ich.
»Geht’s nicht früher? Sonntag?«
»Nein. Das geht nicht früher.«
»Easy. Dann Montag Mittag.«
»Wenn ich komme.«
»Magical Mystery«, sagte Ferdi. »Das ist genau der Punkt, Charlie: Magical Mystery. Da geht’s schon los, Magical Mystery, sieh’s mal so.«
»Ist das nicht eigentlich von den Beatles?«
»Ja, aber von uns auch, wir knüpfen da wieder an!«
»Dann ist ja gut«, sagte ich. »Aber ich muss da wirklich erst drüber nachdenken.«
»Entweder du bist da oder du bist nicht da«, sagte Ferdi. »Magical Mystery, Charlie.«
Nach dem Telefonat blieb ich für den Rest der Mittagspause in der Werkstatt sitzen. Ich hatte zwar Hunger, aber keine Lust auf den Speisesaal und die Therapeuten und Lehrer, die da jetzt saßen und aßen und für die ich der Freak mit dem Kittel war. Außerdem musste ich nachdenken. Als die Mittagspause vorbei war, ging ich zu Frau Schmidt, erwirkte einen Zahlungsaufschub für die zweiundfünfzig Einheiten, die ich mit Raimund und Ferdi vertelefoniert hatte, und sagte Dr. Selge, dass ich jetzt mit dem Abfeiern von Überstunden beginnen würde. Sie hatte keine Einwände.
Das Letzte, was ich sah, als ich das Gelände des Kinderkurheims Elbauen verließ, war Herr Niemeyer von hinten, wie er am äußersten Ende des Grundstücks stand und mit der Grabgabel in den Rasen stach.